Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, dass ihr viel, viel zu spät dran seid, wenn ihr das Buch aus der Bibliothek entliehen habt oder die Taschenbuchausgabe lest. Denkt doch mal nach, ihr könnt das hier in ferner, ferner Zukunft lesen – da wird es womöglich längst in allen Schulen unterrichtet! Sagt mal: Wie ist es denn so in der Zukunft? Trägt jedermann inzwischen eine Robe? Sind die Autos runder oder weniger rund? Gibt es immer noch eine Fußballliga für Damen?

Gute Geschichte. Mein Vater erzählte einmal, wie er und sein Freund Les, wenn sie bei einer Sitzung oder Aussage [er und Les waren Rechtsanwälte (Les, der lebt und dem es gut geht, ist es noch)], Zeit schinden wollten, statt »Hm …« oder »Äh …« zu sagen, auf die Idee kamen, »Also …« zu sagen, ein Wort, das zweierlei besagt: Es dient dem Zeitschinden in demselben Maße wie »Hm …« oder »Äh …«, aber anstatt dumm zu klingen und dadurch abstoßend zu wirken, schafft es einen Schwebezustand mit Blick auf das Kommende, was auch immer es sei, auf das, was der Sprecher noch nicht weiß.

Zunächst einmal:

 

Ich bin müde.

Ich bin aufrichtigen Herzens!

 

Dann aber auch:

 

Du bist müde.

Du bist aufrichtigen Herzens!

 

 

 

 

Größe: 5 Fuß 11; Gewicht: 85 Kilo; Augen: blau; Haare: braun; Hände: molliger als man erwarten würde; Allergien: nur gegen Schuppen; Einordnung auf einer Skala »sexuelle Ausrichtung«, wenn »1« absolut heterosexuell und »10« absolut homosexuell bedeutet: »3«

 

ANMERKUNG: Dies ist nur dann ein Produkt der Fiktion, wo der Autor sich nicht mehr an die genauen Worte bestimmter Leute und die genaue Beschreibung bestimmter Dinge erinnern konnte. Da dies häufig der Fall ist, musste er, so gut er konnte, die Lücken füllen. Andererseits: Alle Personen, Geschehnisse und Dialoge sind real und keine Produkte der Phantasie des Autors. Denn zum Zeitpunkt des Schreibens hatte der Autor keine Phantasie für Dinge dieser Art und konnte sich auch nicht vorstellen, eine Geschichte oder eine Figur zu erfinden – der Versuch war, als würde man mit einem Clownskostüm bekleidet Auto fahren –, vor allem deshalb nicht, weil es so viel zu sagen gibt über seine eigene, wahre, traurige und inspirierende Geschichte, über reale Leute, die er kannte und natürlich über all die Drehungen und Wendungen in seinem aufgewühlten und komplexen Hirn. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen sollte absolut offensichtlich für sie und diejenigen, die sie kennen, sein, vor allem dann, wenn der Autor so nett war, sie mit ihrem richtigen Namen versehen und in manchen Fällen die Telefonnummer genannt hat. Alle hier geschilderten Ereignisse haben tatsächlich stattgefunden, auch wenn der Autor sich ab und an einige sehr kleine Freiheiten in Bezug auf die Chronologie herausgenommen hat – denn das ist sein Recht als Amerikaner.

Richtlinien und Empfehlungen zur Steigerung des Lesevergnügens:

Vorwort zu dieser Ausgabe

Unabhängig von den lautstarken Behauptungen des Autors an anderer Stelle handelt es sich bei diesem Buch keineswegs um rein Autobiografisches. Zahlreiche Abschnitte wurden in unterschiedlichem Maße und aus verschiedenen Gründen fiktionalisiert.

 

DIALOGE: Diese sind natürlich nahezu vollständig nachgestellt. Sie wurden bei aller Wahrheitstreue – außer wenn ein Dialog offenbar nicht wahrheitsgemäß ist wie im Falle von Figuren, die aus ihrem narrativen Raum-Zeit-Kontinuum ausbrechen, um überaus schmeichelhaft über das Buch selbst zu sprechen – aus dem Gedächtnis niedergeschrieben und spiegeln daher sowohl die Grenzen des Erinnerungsvermögens des Autors als auch die Zutaten von seiner Phantasie. Sämtliche Wörter und Sätze wurden durch folgenden Produktionsweg geschleust: 1) sie sind erinnert; 2) sie sind aufgeschrieben; 3) sie sind umformuliert, um präziser zu klingen; 4) sie sind überarbeitet, um einen Erzählstrang zu ergeben (wenn auch im Einklang mit ihrer tieferen Wahrheit); 5) sie sind abermals umformuliert, um dem Autor und den übrigen Charakteren die Schande zu ersparen, so blöd zu klingen, wie sie es nun einmal unweigerlich tun bzw. täten, wenn ihre Sätze, die ausnahmslos mit dem Wort »Ey Mann« beginnen – wie z.B. in dem Satz »Ey Mann, sie ist tot« –, unverändert übernommen worden wären. Es sollte jedoch festgehalten werden, und das ist bemerkenswert, dass die surrealsten Dialoge des Buches, wie der mit den mexikanischen Teenys und der mit der überrumpelten Deirdre, zugleich die wahrheitsgetreusten sind.

 

CHARAKTERE UND DEREN EIGENSCHAFTEN: Auch wenn der Autor es höchst ungern tat, so musste er doch einige Namen abändern und die so umbenannten Charaktere zusätzlich unkenntlich machen. Als bestes Beispiel ist hier die Figur mit Namen John zu nennen, der im wirklichen Leben natürlich nicht John heißt, da Johns Pendant im wirklichen Leben berechtigterweise nicht wollte, dass einige dunkle Abschnitte seines Lebens aufgezeichnet würden – auch wenn er nach der Lektüre des Manuskripts nichts gegen seine Taten und Worte aus dem Munde eines anderen einzuwenden hatte. Vor allem, wenn die Figur weniger ein unmittelbares Abbild als vielmehr ein Vexierbild sei. Was sie in der Tat auch ist. Bei dem Versuch, John in Aktion treten und eine flüssige Erzählung entstehen zu lassen, brachte seine Tarnung einen gewissen Domino-Effekt mit sich und machte einige weitere Fiktionalisierungen erforderlich. Zum Beispiel: Im wirklichen Leben kennt Meredith Weiss, die es in Wirklichkeit gibt, John gar nicht so gut. Die Person, die im wirklichen Leben als Vermittler fungierte, war nicht Meredith, sondern jemand anderes, dessen Auftauchen die Verbindung verraten, ja sogar den armen John verraten würde, und das geht ja nun gar nicht. Also rief der Autor Meredith an:

»Hey.«

»Hey.«

»Sag mal, würde es dir etwas ausmachen, [dieses oder jenes] zu tun und [dieses oder jenes] zu sagen, was du im wirklichen Leben nicht getan oder gesagt hast?«

»Nein, überhaupt nicht.«

Und das war’s. Es sollte jedoch erwähnt werden, dass Meredith’ Hauptszene in Kapitel fünf frei von jeglicher Erfindung ist. Ihr könnt sie fragen. Sie wohnt in Südkalifornien. Im Übrigen werden Namensänderungen im Text angesprochen. Au ja.

