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Ross Thomas, Porkchoppers

Ross Thomas, geboren 1926 in Oklahoma, richtete in den fünfziger Jahren das deutsche AFN-Büro in Bonn ein und arbeitete als Journalist, Gewerkschaftssprecher und Public-Relations- und Wahlkampfberater für Politiker in den USA. Seine vielfältigen Erfahrungen verarbeitete er in seinen Politthrillern, in denen er vor allem die Hintergründe des (amerikanischen) Politikbetriebs entlarvt und bloßstellt. Ihm wurden zweimal der Edgar Allan Poe Award und viermal der Deutsche Krimi Preis verliehen. Bis zu seinem Tod 1995 entstanden 25 Romane.

Ross Thomas

Porkchoppers

Aus dem Amerikanischen
und mit Nachbemerkungen
von Jochen Stremmel

Alexander Verlag Berlin

Die Ross-Thomas-Edition im Alexander Verlag Berlin
Herausgegeben von Alexander Wewerka

Neuübersetzung 2016
Die deutsche, stark gekürzte Erstausgabe erschien 1973 unter dem
Titel Wahlparole: Mord im Ullstein Verlag, Frankfurt am Main/Berlin.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1972 unter dem Titel
The Porkchoppers. © by Ross Thomas
© für die Neuübersetzung by Alexander Verlag Berlin 2016
Alexander Wewerka, Fredericiastr. 8, D-14050 Berlin
info@alexander-verlag.com · www.alexander-verlag.com
Umschlaggestaltung: Antje Wewerka
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-89581-414-3 (eBook)

Für Warren Bayless

Die Ereignisse und Figuren in diesem Buch sind fiktiv, und falls irgendwas davon der amerikanischen Arbeiterbewegung zustoßen würde, wäre das nicht nur reiner Zufall, sondern auch ein bißchen schade.

PORKCHOPPER n [pork chops, Gewerkschaftsslang für wirtschaftliche Vorteile + -er]: ein Gewerkschaftsfunktionär, der nach Ansicht seiner Kollegen hauptsächlich von Eigennutz motiviert wird.

Webster’s Third New International Dictionary

1

Es waren alte Hundert-Dollar-Scheine, inzwischen ein bißchen schlaff, sogar ein bißchen schmierig, und einer von ihnen hatte einen Riß, den jemand säuberlich mit einem Streifen Tesafilm geklebt hatte. Anfangs hatte es fünfundsiebzig davon gegeben, aber als sie Truman Goff erreichten, waren nur noch fünfzig übrig – fünfzig Einhundert-Dollar-Scheine, 5.000 Dollar, und genau der Preis, den Truman Goff beschlossen hatte, in diesem Jahr in Rechnung zu stellen.

Die 5.000 Dollar hatten drei Wochen gebraucht, um bei Goff anzukommen. Das lag nur zum Teil an der chronischen Trödelei der Post. Der größere Teil der Verzögerung war auf die fünf anderen Personen zurückzuführen, die sich an der ursprünglichen Summe von 7.500 Dollar bedient hatten, wobei jeder zwei, drei oder sogar zehn der Scheine für sich herausnahm, bevor er die übrigen zusammen mit der weißen 7,5 x ˛12,5 cm großen Karte, die den mit Bleistift in – wie es die meisten Zeitungen gern nennen – einfachen Druckbuchstaben geschriebenen Namen trug, wieder versiegelte und an die nächste Adresse schickte.

Erster Anlaufpunkt für die 7.500 Dollar und den Namen in Druckbuchstaben war das im vierten Stock in der Innenstadt von Minneapolis gelegene Ein-Raum-Büro eines zweiundfünfzig Jahre alten Privatdetektivs gewesen, der sich auf etwas spezialisiert hatte, was er Klienten gegenüber immer als elektronische Überwachung bezeichnete. Der Name des Detektivs lautete Karl Syftestad, und die meisten seiner Klienten waren Ehemänner mittleren Alters, die glaubten oder nur hofften, daß Syftestad hintenrum etwas über ihre Frauen rausfinden könnte, was vor Gericht im Scheidungsverfahren verwendbar wäre.

In guten Jahren brachte Syftestads Agentur im Benser Building ihm ein Nettoeinkommen von 9.000 Dollar ein, das er pflichtschuldig den Leuten von der Steuer in Staat und Bund meldete. Normalerweise schaffte er es, weitere, nicht gemeldete neun- oder zehntausend Dollar damit zu verdienen, daß er etwas arrangierte, das er als Vorstellung betrachtete.

Für 300 Dollar konnte er dich jemandem vorstellen, der dir einen neuen Cadillac oder Continental für nur 3.500 Dollar verkaufen würde, wenn du dir nicht allzuviel Gedanken über die Gültigkeit seines texanischen Fahrzeugbriefs machtest. Für eine Tracht Prügel berechnete Syftestad 500 Dollar und versicherte seinen Kunden immer, daß das angehende Opfer »todsicher mitkriegt, daß er eine anständige Abreibung bekommen hat«. Die Tracht Prügel wurde von einem Feuerwehrmann aus Minneapolis nach Dienstschluß verabreicht. Syftestad und der Feuerwehrmann teilten sich das Honorar von 500 Dollar paritätisch.

Der Brief mit den 7.500 Dollar wurde Syftestad am 14. August, einem Montag, um 11 Uhr zugestellt. Die einzige andere Post war eine Werbesendung von einem Großhändler für Kameras aus St. Louis, die Syftestad gewissenhaft las, bevor er sie in den Papierkorb warf. Er las seine ganze Post gewissenhaft, weil er nicht viel bekam.

