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Horst Bosetzky

Mit Feuereifer

Kappes 14. Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Impressum

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

ZWANZIG

KONRAD ZÄCKLAU saß am Schreibtisch und gab sich alle Mühe, den Aktenberg, der sich vor ihm angehäuft hatte, so schnell wie möglich abzutragen. Das meiste waren zum Glück nur Vorgänge, die er zur Kenntnis zu nehmen hatte. Da genügten ein schnelles Überfliegen der Schriftstücke und seine Paraphe und das Datum auf dem Laufzettel. Das war reine Fließbandarbeit. Plötzlich stutzte er, denn da ging es um den Mittelstreckenläufer Martin Kammholz. Ein Nachbar vom Steubenplatz teilte ihnen mit, dass Kammholz seinen intensiven Beobachtungen zufolge ein Homosexueller sei. Um das zu belegen, hatte er ein Photo beigefügt, auf dem Kammholz einen anderen Mann küsste. Es war heimlich durch die angelehnte Wohnungstür aufgenommen worden.

Bei dem Mann, mit dem Herr Kammholz da intim ist, handelt es sich um den Herrenausstatter Rudolf Guhrau aus der Uhlandstraße. Mit dessen Schwester Helga ist Kammholz verheiratet, aber nur zum Schein. Wie den Zeitungen zu entnehmen ist, hat Herr Kammholz gute Chancen, Olympiasieger über die 1500 Meter zu werden. Das ist ein unerträglicher Gedanke für mich! Ein warmer Bruder hat bei den Olympischen Spielen nichts zu suchen, und es wäre eine Schande für ganz Deutschland, wenn man ihm die Goldmedaille umhängen würde. Sie müssen das auf alle Fälle verhindern! Heil Hitler!

Zäcklau las diese Zeilen mehrfach. Schließlich musste er zugeben, dass der Mann recht hatte. Ohne zu zögern, hängte er sich ans Telefon und rief Kameraden an, mit denen er seit Jahren eng verbunden war und die er brauchte, um sich nach alle Seiten abzusichern, insbesondere in Richtung des Reichssportführers. Offiziell war der Kontakt zum Homosexuellendezernat der Berliner Kriminalpolizei und zum Sonderdezernat II 1 Homosexualität beim preußischen Geheimen Staatspolizeiamt (Gestapa), also der Dienststelle Josef Meisingers. Man diskutierte lange.

Die Rechtslage war eindeutig. Nach der Neufassung des Paragraphen 175 hätte man Kammholz ohne weiteres festnehmen können, auch ohne ihm «beischlafähnliche Handlungen» nachweisen zu müssen. Aber man hatte Angst, dass sich während der Olympischen Spiele die Weltöffentlichkeit darüber aufregen würde, wenn man einen der Medaillenanwärter festnahm, nur weil er schwul war. Andererseits sah man es als einen Schlag ins Gesicht des deutschen Volkes an, wenn ein Homosexueller auf dem Siegerpodest stand und womöglich noch vom Führer beglückwünscht werden musste.

«Unmöglich, dass dieser Kammholz Olympiasieger wird! Es ist völlig korrekt, Zäcklau, dass Sie das verhindern wollen. Auf alle Fälle ist er schnellstens aus dem Verkehr zu ziehen. Also, was machen wir da? Ganz einfach: Sie nehmen ihn fest, weil er unter dem Verdacht steht, diesen Wanzka umgebracht zu haben. Dass ein Mörder nicht Olympiasieger werden darf, wird man in aller Welt verstehen.»

Nach einer guten Stunde hatte Zäcklau alles in trockenen Tüchern und griff sich zwei seiner zuverlässigsten Leute, um mit ihnen zum Steubenplatz zu fahren. Mittelsmänner hatten ihm zugetragen, dass Martin Kammholz in seinem Vorlauf Dritter geworden war, was zum Einzug ins Filiale reichte. «Und der ist so locker gelaufen, dass man ihn und nicht diesen Lovelock für den Favoriten auf die Goldmedaille halten muss.» Es bestand also dringender Handlungsbedarf. Ein Kraftwagen mit Chauffeur war schnell beschafft.

Zäcklau genoss seinen Triumph. Auf der Fahrt durch die Stadt erklärte er seinen Untergebenen, dass es eine heilige Aufgabe sei, das deutsche Volk von Juden, Schwulen und «asozialen Elementen» zu säubern. «Wir müssen alles daransetzen, sagt der Führer, dass wir nicht an den Degenerationserscheinungen der Zeit zugrunde gehen.»

Waldemar Wieluhn war sofort nach Ende des Vorlaufes über die 1500 Meter an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt, weil er es übernommen hatte, eine japanische Delegation durch das Rathaus Charlottenburg zu führen. Auf dem Weg zur Eingangshalle lief ihm der Bezirksbürgermeister über den Weg. Der war kein Nationalsozialist, sondern der altgediente Karl Augustin von der DVP, der schon seit 1924 dieses Amt innehatte.

Sofort fragte er nach Martin Kammholz. «Na, mein Lieber, wie ist es denn Ihrem Schützling ergangen, ist er im Endlauf?»