 

SCHAUPLÄTZE UND ZEITEN: Erstens gibt es einige Fälle, in denen die Schauplätze geändert wurden. Das gilt vor allem für zwei Episoden in Kapitel fünf. Die Unterhaltung mit Deirdre, in deren Verlauf der Erzähler ihr berichtet, dass Toph in der Schule seine Waffe abgefeuert hat und dann verschwunden ist, fand nicht in jener Nacht an jenem Ort statt, sondern vielmehr auf dem Rücksitz eines Autos, das am Silvesterabend des Jahres 1996 von einer Party zur nächsten fuhr. Im weiteren Verlauf desselben Kapitels treffen der Erzähler und die bereits erwähnte Meredith auf einige Jugendliche an einem Strand in San Francisco. Auch wenn sich diese Episode ansonsten haargenau so abgespielt hat, war der Ort des Geschehens in Wirklichkeit Los Angeles. Zweitens wurden die Ereignisse in demselben Kapitel wie auch in manch anderen Kapiteln zeitlich gerafft. Meistens wird im Text darauf hingewiesen, doch sei an dieser Stelle nochmals gesagt, dass im letzten Drittel des Buches sehr viel in einer anscheinend sehr kurzen Zeit geschieht. Obgleich die meisten dort wiedergegebenen Ereignisse in der Tat innerhalb kürzester Zeit passierten, gibt es einige, die es nicht taten. Es sollte jedoch festgehalten werden, dass in folgenden Kapiteln keine Zeitraffung vorkommt: I, II, IV, VII.

 

EINE BEMERKUNG ZUR COLUMBINE HIGH SCHOOL IN LITTLETON, COLORADO: Dieses Buch wurde geschrieben und die Unterhaltung, die es wiedergibt, wurde geführt Jahre vor den Ereignissen an jener Schule und sonst wo. Wir reden von solchen Dingen nicht leichtfertig, weder absichtlich noch unabsichtlich.

 

STREICHUNGEN: Einige wirklich großartige Sexszenen wurden auf Bitten von Personen gestrichen, die heute verheiratet sind oder eine feste Beziehung haben. Ebenso gestrichen wurde eine phantastische Szene – 100 Prozent wahr –, in der die meisten Hauptfiguren und ein Wal vorkommen. Darüber hinaus ist diese Ausgabe Ergebnis der Streichung einer Reihe von Sätzen, Abschnitten und Passagen, als da wären:

 

Hier: Während wir im Bett liegen, gibt es nur wenige, sich endlos dehnende Stunden, in denen Beth schläft, Toph schläft und meine Mutter schläft. Die meisten dieser Stunden bin ich wach. Ich bevorzuge den dunkelsten Teil der Nacht, nach Mitternacht und vor halb fünf, wenn es leerer, hohler ist. Dann kann ich atmen und denken, während andere schlafen, kann gewissermaßen die Zeit anhalten, kann es einrichten – und das war schon immer mein Traum –, während alle anderen erstarren, geschäftig um sie herum zu arbeiten und das jeweils Nötige zu erledigen, wie die Heinzelmännchen, die Schuhe herstellen, während die Kinder schlafen.

Wie ich so daliege, schweißnass in dem bernsteinfarbenen Raum, frage ich mich, ob ich wohl am Morgen ein Nickerchen machen werde. Ich denke, es wird gehen, ich glaube, es wird von, sagen wir, fünf bis zehn gehen, bevor die Pflegekräfte anrücken und alles einstellen und wischen, und so bleibe ich gern noch wach. Doch diese Ausziehcouch bringt mich noch um, die dünne Matratze, die Art, wie sich diese Metallstrebe in meinen Rücken gräbt, mir die Wirbelsäule entzweibricht, sich in sie hineinbohrt. Toph, der sich umdreht und um sich tritt. Und im anderen Teil des Zimmers ihr unregelmäßiges Atmen.

 

Hier: Wie geht man mit so etwas um? Bill ist zu Besuch, und er und Toph und ich fahren gerade über die Bay Bridge und sprechen über Börsenmaklerei. Wir sprechen darüber, dass Toph nun, da er ein Wochenende in Manhattan Beach bei Bill und dessen beiden Mitbewohnern, die Börsenmakler sind, verbracht hat, selbst ebenfalls Börsenmakler werden will. Bill ist so aufgeregt über das Ganze, dass er es kaum aushalten kann, möchte ihm gleich ein Paar Hosenträger kaufen, einen Börsenfernschreiber für Anfänger …

»Wir dachten, wo Toph so gut mit Zahlen umgehen kann, so etwas kann der ideale Beruf für ihn sein …«

Ich lenke den Wagen fast über die Leitplanke der Brücke.

 

Hier: Alkoholismus und Tod lassen einen zum Nimmersatt werden, man verliert jeden Begriff von Moral und verzweifelt.

Glaubst du das wirklich?

Manchmal. Klar. Nein. Doch.

 

