Eva Ibbotson

Das Geheimnis
der siebten Hexe

Aus dem Englischen
von Sabine Ludwig

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1. Kapitel

Kaum war ihr Baby auf der Welt, merkten Mr und Mrs Canker, dass es anders war als andere Babys.

Zum einen hatte es bei der Geburt bereits alle Zähne (es konnte später stundenlang in seinem Wägelchen liegen und Hammelknochen zu Brei zermalmen oder alte Damen in die Nase beißen, die törichterweise versuchten es zu küssen), zum anderen füllten sich seine Augen nie mit Tränen, und das, obwohl es beim Windelwechseln jedes Mal aus Leibeskräften schrie.

Aber das Seltsamste geschah, als die Eltern ihr Baby von der Klinik nach Hause brachten und im Wohnzimmerkamin ein nettes, helles Feuerchen machten: Der Rauch aus dem Schornstein stieg gegen den Wind.

Zuerst waren die Cankers verwirrt. Aber Mr Canker hatte schon immer gesagt, es gäbe auf alles eine Antwort, man müsse nur wissen, wo. Und so ging er eines Tages in die Stadtbücherei von Todcaster und begann zu lesen. Er las und las und las, vor allem Bücher über schwarze Magie und Zauberei, und erfuhr, woran man frühzeitig erkannte, ob ein Kind ein Zauberer oder eine Hexe werden würde. Dann ging er nach Hause und klärte seine Frau auf.

Natürlich war es ein Schock. Wer erfährt schon gern, dass das eigene Kind ein Zauberer wird, ein böser obendrein.

Aber die Cankers waren vernünftige Leute. Sie tauften das Baby, das sie zunächst George genannt hatten, in Arriman um (nach einem berühmten und außerordentlich bösen persischen Zauberer), bemalten die Wände des Kinderzimmers mit einem Fries aus Fledermäusen und Molchen und beschlossen ihren Sohn wenigstens zu einem guten bösen Zauberer zu erziehen, wenn er denn schon einer werden musste.

Das war kein einfaches Unterfangen. Todcaster, die Stadt, in der sie lebten, war eine ganz gewöhnliche Stadt, voll ganz gewöhnlicher Menschen. Und obwohl sie den kleinen Arriman dazu ermutigten, sich im Zaubern zu erproben, war es dann doch äußerst peinlich, dass ihr Vogelhaus von finster dreinblickenden Geiern aufgesucht wurde, und sie wussten auch nicht, wie sie ihren Nachbarn erklären sollten, warum die Apfelbäume in ihrem Garten sich über Nacht in schwarze Baumstümpfe verwandelt hatten, noch dazu geformt wie die Hände eines Toten.

Glücklicherweise werden Zauberer schnell erwachsen. Als Arriman fünfzehn Jahre alt war, konnte er einen Wirbelsturm erzeugen, der sämtliche Unterhosen von sämtlichen Wäscheleinen in Todcaster riss und sie über den Ärmelkanal wehte. Bald darauf beschloss er auszuziehen und sich selbstständig zu machen.

Die Suche nach einem neuen Zuhause dauerte mehrere Monate. Arriman wollte nicht an einem netten, sonnigen Ort leben, auch nicht in der Nähe einer Stadt, er suchte etwas Abgelegenes, Verfallenes, in dem es möglichst spuken sollte, war aber wiederum wählerisch in Bezug auf das Gespenst. Da er nie eine Schwester gehabt hatte, war er im Umgang mit Frauen etwas schüchtern und die Vorstellung von einer klagenden Weißen Dame, die über seinen Frühstückstisch wandelte, während er seinen Hering aß, behagte ihm gar nicht, genauso wenig wie die Aussicht auf eine kopflose Nonne, die ihn womöglich im Bad überraschte.

Schließlich fand er Darkington Hall. Es war ein graues, düsteres, weitläufiges Schloss, dreißig Meilen von Todcaster entfernt. Westlich von ihm erstreckte sich finsterer Wald, nördlich lagen öde, vom Wind gepeitschte Moore und im Osten brandete das graue Meer unablässig an die Küste. Des Weiteren war der Geist von Darkington ein Herr, und dazu einer, mit dem Arriman glaubte gut auskommen zu können: Sir Simon Montpelier, der im sechzehnten Jahrhundert nacheinander seine sieben Ehefrauen ermordet hatte und nun von Reue geplagt elendig stöhnend umherging und sich mit der Hand gegen die Stirn schlug, dass es klatschte.