«Ja, leicht und locker als Dritter mit 3 Minuten 55. Cunningham und Ny, der Schwede, lagen zwei Zehntel vor ihm, aber die hätte er locker packen können, wenn er denn gewollt hätte. Doch wir haben festgelegt, dass er sich zurückhalten soll, damit im Endlauf keiner so sehr auf ihn achtet. Ich schätze, dass er rund zehn Sekunden schneller laufen kann, also eine Zeit unter 3 : 48, und damit müsste man gewinnen können, das wäre neuer Weltrekord.» Wieluhn schmunzelte. «Außerdem ist der alte Weltrekordmann ja nicht dabei, Bonthron aus den USA, der ist bei den Ausscheidungskämpfen drüben auf der Strecke geblieben.»

«Ich bin gespannt und drücke Kammholz und Ihnen alle verfügbaren Daumen.»

«Danke, Herr Bürgermeister, danke!»

Wieluhn zog nun seinen Spickzettel hervor, um noch einmal die Floskeln durchzugehen, mit denen er die japanischen Gäste begrüßen wollte, ehe der Dolmetscher seine Arbeit begann. Konnichiwa - Guten Tag. Irasshaimase - Herzlich willkommen. Hajimemashite - Erfreut, Sie kennenzulernen. Kampai - Prost! Außerdem durfte er nicht vergessen, sich zu verbeugen.

Es wurde eine vergnügliche Stunde, und als er die Gäste aus Fernost wieder verabschiedet hatte, war er bester Stimmung. Die aber schlug sofort ins Gegenteil um, als er Rudolf Guhrau aus dessen Maybach steigen sah. Er stand noch auf den Stufen des Rathauses, als Guhrau auf ihn zugelaufen kam.

«Sie sind nicht ans Telefon gegangen», hörte er ihn rufen.

«Und da … Es ist etwas Schreckliches passiert!» Wieluhn hatte es geahnt. «Mit Kammholz?»

«Ja, die Gestapo hat ihn verhaftet. Wegen des Mordes an Wanzka. Plötzlich soll er der Täter sein.»

«War es dieser Kappe, der das veranlasst hat?», fragte Wieluhn.

«Nein, ein gewisser Zäcklau von der Gestapo. Meine Schwester hat mich angerufen.»

«O Gott!», rief Wieluhn. «Bei Ihnen war aber noch keiner?»

«Nein, ich habe ja auch nicht vor, für Deutschland zu siegen», antwortete Guhrau. «Wären wir bloß gleich 1933 nach Prag gegangen!»

«Wir müssen retten, was zu retten ist!», rief Wieluhn und machte sich daran, mit ein paar einf lussreichen Leuten zu telefonieren, vor allem mit von Tschammer und Osten.

EIN TAG AUF DEM REICHSSPORTFELD

Das Olympische Feuer brennt. Tag und Nacht. Nachts geheimnisvoll die stillen Stunden durchleuchtend und am Tage die Sonne von Hellas kündend. Über dem Reichssportfeld stehen die Fahnen aller an den Spielen teilnehmenden Nationen. Hunderttausende erleben nun Tag um Tag das große Schauspiel der Olympischen Spiele, die als die Spiele von Berlin auf ewig in die Geschichte des Sports eingehen werden.

Wenn über dem Reichssportfeld der Tag aufgeht, dann setzt bereits der Anmarsch der Ersten ein. Die Tore werden geöffnet, und das gewaltige Oval des Stadions füllt sich langsam. Die Erwartung liegt deutlich spürbar über allem. Die Sprachen der Welt finden sich zu einer großen Unterhaltung zusammen. Die Anfahrt der Wagen nimmt, je höher der Tag aufsteigt, geradezu beängstigende Formen an. Mit Einsatz aller Kräfte wird der Verkehr in seine Bahnen geleitet, und auf die Kampfbahnen treten die ersten Athleten heraus. Der Sprecher am Lautsprecher nimmt seine Arbeit auf. Die Kampfrichter besetzen ihre Plätze. Durch die Wandelgänge flutet das Leben. Die Platzanweiser ordnen den stürmischen Andrang. Farbenfroh und überwältigend das Bild, das die gefüllten Blöcke des Reichssportfelds bieten. Es ist unvergleichlich und reißt mit jedem Tag immer wieder aufs Neue alle Besucher zu heller Begeisterung hin.

Der erste Startschuß peitscht durch das Stadion. Der herrlichste sportliche Kampf nimmt seinen Anfang. Vorläufe und Zwischenläufe werden ausgetragen. Weltbekannte Sportler gehen über die Bahnen. Mit innerer Spannung erleben die Zuschauer die Kämpfe. Die Anteilnahme an einer besonders ausgezeichneten Leistung ist ungeheuer. Gewaltig durchbraust der Beifall das mächtige Rund. Mustergültig wird das festgelegte Programm eingehalten.