Hier: … Aber weißt du, auf der High School habe ich verschiedene Mitglieder meiner Familie gemalt. Das erste Bild war von Toph, nach einem Foto, das ich von ihm gemacht hatte. Da wir für dieses Projekt das Bild aus Präzisionsgründen mit einem Raster überziehen sollten, war das Gemälde in Temperafarben genau richtig; es glich ihm aufs Haar. Nicht so bei den übrigen Zeichnungen. Ich machte mich an ein Bild von Bill, aber sein Gesicht geriet zu streng, seine Augen zu dunkel, und sein Haar sah verfilzt aus, wie bei Caesar, was im wirklichen Leben ganz und gar nicht der Fall war. Das Gemälde von Beth, nach einem Foto, auf dem sie für einen Ball zurechtgemacht ist, war auch daneben – ich ließ es sofort links liegen. Das Gemälde von meiner Mom und meinem Dad, nach einem alten Dia, zeigt sie zusammen auf einem Boot an einem grauen Tag. Meine Mom füllt den größten Teil des Rahmens, blickt in die Kamera, während mein Dad über ihrer Schulter am Bug des Bootes auftaucht, wie er selbstvergessen zur Seite blickt und gar nicht mitbekommt, dass geknipst wird. Auch dieses Bild habe ich versaut – konnte einfach keine Ähnlichkeit herstellen. Als sie die Gemälde sahen, fanden sie sie abscheulich. Bill war erbost, als das Bild von ihm in der Öffentlichen Bibliothek ausgestellt wurde. »Ist das legal?«, fragte er meinen Vater. »Darf er so etwas überhaupt? Ich sehe aus wie ein Monster!« Er hatte Recht. Er sah tatsächlich so aus. Als dann Ricky Wolfgram mich um ein Porträt seines Vaters bat, zögerte ich, weil ich schon so oft an meine Grenzen gestoßen und frustriert worden war durch meine Unfähigkeit, jemanden wiederzugeben, ohne mein Modell zu verzerren – ungeschickt, entsetzlich. Doch Ricky sagte ich zu, aus Achtung und irgendwie freudig erregt ob der Ehre, die er mir hatte angedeihen lassen, mir den Auftrag zu einem Ahnenporträt zu erteilen. Er überließ mir ein förmliches Schwarz-Weiß-Foto, und ich arbeitete wochenlang daran, mit winzigen Pinseln. Als ich fertig war, war die Ähnlichkeit meines Erachtens zwingend. Ich bat Ricky, im Kunstraum der Schule vorbeizukommen, das Bild sei fertig. Eines Tages beendete er sein Mittagessen früher als sonst und kam. Ich drehte es um, mit einer schwungvollen Bewegung, mit großem Stolz und freudiger Erwartung, dass wir beide im Glanz seiner Gegenwart erstrahlen würden.

Doch er sagte:

»Au weia. Das ist nicht gerade, was ich erwartet habe. Es ist nicht … was ich erwartet habe.«

Er ließ den Raum hinter sich und das Gemälde bei mir.

 

Hier: Warum das Gerüst?

Weißt du, ich mag das Gerüst. Ich mag das Gerüst ebenso sehr wie das Gebäude. Besonders wenn dieses Gerüst schön ist, auf seine Weise.

 

Hier: Wenn wir an einem Friedhof vorbeifahren, schnalzen wir mit der Zunge und staunen ungläubig. Vor allem über die großen, die stark belegten – obszöne Orte, so wenig Bäume, all das Grau, wie eine Art monströser Aschenbecher. Wenn wir einmal an einem Friedhof vorbeizogen, konnte Toph nicht hinsehen, und auch ich sah nur hin, um mich meines Versprechens zu vergewissern, um es zu erneuern, dass ich niemals an einem solchen Ort sein wollte, niemals jemanden an einem solchen Ort beerdigen würde – wozu gab es diese Gräber? Wen trösteten sie? –, niemals zulassen würde, selbst an einem solchen Ort beerdigt zu werden, dass ich entweder völlig verschwinden würde …

Ich habe gewisse Vorstellungen, was mein Ableben betrifft: Wenn ich weiß, dass mir nur noch soundso viel Zeit bleibt – wenn ich beispielsweise wirklich Aids habe, wie ich ohnehin glaube, falls es jemand hat, dann ich, warum nicht –, wenn die Zeit gekommen ist, werde ich einfach fortgehen, Lebewohl sagen und fortgehen, und mich dann in den Krater eines Vulkans stürzen.

Nicht dass es überhaupt keinen angemessenen Ort gäbe, jemanden beizusetzen, aber diese städtischen Friedhöfe, eigentlich alle Friedhöfe, wie die entlang des Highways oder die in der Stadtmitte mit all den Leibern und den dazugehörigen Steinbrocken – ach, es ist doch einfach nur primitiv und vulgär, oder? Das Loch und die Kiste, und der Stein auf dem Rasen? Und wir glorifizieren dieses Verfahren, finden es angemessen und dramatisch, schön schlicht, wie wir so dastehen an der Grube und die Kiste hinablassen. Es ist unglaublich. Barbarisch und primitiv.

Obwohl ich sagen muss, dass ich einmal einen Ort sah, der mir passend erschien. Ich ging – ich würde sagen »wanderte«, wenn wir etwas anderes getan hätten als zu gehen, aber da wir schlicht gingen, werde ich das Wort »wandern« nicht verwenden, das zu verwenden jeder sich berufen fühlt, kaum dass er draußen ist und es ein bisschen rauf oder runter geht –, ich ging durch einen Wald oberhalb des Carapa, eines Amazonas-Zuflusses. Ich war auf einem Fest mit einigen anderen Journalisten – zwei von der Zeitschrift Reptile – und einer Gruppe von Herpetologen, einem Haufen rundlicher amerikanischer Schlangenexperten mit Kameras, und wir waren durch diesen Wald über einen aufwärts mäandernden Pfad auf der Suche nach Königsschlangen und Eidechsen geführt worden. Nach vielleicht vierzig Minuten unter diesen scheckigen dunklen Baumkronen lichtete es sich plötzlich, und wir befanden uns auf dem Gipfelpunkt des Pfades, auf einer Lichtung oberhalb des Flusses, und von diesem Punkt aus konnte man bestimmt 150 Kilometer weit sehen. Die Sonne ging gerade unter, und diesen weiten Amazonas-Himmel überzog ein bläulich orangefarbener Farbfilm, zwei dicke Farbkleckse, ineinander verlaufen, als seien sie mit den Fingern verrührt worden. Der Fluss drunten floss gemächlich dahin, die Farbe von Karamell, und jenseits davon erstreckte sich der Wald, der Urwald, ein grünes Chaos von Brokkoliköpfen, so weit das Auge reichte. Und direkt vor uns standen etwa zwanzig einfache weiße Kreuze ohne irgendeine Bezeichnung darauf. Ein Bestattungsplatz für die Bewohner der Gegend.

Und mir kam der Gedanke, dass ich hier bleiben könnte, dass, falls ich beerdigt, mein verrottender Leichnam mit Erde überhäuft werden müsste, ich es aushalten könnte, wenn es hier geschähe. Mit der Aussicht und allem.

Es war ein merkwürdiges Timing, weil ich schon einmal an jenem Tag beinahe sicher gewesen war, diese Welt verlassen zu müssen, und daran waren Piranhas schuld.