Bei dem braunen rechteckigen Briefumschlag, der die 7.500 Dollar enthielt, gab es außer dem mit Bleistift geschriebenen Namen auf der weißen Karte nichts zu lesen. Syftestad kannte den Namen und hatte den Eindruck, daß er ihm irgendwie Gerechtigkeit widerfahren lassen müsse, weshalb er die Lippen spitzte und zwei falsche Töne pfiff. Dann zählte er das Geld.

Es war das siebte Mal in vier Jahren, daß Syftestad so einen Brief erhalten hatte, wie er jetzt vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Der erste, der kam, hatte nur 5.000 Dollar enthalten – und einen mit Bleistift geschriebenen Namen. Er war zwei Tage nach einem Anruf angekommen, den Syftestad von einem Mann erhalten hatte, der sich ihm als Bill, Just Bill, vorstellte.

»Wird Ihnen gefallen, was ich Ihnen erzählen werde«, hatte der Mann gesagt, der behauptete, sein Name sei Just Bill.

»Was wird mir gefallen?«

»Wir lassen Sie dann und wann zwei Scheine dafür verdienen, daß Sie nichts tun.«

»Was ist nichts tun?«

»Nichts tun ist nichts tun. Sie kriegen einen Umschlag mit etwas Geld drin. Sie müssen nur Ihre zwei Scheine rausnehmen, einen anderen Umschlag finden, und das, was übrig ist, an eine Adresse schicken, die ich Ihnen geben werde. Sie müssen Ihre eigenen Briefmarken kaufen.«

»Das ist alles?« hatte Syftestad gefragt.

»Das ist alles. Das ist absolut alles. Wie gesagt, es ist dafür, daß Sie nichts tun.«

»Yeah, nun, ich weiß nicht – «

»Syftestad.«

»Yeah?«

»Wir mögen Sie. Tun wir wirklich. Wir möchten nicht erleben, daß Ihnen irgendwas zustößt, und wir haben Sie aus dem Grund ausgesucht, weil wir glauben, Sie wissen, wie leicht jemand etwas zustoßen kann. Mache ich mich verständlich?«

»Yeah«, hatte Syftestad gesagt. »Gewissermaßen.«

»Na, das ist ja prima. Es geht einfach nur darum, ein bißchen Post zu spielen. Das ist eigentlich alles.«

»Sind Sie sicher, daß das alles ist?«

»Warum sollte ich Sie anlügen?«

»Warum nicht? Alle anderen tun es auch.«

Der Mann, der sich Bill nannte, hatte auf eine traurige, blecherne, humorlose Art gelacht, als wollte er demonstrieren, daß er wisse, wie es geht. »Also auf unserer Seite gibt’s keine betrügerischen Machenschaften, und ich bin mir sicher, daß es auch auf Ihrer Seite keine betrügerischen Machenschaften geben wird, wenn Sie mir folgen können, und ich glaube, daß Sie das tun.«

»Hmh-mhm. Ich kann Ihnen folgen.«

»Gut, dann ist das geklärt. Haben Sie was zum Schreiben?«

»Ich hab was.«

Über das Telefon hatte der Mann, der sich Bill nannte, Syftestad langsam einen Namen und eine Adresse in East St. Louis, Illinois, diktiert. Es war eine einfache Adresse, und der Name war noch einfacher, aber Bill forderte Syftestad zweimal auf, ihn vorzulesen. Als er überzeugt war, daß Syftestad alles richtig notiert hatte, sagte Bill: »Nur noch eins.«

»Was?«

»Verlieren Sie die Adresse nicht.«

Dann hatte Bill aufgelegt, und Syftestad hörte nie wieder von ihm – außer indirekt durch die Briefe, die das Geld und die mit Bleistift geschriebenen Namen enthielten. Der erste Brief hatte 6.000 Dollar enthalten. Die nächsten drei stiegen auf 6.500 Dollar, dann auf 7.000 Dollar, wo sie bis zum siebten und letzten geblieben waren, der 7.500 Dollar enthielt.

Weil Syftestad ein ungebildeter Mann war, hatten ihm die mit Bleistift geschriebenen Namen in den vorangegangenen sechs Briefen nichts gesagt. Falls er ein gewissenhafter, sorgfältiger Leser der Minneapolis Tribune gewesen wäre, hätte er vielleicht einen, zwei oder sogar drei der Namen im Lauf eines Jahres gesehen, sich allerdings vermutlich nicht an sie erinnert, weil sie in kurzen, langweiligen Meldungen von AP oder UPI über etwas ziemlich Anspruchsvolles und daher Uninteressantes begraben gewesen wären, das in Los Angeles oder New York oder Chicago oder Washington passiert war.

Aber Syftestad las nicht mehr viel Zeitung, von einem gelegentlichen Blick in den Sportteil abgesehen. Das an Nachrichten, was er seiner Ansicht nach brauchte, bekam er vom Fernsehen geliefert, und da bekamen die meisten Leute ihre Nachrichten her, und die sechs Namen, die während der vergangenen vier Jahre auf seinem Schreibtisch gelandet waren, gehörten nicht zu der Sorte, die bei den Nachrichtensendern auftauchten.