So stand es im Völkischen Beobachter, und auch Hermann Kappe freute sich trotz seiner Bedenken, dadurch zum Handlanger des Führers zu werden, auf den Besuch des Reichssportfeldes. Er hatte sich eine Eintrittskarte für den Nachmittag des 4. August besorgen können, denn er wollte unbedingt dabei sein, wenn sich Martin Kammholz seine Goldmedaille erkämpfte. Um vier Uhr nachmittags sollte er an den Start gehen. Vorher aber, hoffte Kappe, würde er Wanzkas Mörder endlich finden. Er holte sich die Akte aus dem Schrank und legte sie auf den Schreibtisch, um alles noch einmal durchzugehen. Deterding war nicht im Zimmer, er hatte immer noch damit zu tun, diese Lucie zu finden und sie ganz diskret zu fragen, ob sie zur fraglichen Zeit wirklich mit Bronnitzky den Beischlaf ausgeübt hatte.

Wie immer bei der Schreibtischarbeit verfiel Kappe alsbald in einen Zustand wohligen Dahindämmerns, doch plötzlich fuhr er auf, denn das Material, das die Kollegen von der Spurensicherung beigebracht hatten, enthielt auch zwei mit einer Heftklammer zusammengefügte DIN-A4-Seiten, die er seiner Meinung nach noch nie gesehen hatte. Jemand musste sie nachträglich hinzugefügt oder sie aber entfernt haben, bevor er alles zum ersten Mal in die Hand genommen hatte. Er konnte sich aber auch irren - schließlich hatte sein Gedächtnis ihn schon bei Wanzkas Taschenkalender im Stich gelassen. Wie auch immer, was er da vor sich hatte, war sensationell. Man hatte im Staub vor Wanzkas Keller in den Naunynstraße 6 mehrere Schuhabdrücke gefunden und photographiert. Dazu gab es auf einem der Bogen eine handschriftliche Notiz: Vor dem Verschlag des W. haben Maurerarbeiten stattgefunden.

Kappe wurde siedend heiß: Wenn diese Maurerarbeiten von der Firma H & J, das heißt von Hans Zantoch, ausgeführt worden waren, dann konnte er zuschlagen. Die Telefonnummer von Hornacher hatte er noch, und schon ließ er die Wählscheibe surren. Der Chef selber war am Apparat.

«Guten Morgen, Herr Hornacher, hier ist noch einmal die Kriminalpolizei, Kappe. Sagen Sie bitte, hat Ihre Firma am Sonnabend, dem 6. Juni, Arbeiten im Keller des Hauses Naunynstraße 6 ausgeführt?»

«Da muss ich mal nachsehen …»

«Ja, danke, ich warte.»

Die Sekunden vergingen, und Kappe malte mit dem Bleistift olympische Ringe auf seine Schreibunterlage.

Deterding kam herein und rief schon in der Tür, dass er die besagte Lucie gefunden habe. «Sie hat bestätigt, dass Bronnitzky in der fraglichen Zeit bei ihr gewesen ist, und da kein Mensch zur selben Zeit an zwei weit auseinanderliegenden Orten sein kann, können wir den Mann wieder laufenlassen.»

Kappe nickte und legte den Finger auf den Mund, um Deterding zum Schweigen zu bringen.

Gerade hatte Hornacher zu reden begonnen. «… Naunynstraße 6, da haben wir unten am Schornstein eine neue, größere Klappe eingesetzt. Die alte hatte der Schornsteinfeger rausgerissen, die war ihm zu klein.» Es folgten noch ein paar Details.

Kappe wurde ungeduldig. «Und wer von Ihren Leuten war da im Einsatz?»

«Na, der Zantoch.»

«Herzlichen Dank!», rief Kappe. «Und wo können wir den Mann jetzt finden?»

«Moment mal … In Friedenau, Friedhof Stubenrauchstraße, da verputzt er eine Mauer.»

Kappe bedankte sich ein weiteres Mal. Dann legte er auf und wandte sich Deterding zu, um dem zu berichten, was er herausgefunden hatte.

«Hm …» Deterding nickte und betrachtete die Aufnahmen der Schuhabdrücke. «Zweifellos Arbeitsschuhe. Wenn wir die bei Zantoch finden, ist die Sache klar. Aber warum sind Sie nicht eher darauf gekommen?»

Kappe zögerte mit einer Antwort. «Weil … weil ich die Photos und die handschriftliche Notiz vorher nie gesehen habe.» Er fixierte Deterding. «Hatten Sie die gesehen?»

«Nein.» Deterding grinste. «Aber das ist nun einmal unser neues Organisationsprinzip, überall Parallelorganisationen zu haben, und vielleicht haben andere schon längst gewusst, wer Wanzka ermordet hat … oder haben soll. Oh, das hätte ich nicht sagen sollen, das vergessen Sie bitte, Herr Kollege Kappe!»

«Ja, hundertprozentig.» Kappe dachte sich sein Teil. Irgendwer, vielleicht Zäcklau, vielleicht ein anderer SA-, SS- oder Gestapo-Mann, schien ein Interesse daran zu haben, Zantoch aus dem Verkehr zu ziehen. «Dann los! Schauen wir mal, was Zantoch uns zu sagen hat.»

Sie fuhren mit der S-Bahn bis Ostkreuz und stiegen dort in die Ringbahn Richtung Süden um. Bis zum Bahnhof Wilmersdorf-Friedenau war es keine Dreiviertelstunde.