Wir hatten unser Schiff geankert, einen dreigeschossigen Flussdampfer, in einem kleinen toten Flussarm, und unsere einheimischen Führer fischten Piranhas, und zwar nur mit Hilfe von Stöcken und Bindfaden und Hühnchenfleisch als Köder. Die Piranhas bissen sofort an. Es war ein Kinderspiel, sie sprangen uns förmlich ins Boot, sprangen herum mit ihren bösen, kleinen Gesichtern.

Und dann, auf der anderen Seite des Boots, ging unser amerikanischer Reiseleiter, ein bärtiger Bill, schwimmen. Das Wasser, das an Tee erinnerte, ließ seine untergetauchten Gliedmaßen rot aussehen, was die Tatsache umso beunruhigender machte, dass er in einem Schwarm von Piranhas schwamm.

»Komm ins Wasser!«, sagte er.

Mein Gott, no way.

Dann waren schließlich alle anderen im Wasser, die rundlichen Herpetologen waren drin, all ihre Gliedmaßen in dem blutroten Tee. Man hatte mir gesagt, Piranhas griffen nur äußerst selten an (es sei allerdings auch nicht ausgeschlossen), ich hätte nichts zu befürchten, und so sprang ich alsbald vom Boot und schwamm ebenfalls, ziemlich zuversichtlich darüber, dass meine Chancen im Falle einer Fressorgie besser standen, als wenn ich allein im Wasser gewesen wäre – während die Fische jemand anderen in sich hineinschlängen, hätte ich Zeit, mich schwimmend in Sicherheit zu bringen. Tatsächlich überschlug ich das Risiko und rechnete aus, wie lange die Fische wohl bräuchten, die vier anderen zu fressen, und wie lange ich bräuchte, um ans Flussufer zu gelangen. Nach etwa drei oder vier Minuten, jede einzelne davon eine Angstpartie, bei der ich versuchte, nicht mit den Füßen den schlammigen Boden zu berühren und meine Bewegungen so klein wie möglich zu halten, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, floh ich aus dem Wasser.

Später probierte ich ein Kanu aus, das einem unserer Reiseleiter gehörte. Während ein paar Herpetologen erfolglos versuchten, nicht damit zu kentern, war ich, so ungemein elegant und beweglich, überzeugt, damit umgehen zu können, ohne zu kentern. So stieg ich in das schmale Kanu, fand die Balance und paddelte los. Und eine Zeit lang schaffte ich es auch. Mit abwechselnden Paddelbewegungen entfernte ich mich flussabwärts vom Dampfer, ein Inbegriff von Geschicklichkeit und Anmut. Dann aber, etwa zweihundert Meter flussabwärts, begann das Kanu zu sinken. Ich war zu schwer. Es nahm Wasser auf.

Ich schaute zum Boot zurück. Die peruanischen Reiseleiter sahen allesamt zu, waren völlig aus dem Häuschen. Ich versank in der braunen Brühe, die Strömung trieb mich weiter flussabwärts, und sie lachten, bogen sich vor Lachen. Sie fanden es ungeheuer komisch.

Das Kanu kenterte, und ich fiel ins Wasser, mittlerweile mitten auf dem Fluss, wo es viel tiefer, das Braun einen Tick dunkler war. Ich konnte meine Arme und Beine nicht sehen. Ich kletterte auf das gekenterte Kanu, der Verzweiflung nahe.

Ich war sicher, dass ich verloren war. Sicher, die Piranhas drüben am Schiff hatten uns zwar nicht angerührt, aber woher sollte man wissen, dass sie auch hier draußen einen Happen von meinem Finger verschmähen würden? Sie knabberten häufiger irgendwelche Finger und Füße an, das würde dann bluten und dann … O mein Gott, Toph.

Da lag ich, das Kanu sank abermals, sank, obschon gekentert, unter meinem Gewicht. Schon bald würde ich wieder bis zum Hals in diesem Flusswasser stecken, das mit Piranhas verseucht war, und mein Plantschen würde sie anlocken – ich versuchte ja, mich so wenig wie möglich zu bewegen, nur ein paar ruhige Züge mit den Beinen, um über Wasser zu bleiben –, und dann würde langsam an mir herumgenagt, würden ganze Bissen aus meinen Waden, aus meinem Bauch gerissen, und wenn das Fleisch erst einmal verletzt wäre und Blut strömte, kämen sie hastig angeschwärmt, hundert auf einmal, sähe ich hinab, und meine Gliedmaßen inmitten einer schrecklichen Brühe von Zähnen und Blut, würde sauber genagt, bis auf die Knochen, und warum? Weil ich der Gruppe unbedingt beweisen musste, dass ich zu allem fähig war, wozu ein peruanischer Flussführer in der Lage ist …

Und ich dachte an den armen Toph, den armen Jungen, dreitausend Meilen weit weg, der bei meiner Schwester war … Wie hatte ich ihn nur verlassen können?

 

Hier: [M]eine Mutter las jeden Abend einen Horrorroman. Sie hatte schon jeden einzelnen in der Bücherei gelesen. Standen ihr Geburtstag oder Weihnachten vor der Tür, überlegte ich regelmäßig, ob ich ihr einen neuen kaufen sollte, den neuesten Dean R. Koontz oder Stephen King oder was auch immer, doch ich brachte es nicht über mich. Ich wollte sie nicht ermutigen. Ich konnte die Zigaretten meines Vaters nicht anfassen, konnte die Pall-Mall-Schachteln in der Vorratskammer nicht ansehen. Ich war die Sorte Kind, die nicht einmal Reklame für Horrorfilme im Fernsehen anschauen konnte – die Vorschau für Magic, den Film, in dem die Marionette Leute tötet, wurde für mich zu einem einzigen Alptraum, der sechs Monate andauerte. Also konnte ich auch ihre Bücher nicht ansehen, drehte sie um, so dass die Vorderseite des Umschlags verdeckt war, mit den vorspringenden Buchstaben und Blutflecken – vor allem auf den Büchern von V.C. Andrews –, all diese aufgeblasenen Bilder zu Tode erschreckter, erstarrter Kinder, in blaues Licht getaucht.

 

Hier: Bill und Beth und Toph und ich sehen die Nachrichten. In einer kurzen Meldung geht es um die Großmutter von George Bush. Anscheinend hat sie Geburtstag. Wir diskutieren, wie alt die Großmutter eines Endsechzigers wohl sein muss. Es scheint geradezu unmöglich, dass sie überhaupt noch atmet. Beth schaltet um.

»Das ist ekelhaft«, sagt sie.

