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© Verlag KOMPLETT-MEDIA GmbH

2013, München / Grünwald

www.der-wissens-verlag.de

ISBN 978-3-8312-5729-4

Lektorat: Carolina Haut

Design Cover: Heike Collip, Pfronten

Satz: Schulz Bild & Text, Mainz


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HEROLD Auslieferung Service GmbH
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Ernst Peter Fischer

Gott und die
anderen Großen

Wahrheit und Geheimnis in der Wissenschaft

Wissenschaft ist „das wirksamste Mittel,
das der Mensch gefunden hat,
um neben Gott bestehen zu können.“

François Jacob

Für Klaus,

der im Glauben an die Chancen des Wissens handelt

Inhaltsverzeichnis

Ein Vorspiel im Theater

Ernste Fragen am Anfang

Keplers Raserei

Galileis Gehabe

Newtons Uhrwerk

Darwins Teufel

Plancks Quanten

Einsteins Würfel

Bohrs Lächeln

Paulis Zweifel

Heisenbergs Ordnung

Hawkings Kosmos

Moderne Mätzchen am Ende

Anhang 1

Anhang 2

Angaben zur Literatur

„Wenn du dir die Liebe Gottes in Erinnerung rufen willst, sagte Mom immer, schau dir einfach den Sonnenaufgang an. Und wenn du dir den Zorn Gottes in Erinnerung rufen willst, sagte Dad, schau dir einen Tornado an.“

Jeanette Walls, „Ein ungezähmtes Leben“

Ein Vorspiel im Theater

„Nun sag‘, wie hast du‘s mit der Religion?“ So lautet die berühmte Frage, die das Fräulein Margarete im ersten Teil von Goethes Faust dem gelehrten Mann der Wissenschaft mit diesem Namen stellt, während sie mit ihm einen Gartenspaziergang unternimmt, wie Verliebte es tun. Zwar versucht Faust diese ihm eher lästige, inzwischen als „Gretchenfrage“ sprichwörtlich gewordene Bitte um ein Bekenntnis abzuweisen, in dem er ein ganz anderes Thema anzuschlagen versucht und abwiegelt: „Laß das, mein Kind! Du fühlst, ich bin dir gut.“ Doch das fromme Fräulein lässt nicht locker, und Margarete formuliert ihre kleine Frage an den großen Mann punktgenau um: Heinrich, „Glaubst du an Gott?“

Die Gretchenfrage und die Wissenschaft

„Glaubst du an Gott?“ – die Antwort, die jemand auf diese Gretchenfrage gibt, hängt von vielen Faktoren ab, zu denen sicher auch das Wissen gehört, über das der oder die jeweils Angesprochenen verfügen und das sich vor allem in den letzten vier Jahrhunderten ungemein verändert hat. In dieser Zeit haben sich, von Europa ausgehend, Menschen in aller Welt im Rahmen einer methodisch fortgeschrittenen und systematisch vorgehenden Naturwissenschaft bemüht, ihr Wissen zum Nutzen der Allgemeinheit zu vermehren und dabei immer mehr Gesetze der Natur finden und erfinden können.

Die Gretchenfrage benötigt ihre jeweils besondere und eigenständige Antwort, wenn sie Personen gestellt wird, die sich anders als Faust und sein Dichter Goethe etwa mit den Quantensprüngen von Atomen und Molekülen auskennen, die vielleicht sogar das expandierende Universum in seiner wachsenden Unermesslichkeit erfassen und darüber hinaus seinen Anfang als Urknall denken können, die zusätzlich noch mit dem dynamischen Gedanken der Evolution und den dazugehörigen genetischen Varianten vertraut sind, um nur ein paar Beispiele für die Themen zu nennen, denen sich in den jeweiligen naturwissenschaftlichen Disziplinen große und kleine Forscher mit steigendem Erfolg zugewandt haben und zuwenden.

Die Physiker, Chemiker und Biologen sind dabei spätestens seit dem 19. Jahrhundert so gut vorangekommen, dass einige von ihnen in den ersten Jahrzehnten nach 1900 meinten, die Gretchenfrage bald ganz vergessen und Gott in ihrem Denken vernachlässigen und vielleicht sogar ganz beiseiteschieben zu können.