Als sie in der Stadtbahn saßen, zeigte Deterding auf zwei Männer, die ein wenig nach Knoblauch rochen und wie Bulgaren aussahen. «Das ist Seine Majestät Boris III., Zar von Bulgarien.»

«Wieso denn das?»

«Na, hier im Völkischen Beobachter steht, dass der inkognito in Berlin ist, um sich einem kleineren chirurgischen Eingriff zu unterziehen. Vielleicht eine Phimose.»

Da Kappe nicht wusste, was das war, konnte er keinen Kommentar dazu abgeben und fragte, was es denn sonst noch Neues gebe.

« Ehrung durch den Führer: Architekt Werner March zum Professor ernannt

«Ich gehe heute Nachmittag ins Olympiastadion», sagte Kappe. «Die Entscheidung über 1500 Meter. Das könnte der größte Tag für Martin Kammholz werden: Erst vom Mordverdacht freigesprochen, dann Olympiasieger.»

«Kairos!», rief Deterding.

Kappe konnte ihm nicht folgen. «Was hat das mit Ägypten zu tun?»

«Nichts, eher mit Griechenland. Kairos ist in der griechischen Mythologie der Gott des richtigen, des alles entscheidenden Augenblicks.»

«Bei uns in Wendisch Rietz in der Dorfschule hat uns das keiner gesagt.»

Deterding lachte. «Machen Sie sich nichts daraus, denn Wendisch Rietz ist überall.»

Kappe zuckte zusammen. Der Bremer wurde ihm immer unheimlicher. Es schien so, als könne er sogar Gedanken erraten. Schnell kam er auf ein unverfänglicheres Thema zu sprechen. Dass die deutschen Leichtathleten schon drei Goldmedaillen errungen hatten, sei doch ein großer Erfolg, und die Medaille des Hamburgers Karl Hein im Hammerwerfen habe ihn besonders gefreut.

Deterding zeigte auf einen Kommentar im Völkischen Beobachter : « In den letzten Wochen hat er regelmäßig an die 56 Meter geworfen - und wörtlich habe er gesagt: ‹ Die Anwesenheit des Führers gab mir die Kraft, meine Leistung noch zu verbessern. › Schade, dass der Führer nicht überall sein kann, so gleich bei unserem Gespräch mit Zantoch. Der würde doch sofort ein Geständnis ablegen, wenn …»

«Hören Sie auf, so zu reden!», sagte Kappe, etwas anderes blieb ihm nicht übrig.

«Gut, dann widme ich mich der Kultur.» Deterding las die Überschriften vor: « Vom Werden des Nationalsozialistischen Reichs-Sinfonie-Orchesters: Vorposten des Friedens. Wettkampffieber in der Fernsehstube: Berliner ohne Karten erleben die Spiele an den Fernsehempfängern. - Dreißigjähriges Bestehen: Das Rose-Theater jubiliert. - The English Theatre : ‹ Charley’s Aunt›. - Der neue Film im Titania-Palast: ‹Moral› mit Fita im Berliner Prater: ‹O schöne Zeit, o selige Zeit. » Er faltete die Zeitung zusammen. «Ist das nicht ein schönes Schlusswort. Sieg Heil!»

Hans Zantoch hatte an den Stellen, die ausgebessert werden sollten, den alten Putz von der Friedhofsmauer geschlagen und legte nun, bevor er mit dem Verputzen begann, eine kleine Pause ein. In der ging er, Stulle und Bierpulle in der Hand, durch die Gräberreihen, um sich ein wenig die Beine zu vertreten. Zur Schule an der Laubacher Straße hin war ein Grab ausgehoben worden, und in der kleinen Friedhofskapelle sangen sie gerade. Er fühlte sich, als sei da schon seine eigene Beerdigung im Gange, nachdem man ihn wegen des Mordes an Wanzka einen Kopf kürzer gemacht hatte. Schloss er die Augen, hatte er die Szene im Keller deutlich vor Augen, und der Film lief unerbittlich vor ihm ab …

Er kniet im Keller des Hauses Naunynstraße 6 und ist dabei, mit Hammer und Stemmeisen die Öffnung für die Schornsteinfegerklappe zu vergrößern. Ab und an kommen Mieter, wollen etwas aus ihren Kellerverschlägen holen oder hineinstellen oder auch nur nachsehen, wer da solchen Krach macht. Er weiß nicht, dass Wanzka hier wohnt, dazu ist der zu oft umgezogen. Plötzlich aber steht er hinter ihm. Beide sind erschrocken. Er fährt hoch, weil er weiß, dass Wanzka ihm nach dem Leben trachtet, und man im Knien wenig Chancen hat, Schläge abzuwehren. Wanzka hat ein Beil in der Hand, ganz neu sieht es aus, wohl eben erst gekauft. Während er hochschnellt, greift er sich einen Ziegelstein, um nicht ganz wehrlos zu sein.

«Du hier?», fragt Wanzka.

«Ja, siehste doch!»