Deshalb war Syftestad mit seiner Unkenntnis ganz zufrieden, weil er schlau genug war zu glauben, daß er wüsste, warum ein Fremder ihm die Aufgabe übertrug, große Geldsummen an eine Adresse in East St. Louis zu schicken. Ich würde meinen Namen todsicher nicht auf einer dieser kleinen weißen Karten geschrieben sehen wollen, dachte Syftestad immer, wenn er überhaupt daran dachte, was nicht oft war, weil nicht genug Geld darin steckte, um oft daran zu denken, und außerdem war es irgendwie unangenehm, und Syftestad dachte nicht gern an etwas Unangenehmes, wenn er es vermeiden konnte, und das konnte er normalerweise.

Aber der Name, der auf der Karte geschrieben stand, die jetzt vor ihm auf dem Schreibtisch lag, sagte ihm etwas, weil er zu einem Mann gehörte, der Leute engagierte, die dafür sorgten, daß er gelegentlich in den Fernsehnachrichten genannt wurde. Die Leute, die er dafür engagierte, waren ziemlich erfolgreich, weil die Position, die der Mann bekleidete, hinlänglich wichtig war, um einiges an nationalem Interesse zu erregen. Vielleicht nicht viel, aber einiges.

Syftestad stieß mit dem rechten Zeigefinger gegen die Karte. Der Name auf der Karte bedeutete Geld, falls er rauskriegen konnte, wie man ihn einsetzte. Einen oder zwei Augenblicke lang wurde Syftestad beinahe enthusiastisch angesichts der Möglichkeiten. Der Enthusiasmus ließ nach, als er sich an den Mann erinnerte, der sich am Telefon Bill genannt hatte. Du bist nicht schlau genug, um gegen Leute wie den anzutreten, sagte er sich. Du bist gerade schlau genug, Post zu spielen. Also seufzte er, nahm zwei Einhundert-Dollar-Scheine von dem Stapel, der vor ihm lag, faltete sie und steckte sie in die Hosentasche, fand einen Briefumschlag und benutzte einen Kugelschreiber, um Namen und Adresse des Mannes in East St. Louis, Illinois, in Druckschrift darauf zu schreiben, den Namen und die Adresse, die ihm vor vier Jahren genannt worden waren.

Als er den Umschlag in den Briefschacht warf, sagte sich Karl Syftestad, daß er die Zeitung während der nächsten paar Wochen sorgfältiger lesen würde. Es könnte echt interessant sein, beschloß er, als ob man etwas über eine Sache lesen würde, mit der man was zu tun hatte.

2

Drei Tage später, am 17. August, einem Donnerstag, wurde der Umschlag, den der Privatdetektiv aus Minneapolis in den Briefschacht geworfen hatte, in einer Eckkneipe an der Kreuzung Margate Avenue und Winder Street in East St. Louis, Illinois, zugestellt, was bedeutete, daß der Brief seinen Weg mitten in ein professionell raues Viertel in einer Stadt gefunden hatte, die von Leuten, die sich normalerweise in solchen Dingen auskennen, als professionell rau betrachtet wurde.

Die Eckkneipe bekam von ihrem Eigentümer und Betreiber Julius C. Eames, einem Schwarzen, der etwas mehr als 96 Kilo wog und das Lokal vor acht Jahren bei einem Würfelspiel drüben in Joplin, Missouri, gewonnen hatte, indem er nach Ansage einen Zweierpasch warf, genau diesen Namen: The Corner Bar. Seitdem hatte Eames nicht viel gespielt, weil er überzeugt war, das ganze Glück, das der Herr für ihn bestimmt hatte, an jenem Abend in Joplin verbraucht zu haben, als er das Spiel mit der Kneipe und 5.469 Dollar Bargeld verlassen hatte. Jetzt gab er sich damit zufrieden, eine anständige Menge Dixie Belle Gin, Smirnoff Wodka, Thunderbird-Wein und Falstaff-Bier zu verkaufen. Er verkaufte auch ziemlich viel Seagram’s Seven, aber nicht viel Scotch.

Mit der Corner Bar verdiente er seinen Lebensunterhalt, aber nicht genug für ein Leben, das man als gut bezeichnen konnte, und deshalb ergänzte er sein Einkommen, indem er seinen Gästen mit kleinen Darlehen aushalf. Er lieh ihnen 50 Dollar am Freitag, und sie zahlten ihm eine Woche später 60 zurück. Eames hatte normalerweise Außenstände von 1.500 Dollar, und es gab nicht viele säumige Schuldner, teils, weil die meisten seiner Gäste für die Gewährung von Kleinkrediten wirklich dankbar waren, und teils, weil sie alle von dem Überfall wußten.

Zu dem Überfall war es vor vier Jahren gekommen, kurz nachdem Eames von dem Mann angerufen worden war, der sich Just Bill nannte und von Eames so ziemlich die gleiche Dienstleistung verlangt hatte, die Syftestad sich in Minneapolis zu erbringen bereit erklärt hatte. Eames hatte kurzerhand abgelehnt. Drei Tage später war ein hochgewachsener, schlanker brauner Jüngling in die Corner Bar marschiert, hatte einen Iver Johnson Sportrevolver Kaliber .22 auf Eames gerichtet und Geld verlangt. Eames hatte nachdenklich genickt und war um die Theke herumgegangen mit Blick auf den schlanken Jüngling, der dreimal auf ihn schoß, bis Eames bei ihm ankam, ihm den .22er abnahm und mit der Kante der linken Hand das Genick brach.

Als Eames neun Tage später aus dem Krankenhaus kam, war er so was wie ein Held im Viertel. Außerdem erhielt er noch einen Anruf von dem Mann namens Bill.