Hier lebte Arriman nun viele Jahre, trieb donnernd und stürmend sein Unwesen und bemühte sich nach Kräften überall schwarze Magie zu verbreiten. Er füllte die Zinnen des Schlosses mit wehklagenden Eulen und die Keller mit Salamandern. Die Allee säumte er mit brandgeschwärzten Baumstümpfen in Galgenform und im Schlosshof grub er einen Brunnen, aus dem Ekel erregende Schwefeldämpfe quollen. Er legte ein Labyrinth aus Eiben an, das so vertrackt und teuflisch war, dass für niemanden Hoffnung bestand, jemals wieder lebend herauszukommen. Aus den Springbrunnen auf der Terrasse sprudelte Blut.

Nur eines vermochte Arriman nicht. Er konnte den Geist von Sir Simon Montpelier nicht dazu bringen, sich ihm in seiner wahren Gestalt zu zeigen. Liebend gern hätte er das getan, allein schon um ein wenig Gesellschaft zu haben. Aber einen Geist zum Leben zu erwecken ist die schwärzeste und schwierigste Magie überhaupt und nicht einmal Arriman war dazu in der Lage.

Die Jahre vergingen. Und obwohl er sein Schloss nur selten verließ, verbreitete sich Arrimans Ruhm. Man nannte ihn Arriman den Schrecklichen, den Widersacher des Lichts und Zauberer des Nordens. Und man erzählte sich Geschichten über ihn. Es hieß, er könne den Donner vor dem Blitz auftreten lassen und er sei ein Freund Beelzebubs.

Aber Arriman ließ sich nicht beirren und arbeitete weiter.

Er war zu einem großen und attraktiven Mann herangewachsen, mit dunklen, blitzenden Augen, einer kühnen Nase, geschwungen wie der Bug eines Wikingerschiffs, und üppigem Schnurrbart, dennoch war er überhaupt nicht eingebildet.

Arriman richtete einen Privatzoo ein, in dem er die grausigsten und hässlichsten Tiere hielt, die er nur finden konnte: Affen mit kahlen Gesichtern und blauem Hintern, Kamele mit höhnisch hochgezogenen Lippen und plumpen Knien, Kängurus mit Füßen wie Eisenbahnschwellen, die nach allem traten, was in ihre Nähe kam.

Das Billardzimmer wandelte er in ein Laboratorium um, in dem den ganzen Tag irgendein teuflisches Gebräu blubberte und bestialisch stank, und er zauberte Regenwolken vom Meer herbei, die unaufhörlich auf sein Dach tropften.

Eines Morgens erwachte Arriman mit einem Gefühl von Überdruss. Ihm war klar, dass er aufstehen und irgendjemanden in seinen Brunnen werfen müsste. Oder besser einen stinkenden Emu für den Zoo bestellen? Etwas Giftiges in seinem Labor zusammenrühren? Er fühlte sich außerstande irgendetwas dergleichen zu tun.

»Lester«, sagte er zu seinem Diener, als der ihm das Frühstück brachte, »ich fühle mich müde, erschöpft und gelangweilt.«

Lester war ein Riese, ein ungeschlachter Kerl mit Muskeln wie Fußbälle. Wie die meisten Riesen hatte er nur ein Auge mitten auf der Stirn, aber um die Leute nicht zu erschrecken, trug er daneben eine schwarze Augenklappe, damit es aussähe, als habe er zwei. Bevor er Arrimans Diener wurde, war er Schwertschlucker auf dem Jahrmarkt gewesen und ab und zu schluckte er immer noch gern einen alten Säbel oder ein Florett. Das beruhigte ihn.

Jetzt sah er seinen Herrn besorgt an. »Ist das Ihr Ernst, Sir?«, fragte er.