Doch in der Geschichte und in der Gegenwart zeigt sich den Menschen ein möglicherweise für viele unerwartetes anderes Bild. Denn trotz all ihrer fachlichen Triumphe im Einzelnen fühlten und fühlen sich nachdenkliche und empfindsame Wissenschaftler, die zu Beginn ihrer Karriere voller Optimismus davon geträumt haben, mit ihrem eigenständig gewonnenen Wissen der Wahrheit gegenüberstehen zu können, unentwegt herausgefordert, ihre persönliche Position zu Gott zu klären und sich im Ganzen entweder auf ihn zu beziehen oder sich von ihm abzusetzen.

In diesem Buch sollen einige der dazugehörigen religiösen oder gottlosen Bekenntnisse großer Forscher vorgestellt werden, um jedem, der heute lebt und sich den weit reichenden Erkenntnissen der Wissenschaft nicht verschließt, die Vielfalt der möglichen Antworten aufzuzeigen, die auf die unter Menschen unvermeidbare Gretchenfrage erlaubt sind. Dies geschieht in Zeiten, die zwar gerne als „säkular“ bezeichnet werden, die aber bei aller Hinwendung zum allein Weltlichen von dem Heiligen nicht lassen können.

In ewigem Geheimnis unsichtbar sichtbar

Es geht also in einem historischen Durchgang vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart um das Wechselspiel von erfahrenem Wissen und gelebtem Glauben, wie es sich bei großen Naturforschern europäischer Provenienz zeigt, wobei an dieser Stelle sogleich eine hartnäckige Asymmetrie auffällt und angemerkt wird. Sie besteht darin, dass die weltliche Gegenfrage zur Gretchenfrage nirgendwo gestellt wird, jedenfalls nicht in einer expliziten und dadurch verbindlichen Form.

Goethe hätte dem in Gretchen verliebten und neugierigen Faust als Antwort doch auch die Worte in den Mund legen können: „Und du, was hältst du von der Wissenschaft?“ Solch eine Wendung hätte durchaus in das Zeitalter der Aufklärung gepasst, dem der Dichter im ausgehenden 18. Jahrhundert angehörte und in dem das Hohe Lied der Rationalität nicht nur vorsichtig angestimmt, sondern auch gerne und laut gesungen wurde.

Der Schöpfer von Faust unternimmt in dem dazugehörigen Drama dafür etwas anderes. Er lässt seinen Helden dem umschwärmten Gretchen nahe bringen und klarmachen, dass es neben Gott etwas anderes von Bedeutung gibt, nämlich all das, was sich in dieser Welt zeigt und eine besondere Qualität aufweist, wie er erläutert. Denn was es – im Himmel und auf der Erde – gibt, drängt von sich aus massiv zu dem geliebten Fräulein hin, und zwar so, dass es „Haupt und Herz“ von Gretchen zugleich erfasst und ihre Person wie ein Gewebe umfängt, das dabei eine Eigentümlichkeit an den Tag legt, nämlich „in ewigem Geheimnis unsichtbar sichtbar“ neben ihr zu sein, wo es dann sogar weiter „webt“.

Mit anderen und eher trockenen Worten: Faust empfiehlt Gretchen, sich erst von ihrem sinnlichen Wahrnehmen des rätselhaft bleibenden Gewebes namens Wirklichkeit seelisch erfüllen zu lassen und dabei auf die Beeinflussung ihrer Gefühle zu achten, um sich schließlich danach voller Neugierde zu fragen, wie sie das nennt, was sie bei diesem Vorgang des Erkennens erfährt und erlebt:

„Glück! Herz! Liebe! Gott!“ – so lauten die vier zum Teil sicher unkonventionellen Vorschläge von Goethes Helden, der anschließend – hoffentlich zu seiner Überraschung – von Gretchen zu hören bekommt:

„Ungefähr sagt das der Pfarrer auch, nur mit ein bisschen anderen Worten.“

An dieser Stelle lacht das Publikum gewöhnlich, vor allem mit dem Blick auf den Teufel Mephisto, der sich in der Nähe herumtreibt und nun grollt. Doch es lohnt sich, Goethes Witz ernst zu nehmen, weshalb hier versucht wird, in den einfachen Worten eines Sachbuchautors zwei zentrale Punkte des eben skizzierten poetischen Dialogs darzustellen, die im Verlauf des Buches verfolgt werden sollen. Da ist zum einen die An- und Einsicht von Faust, dass das sich uns aufdrängende Gewebe der Dinge um uns ein „ewiges Geheimnis“ bleiben wird, und zwar trotz aller Fortschritte, die wir nicht zuletzt den Großen der Wissenschaft verdanken, die folgend im Text vorgestellt werden. Und wenn es um diese offenen Geheimnisse und ihre Vorstellung geht, dann – dies zum Zweiten – klingt selbst der Faust wie ein Pfarrer, auch wenn sich der Gelehrte längst der Magie ergeben und mit dem Teufel verbündet hat.

Kurzum: Der Frage nach Gott entkommt man im deutschen oder europäischen Sprachraum nicht, auch wenn sich bei vielen Großen des Wissens in ihrem Inneren nicht unbedingt ein besonderes Gefühl regt, wenn der Name des Größten fällt. Auch sie glauben, bevor sie wissen.

Die Frage lautet, was sie glauben, nachdem sie etwas wissen. Mal sehen.

„Wir haben’s schwer. Denn wir wissen nur ungefähr, woher, jedoch die Frommen wissen gar, wohin wir kommen! Wer glaubt, weiß mehr.“

Erich Kästner, „Eine Feststellung“

Ernste Fragen am Anfang

Am Anfang steht das Problem des Anfangs. Beim Schreiben einer Rede oder eines anderen Textes geht es zum Beispiel um den ersten Satz, mit dem der zu liefernde Beitrag eröffnet wird und der die Aufmerksamkeit zu wecken hat. Doch diesen Einstieg habe ich an dieser Stelle bereits geschafft und hinter mir.

Dieser Anfang war offenbar leicht. Das genannte Problem stellt sich aber und erst recht beim Erkennen und Verstehen – etwa von Licht und Farben und anderen Erscheinungen – in dem, was als Wirklichkeit bezeichnet wird und uns – nach Goethe – wie ein geheimnisvolles Gewebe umgibt, das wenig empfindsame Zeitgenossen als Vernetzung beschreiben, was unnötig hart klingt.

Das Problem des Anfangs beim Erkennen besteht darin, dass der Einstieg, der erste Schritt zum Wissen, nichts von dem enthalten darf, was am Ende der Erklärung herauskommen soll. Das klingt zwar banal, macht aber mehr Mühe, als viele meinen. Bereits im vierten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung hat sich der Mönch Dionysius gefragt, wie man einen Anfang schaffen kann. „Die erste Ursache von allem ist weder Sein noch Leben. Denn sie ist es ja gewesen, die Sein und Leben erst erschaffen hat. Die erste Ursache ist auch nicht Begriff oder Vernunft. Denn sie ist es ja gewesen, die Begriffe und Vernunft erschaffen hat. […] Und dennoch ist diese erste Ursache auch keine Macht. Denn sie ist es ja, die die Macht erst erschaffen hat.“

Wer zum Beispiel als Physiker erklären will, was Materie ist und woraus sie besteht, darf nicht mit Atomen anfangen, die aus Einheiten bestehen, die selbst schon Materie sind, weil sie über eine Masse verfügen.

Natürlich kann die Physik die Eigenschaften eines Metallstücks dadurch verstehen, dass sie das Zusammenspiel von vielen Metallatomen berechnet, aber wann und wie aus den unsichtbaren Bausteinen der sichtbare Körper wird, den man in die Hand nehmen und vermessen kann, bleibt dabei offen – und solch ein Übergang liefert möglicherweise einen konkreten Fall für das ewige Geheimnis, von dem Faust spricht.