»Uns hat irgendwie gefallen, wie Sie mit dem Jungen fertiggeworden sind, den wir Ihnen vorbeigeschickt haben«, hatte Bill gesagt. »Soweit wir hörten, haben Sie wirklich saubere Arbeit geleistet.«

»Das heißt, Sie haben ihn geschickt?«

»Das ist richtig. Natürlich war er nur ein Junge. Wir hätten jemand vorbeischicken können, der ein bißchen älter ist. Mit einer größeren Kanone. Sie wissen, was ich meine.«

»Hmh-mhm«, hatte Eames gesagt. »Weiß ich genau. Vielleicht sagen Sie mir besser noch mal, was Sie von mir wollen.«

Also hatte Bill es ihm gesagt, und jetzt konzentrierte sich Eames zum siebten Mal mächtig, während er in der hinteren Nische der Corner Bar saß und mühsam den Namen eines Mannes in Druckbuchstaben hinschrieb, der in Buffalo, New York, lebte. Eames machte sich nicht die Mühe, den Namen des Mannes zu lesen, der mit Bleistift auf die weiße Karte geschrieben worden war.

Der Mann, der in Buffalo lebte, war dort vor sechsunddreißig Jahren geboren worden und betrieb mittlerweile ein italienisches Restaurant, das er von seinem Vater Frank Martelli geerbt hatte, der 1959 gestorben war, als er friedlich in seinem Wohnzimmer saß. Der Bestattungsunternehmer hatte nicht viel mit Frank Martelli machen können, weil die Schrotkugeln den größten Teil seines Kopfs mitgenommen hatten, und deshalb war der Sarg beim Begräbnis geschlossen gewesen. Der jüngere Martelli, der von jedem Frank Junior genannt wurde, obwohl sein richtiger Name Enrico war, übernahm das Restaurant nach dem Tod seines Vaters, und weil er den Mund hielt, ließen ihn die früheren Geschäftspartner seines Vaters weitgehend in Ruhe.

Als Frank Junior am 21. August, einem Montag, den Brief von Eames erhielt, nahm er fünf der Einhundert-Dollar-Scheine, stopfte sie in eine Hosentasche und steckte die verbleibenden sechsundsechzig Scheine in einen braunen Umschlag, den er schon an eine Postfachnummer in Jack, Oklahoma, adressiert hatte. Frank Junior kannte den Namen, der mit Bleistift auf die weiße Karte geschrieben worden war, und bekreuzigte sich. Seit dem Tod seines Vaters hatte er sich seiner Religion zugewandt und war beinahe fromm geworden, aber nicht so sehr, daß er jemals irgend jemandem von dem mit Bleistift geschriebenen Namen auf der weißen Karte erzählt hätte, nicht einmal seinem Priester.

Das Postamt in Jack, Oklahoma, befand sich in dem Gemischtwarenladen, dessen Eigentümer und Betreiber seit zweiundvierzig Jahren der alte Wimple war. Als der Brief aus Buffalo, New York, eintraf, steckte er ihn in das Fach von diesem neuen Kerl. Dieser neue Kerl benutzte den Namen Bryan Simpson, und er wohnte inzwischen seit sechs Jahren mit seiner Frau auf einer 160-Morgen-Farm ungefähr neun Meilen außerhalb von Jack, wo er ein paar Hereford-Rinder auf der Weide stehen hatte, aber außer Schwarzeichen nichts anbaute, soweit die meisten Leute sehen konnten. Jeder in der Umgebung von Jack glaubte, daß Simpsons Frau Geld hatte, weil er eindeutig eine träge Type war und obendrein eine Menge trank. Außerdem wirkte er ein bißchen indianisch, was – in diesem Teil von Oklahoma – nur etwas war, worüber man eine Bemerkung fallenließ, aber nichts, worüber man sich aufregte oder Sorgen machte.

Simpson öffnete den Brief erst, als er zurück auf seiner Farm war. Zuerst zählte er das Geld und legte sechs der Scheine für sich beiseite. Er warf einen Blick auf die weiße Karte und grinste, als er den Namen erkannte. Das wäre mit Sicherheit etwas, was man sich im Fernsehen anschauen sollte, dachte er. Nachdem er den Umschlag adressiert und mit den sechzig Einhundert-Dollar-Scheinen und der weißen Karte mit dem bleistiftgeschriebenen Namen zugeklebt hatte, ging er zu dem Wandschrank und holte eine kleine graue Geldkassette heraus und schloß sie auf.

Er legte die sechs Einhundert-Dollar-Scheine in die Kassette zu dem anderen Geld, das von den 126.000 Dollar übrig war, die er an einem Sommernachmittag in Washington vor etwas mehr als sechs Jahren ganz allein aus der Zweigstelle der Riggs National Bank an der L Street mitgenommen hatte. Dann stieg er in seinen Chevrolet Pickup und fuhr 81 Meilen nach Fort Smith, wo er den Brief abschickte.

