Meiner Familie

Christoph-Maria Liegener

Der Muttersohn im Mythos

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Muttersöhne in der Bibel

Der Esau-Effekt

David, Salomo, Moses, Isaak, Johannes der Täufer

Die Engel

Jesus

Muttersöhne in anderen frühen Mythen

Der Muttersohn als Mittler zwischen Gott und Mensch

Muttersohn und göttliches Kind

Die Mater Dolorosa

Der Muttersohn in Mythen unserer Zeit

Muttersohnähnliche Kollektive

Das Schicksal der Menschheit

Ein anderer Ausweg

Muttertöchter

Schlusswort

Literaturverzeichnis

Vorwort

Der Typus des Muttersohnes taucht recht oft in den verschiedenen Mythen der Welt auf, ohne indes so genannt zu werden. In der vorliegenden Untersuchung geht es darum, Allgemeingültiges zu diesem Begriff in den Mythen zu entdecken. Es ist ein Thema, das typisch menschlich ist, es ist archetypischer Natur. In dieser Situation sollten Beispiele genügen, da sie sich in den anderen Mythen wiederholen sollten. Dementsprechend ist eine Vollständigkeit in der Erfassung nicht unbedingt erforderlich. Das Material der Mythologie ist es sehr umfangreich. Es kann daher sein, dass ich den einen oder anderen Mythos, der zur Sache beiträgt, übersehen habe. Dafür bitte ich um Entschuldigung.

Einige Themen der Bibel kommen in diesem Büchlein zur Sprache. Bei der Diskussion, die ich dabei führe, beziehe ich mich zuweilen auf die entsprechenden Bibelstellen. Diese sind der Lutherbibel von 1912 entnommen.

Dr. Dr. Christoph-Maria Liegener

Einleitung

Der Muttersohn ist ein bekannter Begriff in der Psychologie. Er macht deutlich, wie aus der Erziehung eines Kindes bestimmte Eigenschaften des Erwachsenen entstehen. Bekannt wurde er vor allem durch Pilgrims Buch (Pilgrim, Muttersöhne, 1986), in dem die großen Weltzerstörer Hitler und Stalin als Beispiele für Muttersöhne dargestellt wurden. Bereits daran kann man erkennen, welche Tragweite der Begriff hat. Auch fand das Thema Niederschlag in Romanen (Dose, 1904, Walser, 2011). Im vorliegenden Buch soll gezeigt werden, dass der Begriff in der Tat tief im kollektiven Unbewussten der Menschheit verwurzelt ist. Ohne als solcher benannt worden zu sein, fand er Eingang in die frühesten Mythen der Menschheit.

Zu diesen Mythen gehört auch die Bibel. Natürlich gibt es Menschen, die die Bibel nicht als einen Mythos betrachten, sondern als Tatsachenbericht. Andererseits hat selbst Papst Benedikt XVI. die biblische Erzählung vom Sündenfall als Vision und „großes Bild“ bezeichnet (Benedikt, 2008):

„Das Böse bleibt geheimnisvoll. Es wird in großen Bildern dargestellt, wie es das 3. Kapitel des Buches Genesis mit jener Vision von den zwei Bäumen, von der Schlange, vom Menschen, der zum Sünder wird, tut. Ein großartiges Bild, das uns rätseln lässt, aber das, was in sich unlogisch ist, nicht zu erklären vermag.“

Die Bibel als Mythos zu verstehen, heißt ja nicht, dass sie nicht Glaubensgrundlage sein kann. Wie jeder Mythos enthält sie verschlüsselte Botschaften. Es geht nur darum, sie richtig auszulegen. Auch muss differenziert werden. Teile der Bibel dürften durchaus Tatsachenberichte sein. Für andere Teile aber gilt: Man muss nicht päpstlicher sein als der Papst.

Pilgrims Arbeit konzentrierte sich damals hauptsächlich auf die negativen Aspekte des Phänomens „Muttersohn“. Bei ihm sind Muttersöhne Söhne, die sich nicht von ihren Müttern lösen konnten. Damit wurden sie zu Projektionsflächen für ihre Mütter, die ihre eigenen unerfüllten Wunschvorstellungen auf sie projizierten. Diese Mütter waren oft in ihre Genderrollen gezwungen worden, so dass sie sich nicht frei entwickeln konnten und ihre eigenen Persönlichkeiten konturlos blieben. Die so entstandenen Entwicklungsdefizite versuchten sie mit der Erziehung ihres jeweiligen Sohnes zu kompensieren, sich in ihm zu verwirklichen. In jenen Gesellschaftsformen, in denen die Mutter als Frau sich nicht verwirklichen konnte, sandte sie ihren Sohn aus, damit er die Ideale, die sie ihm eingepflanzt hatte, an ihrer Stelle verwirklichte. Die so in einen Narzissmus getriebenen Söhne entwickelten durch ihre Gendervorbilder weibliche Züge, die sie mit einer künstlichen Männlichkeit zu überdecken suchten. Das führte durch Überkompensation manchmal zu sexueller Überaktivität, verhinderte manchmal ein normales Eheleben. Außerdem kam es zu inneren Konflikten, zu Selbst- und Fremdhass. Muttersöhne neigten einerseits zur Selbstzerstörung, andererseits äußerte sich der Drang, die eingepflanzten Ideale in die Welt zu tragen, in einer Eroberungswut der Muttersöhne. Sie strebten Dominanz an, waren dabei selbstgerecht und wurden nicht selten zu Tyrannen. Pilgrim entdeckte dieses Schema bei den großen Weltzerstörern der Geschichte.

Im vorliegenden Büchlein soll allerdings nicht so sehr das Negative im Vordergrund stehen, vielmehr die Ambivalenz betont werden, das Potential zum Besonderen bei jenen Menschen, zum besonders Guten genauso wie zum besonders Bösen. Auch wird nicht so sehr von einer negativen Mutterprägung als vielmehr von einer fehlenden Vaterprägung ausgegangen.

In der Bibel wimmelt es von Muttersöhnen: Jesus, David, Salomo, Moses, Isaak, Jakob, Johannes der Täufer waren Muttersöhne und es gibt Grund zu der Annahme, dass noch weit mehr Gestalten der Bibel die Kriterien dafür erfüllten. Sie alle haben eine weitere Gemeinsamkeit: Sie waren Gott nahe. Es war argumentiert worden (Liegener, Wie wurde Jesus Gottes Sohn? – Muttersöhne in der Bibel, 2016), dass Gott beim Muttersohn die unbesetzte Stelle des Vaters einnahm. Der Muttersohn sah ihn als einen Ersatzvater, übernatürlich zwar und fern, aber doch in gewissem Maße ihm zugänglich, mehr jedenfalls, so scheint es, als anderen Menschen. Offenbar half die Prägung als Muttersohn, Kontakt zu Gott aufzubauen. Diese Rolle als Mittler zwischen Mensch und Gott ist ganz charakteristisch für Muttersöhne in Mythen. Sie taucht auch in anderen Mythen der Menschheit auf. Zunächst soll aber mit der Bibel begonnen werden.