»Ja, mein voller Ernst. Ich halte das alles nicht länger aus. Ich habe schon daran gedacht, umzuziehen. Ich könnte mir in einer netten Kleinstadt ein Zimmer nehmen und ein Buch schreiben.«

Der Riese war schockiert. »Aber was wird dann aus dem Schwarzen und Bösen, Sir?«

Arriman runzelte die Stirn. »Ich weiß, ich weiß. Ich habe eine Aufgabe. Aber wie lange muss ich das noch weitermachen? Wie lange, Lester?« Die Falte auf seiner Stirn wurde tiefer und er hob verzweifelt die Arme. »Wie lange?«

Lester war keiner von den hohlköpfigen Riesen, die herumlaufen und die ganze Zeit »Hoppla, jetzt komm ich!« rufen. Er sah seinen Herrn an und sagte: »Nun, das weiß ich nicht, Sir. Als Riese kann man nicht in die Zukunft sehen, aber Zigeunerinnen können das. Warum wollen Sie sich nicht die Zukunft voraussagen lassen? Auf dem Jahrmarkt, wo ich gearbeitet habe, gab es eine Zigeunerin. Esmeralda hieß sie. Die verstand ihr Geschäft.«

In der darauf folgenden Woche fuhren Arriman und Lester nach Todcaster auf den Jahrmarkt.

Esmeraldas Wohnwagen war schnell gefunden. Man konnte ihn von den anderen Zigeunerwagen daran unterscheiden, dass die Leute, die herauskamen, ein Gesicht machten, als wüssten sie nicht, wie ihnen geschehen sei.

»Sie sagt immer die Wahrheit«, erklärte Lester und sog glücklich die vertrauten Jahrmarktsgerüche ein – gebratene Zwiebeln vom Imbissstand, heißes Motoröl vom Autoskooter –, »nicht diesen Quatsch vom großen Unbekannten und einer zukünftigen Reise übers Meer.«

Esmeralda hatte krauses Haar und trug eine Bluse aus rosa Satin. Arriman hatte seinen schwarzen Umhang gegen einen grauen Nadelstreifen-Anzug vertauscht, aber so leicht ließ sie sich nicht täuschen. »Für dich macht es einen Fünfer«, sagte sie. »Setz dich.«

Sie steckte das Geld ein, nahm einen Schluck aus einer Ginflasche und starrte in ihre Kristallkugel.

Sie starrte sehr lange. Dann schob sie die Kugel beiseite und zündete sich eine Zigarette an. »Alles in Ordnung«, sagte sie. »Er wird kommen.«

»Wer?«, fragte Arriman begierig. »Wer kommt?«

»Der Neue«, sagte Esmeralda. »Der dich ablösen wird.« Arriman sah verwirrt aus. »Was für ein Neuer?«

Esmeralda schloss müde die Augen. »Soll ich’s dir buchstabieren?« Mit dramatischer Stimme dröhnte sie: »Es wird kommen ein großer Zauberer, dessen Macht größer und dunkler ist als die deine. So dieser große, neue Zauberer kommt, wirst du, Arriman der Schreckliche, die Bürde des Dunklen und Bösen, die du so lange trugst, niederlegen können.« Sie öffnete die Augen. »Kapiert?«, fragte sie frech.

»Aber ja, sicher!«, rief Arriman glücklich. »Ich nehme an, Sie wissen nicht zufällig, wann er kommt?«

»Nein«, erwiderte Esmeralda kurz. »Weiß ich nicht. Der Nächste bitte.«

Nach seinem Besuch bei Esmeralda war Arriman guter Dinge. Nur um die Zeit totzuschlagen, pflanzte er eine Rosenhecke, deren Dornen Blut absonderten, ließ einen Öltanker auf die Klippen in der Nähe auflaufen und erfand einen neuen Zauberspruch, der bewirkte, dass den Leuten die Haare ausfielen. Die meiste Zeit allerdings verbrachte er am Haupttor, um nach dem neuen Zauberer Ausschau zu halten.

Dabei wurde ihm mächtig kalt. Darkington Hall lag hoch im Norden, an der Grenze zu Schottland, und als Arriman nach einer Woche eine Frostbeule am linken Zeh hatte, beschloss er einen Torwächter anzufertigen. Dem Körper des neuen Wächters verlieh er die Gestalt eines Seehundes, aber viel größer und pelziger, mit einer sanft abfallenden, ziemlich kuscheligen Brust. Der Wächter hatte vier Pfoten und einen Schwanz, aber drei Köpfe mit hübschen scharfen Stielaugen. Jeden Morgen watschelte nun dieses sanfte und nützliche Monster die Allee entlang, vorbei an dem stinkenden Brunnen, den galgenförmigen Baumstümpfen und dem teuflischen Labyrinth, und ließ sich am Tor nieder, um nach dem neuen Zauberer Ausschau zu halten.