Von Fort Smith, Arkansas, flogen das Geld und die weiße Karte nach Los Angeles, wo sie am 29. August, einem Dienstag, Miss Joan Littlestone zugestellt wurden, die in einem Apartment im 900er Block an der Hilldale ungefähr einen Block unterhalb des Sunset Boulevard wohnte. Miss Littlestone war dafür bekannt, intelligent, freundlich und sowohl Kunden als auch Angestellten gegenüber überaus korrekt zu sein. Sie betreute sechs junge Frauen und genoß in dem Gewerbe, in dem sie in der einen oder anderen Funktion siebenunddreißig ihrer dreiundfünfzig Jahre beschäftigt war, hohes Ansehen. Als der Mann namens Just Bill sie angerufen hatte, war sie sogleich einverstanden, das zu tun, was er von ihr wollte, weil es in ihrem Wesen lag, das zu tun, was Männer von ihr wollten, so bizarr es auch sein mochte. Das Honorar von 1.000 Dollar pro Weiterleitung kam ihr lächerlich hoch vor, aber sie hatte es nicht in Frage gestellt. Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, daß manche Männer gern mehr zahlten, als sie sollten; daß manche Männer tatsächlich gern betrogen wurden, und Miss Littlestone versuchte wie immer nach Möglichkeit entgegenkommend zu sein, wenn das Risiko niedrig war. Oder wenigstens nicht zu hoch.

Sie nahm zehn von den Geldscheinen für sich und schrieb dann sorgfältig den Namen und die Adresse des Mannes, der in Baltimore wohnte, in Druckbuchstaben auf den Umschlag. Sie warf einen Blick auf die Karte, die mit dem Geld gekommen war, aber nur der Vorname, der mit Bleistift darauf geschrieben war, blieb ihr in Erinnerung. Nachnamen hatten sich in Miss Littlestones Geschäft nicht als besonders nützlich oder zuverlässig erwiesen, und sie hielt sich selten mit ihnen auf.

Der Brief brauchte sechs Tage, um die Strecke von Los Angeles bis Baltimore im Flugzeug zurückzulegen, weil es am Flugplatz O’Hare in Chicago ein kleines Durcheinander gab. Der Brief wartete auf Truman Goff, als er in seinem Reihenhaus mit den fünf Zimmern in West Baltimore ankam, nachdem er einen ganzen Tag in seinem Job als Leiter der Obst- und Gemüseabteilung in einem Safeway-Laden im Zentrum der Innenstadt abgerissen hatte, wo die Zahl der Kleindiebstähle mit einer stetigen, fast vorhersagbaren Quote zunahm.

Goff fuhr einen Oldsmobile Toronado, was für einen Einkaufsleiter im Supermarkt ziemlich extravagant war, aber nicht so extravagant, daß sich irgend jemand fragen würde, woher er das Geld dafür hatte. Man würde die Tatsache, daß er das Auto besaß, auf seine Maßlosigkeit zurückführen und annehmen, daß es genausowenig bezahlt war wie ihre eigenen, und wie ihre eigenen vermutlich auch nicht abbezahlt sein würde, bis es den Geist aufgäbe, und dann würde Truman Goff gucken müssen, wofür er es in Zahlung geben konnte.

Als Goff an diesem Montagabend Anfang September nach Hause kam, saß seine zehn Jahre alte Tochter Miranda wie üblich vor dem Fernseher. Es war fast neun Uhr, weil der Safeway, in dem er arbeitete, bis acht Uhr geöffnet war.

Goff sagte: Wie geht es dir, zu seiner Tochter, die antwortete: Hi, Daddy, und er ging weiter in die Küche und sagte: Was gibt’s Neues, zu seiner Frau, während er den Kühlschrank aufmachte und eine Dose National Beer herausnahm.

»Nicht viel«, sagte seine Frau. »Du hast einen Brief bekommen. Er war heute in der Post.«

»Von wem?«

»Ich mache deine Post nicht auf.«

»Ich hab nur gedacht, es stünde vielleicht außen drauf. Ein Absender.«

»Ich hab keinen gesehen.«

»Wo ist er denn?«

»Wo die Post immer liegt. Auf dem Tisch im Eßzimmer. Wann willst du essen?«

»Wenn ich mein Bier getrunken habe«, sagte Goff. »Was gibt es denn?«

»Die Schweinekoteletts, die du am Samstag mitgebracht hast. Ich hab sie nicht in den Tiefkühler getan, und deshalb essen wir sie besser. Schweinefleisch hält sich nicht gut.«

»Yeah, ich weiß«, sagte Goff und ging mit seinem Bier von der Küche ins Eßzimmer und nahm den braunen Briefumschlag in die Hand. Er glaubte zu wissen, was er enthielt, war sich aber nicht sicher. Es konnte ein Köder für pornographische Bilder sein, dachte er. Sie schickten das Zeug manchmal in unauffälligen Umschlägen wie dem hier los, mit handgeschriebener Adresse und allem.

Goff steckte den Umschlag in seine Tasche und ging in das Zimmer, das seine Frau als Gästezimmer und er als Hobbyraum bezeichnete. Darin standen eine Couch, aus der man ein Doppelbett machen konnte, ein Ahornschreibtisch mit einer Öffnung für die Knie, die Nähmaschine seiner Frau, eine kleine Kommode und ein Bücherregal mit vier Einlegeböden, das hauptsächlich mit Taschenbuchwestern vollgestellt war, abgesehen von einer großen Bibel und einer drei Jahre alten Ausgabe des Who’s Who.

Nachdem er seine Bierdose auf den Schreibtisch gestellt hatte, öffnete Goff den Brief, indem er die Lasche mit dem Zeigefinger aufriss. Er lächelte nicht, als er das Geld darin sah. Er zählte die fünfzig Einhundert-Dollar-Scheine schnell auf den Schreibtisch, bevor er sie einmal faltete und sich in die linke Gesäßtasche steckte, die er zuknöpfte. Er schaute die Karte an und dann zur Decke hoch, wobei er den Namen lautlos mit den Lippen formte, bis er sich sicher war, daß er ihn nicht mehr vergaß. Er riß die Karte in winzige Stücke und ging durch den Flur ins Bad, wo er die Stücke in die Toilette warf und spülte.