In beiden flammen die Erinnerungen auf. Wie sie, über fünfzehn Jahre ist es nun her, gemeinsam durchs Leben gegangen sind. Im Sommer sind sie jedes Wochenende zum Zelten gefahren, hatten sich aneinander gewärmt und es heftig miteinander getrieben. Das lief so lange, bis er, Zantoch, sich dann doch für seine Frau entschieden hatte. Wanzka hatte ihm den Treuebruch bis zu diesem Tage nicht verziehen und ihn angezeigt, als er, Zantoch, sich nach einer Schlägerei mit einem Polizisten angelegt und den mit einem Messer so zugerichtet hatte, dass ihm beinahe der rechte Arm hatte amputiert werden müssen. Das hatte ihm wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und schwerer Körperverletzung zweieinhalb Jahre Gefängnis eingebracht, zweieinhalb harte Jahre. Und immer wieder hatte er sich geschworen, sich dafür zu rächen. Nun steht Wanzka vor ihm.

«Du wagst es!», schreit Zantoch ihn an. «Du elende Ratte, du! Wat willste hier?»

«Ich wohne hier und will mein neues Beil in den Keller bringen.»

«Ermorden willst du mich! Du hast gedacht, ick komm im Zuchthaus um, aber da haste dir jeirrt!»

«Nein, ich …» Wanzka hebt sein Beil, macht aber einen Schritt nach hinten und will ganz offensichtlich die Flucht ergreifen. Dabei stolpert er.

«Warte, du Schwein, du!» Ein archaischer Impuls schießt in ihm hoch, und er schlägt zu, sieht, wie die scharfe Kante seines Ziegelsteins den Kopf des anderen spaltet. Blut und Hirn spritzen heraus.

Hans Zantoch hatte immer gedacht: Einer für alle und alle für einen. Nun aber hatte sich herausgestellt, dass die Kameraden nicht zögerten, ihn fallenzulassen. Er wusste, dass Zäcklau nach der Sache mit Röhm einige Morde begangen hatte, aber Mord war nicht Mord, und Zäcklau hatte seine im Auftrag des Führers begangen, er, Zantoch, hatte jedoch persönliche Motive gehabt. Das war der Unterschied. Ihr Dialog im Olympiastadion war nicht sehr lang gewesen, aber dafür umso eindeutiger …

«Konrad, dieser Wanzka, det war ’ne Wanze, und wer die zertreten hat, der hat det deutsche Volk gereinigt, und der vadient ’n Orden.»

«Hans, wir haben eine Justiz, die noch nicht ganz gleichgeschaltet ist, und wer immer Wanzka umgebracht hat, der kommt vor ein ordentliches Gericht, und dem kann keiner helfen. Und wenn der Mörder einer aus unseren Reihen ist, dann wird er so gnadenlos verurteilt und hingerichtet wie jeder andere, denn wir können es uns nicht leisten, dass die Leute SA und NSDAP als Mörderbande bezeichnen. Oder soll ich noch deutlicher werden? Und du weißt: Wer uns schadet, mit dem machen wir kurzen Prozess!»

Als Zantoch an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte, war ihm klar, dass er sich mit der Annahme, Zäcklau würde seine Hand schützend über ihn halten, mächtig verkalkuliert hatte. So, wie er nie gedacht hatte, dass ihm die Kripo auf die Spur kommen könnte. Er hatte Wanzkas Leiche erst in dessen Keller versteckt und in der Nacht mit dem Lastkraftwagen von H & J zum Stößensee gefahren. Er wusste, dass Wanzka von kleineren und größeren Erpressungen lebte, also eine Vielzahl von Feinden haben musste, war aber selbst nie von ihm erpresst worden. Er stand also auf keiner Liste und war damit aus dem Schneider. So hatte er jedenfalls gedacht. Aber als alter Skatspieler wusste er, dass man auch einen Grand verlieren konnte.

Auf dem Bahnhof Wilmersdorf-Friedenau angekommen, orientierten sich Kappe und Deterding mit einem schnellen Blick ringsum und nahmen dann den Weg über die Varziner Straße. Als sie links in die Stubenrauchstraße einbogen und in Richtung Südwestkorso blickten, sahen sie vorn auf der anderen Straßenseite einen Maurer bei der Arbeit. Kein Zweifel, das war Hans Zantoch. Als sie auf fünfzig Meter heran waren, erkannte er sie, und für einen kurzen Moment hatte Kappe den Eindruck, Zantoch würde ansetzen, ihnen davonzulaufen. Doch dann warf er seine Maurerkelle in einen Bottich mit Wasser und richtete sich auf, um sie zu erwarten.

«Hallo!», rief Deterding. «Wir kennen uns ja noch vom Olympiastadion her.»

«Ja, und wat soll det nun schon wieda?»

Kappe wusste aus Erfahrung, dass Männer, die schon bei den einleitenden Floskeln so aggressiv wurden und nach dem Motto verfuhren, dass Angriff die beste Verteidigung sei, etwas zu verbergen hatten.

«So im Freien zu arbeiten muss ja viel Spaß machen», begann Deterding das Gespräch.

«Wieso?», fragte Zantoch.

«Na, im Vergleich zum Arbeiten im Keller.» Deterding gab sich harmlos. «Sie kennen doch das Buch Männer, die im Keller husten

«Wat soll’n der Quatsch?», fragte Zantoch.