Wer als Philosoph erklären will, was Rationalität ist und wie das dazugehörige Erkennen funktioniert, darf nicht mit einer Sammlung aus abzählbaren Kategorien beginnen, die dann bloß noch kombiniert zu werden brauchen. Wer das Denken erklären will, muss mit einer anderen Fähigkeit des Gehirns beginnen, etwa dem konstruktiven Wahrnehmen oder einem malenden Schauen, wie es der Physiker Wolfgang Pauli einmal vorgeschlagen hat, von dem noch ausführlich die Rede sein wird.

Fragen nach dem Anfang

Nun gehört das Fragen nach dem Anfang sowohl zu den Grundthemen der Wissenschaft als auch zu den sicher uralten und prähistorischen Interessen von Menschen. Wie hat die Welt angefangen? Wie ist das Leben entstanden? Wie hat der erste Mensch ausgesehen? Wie hat die Sprache angefangen? Und in allen Fällen gilt es beim Antworten unter allen Umständen zu vermeiden, etwas von dem zu verwenden, was man erklären und seinen Beginn nehmen lassen will.

Es wird deshalb vorausgesetzt, dass Menschen sich schon sehr früh in ihrer Geschichte Gedanken über den Anfang und anderes gemacht haben, weil es zu den humanen Eigentümlichkeiten gehört, so etwas und mehr wissen zu wollen. Diese Feststellung ist bei Philosophen seit Jahrhunderten nachzulesen und bleibt unbestritten. Aristoteles etwa beginnt seine Metaphysik mit der Feststellung, dass alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben, und wenn Immanuel Kant drei Fragen formuliert, die es zusammen ermöglichen sollen zu sagen, was der Mensch ist, dann interessiert ihn vor allem: „Was können wir wissen?“

Natürlich zitieren Lehrer und andere Bildungsbürger an dieser Stelle gerne den sagenhaften Sokrates und sein Verdikt: „Ich weiß, dass ich nicht weiß.“ Aber zum einen weiß ich, von wem der berühmte und vielfach falsch zitierte Satz stammt, in dem nicht von „nichts“ die Rede ist, und zum Zweiten hindert selbst diese Einsicht den Philosophen ja nicht daran, etwas wissen zu wollen, und zwar unentwegt und immer wieder, wie die zahlreichen Dialoge verdeutlichen, die uns von ihm dank Platon überliefert sind.

Zum Dritten kann das „Nichtwissen“ auch so verstanden werden, wie es Goethe ausdrückt, nämlich als das offene Geheimnis, das unsichtbar in den sichtbaren Dingen steckt und sowohl dem ersten Nachdenken kein Ende bietet als auch dem weiteren Wunsch nach Wissen jede Menge Platz lässt.

Menschen wollen und können also wissen, und sie wollen in vielen Fällen wissen, wie etwas von ihnen Vorgefundenes angefangen hat – besonders das Ganze, „das Etwas, diese plumpe Welt, das sich dem Nichts entgegen stellt“, wie es Goethe genannt hat.

Dies gefällt als Formulierung, ruft aber zugleich auch ein Dilemma hervor. Wenn Menschen nämlich den Anfang aller Dinge – der Welt, des Kosmos, des Universums – erklären wollen, müssen sie der poetischen Einsicht nach entweder mit (einem) Nichts oder mit einem Konzept anfangen, das nicht von dieser Welt sein kann.

Natürlich kommt für sterbliche Wesen ohne himmlische Schöpferqualitäten nur die zweite Möglichkeit in Frage, und die dazugehörige Grundidee funktioniert im Denken der Menschen unter der Bezeichnung „Gott“. Gott ist nicht die Welt, er ist nicht von dieser Welt, aber der Gedanke an ihn gibt dem menschlichen Denken die Gelegenheit, das Problem des Anfangs zu lösen. Wie es die Schrift ganz vorne lehrt: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und beide können danach – zum Beispiel auch jetzt – als „ewiges Geheimnis“ mein Haupt und Herz beschäftigen. Und wie es in der Schrift weiter heißt: Am Anfang war das Wort, mit dem sich Menschen zuletzt über ihr Wissen unterhalten können.