 

Hier: [S]ie lebte irgendwie in einem ewigen Jetzt. Immerzu musste man ihr die Umstände erklären, die sie hierher gebracht hatten, die Ausgangs- und Rahmenbedingungen für ihre jetzige Situation. Tag für Tag musste man ihr Dutzende Male alles aufs Neue erklären – Woher komme ich? Welchem Betriebsunfall verdanke ich meine Existenz? Wie bin ich hier gelandet? Wer sind diese Menschen? –, wie der Unfall passiert war, zumindest in groben Zügen, und sie ständig an das erinnern, was sie immer wieder vergaß … Nicht vergaß. Vielmehr nicht die Fähigkeit besaß, die Information festzuhalten …

Aber wer hat die schon? Scheiß egal, sie war am Leben, und sie wusste es. Ihre Stimme sang auf dieselbe Art, wie sie es immer getan hatte, sie bekam wegen der kleinsten Dinge Stielaugen, wegen allem, selbst meines Haarschnitts wegen. Ja, sie wusste noch all das, was sie die ganzen Jahre begleitet hatte, und konnte darauf zurückgreifen – dieser Teil ihres Erinnerungsvermögens funktionierte noch, und während ich die Verantwortlichen bestrafen wollte, es genießen und wahrscheinlich nie die Lust daran verlieren würde, ließ das Zusammensein mit ihr, die Nähe zu ihrer Haut und zu dem Blut, das darunter strömte, meinen Hass verfliegen. Die Musik am Pool wechselte.

»Oh, ich mag dieses Lied«, sagte sie und wiegte im Takt den Kopf.

 

Schließlich wurden für diese Ausgabe auf Bitten des Autors sämtliche Motti gestrichen – u.a. »Des Herzens unsterblicher Durst, vollständig erkannt zu sein und alles vergeben zu bekommen.« (H. van Dyke); »[Meine Gedichte] mögen den Toten weh tun, aber die Toten sind ein Teil meiner selbst.« (A. Sexton); »Nicht jeder Junge, den man vor die Wölfe wirft, wird ein Held.« (J. Barth); »Alles wird vergessen, nichts wieder gutgemacht.« (M. Kundera); »Warum nicht einfach schreiben, was passiert ist?« (R. Lowell); »Oh, schaut mich an, ich heiße Dave und schreibe ein Buch! Mit all meinen Gedanken darin! La la la!« (Christopher Eggers) –, da der Autor sich eigentlich noch nie zu der Sorte Mensch gezählt hat, die Motti verwendet.

August 1999

Worte der Anerkennung

Der Autor möchte zunächst und vor allem seinen Freunden bei der NASA und im Marinekorps der Vereinigten Staaten für ihre unschätzbare Unterstützung und unermessliche Hilfe bei der Lösung technischer Probleme im Zusammenhang mit dieser Erzählung seine tiefe Anerkennung aussprechen. ¡Les saludo, muchachos! Auch möchte er ein Wort des Dankes an die vielen Menschen richten, die gezeigt haben, was Großzügigkeit auch heißen kann, als sie genehmigten, mit ihren wirklichen Namen und Handlungen in diesem Buch aufzutauchen. Das gilt besonders für die Geschwister des Autors, vor allem für seine Schwester Beth, deren Erinnerungen meist lebendiger waren, und es gilt aus nahe liegenden Gründen erst recht für Toph (ausgesprochen »Tofe«). Bill, der ältere Bruder des Autors, wird nicht eigens erwähnt, weil er Republikaner ist. Der Autor muss anerkennen, dass ihm Rot nicht steht. Oder Rosa oder Orange oder sogar Gelb – er ist kein Frühlingstyp. Und bis letztes Jahr war er der Meinung, Evelyn Waugh sei eine Frau und George Eliot ein Mann. Ferner muss der Autor und die, die hinter der Produktion dieses Buches stecken, wohl oder übel zugeben, dass vielleicht tatsächlich momentan zu viele biografisch orientierte Bücher geschrieben werden und dass solche Bücher über wirkliche Begebenheiten und wirkliche Menschen im Gegensatz zu irgendwie erfundenen Begebenheiten und Menschen von Natur aus abscheulich und korrupt und falsch und böse und schlecht sind, sie möchten aber auch jedermann daran erinnern, dass wir auch schlechter dran sein könnten, als Leser wie als Schriftsteller. Anekdote: Mitten im Entstehungsprozess dieser … dieser … Memoiren sprach den Autor einer seiner Bekannten in einem Laden, halb Restaurant, halb Bar mit Western-Einrichtung, an, als der Autor eine Portion herzhafter Rippchen mit Kartoffeln aß, Letztere frittiert nach französischer Art. Der ihn Ansprechende nahm dem Autor gegenüber Platz, fragte, was es Neues gäbe, was so los sei, woran er zur Zeit arbeite usw. Der Autor sagte, nun, hm, dass er irgendwie an einem Buch arbeite, und grummelte irgendetwas vor sich hin. Oh, wow, sagte der Bekannte, der ein sportliches Sakko trug, das allem Anschein nach (aber es könnte auch an der Beleuchtung gelegen haben) aus lilafarbenem Velours gefertigt war. Was für ein Buch?, fragte der Bekannte (nennen wir ihn, wartet mal, »Oswald«). Wovon handelt es?, fragte Oswald. Nun, puh, sagte der Autor, auch dieses Mal äußerst mitteilsam, das lässt sich nur schwer beschreiben, was soll ich sagen, es ist so ne Art von Memoiren, so in der Art. – O nein!, sagte Oswald laut, indem er ihm ins Wort fiel. (Oswald hatte, das dürfte euch interessieren, einen Stufenhaarschnitt im Stil der 80er Jahre.) Sag bloß, du bist in diese Falle getappt! (Das Haar fiel ihm wallend über die Schultern wie bei den Dungeons- and Dragons-Gestalten.) Memoiren! Ach komm, der Trick ist doch uralt, Mann! So fuhr er noch eine Zeit lang fort, immer den neusten Szenenjargon parat, bis der Autor sich, nun ja, irgendwie schlecht fühlte. Vielleicht hatte Oswald mit dem Sakko aus lila Velours und den braunen Kordhosen ja Recht – vielleicht waren Memoiren Schlecht. Vielleicht war es Schlecht, über tatsächliche Begebenheiten als Ich-Erzähler zu schreiben, vor allem, wenn man nicht aus Irland kam und noch keine siebzig war. Er hatte einen Nerv getroffen! In der Hoffnung, damit das Thema zu wechseln, fragte der Autor Oswald, der mit einem Präsidentenmörder den Nachnamen teilt, was es denn sei, woran er arbeite. (Oswald war so etwas wie ein Berufsschriftsteller.) Natürlich erwartete der Autor und fürchtete zugleich, dass Oswalds Projekt von schwerwiegender Bedeutung und gewaltigem Umfang war – eine Absage an den Keynesianismus, eine Überarbeitung der Überarbeitung des Beowolf-Stoffes à la Grendel (dieses Mal aus Sicht umstehender Nadelbäume), was auch immer. Aber wisst ihr, was er sagte, der mit dem wilden Haarschnitt und einem Sakko aus lilafarbenem Velours? Was er sagte, war: Ein Drehbuch. Er setzte das Wort damals nicht kursiv, aber wir wollen es hier nachholen: Ein Drehbuch. Was für ein Drehbuch?, fragte der Autor, der kein übermäßig großes Problem mit Drehbüchern hat, schon wegen seiner großen Vorliebe für Kinofilme und all das, wie da unserer gewaltbereiten Gesellschaft der Spiegel vorgehalten wird und all das, sich aber dennoch angesichts dieser Auskunft plötzlich etwas besser fühlte. Die Antwort: Ein Drehbuch »über William S. Burroughs und die Drogenkultur«. Nun, plötzlich riss die Wolkendecke auf, die Sonne schien wieder, und einmal mehr war dem Autor klar: dass, selbst wenn die Idee, eine wahre Geschichte zu erzählen, eine schlechte Idee ist, und selbst wenn die Idee, über Sterbefälle in der Familie und die sich daraus ergebenden Desillusionierungen zu schreiben, für jedermann völlig reizlos ist außer für Klassenkameraden des Autors an der High School und einige wenige, die an Universitäten in New Mexico Creative Writing studieren, es doch Ideen gibt, die noch viel, viel schlechter sind. Wenn euch übrigens die Vorstellung stört, dies hier sei alles wirklich passiert, seid ihr herzlich eingeladen zu tun, was auch der Autor hätte tun sollen und was Autor und Leser seit Menschengedenken ohnehin bereits tun:

TUT SO, ALS SEI ALLES ERFUNDEN.

Tatsächlich möchte euch der Autor ein Angebot machen. Für die, die auf Oswalds Seite stehen, gibt es folgende Offerte: Wenn ihr ein Exemplar dieses Buches – gebunden oder als Taschenbuch – einsendet, schickt er euch im Gegenzug eine 3,5-Zoll-Diskette, auf der eine komplette, computerlesbare Version dieses Werkes gespeichert ist, wenn auch mit veränderten Namen und Schauplätzen, so dass die einzigen Personen, die wissen, wer wer ist, diejenigen sind, deren Lebensgeschichten, freilich leicht abgeändert, in dieses Buch Eingang gefunden haben. Und voila! Schon habt ihr eine erfundene Geschichte! Darüber hinaus wird die computerlesbare Fassung eine interaktive sein, wie wir es von unseren Digitalisierungen erwarten (hey, übrigens, da fällt mir ein, habt ihr von diesen neuen Mikrochips gehört, die kaum größer als ein Molekül sind? Die, groß wie ein Salzkorn, in einer Sekunde sämtliche Funktionen ausführen können, die je ein Computer seit Menschengedenken auszuführen in der Lage war? Glaubt ihr das? Nun, es gilt heute so gut wie ehedem: Die Technik verändert unsere Lebensweise). Zu der computerlesbaren Fassung sei vorausgeschickt, dass ihr die Möglichkeit habt, den Namen des Protagonisten zu wählen. Wir liefern Dutzende von Vorschlägen, darunter ›der Schriftsteller‹, ›der Autor‹, ›der Journalist‹ und ›Paul Theroux‹ – oder ihr könnt euch selbst daranmachen, einen Namen zu erfinden! Eigentlich müsste es unter Verwendung der Suche/Ersetze-Funktion, die euer Computer sicher bereithält, möglich sein, sämtliche Namen zu ändern, von den Hauptcharakteren bis zu den kleinsten Nebenrollen. (Es kann also um euch gehen! Um euch und eure Kumpels!) Interessenten an der fiktionalen Fassung dieses Buches sollten ihre Exemplare einsenden an: E.H.W.V.U.G. Besonderes Angebot für Fiction-Fans: c/o Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Bahnhofsvorplatz 1, 50667 Köln. Anmerkung: Dieses Angebot steht. Obwohl: Einmal eingeschickte Bücher können leider nicht zurückgegeben werden. Stattdessen: Sie kommen zu den übrigen Remittenden. Weiter geht es: Der Autor möchte die Existenz eines Planeten jenseits des Pluto anerkennen und außerdem aufgrund seiner eigenen beiläufig betriebenen Forschung und seines Glaubens die Planetenschaft des Pluto bekräftigen. Wie konnten wir Pluto das antun? Pluto war doch gut zu uns. Der Autor erkennt an, dass ihr dieses Buch, da es mitunter haha ist, getrost vergessen könnt. Der Autor muss anerkennen, dass ihr ein Problem mit dem Titel habt. Er hat selbst auch Vorbehalte. Der Titel, den ihr auf dem Cover seht, ist als Sieger aus einem wettkampfartigen Titelturnier hervorgegangen, das an einem langen Wochenende im Dezember 1998 außerhalb von Phoenix, Arizona, ausgetragen wurde. Hier die übrigen Turnierteilnehmer mit den Gründen für ihr Ausscheiden: Ein herzzerreißendes Werk über Tod und Beschämung (irgendwie zu traurig); Ein erstaunliches Werk über Mut und Kraft (klingt nach Stephen Ambrose); Erinnerungen an eine katholische Kindheit (auch ziemlich abgegriffen); Alt und Schwarz in Amerika (ein Risiko, sagten einige). Wir zogen Letzteren vor, weil er sowohl auf das Altern als auch auf eine amerikanische Spielart des Andersseins anspielt, doch der Verlag lehnte ihn rundherum ab, so dass nur noch Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität übrig blieb. Ihr müsst zugeben, dass dieser Titel euch ins Auge stach. Auf den ersten Blick habt ihr ihn wörtlich genommen und sofort danach gegriffen. »Das ist genau die Sorte Buch, nach der ich gesucht habe!« Viele von euch, besonders die, die auf Sentimentalität und Melodramatik stehen, fühlten sich von dem Titelelement ›Herzzerreißend‹ angezogen. Andere dachten, der Aspekt ›umwerfende Genialität‹ klänge besonders viel versprechend. Aber dann dachtet ihr, Moment mal, passen die beiden Titelelemente überhaupt zusammen? Oder sind sie wie Erdnussbutter und Schokolade, Karo- und Blumenmuster – dazu verdammt, niemals friedlich nebeneinander bestehen zu können? So fragt man sich, wenn denn dieses Buch tatsächlich herzzerreißend ist, warum dann die Stimmung mit marktschreierischer Anpreisung verderben? Oder wenn der Titel irgend so ein ausgeklügelter Witz ist, warum ihm dann einen sentimentalen Anstrich geben? Und damit ist ja noch nichts gesagt über die Pseudo-Prahlerei (oder doch echte Prahlerei? O nein, bitte nicht), die in dem gesamten Titel steckt, wenn man ihn zusammensetzt. Am Ende läuft die einzig logische Erklärung des Titels hinaus auf a) einen billigen Witz, b) gepaart mit einem allerdings schwach umgesetzten Interesse an innovativen Titeln (mit der alleinigen Absicht, wie es scheint, zu schockieren), das c) natürlich unterlaufen wird durch den Billigen-Witz-Aspekt und d) in Zweifel gezogen wird durch den sich aufdrängenden Eindruck, dass es dem Autor todernst ist mit seinem Gefühl, dass der Titel als präzise Ultrakurzform den Inhalt, die Erzählabsicht und die Qualität des Buches wiedergibt. Andererseits, ach, was soll’s – spielt das jetzt überhaupt noch eine Rolle? Zum Teufel nein. Ihr seid jetzt hier, ihr seid mit von der Partie, jetzt wird gefeiert! Der Autor muss zugeben, dass er 1996 für Ross Perot gestimmt hat und sich dessen nicht im mindesten schämt, weil er ein leidenschaftlicher Anhänger der Reichen und Verrückten ist, insbesondere wenn ihre Herzen bluten, was bei Mr. Perots Herz der Fall ist, ehrlich. Andererseits fühlt sich der Autor verpflichtet anzuerkennen, dass, ja, der Erfolg von Memoiren – im Grunde eines jeden Buches – tatsächlich viel damit zu tun hat, wie ansprechend ihr Erzähler ist. Zu diesem Punkt möchte der Autor Folgendes sagen:

a) Er ist so wie jeder von euch.

b) Er schläft, wie ihr, kurz nachdem er sich betrunken hat, ein.

c) Er hat manchmal Sex ohne Kondome.

d) Er schläft manchmal ein, wenn er betrunken ist und Sex ohne Kondome hat.

e) Er hat seinen Eltern niemals zu einer anständigen Beerdigung verholfen.

f) Er hat niemals das College abgeschlossen.

g) Er rechnet damit, jung zu sterben.

h) Er hat Angst vor Nahrungsmitteln, weil sein Vater rauchte, trank und infolgedessen starb.

i) Er lächelt immer, wenn er einen jungen schwarzen Mann sieht, der ein Baby auf dem Arm hat.

Mit einem Wort: ansprechend. Und das ist ja erst der Anfang!

Nun möchte der Autor gern die Hauptthemen dieses Buches nennen. Es handelt sich dabei um folgende:

 

A) DER UNAUSGESPROCHENE ZAUBER, DER IM VERSCHWINDEN DER ELTERN LIEGT

Es ist der Traum jedes Kindes und Jugendlichen. Manchmal steigt er aus Bitterkeit auf. Manchmal entspringt er dem Selbstmitleid. Manchmal möchte man einfach Aufmerksamkeit erregen. Normalerweise spielen alle drei Faktoren eine Rolle. Tatsache ist, dass jeder früher oder später Tagträume über den Tod der Eltern hat und darüber, wie es wohl wäre, ein Waisenkind zu sein, wie Annie oder Pippi Langstrumpf oder wie neulich die schönen, tragischen Unschuldslämmer aus der Serie Party of Five. Man träumt, dass an die Stelle der Elternliebe, die einem überraschenderweise geschenkt, häufiger noch vorenthalten wird, in dem Moment, in dem die Eltern nicht mehr leben, eine andere Liebe und Aufmerksamkeit tritt, mit der man nur so überschüttet wird, dass die Gemeinde, die Verwandten, die Freunde und Lehrer, die ganze Umgebung, plötzlich von einer Sympathie- und Faszinationswelle für ein verwaistes Kind ergriffen werden, das fortan ein Leben im Rampenlicht führt, dem etwas Ergreifendes anhaftet, der aus einer Tragödie geborene Ruhm – beileibe die beste Ruhmesart. Die meisten Menschen haben solche Tagträume, einige leben sie, und in dieser Hinsicht wird dieses Buch nahe legen, dass es im wirklichen Leben genauso zugeht wie bei Pippi Langstrumpf. So folgt aus unvergleichlichem Verlust nicht nur permanenter Lebenskampf und eine gewisse Versteinerung des Herzens, sondern auch einige nicht zu verachtende Vorteile, angefangen mit absoluter Freiheit, die sich auf mancherlei Art und Weise deuten und gebrauchen lässt. Und obwohl es geradezu unvorstellbar ist, innerhalb von 32 Tagen beide Elternteile zu verlieren – es gibt da diesen Satz aus Oscar Wildes Ernst sein ist alles: »Ein Elternteil zu verlieren, Mr. Worthing, kann man als Pech bezeichnen. Beide zu verlieren, schmeckt nach Leichtsinn.« – und sie noch dazu durch völlig unterschiedliche Krankheiten (Krebs, klar, aber was Lokalisierung, Krankheitsdauer und Ursache angeht, ganz schön unterschiedlich) zu verlieren, so wird dieser Verlust doch von einem unleugbaren, aber gleichzeitig natürlich Schuldgefühle weckenden Sinn für Mobilität, für unbegrenzte Möglichkeiten begleitet, wenn man sich plötzlich in einer aus den Fugen geratenen Welt wiederfindet.

 

B) DER BRÜDERLICHE-LIEBE-/SELTSAME-SYMBIOSE-FAKTOR

Dieses Thema wird sich wie ein roter Faden durch den gesamten Text ziehen und sollte am Ende des Buches eigentlich auf die überraschende Moral der Geschichte hinauslaufen, auf die große Entlohnung, die da besagt, dass, während der Autor nach Liebe sucht – es werden einige Episoden folgen, in denen es darum geht – und sein Bruder nach, na ja, wonach kleine Kinder eben so suchen (Kaugummi oder Pennies?), und sie zusammen versuchen, normal und glücklich zu sein, sie wahrscheinlich auf ewig in jedweder außerplanmäßigen Beziehung scheitern werden, weil sie einander die einzigen Menschen sind, die sie wirklich bewundern und lieben und für vollkommen halten.