Als er aus dem Bad kam, rief ihm seine Frau aus der Küche zu: »Bist du jetzt fertig?«

»In einer Minute«, rief er zurück.

»Es wird kalt.«

»In einer Minute, gottverdammt«, schrie er und ging zurück in den Hobbyraum, nahm die Ausgabe des Who’s Who aus dem Regal, schlug unter den Cs nach und las alles, was da über den Mann stand, den er töten würde.

3

Donald Cubbin sah aus, als müsse er Präsident von irgendwas sein, möglicherweise von den Vereinigten Staaten, oder, falls sein Kater nicht zu allzu schlimm war, von der ganzen Welt. Stattdessen war er Präsident einer Industriegewerkschaft mit Sitz in Washington, deren Mitgliederzahl um die 990.000 lag, je nachdem, wer das Zählen übernahm.

Cubbins Gewerkschaft war kleiner als die der Automobilarbeiter und die der Transportarbeiter, aber ein bißchen größer als die der Stahlarbeiter und der Maschinenschlosser, und da die ersten beiden zu dem Zeitpunkt nicht mehr in der AFLCIO waren, hieß das, daß er Präsident der größten Gewerkschaft im offiziellen Haus der Arbeit war.

Cubbin war Präsident seiner Gewerkschaft seit den frühen fünfziger Jahren, als er nach dem Tod des Good Old Man, der ihr erster Präsident und eigentlicher Gründer war, in den Job hineinstolperte. Der Gewerkschaftsvorstand, der sich zu einer Sondersitzung traf, hatte den Schriftführer/Schatzmeister dazu bestimmt, bis zur nächsten zweijährlichen Wahl als Präsident zu fungieren. Als Schriftführer/Schatzmeister hatte Cubbin fast sechzehn Jahre damit verbracht, dem Good Old Man die Tasche zu tragen. Nachdem er zum Präsidenten ernannt worden war, hatte er schnell gemerkt, daß es ihm gefiel, und bald festgestellt, daß es eine Reihe von Leuten gab, die begierig und erpicht darauf waren, ihm die Tasche zu tragen, und das gefiel ihm besonders. Also hatte er fast neunzehn Jahre an dem Job festgehalten und sich seiner Vergünstigungen erfreut, zu denen unter anderem ein Gehalt, das stetig bis auf sein derzeitiges Niveau von 65.000 Dollar pro Jahr gestiegen war, eine fette, beitragsfreie Altersversorgung, eine praktisch nicht rechenschaftspflichtige Aufwandsentschädigung, ein chauffierter Cadillac, der so groß war wie der eines Kabinettsmitglieds, und große, auf Dauer gebuchte Suiten im Madison in Washington, im Hilton in Pittsburgh, im Warwick in New York, im Sheraton-Blackstone in Chicago und im Beverly-Wilshire in Los Angeles gehörten.

Im Lauf der Jahre hatte sich Cubbin mit zwei ernsthaften Herausforderungen durch Leute konfrontiert gesehen, die seinen Job wollten. Zu der ersten kam es 1955, als ein beliebter, dampfplaudernder Vizepräsident aus Youngstown, Ohio, eine Strömung an der Basis entdeckt zu haben glaubte und umgehend seine Kandidatur bekannt gab. Der Vizepräsident aus Youngstown hatte ein bißchen Unterstützung, aber, wichtiger noch, ein bißchen Geld von einer anderen internationalen Gewerkschaft erhalten, die sich gelegentlich dilettantisch in politischen Grabenkämpfen versuchte. Der dampfplaudernde Vizepräsident und Cubbin führten einen lautstarken, fast sauberen Wahlkampf, aus dem Cubbin mit einem ansehnlichen Zwei-Drittel-Stimmenvorsprung und einem dauerhaften Groll gegen den Präsidenten der Gewerkschaft hervorging, die sich in eine nach Cubbins Ansicht sakrosankt interne Angelegenheit eingemischt hatte.

1961 war Cubbin ein wenig älter – inzwischen war er einundfünfzig –, als er zum zweiten Mal Anzeichen für eine Opposition erkannte. Diesmal kamen sie von einem Mann, den er selber eingestellt hatte, vom für die Organisation zuständigen Gewerkschaftsdirektor, der im Anschluß an sein Diplomexamen in Betriebswirtschaft an der Brown University eine Stelle als Kehrer in einer Fabrik in Gary, Indiana, annahm (eine Erfahrung, die ihm immer noch Alpträume bescherte) und der zusammen mit seinem Diplom die Überzeugung besaß, daß er dazu bestimmt war, Vorreiter einer neuen und energischen Sorte von Gewerkschaftsführern zu werden, die dem Management intellektuell auf Augenhöhe begegnen würde.

Cubbin hätte ihn natürlich feuern können. Aber das tat er nicht. Statt dessen führte er ein Telefongespräch mit dem Weißen Haus. Eine Woche später wurde der für die Organisation zuständige Direktor um halb sieben durch einen Anruf von Bobby Kennedy geweckt, der ihm sagte, der Präsident brauche ihn als stellvertretenden Außenminister. Nicht allzu viele Leute gaben den Kennedys 1961 einen Korb, und der für die Organisation von Cubbins Gewerkschaft zuständige Direktor gehörte mit Sicherheit nicht dazu, weil er damals erst sechsunddreißig und furchtbar begeistert davon war, als Scout für das New-Frontier-Programm ausgewählt worden zu sein. Wenn Cubbin später ein paar Drinks zu sich genommen hatte, erzählte er seinen Kumpanen gerne davon, wie er seinen Konkurrenten im Außenministerium begraben hatte. Er ahmte sowohl Bobby Kennedy als auch den für die Organisation zuständigen Direktor ausgezeichnet nach.