Kappe griff ein und kam ungewohnt schnell zu Sache. Schließlich wollte er so bald wie möglich ins Olympiastadion. «Wir meinen den Keller im Hause Naunynstraße 6, wo Sie am Sonnabend, dem 6. Juni, eine neue Klappe in den Schornstein eingebaut haben.»

«Kann ick ma nich dran erinnan.»

«Ihr Chef, der Herr Hornacher, kann das aber», hielt Kappe ihm vor.

«Der kann sich ooch mal irren.»

«Na schön, dann will ich Ihnen mal eine kleine Geschichte erzählen …» Deterding lehnte sich gegen die Friedhofsmauer. «Da war einmal ein Mann, nennen wir ihn Herrn A, der war bisexuell, das heißt, er trieb es sowohl mit Männern als auch mit Frauen. Dann haben wir unseren Führer Adolf Hitler bekommen, und seitdem müssen Homosexuelle damit rechnen, in bestimmte Lager zu kommen oder entmannt zu werden, zumindest aber fliegen sie überall raus, wo sie drin sind und etwas werden wollen, zum Beispiel aus der SA. Herr A legt nun einen ganz besonders großen Schwulenhass an den Tag, damit niemand merkt, dass er selber mal einer war. Da trifft er, als er im Keller mauert, seinen alten Freund beziehungsweise Geliebten, den Herrn B. Der hat ihn zur ‹Systemzeit› mal wegen einer Schlägerei und anderen Sachen ins Gefängnis gebracht. Aber das ist nur eine Vermutung und letztendlich auch egal. Nun, zwischen den beiden entbrennt ein heftiger Streit, es geht hoch her, und schließlich erschlägt Herr A Herrn B mit einem Ziegelstein, wickelt die Leiche in eine Plane, legt sie auf die Ladefläche des Lastwagens seiner Firma und fährt sie in den Grunewald. So, das wäre meine kleine Geschichte, und nun frage ich mal den Herrn Kommissar Kappe, ob er die richtigen Namen der Herren A und B nennen kann.»

«Fangen wir mit Herrn B an, dem Opfer, das ist der Karl-Heinz Wanzka, und Herr A, der Täter, das ist der Maurer hier, der Herr Zantoch. Warten wir also auf sein Geständnis.»

«Ja, ick war et!», schrie Zantoch. «Aba, ihr Arschlöcha, mir kriegt keena von euch!»

Damit versetzte er erst Kappe einen Hieb in die Magengrube und dann Deterding einen Kinnhaken, so dass beide zur Seite flogen, dann hetzte er die Stubenrauchstraße entlang in Richtung Ringbahn. Die Trasse verlief hier auf einem Damm, und neben den Gleisen der elektrischen Schnellbahn gab es auch welche für den Güterverkehr.

Als sich Kappe und Deterding aufgerappelt hatten und die Verfolgung aufnahmen, hatte Zantoch schon einen Vorsprung von gut zwanzig Metern. Da in der ansonsten stillen Straße gerade Trauergäste anrückten, war es unmöglich, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Das ging erst, wenn Zantoch den Bahndamm erreicht hatte, dem er zustrebte.

«Hoffentlich kommt dann nicht gerade ein Güterzug, und er springt auf!», rief Deterding.

«Egal», schnaufte Kappe. «Das ist ja alles wie ein Geständnis.» Vielleicht auch nicht, dachte er noch, vielleicht setzt er auch darauf, dass ihn seine Freunde von der SA am Ende raushauen.

Zantoch hatte seinen Vorsprung inzwischen ausgebaut, so dass Kappe und Deterding den Maurer kurzzeitig aus den Augen verloren. Als der schon oben auf dem Bahndamm angelangt war, erreichten die beiden Kriminalbeamten gerade erst dessen Fuß. Es sah nicht eben elegant aus, wie sie nach oben krabbelten. Immer wieder rutschten sie zurück und mussten sich an dünnen Ästen festhalten, die dann auch noch abbrachen.

Als sie es endlich geschafft hatten und oben standen, war Zantoch schon über die Gütergleise hinweggesprungen und stand wartend an der Ringbahntrasse. Warum das - wollte er doch noch aufgeben?

«Zantoch, nehmen Sie die Hände hoch, und kommen Sie her!», rief Kappe.

Der Maurer fuhr herum und starrte sie an, während der Fahrer eines S-Bahn-Zuges, der sich vom Bahnhof Schmargendorf her näherte, mit einem wütenden Signalton auf sich aufmerksam machte.

«Mich kriegt ihr nie!», schrie Zantoch und warf sich vor den Zug.

Die hunderttausend Menschen im Olympiastadion fieberten dem Endlauf über 1500 Meter entgegen, doch erst war die Ankunft des Führers abzuwarten. Als er im Stadion erschien, sprangen sie auf, um ihm zuzujubeln. Kaum hatte er Platz genommen, schrillte die Trillerpfeife des Starters durch das Rund, und während es still wurde, traten die zwölf besten Läufer der Welt an die Startlinie, die am Anfang der Gegengerade gelegen war. Erst waren dreihundert Meter zurückzulegen, dann folgten drei Stadionrunden à 400 Meter. Ganz innen stand Luigi Beccali, der Olympiasieger von 1932, aus Italien. Er zählte mit John Lovelock aus Neuseeland und Glen Cunningham aus den USA zu den Favoriten.