So wachte es Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Der mittlere Kopf blickte nach Norden über das Moor, der linke Kopf nach Westen über den Wald und der rechte Kopf schaute nach Osten übers Meer.

Am neunhundertneunundneunzigsten Tag verließ den Wächter der Mut. Er wurde übellaunig und verstimmt.

»Er kommt nicht von Norden«, sagte der mittlere Kopf wie jeden Tag seit neunhundertneunundneunzig Tagen.

»Er kommt auch nicht von Westen«, sagte der linke Kopf.

»Aus dem Osten kommt er auch nicht«, sagte der rechte Kopf. »Und unsere Pfoten erfrieren.«

»Unsere Pfoten fallen ab, verdammt noch mal!«, sagte der linke Kopf.

Es gab eine kleine Pause.

»Wisst ihr, was ich denke?«, sagte der mittlere Kopf. »Ich denke, man hat den Meister zum Narren gehalten.«

»Du meinst, es wird gar keinen neuen Zauberer geben?«, sagte der linke Kopf.

Der mittlere Kopf nickte.

Die Pause, die dann folgte, war lang.

»Trau mich nicht es ihm zu sagen«, meinte schließlich der rechte Kopf.

»Es muss aber jemand machen«, sagte der mittlere Kopf.

Also drehte sich der Wächter um und watschelte zurück zum Schloss. Er fand Arriman in seinem Schlafzimmer vor, wo er sich zum Dinner ankleidete.

»Nun?«, fragte er begierig. »Gibt’s was Neues?«

»Der neue Zauberer kommt nicht von Norden«, begann der mittlere Kopf geduldig.

»Noch kommt er von Westen«, sagte der linke Kopf.

»Und den Osten kannst du vergessen«, sagte der rechte Kopf, »denn auch von dort kommt er nicht.«

Dann sprachen alle drei Köpfe gleichzeitig: »Wir glauben, dass du zum Narren gehalten worden bist.«

Entgeistert sah Arriman sie an. »Das kann nicht euer Ernst sein! Das ist unmöglich!« Er drehte sich zu Lester um, der gerade den Schnurrbart seines Herrn bürsten wollte. »Was denkst du?«

Der Riese rieb sich die Stirn unter der Augenklappe und sah sehr besorgt aus. »Ich habe noch nie erlebt, dass Esmeralda sich geirrt hat, Sir. Aber es ist lange her …«

Er wurde von einem Aufschrei seines Herrn unterbrochen. Arriman hatte sich vorgebeugt, starrte in den Spiegel und griff sich an den Kopf. »Ein weißes Haar!«, schrie der Zauberer. »Ein weißes Haar in meinen vermaledeiten Locken! Oh, Schatten der Finsternis und der Verdammnis, das ist das Ende!«

Auf seinen Schrei hin eilte Mr Leadbetter, Arrimans Sekretär, ins Zimmer. Mr Leadbetter war mit einem kleinen Schwanz auf die Welt gekommen und hielt sich deswegen für einen Dämon. Das war natürlich töricht, denn ziemlich viele Leute haben einen kleinen Schwanz. Der Herzog von Wellington hatte einen und ließ sich extra ein Loch in den Sattel dafür machen, als er in die Schlacht von Waterloo ritt. Aber Mr Leadbetter wusste nichts von Wellington und hatte eine Menge Zeit damit vergeudet, sich als Bankräuber zu versuchen, bis er begriff, dass er sich nicht zum Verbrecher eignete, und so war er schließlich Arrimans Sekretär geworden.

»Geht es Ihnen nicht gut, Sir?«, fragte er ängstlich. »Sie scheinen ein wenig aufgeregt zu sein.«

»Aufgeregt? Ich bin am Ende! Vernichtet! Weißt du denn nicht, was ein weißes Haar bedeutet? Es bedeutet Alter, es bedeutet Tod. Es bedeutet das Ende von Zauberei, schwarzer Magie und Verhängnis, es bedeutet das Ende von Darkington Hall. Und wo bitte ist der neue Zauberer? Wo, wo, wo?«

Das Monster seufzte. »Er kommt nicht von Norden«, begann der mittlere Kopf müde.