Die meisten Schauspieler sind gute Imitatoren, und Donald Cubbin hätte wahrscheinlich Schauspieler werden sollen. Sein Vater war einer gewesen. Seine Mutter ebenfalls, bis ihre Wandertruppe 1910 in Youngstown Pleite gemacht hatte. Cubbins Vater nahm den ersten Job, den er kriegen konnte, und das war in einem Stahlwerk. Es war nur vorübergehend, bis das Kind geboren war, aber das Kind, Donald, traf sechs Monate später zusammen mit neuen Schulden ein, und aus irgendeinem Grund kam Bryant Cubbin nie aus dem Stahlwerk raus, nicht bevor er während einer Arbeitsunterbrechung im Jahr 1932 an einer Lungenentzündung starb, als sein Sohn einundzwanzig Jahre alt war.

Donald Cubbin war in Pittsburgh, als sein Vater starb. Es gab 1932 keine Jobs in Pittsburgh oder irgendwo sonst, weshalb Donald Cubbin tagsüber die Wirtschaftsfachschule besuchte und abends im Amateurtheater auftrat. Als sein Vater starb, hatte Cubbin eine Hauptrolle in Sidney Howards acht Jahre altem Stück They Knew What They Wanted. Er spielte Joe, den umherziehenden Gewerkschafter.

Die Amateure verlangten 15 Cent Eintritt, und sie hatten nicht viele Zuschauer, zum Teil, weil 15 Cent 1932 eine Menge Geld waren, und zum Teil, weil die meisten Laienschauspieler schrecklich waren, obwohl sie genug Urteilskraft besaßen, ziemlich gut geschriebene Stücke auszuwählen.

Zu den wenigen Zuschauern an jenem Abend gehörte Bernie Ling, ein siebenundzwanzig Jahre alter drittklassiger Publicity-Mann von Warner Brothers, der in Pittsburgh war, um Vorführräume für einen neuen, furchtbaren Film zu finden, mit dem sein Studio vielleicht eine Menge Geld verlieren würde. Für Spielfilme hatte Ling nur Verachtung übrig, aber er mochte Theaterstücke. In ihnen gab es richtige Menschen, die richtige Worte sprachen, und Ling konnte sich in die Geschichte versenken, während er gleichzeitig mit Vergnügen die Nuancen von Bewegung und Diktion und etwas anderes wahrnahm, was er gern als Bühnenpräsenz bezeichnete.

Als der einundzwanzigjährige Donald Cubbin mit großen Schritten auf die Bühne kam, bewegte sich Ling unwillkürlich ein wenig auf seinem Platz. Es war nicht Cubbins Aussehen, das ihn dazu veranlasste. Es gab ein Überangebot gutaussehender junger Männer in Hollywood. Das würde immer so sein. Trotzdem sah der Junge nicht schlecht aus, über eins achtzig groß, nicht zu schwer, vielleicht 70 oder 75 Kilo, mit einer tollen Mähne schwarzer, glatter, dicker Haare und einem Gesicht, das ein kräftiges Kinn davor bewahrte, hübsch zu sein. Er würde gut altern, dachte Ling, und dann kam er zu der Überzeugung, daß es noch etwas gab, irgendeine andere Eigenschaft, die ihn beeindruckt hatte. Nicht die Stimme, obwohl sie gut war, fast zu gut, ein tiefer, fester Bariton, der mit einer anscheinend natürlichen Tragfähigkeit ausgestattet war, die ihn über das Publikum ausrollte. Irgend jemand hatte ihm das beigebracht, entschied Ling, bevor er sich wieder zurücklehnte, um das Stück anzuschauen und nach dem Wort zu suchen, das genau das bezeichnete, was der Junge hatte. Am Ende des zweiten Akts glaubte Ling zu wissen, was es war. Würde. Der Junge hatte Würde, die Art Würde, die normalerweise die geringfügige Belohnung derer ist, die im Alter von vierzig oder fünfzig, nachdem sie am Bodensatz ihrer Seelen gekratzt haben, den Ekel überleben und danach von der Erbärmlichkeit anderer nie mehr sonderlich betroffen sind.

Was es auch sein mochte, Ling hielt es für verkäuflich, und deshalb verließ er das Theater, bevor der dritte Akt vorüber war, und nahm ein Taxi zu dem nachts durchgehend geöffneten Postal Telegraph Office und schickte ein Telegramm an seinen Onkel, der Produzent bei Warner Brothers war.

»MÖGLICHEN JUNGEN HAUPTDARSTELLER ENTDECKT PITTSBURGH STOP EMPFEHLE DRINGEND SCREENTEST BERNIE«, stand in dem Telegramm, nachdem Ling und der Mann vom Telegrafenamt eine Weile darüber diskutiert hatten, ob »Screentest« aus einem oder zwei Worten bestand. Sie einigten sich schließlich darauf, daß es ein Wort war, nachdem Ling dem Mann zwei Freikarten für den miesen Film gegeben hatte, der am nächsten Tag in einem Kino in der Innenstadt Premiere hatte.