 

C) DER ASPEKT, DASS ES SICH UM EIN SCHMERZLICH UND ENDLOS SELBSTHINTERFRAGENDES BUCH HANDELT

Nicht, dass dieser Gesichtspunkt nicht bereits offenkundig genug wäre. Tatsache ist, dass der Autor weder genug Energie noch, was wichtiger ist, das Können hat, glaubhaft zu machen, dies sei irgendetwas anderes als die Darstellung seiner Erlebnisse, und dass er ein zu schlechter Lügner ist, um diese Erlebnisse in Form einer gekonnt sublimierten Narration zu präsentieren. Zugleich wird er klar und deutlich auf die Tatsache hinweisen, dass dies Memoiren voller Selbstinfragestellungen sind, was ihr vielleicht zu schätzen lernen werdet, womit wir beim nächsten Thema wären:

 

C.2) DAS WISSEN UM DEN ASPEKT, DASS ES SICH UM EIN SELBSTHINTERFRAGENDES BUCH HANDELT

Während der Autor, indem er so selbstbezogen ist, sich selbst hinterfragt, weiß er doch andererseits um die selbsthinterfragende Selbstbezogenheit seines Buches. Darüber hinaus, und wenn ihr zu den Leuten zählt, die erraten können, was als Nächstes passiert, werdet ihr den folgenden Schritt schon ahnen: ist er wild entschlossen, sich sein Wissen um die Selbsthinterfragung seiner Selbstbezogenheit voll und ganz bewusst zu machen. Zudem ist er sich vollkommen im Klaren darüber, und euch darin um Längen voraus, was das Wissen um und die Einsicht in die Effekthascherei betrifft, die in dem Ganzen steckt, und möchte eurem Einwand, das Buch sei wegen besagter Effekthascherei völlig irrelevant, unverzüglich zuvorkommen, indem er die Effekthascherei lediglich zu einem Instrument, zu einer Schutzmaßnahme erklärt, die dazu dient, jene pechschwarze, blind machende, mörderische Wut und Traurigkeit auf dem Grund dieser ganzen Geschichte zu maskieren, die einfach zu kohlrabenschwarz und zugleich zu gleißend ist, um ihrer ansichtig zu werden – wendet ab … eure … Augen! –, aber dennoch nützlich, zumindest für den Autor, selbst noch in karikierter oder komprimierter Form, weil er glaubt, dass es ihm hilft, so vielen Menschen wie möglich davon zu erzählen, um den Schmerz und die Bitterkeit zu lindern und sie so aus seiner Seele zu verbannen, welches Ziel die Klammer für folgenden Themenkreis ist:

 

D) DER ASPEKT, DASS DAS IN-DIE-WELT-ERZÄHLEN VOM EIGENEN LEIDEN EIN MITTEL ZUR VERBANNUNG ODER ZUMINDEST LINDERUNG DES SCHMERZES IST

Um ein Beispiel zu geben, der Autor wird im Verlauf des Buches einige Zeit darauf verwenden, von seinem erfolglosen, wenn auch nur knapp erfolglosen Versuch zu berichten, eine Rolle in der dritten Staffel der Fernsehserie The Real World zu bekommen, die 1994 in San Francisco gedreht wurde. Damals ging es dem Autor um zweierlei: 1) seine Vergangenheit abzustreifen, indem er die jüngsten Ereignisse in seinem Leben in die Welt hinausposaunte, auf dass ihm durch die Mitteilung seines Schmerzes, seiner herzzerreißenden Geschichte von Tausenden oder Millionen von Zuschauern riesige Wogen der Sympathie und Hilfsbereitschaft entgegenschlügen und er nie mehr würde allein sein müssen; 2) wegen seines Schmerzes berühmt zu werden, oder zumindest seinen Leidensweg dazu beitragen zu lassen, berühmt zu werden, und zugleich nicht davor zurückzuschrecken, sich solche Manipulationen seines Schmerzes aus Profitsucht einzugestehen, weil das Eingeständnis eines solchen Motivs, zumindest in seinen Augen, ihn auf der Stelle jeglicher Verantwortung für die Implikationen oder Konsequenzen solcher Manipulationen enthöbe, weil die Tatsache, sich seiner eigenen Motive bewusst zu sein und offen mit ihnen umzugehen, immerhin bedeutet, dass man kein Lügner ist – und niemand, außer Wählern, mag einen Lügner. Wir sind alle für rückhaltlose Offenlegung, besonders wenn sie das Eingeständnis der eigenen 1) Sterblichkeit und 2) Fehlbarkeit einschließt (hängen miteinander zusammen, sind aber nicht identisch).

 

E) DER ASPEKT, DASS EINE ALLUMFASSENDE AUFZEICHNUNG EIN MITTEL IST, ANGESICHTS AUFSTEIGENDER TODESANGST DIE ZEIT ANZUHALTEN

sowie die sich aus E) ergebende logische Konsequenz:

 

E.2) IN ERGÄNZUNG ZUR AUFZEICHNUNG DIESER GESCHICHTE ALS MITTEL, DIE ZEIT ANZUHALTEN, DIE SEXUELLEN BEGEGNUNGEN MIT ALTEN FREUNDINNEN ODER FLAMMEN AUS DER SCHULZEIT ALS MITTEL ZUR AUFHEBUNG DER ZEIT UND ZUR AUFRECHTERHALTUNG DES SELBSTWERTGEFÜHLS

 

F) DER TEIL, WO DER AUTOR SEINE ELTERN ENTWEDER AUSSCHLACHTET ODER VERKLÄRT, JE NACH EURER SICHTWEISE

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G) DAS UNWILLKÜRLICHE GEFÜHL, DAS EINEN BESCHLEICHT, NACHDEM EINEM ETWAS WIRKLICH SELTSAMES ODER AUSSERGEWÖHNLICHES ODER AUSSERGEWÖHNLICH SELTSAMES ODER SELTSAM SCHRECKLICHES WIDERFAHREN IST, DER ASPEKT, DASS MAN IRGENDWIE AUSERWÄHLT IST

So ist es natürlich dem Autor ergangen. Nach dem Doppeltod und der Zeit der Vormundschaft fühlte er sich plötzlich beobachtet – er konnte nicht umhin zu glauben, ganz so wie es einem vom Blitz Getroffenen erginge, dass er irgendwie auserkoren sei, dass sein Leben danach einem höheren Zweck diene, größte Bedeutung habe, dass er keine Zeit vergeuden dürfe, dass er im Einklang mit seiner Bestimmung handeln müsse, dass es so glasklar auf der Hand liege, dass … dass … er erwählt worden sei … zu führen!

 

H) DER ASPEKT, DER MIT (WOMÖGLICH) ERERBTEM FATALISMUS ZU TUN HAT

wahrscheinlich