»Ich weiß selber, dass er nicht von Norden kommt, du Dummkopf!«, schnaubte der große Zauberer. »Das ist es ja, worüber ich mich beschwere. Was soll ich nun tun? Ich kann nicht ewig warten.«

Mr Leadbetter hüstelte. »Haben Sie jemals die Möglichkeit einer Eheschließung erwogen, Sir?«

Aus Arrimans Nasenlöchern schossen plötzlich Feuerstrahlen und hinter der Wandtäfelung gab Sir Simon ein unwilliges Stöhnen von sich.

»Heiraten? Ich und heiraten? Bist du nicht ganz bei Trost?«

»Wenn Sie heirateten, so wäre damit die Nachfolge gesichert«, sagte Mr Leadbetter ruhig.

»Wovon um alles in der Welt sprichst du?«, fuhr Arriman ihn an. Er fühlte sich durch und durch elend und war deshalb so gereizt.

»Er meint, Sie könnten ein Zaubererbaby haben, Sir. Wenn es ein Sohn wäre, so könnte er Ihr Nachfolger werden. Verstehen Sie?«, erklärte Lester.

Arriman schwieg. Ein Sohn. Für einen Moment stellte er sich ein Baby im Kinderwagen vor, einen netten kleinen Kerl, der genüsslich Hammelknochen zernagte. Dann zuckte er zusammen. »Wen soll ich denn heiraten?«, murmelte er betrübt.

Aber natürlich wusste er es. Alle wussten sie es. Es gibt nur eine Person, die ein Zauberer heiraten kann, und das ist eine Hexe. »Das wäre vielleicht gar nicht so schlecht«, sagte der linke Kopf aufmunternd.

»Gar nicht so schlecht!«, schrie Arriman. »Seid ihr nicht bei Verstand? Eine alte schwarze Vettel voller Warzen und Schwielen an einem unaussprechlichen Körperteil vom Reiten auf ihrem Besen! Ihr erwartet von mir, dass ich so jemandem jeden Morgen beim Frühstück gegenübersitzen soll?«

»Ich glaube, Hexen haben sich geändert, seit …«, begann Mr Leadbetter.

Aber Arriman wollte nichts hören. »Läuft wie ein aufgescheuchtes Huhn kreischend durch die Gänge. Trägt grässliche Nachthemden. Hat Ei in ihrem Damenbart kleben. Besteht bestimmt darauf, dass ihre Miezekatze mit im Bett schläft.«

»Vielleicht ist sie ja …«

»Und jedes Mal, wenn ich in die Küche gehe, um eine Kleinigkeit zu essen, hockt sie da, rührt in ihrem grässlichen Topf herum, in schlabbrigen Froschzungen und Krötenaugen und all dem Kokolores. Nie mehr wird es in diesem Haus ein ordentliches Steak geben, wenn sie erst einmal da ist.«

»Aber …«

»Putzt sich ihre schlechten gelben Zähne über meinem Waschbecken«, tobte Arriman und erregte sich immer mehr dabei. »Oder noch schlimmer, sie putzt sie sich nicht über meinem Waschbecken, putzt sie nämlich überhaupt nicht!«

»Sie könnte doch ein eigenes Badezimmer haben«, schlug der mittlere Kopf des Wächters vernünftig vor.

Aber Arriman ließ sich durch nichts beruhigen, er tobte und wütete noch zehn Minuten so weiter. Dann wurde er plötzlich ganz ruhig und blass und sagte: »Also gut, ich sehe ein, dass es meine Pflicht ist.«

»Ein weiser Entschluss, Sir«, sagte sein Sekretär.

»Wie soll ich meine Wahl treffen?«, fragte Arriman kleinlaut. »Es muss eine Hexe aus Todcaster sein, nehme ich an, sonst mache ich mich unbeliebt. Aber wie entscheiden wir, welche?«

»Was das betrifft, Sir«, sagte Mr Leadbetter, »so habe ich eine Idee.«

2. Kapitel

Die Hexen von Todcaster trafen Vorbereitungen für ihren Hexensabbat und waren sehr aufgeregt. Hexensabbat ist für Hexen so etwas Ähnliches wie für andere ein Pfadfindertreffen. Man kommt zusammen und hat eine Menge Spaß.