Die Achsenzeit

Kurzum – ein Gott löst das Problem des Anfangs und gibt den Menschen die Chance, unter seiner Vorgabe das Wissen zu erwerben, nach dem sie ihrer Natur zufolge verlangen. Das Glauben an einen Gott und das Wissen von Menschen gehören also eng zusammen, wobei das zuerst genannte Abenteuer des Denkens dem zweiten geistigen Zugreifen auf die Wirklichkeit in der Geschichte der Menschheit weit vorausgegangen ist, wie überzeugende historische Argumente zeigen, die mit dem Vorschlag eines Philosophen beginnen. Die Rede ist von Karl Jaspers, der 1949 sein berühmtes Buch Vom Ursprung und Ziel der Geschichte vorgelegt und mit ihm und einer dort geäußerten Idee ein Forschungsprojekt begründet hat, das heute allmählich an Fahrt aufnimmt.

In seinen Überlegungen führte Jaspers viele ältere historische Untersuchungen zu der Beobachtung zusammen, dass der Ursprung der Weltreligionen – wie auch der der griechischen Philosophie – in den Jahren zwischen 800 und 200 vor Christi Geburt zu finden ist. Jaspers nennt diesen Abschnitt der menschlichen Geschichte die „Achsenzeit“ und schreibt dazu:

„In dieser Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen. In China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der chinesischen Philosophie, in Indien entstanden die Upanishaden, lebte Buddha, wurden alle philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis und bis zum Materialismus, bis zur Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt, in Iran lehrte Zarathustra das fordernde Weltbild zwischen Gut und Böse, in Palästina traten die Propheten auf von Elias über Jesaias und Jeremias bis zu Deuterojesaias, Griechenland sah Homer, die Philosophen – Parmenides, Heraklit, Plato – und die Tragiker, Thukydides und Archimedes.“

Während der Achsenzeit – durch die parallelen Prozesse, die zu ihr hinführen und deren Ursprung und Wesen noch zu erforschen bleibt – verlässt die Menschheit ihre mythische Phase, wie Jaspers meint, ohne dabei einen Mechanismus angeben zu können, der den Schritt ermöglicht hat. Die führenden intellektuellen Vertreter der jeweiligen Völker und Gesellschaften beginnen, über die Bedingungen des humanen Lebens (Existierens) nachzusinnen. Sie entdecken dabei die Möglichkeit, den zahlreichen angebeteten Göttern, die bislang im Irdischen verankert waren, einen eigenen Ort – einen Platz im Himmel – zuzuweisen, und diese Gedanken und Vorschläge werden im Volk verstanden. Mit dieser Aufteilung entsteht eine Spannung zwischen dem Diesseits (dem Weltlichen) und dem Jenseits (dem Transzendenten). Wer neben die irdischen Machthaber tritt und Gottes Ratschluss verkündet, lenkt die Aufmerksamkeit auf sich und erwirbt Anerkennung – also die Priester und Propheten.

Tatsächlich entstehen jetzt Achsenkulturen, wie die historische Wissenschaft ermitteln konnte, ohne dass sie in der Lage wäre, das Aufkommen des dazugehörigen Denkens tiefer zu begründen. Erkennbar wird nur, dass in Gesellschaften mit der Erfahrung der Achsenzeit federführend Träger von Visionen agieren, wie sie bei Buddha und Jesus zu finden sind. Mit ihrem Zutun kommen kulturelle und soziale Ordnungen zustande, die dem Volk – den Menschen – zusagen und deshalb von ihm (von ihnen) getragen werden. Die Gründerfiguren stärken das Selbstbewusstsein der kleinen Leute, sie geben ihnen Anleitungen zum wohltätigen Handeln und statten ihr Leben mit Sinn aus. Ihre Nachfolger setzen dieses Wirken mit Hilfe von Institutionen fort, die sie einrichten, um die utopischen Vorstellungen der Religionsgründer in die Wirklichkeit umzusetzen und um Geschichten wie die der Evangelien erzählen und sammeln zu können.