Kappe saß im Oberring neben dem Marathontor, und zwar etwa auf Höhe des Hundertmeterstarts. Von hier oben glaubte er, in einem der beiden Deutschen, die nebeneinander Aufstellung genommen hatten, Martin Kammholz zu erkennen. Das löste in ihm eine solche Freude aus, dass ihm die Tränen in die Augen traten. Die Leute neben ihm schrieben diese Reaktion dem Erscheinen des Führers zu, was sie noch mehr erbeben ließ.

Der Startschuss fiel. Durch das Stadion hallten hunderttausend kleine Schreie einer sich entladenden inneren Anspannung und mischten sich zu einem Raunen, einem Rauschen, das Kappe an die stürmische See erinnerte. Sofort schob sich der Engländer Jerry Cornes an die Spitze, gefolgt von Martin Kammholz. Kappe sprang auf, um dem Mann zuzujubeln, dem er den Sieg wie keinem anderen wünschte. Doch als das Feld an seinem Block vorbeizog, bemerkte er, dass er sich geirrt hatte. Der Deutsche, den er für Martin Kammholz gehalten hatte, war ganz eindeutig dieser Böttcher aus Wittenberg, der andere war Friedrich Schaumberg aus Oberhausen.

Kappe fiel auf seine Bank zurück und nahm gar nicht mehr richtig war, dass John Lovelock das Rennen in neuer Weltrekordzeit vor Glen Cunningham gewann. Wie versteinert saß er da. Was war geschehen? Endlich stand er auf, um zu sehen, ob er einen Athleten traf, den er fragen konnte. Im Wandelgang angekommen, irrte er umher und verlor die Orientierung. Erst als er das Schwimmstadion unten liegen sah, wusste er wieder in etwa, wo er war. Er stieg hinab und suchte nach einem Besucher, der als Mitglied oder Anhänger des CSC zu erkennen war, dem Verein von Martin Kammholz. Aber es war keiner auszumachen, sosehr er die Augen offen hielt.

Schließlich traf er auf Friedrich Schaumburg, den Deutschen, der über die 1500 Meter Zehnter geworden war. Ziemlich gedrückt wollte der sich aus dem Stadion schleichen.

Kappe sprach ihn an. «Entschuldigen Sie, aber können Sie mir sagen, warum Martin Kammholz nicht zum Endlauf angetreten ist?»

«Keine Ahnung, in seinem Vorlauf ist er ja mühelos Dritter geworden. Aber fragen Sie doch mal den Herrn Wieluhn, den habe ich eben am Marathontor gesehen.»

Kappe bedankte sich und lief mit ausholenden Schritten zum Marathontor, wo Waldemar Wieluhn tatsächlich stand und mit einer Gruppe ausländischer Journalisten diskutierte. Man sprach in einer Mischung aus Deutsch, Englisch und Französisch.

Als der Mann vom CSC Kappe erblickte, kam er sofort auf ihn zu. «Wissen Sie, was mit Martin Kammholz ist?»

Kappe zuckte mit den Schultern. «Nein, woher … Den Mord an Wanzka hat er jedenfalls nicht begangen, das war ein anderer.»

«Ein anderer?» Wieluhn schloss die Augen und schüttelte den Kopf, um anzuzeigen, dass er die Welt nicht mehr verstand. «Die Gestapo war bei Kammholz zu Hause und hat ihn mitgenommen. Dabei hat ihm einer der Männer ‹aus Versehen› so auf den Fuß getreten, dass sein Mittelfußknochen gebrochen ist.»

Horst Bosetzky alias -ky lebt in Berlin und gilt als «Denkmal der deutschen Kriminalliteratur». Mit einer mehrteiligen Familiensaga sowie zeitgeschichtlichen Spannungsromanen avancierte er zu einem der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Zuletzt erschienen im Jaron Verlag von ihm die Werke «Kempinski erobert Berlin» (2010), «Bücherwahn» («Es geschah in Berlin 1928», 2010), «Am Tag, als Walter Ulbricht starb» (mit Jan Eik, in der Reihe «Berliner Mauerkrimis», 2010) und «Rumbalotte» (2010).

Originalausgabe

1. Auflage 2011

© 2011 Jaron Verlag GmbH, Berlin

1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

ISBN 9783955520137

EINS

MAN SCHRIEB den 30. Juni 1934. Es sollte der Tag werden, an dem in Deutschland ein Morden ohnegleichen begann. Bis zum 2. Juli mussten über zweihundert Menschen ihr Leben lassen.

Eugen von Kessel saß in seinem Büro am Rande des Tiergartens und unterhielt sich mit einem englischen Journalisten über dieses und jenes. Wer mit Nachrichten handelte, hatte seine Kontakte zu pflegen. Geben und nehmen hieß die Devise.