Diesmal würde es jedoch kein gewöhnlicher Hexensabbat mit Gelage und Tanz und Gemeinheiten sein. Es ging das Gerücht, dass bei dieser Gelegenheit etwas Wichtiges verkündet werden sollte.

»Ich möchte mal wissen, was«, sagte Mabel Wrack. »Vielleicht ein paar neue Mitglieder. Wir könnten sie brauchen.«

Das stimmte. In Todcaster gab es nur noch sieben richtige Hexen. Wenn Arriman gewusst hätte, wie schlecht es um das Hexenwesen in seiner Heimatstadt bestellt war, hätte er sich noch mieser gefühlt als sowieso schon; glücklicherweise wusste er es nicht.

Bei Tag führte Miss Wrack am Hafen von Todcaster ein Fischgeschäft. Sie war eine Meerhexe und hielt sich gern am Wasser auf. Mabels Mutter war eine Nixe gewesen, eine echte, die auf einem Felsen saß, ihr Haar kämmte und sang. Aber niemals hatte sie einen Seemann ins Verderben locken können, zum einen, weil sie ziemlich fett war, zum anderen, weil die modernen Schiffe so hoch aus dem Wasser ragten, dass man eine Nixe auf einem Felsen einfach übersah. Also war sie eines Tages mit ein paar Goldmünzen aus einer versunkenen Galeone an Land gewatschelt und hatte einen Schönheitschirurgen, der gerade in Todcaster Urlaub machte, überredet ihren Fischschwanz zu zwei Beinen umzuoperieren.

Von ihrer Mutter hatte Mabel Wrack die Zauberkraft geerbt, von ihrem Vater, Mr Wrack, das Fischgeschäft.

Heute machte sie den Laden früher zu, packte zwei Schellfischköpfe in eine Papiertüte und machte sich auf den Weg zu ihrem Häuschen am Strand. Gerade als sie in ihre Straße einbog, sah sie ein paar Kinder, die vergnügt in der Brandung planschten.

»Pfui!«, sagte Miss Wrack und verzog den Mund. Sie schloss die Augen, schwenkte die Tüte mit den Schellfischköpfen und murmelte einen Zauberspruch.

Sofort tauchte ein Schwarm Feuerquallen im Wasser auf und die Kinder rannten schreiend zu ihren Müttern.

»Das ist schon besser«, sagte Miss Wrack. Wie viele Hexen konnte sie Fröhlichkeit nicht ausstehen.

Als sie zu Hause ankam, ging sie schnurstracks in ihr Schlafzimmer, um sich umzuziehen. So ein Hexensabbat ist wie eine Party, es ist wichtig, was man trägt. Diesmal schlüpfte Miss Wrack in ein purpurrotes Gewand, das über und über mit Dorschen in gelbem Kreuzstich bestickt war. An dem Stirnband, mit dem sie ihr wirres Haar zusammenhielt, befestigte sie ihre Lieblingsbrosche, eine Seeschnecke aus Plastik. Dann ging sie ins Badezimmer.

»Komm, Schätzchen«, sagte sie über die Badewanne gebeugt, »Zeit, sich fertig zu machen.«

Was dort in Miss Wracks Badewanne lebte, war natürlich ihr Schutzgeist. Schutzgeister sind Tiere, die Hexen beim Zaubern helfen, und sie sind ausgesprochen wichtig. Miss Wracks Schutzgeist war ein Oktopus, ein großes Tier mit bleichen Tentakeln, bösen roten Augen und Saugnäpfen, die da, wo sie sich einmal festgeheftet hatten, blutige Ringe hinterließen. Es war ein Oktopusweibchen und hieß Doris.

»Lass mich nicht warten, Schätzchen«, sagte Miss Wrack, während sie versuchte Doris in einen Plastikeimer zu stopfen. »Der Abend heute ist wichtig für mich.«

Aber Doris war mehr nach Spielen. Sobald einer der langen Arme im Eimer war, baumelte ein anderer über den Rand und Miss Wrack war total durchnässt, als es ihr endlich gelang, den Deckel auf den Eimer zu setzen. Sie lud ihn auf einen alten Kinderwagen und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle.