Nach der Achsenzeit

Die von Jaspers identifizierte Achsenzeit stellt eine große Herausforderung an alle Wissenschaftler dar, die das Entstehen moderner Gesellschaften und die dazugehörigen geistigen Kräfte und Strömungen erfassen wollen. Doch so wichtig und spannend dieser Aspekt des menschlichen Lebens und seiner Entwicklung ist, in dem hier verhandelten Zusammenhang kommt der Achsenzeit nur eine einzelne Bedeutung zu.

Sie hängt mit der Tatsache zusammen, dass es in diesem Buch um Kulturen geht, die von Menschen hervorgebracht worden sind, die ihrerseits von Personen abstammen, die in der Achsenzeit die Erfahrung der Transzendenz gemacht haben. Anders ausgedrückt, der Autor und seine Leser sind Nachfahren von Menschen, die mit der eigenständigen Existenz einer zweiten (unsichtbaren) Wirklichkeit vertraut sind, in der sie einen Gott ansiedeln, der Einfluss auf die Geschicke in der irdischen Welt nehmen kann und zumindest anfänglich vieles in ihr bedingt hat. Und da diese himmlische Sphäre sich seit mehr als zweitausend Jahren bewährt und viele Menschen sich für ihr Seelenheil auf sie verlassen, kann Goethe seinem Magister Faust die Gretchenfrage nicht ersparen. Sie stellt sich ihm und uns mehr oder weniger natürlich und ganz selbstverständlich.

Denn was kann der Gelehrte dem Vertrauen in Gott entgegensetzen? Sein aktuelles Wissen auf keinen Fall, das den armen Tor bekanntlich nicht sehr weise gemacht hat und eher frustriert, wie Faust in einem Monolog zu Beginn des Dramas ausführt. Die Tradition der Wissenschaft, die er fortsetzt, verfügt nicht über das ehrwürdige Alter der Religion, die weit über tausend Jahre mehr auf dem Buckel hat.

Als Goethe lebte, lag die Geburt der modernen Wissenschaft gerade einmal knappe zweihundert Jahre zurück, wenn die Auskunft der Geschichtsbücher zuverlässig ist. Sie datieren ihre Startphase auf das frühe 17. Jahrhundert, als in verschiedenen europäischen Ländern unter anderem Francis Bacon, Johannes Kepler und Galileo Galilei tätig waren und nutzbares Wissen zu erwerben versuchten. Die sich für die Menschen spürbar auswirkenden Erfolge der neuen Wissenschaft konnte man um 1800 noch an den Fingern einer Hand abzählen.

Nach dem Aufkommen der Wissenschaft

Unabhängig davon – heute leben wir mehr als 400 Jahre nach der Entscheidung der Menschen um 1600, ihre Lebensbedingungen durch den Einsatz wissenschaftlicher Methoden zu verbessern (und nicht nur passiv und brav das irdische Jammertal zu durchwandern). Wie oben gilt, dass die heute bestehenden Gesellschaften von Personen gebildet werden, die Nachfahren von Menschen sind, denen der Gedanke der Wissenschaft gekommen ist und die ihn erfolgreich umgesetzt haben.

Kurzum – wir Heutigen stammen anders als die frühen Heiligen von Menschen ab, die sowohl unmittelbare Transzendenzfähigkeit als auch vermittelbare Forschungswilligkeit erworben und weitergegeben haben, was uns allen die doppelte Fähigkeit sowohl zum vertrauenden Glauben als auch zum prüfbaren Wissen verleiht und jeden Versuch überflüssig machen sollte, mit einer der beiden genannten spirituellen Qualitäten allein in der Welt zurechtzukommen, die man erkennen und verstehen und in der man sich einrichten möchte.

In den Worten von Albert Einstein: „Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft blind.“ Beide gehören in unserer Kultur seit der Achsenzeit und nach der Geburt der modernen Wissenschaft untrennbar zusammen. Zwar fürchten viele, dass Gott verliert, wenn dem Menschen mehr und mehr Wissen zufällt, aber es könnte ja auch sein, dass Gott gewinnt, wenn der Mensch gewinnt. Das zu glauben gefällt mir.