Auf dem Notizzettel von Mr. Hounslow stand einiges über Eugen von Kessel: Geboren 1890 in Frankfurt am Main. Im Krieg bei der Artillerie, 1918 Oberleutnant. Nach Kriegsende beim Freikorps des Obersten Reinhard, möglicherweise an einigen Fememorden beteiligt. In der Weimarer Republik im Polizeidienst, zuletzt Polizeihauptmann. Danach privates Nachrichten-Bureau. 1933 Eintritt in die NSDAP. Zusammenarbeit mit der Gestapo.

Mr. Hounslow schrieb an einem Artikel über Ernst Oberfohren, den Reichstagsabgeordneten der Deutschnationalen Volkspartei, der DNVP, den man am 7. Mai 1933 erschossen in seiner Wohnung aufgefunden hatte.

«Herr von Kessel, Oberfohrens persönliche Feindschaft mit dem NSDAP-Gauleiter Hinrich Lohse ist bekannt. Es gibt Gerüchte, dass sein Mörder aus den Kreisen um Lohse kommt.»

«Es handelt sich eindeutig um einen Freitod», erklärte Eugen von Kessel. «Oberfohren wollte Front gegen Hugenberg machen und ist damit kläglich gescheitert. Als die Braunschweigische Landeszeitung ihn an den Pranger gestellt hatte, war er völlig isoliert und hat keinen anderen Weg mehr gesehen.»

Sie diskutierten noch eine Weile über den Fall Oberfohren, dann wollte Eugen von Kessel wissen, ob es in den USA, Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden und Schweden ernsthafte Versuche gäbe, die Olympischen Spiele in Berlin zu boykottieren. Informationen zu diesem Thema ließen sich die Herren Heydrich, Göring und Goebbels immer etwas kosten.

Mr. Hounslow überlegte einen Augenblick. «Was die USA betrifft, so rate ich der Reichsregierung, in der Judenfrage umsichtiger vorzugehen. Was im Deutschen Reich mit den Juden geschieht, löst drüben große Empörung aus, und ich bin mir sicher, dass die Fair-Play-Bewegung einen Boykott der Olympischen Spiele durch die USA durchsetzt, wenn auch nur ein jüdischer Sportler daran gehindert wird, in Berlin an den Start zu gehen. Aber auch in Paris brodelt es, und man denkt an die Gründung eines Comité international pour le respect de l’esprit olympique

Eugen von Kessel bedankte sich bei Mr. Hounslow und ließ sich, nachdem der Brite gegangen war, von seiner Sekretärin neuen Kaffee aufbrühen, um über das Gehörte nachzudenken. Hitler brauchte die Olympischen Spiele, um sich der Welt als Friedensfürst und Meister der Organisation zu präsentieren, und dazu war es nötig, Gestapo, SA und SS gehörig zu bremsen. Was die anpackten, erschien von Kessel zu blind und zu plump, und was sich in ihren Reihen tummelte, war in seinen Augen zumeist Pack und Gesindel. Es war Zeit, dem Führer die Augen zu öffnen.

Während Eugen von Kessel über die nächsten Schritte nachdachte, hörte er draußen im Vorzimmer Tumult. Stühle fielen um, seine Sekretärin schrie auf. Er erhob sich, um nachzusehen, was da im Gange war.

In diesem Augenblick wurde seine Tür aufgestoßen, und ein Trupp SS-Männer stürmte herein. Auch Gestapo-Leute waren dabei. Einen von ihnen kannte er, den Zäcklau. Doch ehe er fragen konnte, was um Gottes willen denn los sei, hatten die Eindringlinge ihre Pistolen herausgerissen.

«Seid ihr denn verrückt geworden!»

Ohne ein Wort zu verlieren, schossen die Männer ihre Magazine leer.

Eugen von Kessel sank hinter seinem Schreibtisch zusammen.

Konrad Zäcklau genoss diesen Tag. Später sollte er seiner Frau erzählen, er sei sich wie ein Kammerjäger vorgekommen. «Alles Ungeziefer muss ausgerottet werden!»

Jetzt ging es zum Reichsverkehrsministerium in der Wilhelmstraße, um mit dem Ministerialdirektor Dr. Erich Klausener abzurechnen. Der stand aus zweierlei Gründen auf der Abschussliste, die ihnen der Gestapo-Chef Reinhard Heydrich am Vormittag in die Hand gedrückt hatte: Zum einen galt Klausener als «gefährlicher Katholikenführer» und hatte Kundgebungen gegen kirchenfeindliche Gruppierungen organisiert, und zum anderen war er vor 1933 als Beamter im preußischen Innenministerium gegen die Ausschreitungen der Nationalsozialisten vorgegangen.

Vor Zäcklau lief der SS-Hauptsturmführer Kurt Gildisch, der in Heydrichs Gunst ganz weit oben stand und, wenn alles glattging, mit einer Beförderung zum SS-Sturmbannführer rechnen konnte: «Sie übernehmen den Fall Klausener, der von Ihnen persönlich zu erschießen ist!» Zäcklau beneidete Gildisch um diesen Auftrag. Er hasste alle Katholiken, zumal die meisten auch noch schwul waren.