Ethel Feedbags Schutzgeist war kein Oktopus, sondern ein Schwein. Ethel war eine Landhexe, die in einer heruntergekommenen Hütte in einem Dorf westlich von Todcaster lebte. Sie war eine pausbäckige Person von schlichtem Gemüt, die es liebte, Rüben zu hacken, Pastinakenwein zu machen und über alles und jedes Mist zu schaufeln. Und so wie Menschen oft ihren Hunden immer ähnlicher werden (oder umgekehrt), war Ethel im Laufe der Zeit ihrem Schwein immer ähnlicher geworden. Beide hatten runde, rosige Backen und einen dicken Hintern. Beide bewegten sich sehr langsam auf kurzen behaarten Beinen und grunzten dabei und beide hatten verschlafene graubraune Äuglein.

Ethel arbeitete in einer Eierpackstation. Es war eine langweilige Arbeit, denn die Eier, die sie verpackte, waren meist schon schlecht, so dass es für sie nichts Böses zu zaubern gab. Wenn sie dann am Abend nach Hause radelte, entschädigte sie sich dafür, indem sie das Gras für die Schafe vertrocknen ließ und dafür sorgte, dass die Kühe keine Milch gaben. Und was die Hecken zwischen der Eierpackstation und Ethels Hütte betraf, so gab es keine, die nicht von Mehltau oder Rost befallen war oder von gierigen Läusen ausgesogen wurde.

Aber an diesem Abend radelte Ethel geradewegs nach Hause. Normalerweise achtete sie nicht sehr auf ihre Kleidung, aber für den Hexensabbat wollte sie sich schick machen. Sie rieb ihre Gummistiefel mit Stroh ab, zog sich eine saubere Schürze an, auf deren Tasche Tomaten aus Filz gestickt waren (Tomaten mit Braunfäule allerdings). Dann suchte sie nach etwas, das sie zum Essen mitnehmen konnte. In der Küche gab es nichts, aber im Wohnzimmer fand sie im Kamin eine tote Dohle, die durch den Schornstein gefallen war.

»Gebraten wird sie köstlich sein!«, sagte Ethel und hob den Vogel auf. Dann ging sie zum Schuppen am Ende des Gartens, um ihr Schwein zu holen.

Nancy und Nora Shouter waren Zwillingshexen und arbeiteten auf dem Bahnhof von Todcaster. Sie waren ein äußerst unliebenswürdiges Pärchen. Sie hassten Passagiere, Züge und einander. Sobald Nancy an den Lautsprecher ging, um anzukündigen, dass der 7-Uhr-52-Zug nach Edinburgh auf Gleis neun einfuhr, eilte Nora zu ihrem Lautsprecher, ließ ein meckerndes Lachen ertönen und verkündete, dass der 7-Uhr-52-Zug einen Maschinenschaden habe und mit neunzigminütiger Verspätung eintreffen werde und nicht auf Gleis neun, sondern auf Gleis fünf, wenn überhaupt.

Und nun, als sie sich eigentlich für den Hexensabbat fertig machen sollten, standen sie im Schlafzimmer ihrer Wohnung in der Bahnhofsstraße und stritten, welches ihrer Haustiere wem gehörte.

»Das ist mein Huhn!«, schrie Nancy und zerrte heftig an den Schwanzfedern des unglücklichen Tieres.

»Das ist nicht dein Huhn!«, kreischte Nora. »Das dahinten ist dein Huhn!«

Es war ein höchst alberner Streit. Die Shouter-Zwillinge glichen einander wie ein Ei dem anderen. Sie hatten das gleiche rot gefärbte Haar, die gleiche lange Nase und die gleichen nikotinverfärbten gelben Finger. Sie kleideten sich gleich, schliefen in einem Doppelbett und hatten jede als Schutzgeist ein Huhn. Die Hühner hausten in Weidenkörben unter dem Bett. Natürlich sahen auch die Hühner eins wie das andere aus. Es waren zappelige braune Vögel, die einen sofort in den Finger pickten, wenn man ihn hinhielt. Aber das interessierte die Schwestern nicht im Geringsten und sie stritten so lange weiter, dass sie um ein Haar zum wichtigsten Hexensabbat ihres Lebens zu spät gekommen wären.