„Der Glaube an Gott läuft im Jahre 1500 nicht auf das gleiche hinaus wie im Jahre 2000.“

Charles Taylor

Keplers Raserei

Vor dem Wissen steht der Glaube, und das heißt, dass die ersten Männer der Wissenschaft über einen festen Glauben an einen Schöpfergott verfügten. Von dieser Grundlage aus operierten sie und erkundeten die Welt um sie herum.

Gemeint ist zum Beispiel Johannes Kepler (1571–1630), der bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges lebte und sich trotz vieler Widrigkeiten und Mühen überzeugt zum Protestantismus bekannte, womit genauer das Luthertum gemeint ist, das seinen besonderen Ausdruck in dem so genannten Augsburger Bekenntnis gefunden hat und gläubigen Menschen ausreichend Platz für Freiheiten im Wollen und Handeln ließ.

Für Kepler wirkte Gottes Gnade auf vielfältige Weise bis in den persönlichen Bereich hinein, etwa dadurch, dass der Herr im Himmel den kränklichen Astronomen auf der Erde lang genug am Leben hielt, um ihm ausreichend Gelegenheit zu geben, das Werk des allmächtigen Herrn des Himmels und der Erden in seiner Schönheit und Vollkommenheit zu erforschen.

Leider schaffte es Gott nicht, sein Geschöpf Kepler so bei Gesundheit zu halten, dass der angestellte Astronom beim Kaiser als Arbeitgeber sein ausstehendes Gehalt einfordern konnte, nachdem der Herrscher ihn jahrelang nicht bezahlt und immer wieder vertröstet hatte. Der bescheidene Wissenschaftler starb daher arm und hinterließ eine vielköpfige darbende Familie.

Man wüsste gerne, was Gott sich dabei gedacht oder welche Prüfung seines gläubigen Geschöpfs der Herr dabei im Auge gehabt hat, falls solch eine Formulierung sinnvoll ist und von gottesfürchtigen Menschen nicht sofort als unangemessen verworfen wird.

Weltharmonik

Doch lieber zurück zum wissenschaftlichen Treiben unseres Helden: Kepler zeigte sich trotz aller Mühsal zeitlebens überzeugt, „Nichts in der Welt ist von Gott planlos geschaffen“, wie er etwa in seinem Hauptwerk Weltharmonik von 1619 geschrieben hat. Er sah seine Aufgabe vornehmlich darin, sich auf die entsprechenden Gedanken Gottes einzulassen und sie in möglichst vielen Details seines Weltenplans aufzuspüren.

Von den umfangreichen wissenschaftlichen Bemühungen Keplers, die den Gang von Licht durch Glas (Optik) ebenso ins Visier nahmen wie die sechseckige Form von Schneeflocken (Chemie), sollen in diesem Buch nur die astronomischen Leistungen bedacht werden, die den Himmel und seine Formationen zu erfassen versuchten, in denen seit dem Mittelalter dem lieben Gott Raum für sein Wirken zugestanden wird.

Die christliche Kultur des Abendlandes hat tatsächlich um 1300 herum die Gestalt des Kosmos übernommen und zugleich christlich aufgeladen, wie sie von den alten Griechen – vor allem in den philosophischen Werken von Aristoteles – entworfen worden war. Die Philosophen der Antike stellten sich jenseits des Mondes kugelförmige Himmelssphären vor, die nichts mit irdischer Wirklichkeit zu tun hatten, die sich vielmehr nach göttlichen Vorgaben und somit ohne physikalische Mühe drehten und dabei die Planeten mit sich führten. Deren Bewegungen waren von der sublunaren Erde aus gut zu beobachten.

Um die auf diese Weise zugängliche kosmische Mobilität zu erklären, benötigte man in der Antike keine Kräfte, wie sie die moderne Physik seit Newton benutzt. Dafür hatte der heidnische Grieche Aristoteles einen „unbewegten Beweger“ eingeführt, der alles in Schwung hielt, ohne sich selbst zu verausgaben.