Seit vielen Jahren trafen sich die Hexen von Todcaster in Windylow Heath. Das war ein wilder, stürmischer Ort, wo es ein paar verkrüppelte, dornige Bäume gab, einen Teich, in dem sich einst eine schwermütige Lady am Abend vor ihrer Hochzeit ertränkt hatte, und einen einsamen Felsen, auf dem schon in grauer Vorzeit die Druiden schauerliche Rituale vollzogen hatten.

Um dorthin zu gelangen, hatten die Hexen einen Bus gemietet, den Hexensabbat-Sonderbus, der um sieben Uhr abends vom Busbahnhof losfahren sollte. (Keine war mehr auf einem Besen geflogen, seit eine Hexe mit Namen Mrs Hockeridge in die Turbine einer Boeing 707 auf dem Weg von Heathrow nach Istanbul eingesogen worden war und beinah einen ziemlich bösen Schlamassel angerichtet hätte.)

Die Shouter-Zwillinge stritten sich immer noch, als sie am Busbahnhof ankamen, aber sie hielten inne, als sie auf dem Gehsteig vor dem Bus ein kleines braunes Kaffeetischchen stehen sahen.

»Sie nun wieder«, sagte Nancy.

»Dummes altes Weib«, sagte Nora.

»Ich hab nicht übel Lust, meine Kippe auf ihr auszudrücken«, sagte Nancy, die wie üblich eine Zigarette zwischen den Lippen hängen hatte.

Böse starrten sie das niedrige runde Tischchen an, das ein wenig hin- und herzuschwanken schien.

»Ist schon traurig, wenn man so verblödet«, sagte Ethel Feedbag. Sie hatte ihr Schwein im Anhänger verfrachtet, kam herüber und stieß mit ihren Gummistiefeln an ein Tischbein.

Das Kaffeetischchen war in Wirklichkeit eine sehr alte Hexe, die Mother Bloodwort genannt wurde und im ärmsten Viertel der Stadt einen verfallenen Schuppen in der Nähe eines stillgelegten Steinbruchs bewohnte.

In jungen Jahren war Mother Bloodwort eine großartige Hexe der alten Schule gewesen, die den Leuten Furunkel anhexte, den Metzger mit dem bösen Blick bannte, wenn der ihr knorpelige Koteletts verkaufte, und Babys in ihren Kinderwagen mit einem Zauber belegte, so dass die eigene Mutter sie nicht wiedererkannte.

Aber nun war sie alt. Ihr Gedächtnis hatte nachgelassen und wie viele alte Leute war sie etwas schrullig. So konnte sie es zum Beispiel nicht lassen, sich in einen Kaffeetisch zu verwandeln. Es gab keinerlei Grund dafür. Mother Bloodwort trank überhaupt keinen Kaffee, er war ihr viel zu teuer, und da sie allein lebte, gab es auch niemanden, der auf ihr eine Kaffeetasse hätte abstellen mögen. Aber sie war nun mal eine verrückte alte Hexe, und wann immer ihr der Zauberspruch einfiel, der sie von einer weißhaarigen alten Frau mit Damenbart in einen niedrigen Eichentisch mit gedrechselten Beinen und einer Glasplatte verwandelte, gab es kein Halten mehr. Allerdings fiel ihr dann oft nicht mehr der Zauberspruch ein, um sich wieder zurückzuverwandeln.

»Los, kommt schon«, rief Mabel Wrack aus dem Bus heraus. »Lasst das dumme alte Ding doch einfach stehen.«

Von ihrer Nixenmutter hatte Mabel ziemlich schuppige Beine geerbt, die leicht austrockneten und schuppten, darum wollte sie so schnell wie möglich nach Windylow Heath, wo die Luft kühl und feucht war.

Aber genau in diesem Augenblick passierte etwas. Zwei Spatzen, die sich in der Gosse zankten, hoben ihre Köpfe und begannen zu singen wie Nachtigallen. Von irgendwoher erschien eine Schar goldfarbener Schmetterlinge und durch den dreckigen Busbahnhof zog der Geruch von mit Morgentau bedeckten Primeln.

»Igitt! Das ist sie!«, rief Nancy Shouter. »Ich bin schon weg.« Sie warf ihr Huhn in den Anhänger und stieg in den Bus.

»Ich auch«, sagte ihre Schwester. »Ich kann sie nicht ausstehen. Ich verstehe wirklich nicht, wieso sie am Hexensabbat teilnehmen darf. Ich versteh’s nicht.«