Wie nicht anders zu erwarten, übernahm die christliche Zeit diesen zentralen Gedanken, nur dass sie den antiken Antreiber in ein lateinisch benanntes „Primum Mobile“ verwandelte, in das „Erste Bewegte“ also, aus dem heraus die göttliche Kraft fließt, die in der Welt wirksam ist und empfangen wird sowie weiterströmt.

Als Kepler sich an sein Werk machte, sah das christliche Denken die Erde mit dem Menschen im Zentrum der Welt. Um diese Mitte scharten und drehten sich die kugelförmigen Sphären, die ihrerseits weit außen Platz für das Göttliche ließen, das viele schöne Bezeichnungen erhielt und dabei als „Primum Mobile“ die Dinge auf ihren Weg brachte und den Lauf der Welt bestimmte.

Kopernikanische Umwälzungen

Der aus dem Württembergischen stammende Astronom Kepler kannte nicht nur die antiken Himmelsmodelle in christlicher Ausschmückung, wie sie etwa in Dantes Göttlicher Komödie eine Rolle spielen. Er kannte darüber hinaus auch die Ideen von Nikolaus Kopernikus (1473–1543), der in seinem Sterbejahr die bis heute für viele Menschen umwerfenden oder umwälzenden Ansichten über die Bewegungen am Himmel publiziert und dabei zwei dramatische Wendungen (Revolutionen) im Denken vorgenommen oder zumindest vorgeschlagen hatte.

Zum einen empfahl Kopernikus tatsächlich, die Erde aus dem Zentrum der Welt zu nehmen und dort die Sonne unterzubringen, wobei zu beachten ist, dass diese (eher unwesentliche) astronomische Erniedrigung des Menschen – seine Entfernung aus der Mitte – eine (wesentliche) christliche Erhöhung zur Folge hat. Denn je weiter außen die Erde im Modell der Himmelskugeln (Sphären) zu liegen kommt, desto näher rückt sie an die Quelle der göttlichen Kraft heran und damit auf Gott zu – ein Umstand, der bis heute vielfach übersehen und peinlich falsch verstanden wird.

Und zum Zweiten unterbreitete der polnische Domherr den Vorschlag, dass sich die Erde sogar zweimal drehe, nämlich nicht nur um die Sonne in einem großen Umlauf, für den sie ein Jahr benötigt, sondern zusätzlich in einem eher kleinen und kürzeren Rahmen um ihre eigene Achse – was den Wechsel von Tag und Nacht erklärt.

Philosophisch betrachtet steckt die so genannte „Kopernikanische Revolution“ in der zweiten Rotation unseres Planeten, da die von unserem Planeten zu beobachtende Drehung der Fixsterne jetzt nicht mehr von diesen Himmelskörpern, sondern von dem sie beobachtenden Menschen her erklärt wird. Der rückt auf diese Weise doch wieder in die Mitte seiner Welt, nachdem er gerade das Zentrum des Sonnensystems aufgeben musste. Ein zugegebenermaßen manchmal verwirrendes Hin-und-Her der Positionen, das auch vielen Großen der Geistesgeschichte Mühe macht, hier aber nicht weiter verfolgt werden soll, da es weniger um Kopernikus und mehr um Kepler geht. Der interessierte sich vor allem für die erste Idee seines revolutionären Vorgängers.

Genauer gesagt begeisterte sich Kepler unmittelbar für den heliozentrischen Vorschlag, obwohl es mit diesem Modell eine eigentlich unübersehbare und unüberwindbare Schwierigkeit gab. Denn offenkundig passt die Behauptung, die Erde drehe sich um die Sonne, die dabei selbst als ruhend betrachtet wird, nicht mit den Erfahrungen zusammen, die Menschen mit ihren Sinnen machen. Diese erlebten Eindrücke finden ihren Ausdruck sogar in der Sprache wieder und lassen die Menschen morgens von einem Sonnenaufgang und abends von dem dazugehörenden Untergang sprechen, obwohl der zentrale Himmelskörper im heliozentrischen Modell keinen einzigen Schritt tut und nicht geht, sondern einfach ruht.