Donald Cubbin lernte Bernie Ling erst zwei Tage später kennen, nachdem er von der Beerdigung seines Vaters in Youngstown zurückgekehrt war, von wo er seine Mutter mitbrachte, weil sie nirgendwo sonst hinkonnte. Cubbin und seine Mutter hatten zusammen 21 Dollar und 35 Cent. Er besorgte ihr das Zimmer neben seinem in der Pension, bevor er mit der Straßenbahn in die Wirtschaftsfachschule fuhr, wo er Asa Pettigrew, ihrem Besitzer, Direktor und Gründer, erklärte, daß er ausstieg.

»Können Sie nicht noch drei Wochen weitermachen, bis Sie ihr Zeugnis bekommen?« fragte Pettigrew.

»Nein, ich kann nicht weitermachen. Ich muß mir einen Job suchen.«

»Sie wissen, daß ich Ihnen das Schulgeld nicht erstatten kann.«

»Ich weiß.«

Erheblich besänftigt sagte Pettigrew: »Also, mich hat heute morgen jemand angerufen.«

»Worum ging es?«

»Um einen Job. Sie wollen einen Sekretär, der sich um die Buchführung kümmert. Es ist kein richtiges Unternehmen, und es ist vielleicht nur ein vorübergehender Job, und der Grund, weshalb sie einen Mann haben wollen, ist der, daß sie eine Menge fluchen und schweinische Bemerkungen machen.«

»Wo ist das?« sagte Cubbin.

»Ich weiß nicht, ob Sie mit diesem Haufen zu tun haben wollen. Es ist eine Art von Gewerkschaft. Wahrscheinlich Rote.«

»Ich brauche einen Job, Mr. Pettigrew.«

»Ist vielleicht nicht für lange.«

»Es ist besser als nichts.«

»Die werden wahrscheinlich aus der Stadt gejagt, und Sie mit ihnen.«

»Das Risiko werde ich eingehen müssen.«

»Sie machen schweinische Bemerkungen. Das haben sie selber gesagt.«

»Schön.«

»Es gibt zwölf fünfzig die Woche.«

»Gut.«

Pettigrew gab Cubbin ein Stück Papier. »Rufen Sie diesen Mann hier an. Sagen Sie ihm, ich hätte Sie empfohlen.«

»Danke, Mr. Pettigrew.«

Pettigrew zuckte mit den Achseln. »Ich hab ihnen gesagt, sie könnten eine Frau, die sich mit ihren schweinischen Bemerkungen abfindet, für zehn Mäuse bekommen, aber sie meinten, sie wollten einen Mann haben, aber daß sie keine Schwuchtel haben wollten. Sie wissen, was eine Schwuchtel ist, oder?«

Cubbin nickte. »Ich habe eine ziemlich gute Vorstellung.«

Natürlich bekam er den Job. Der Good Old Man selber heuerte Cubbin in dem schäbigen Ein-Zimmer-Büro an, das im Mittelpunkt dessen lag, was man später als Pittsburghs goldenes Dreieck bezeichnete. »Mal sehen, was Sie können, mein Sohn«, sagte er.

Cubbin nickte, setzte sich auf einen Stuhl und nahm seinen Bleistift und einen Stenoblock aus der Tasche.

»Sehr geehrter Herr und Bruder«, begann der Good Old Man. Er war damals gar nicht so alt, noch keine fünfundvierzig im Jahr 1932, aber er diktierte seinen Brief schon so, als hielte er eine kurze Ansprache an ein Publikum von tausend oder mehr, und erreichte sein dröhnendes Schlußwort im vorletzten Absatz, bevor er jeden Brief mit einem tief empfundenen und geflüsterten »Mit brüderlichem Gruß« beendete.

Cubbin schrieb alles in Pitman mit einer Geschwindigkeit von rund achtzig Wörtern pro Minute nieder und tippte es auf der L. C. Smith im Büro mit beständigen fünfundsechzig Wörtern pro Minute runter. Nachdem der Good Old Man es gelesen hatte, schaute er zu Cubbin hoch und lächelte. »Ich bin nicht sehr gebildet, mein Sohn, aber ich bin nicht blöd. Ich habe absichtlich zwei kleine Grammatikfehler eingebaut. Sie haben sie verbessert. Warum?«

»Sie waren nicht so schlimm, daß man sie stehenlassen mußte«, sagte Cubbin.

Der Good Old Man nickte. »Das ist eine ziemlich gradlinige Antwort«, sagte er nach einer Weile. »Sie sagen, Sie können außerdem eine Reihe einfacher Geschäftsbücher führen?«

»Ja, das kann ich.«

»In Ordnung, Sie haben den Job. Seien Sie morgen um acht hier. Wissen Sie irgendwas über Gewerkschaften?«

»Nein.«

»Gut. Sie können sie auf meine Art kennenlernen.«

Als Cubbin in seine Pension zurückkam, um seiner Mutter zu erzählen, daß er einen Job bekommen hatte, fand er einen hochgewachsenen, dünnen jungen Mann vor, der auf der Veranda vor dem Haus auf ihn wartete. Der hochgewachsene, dünne junge Mann stellte sich als »Bernie Ling von Warner Brothers« vor.

Cubbin hörte die Warner Brothers, tat sie aber als Bestandteil einer Art Verkaufsmasche ab. »Tut mir leid«, sagte er, während er Anstalten machte, sich an Ling vorbeizuschieben, »aber ich kann mir im Augenblick keinen leisten.«

»Ich verkaufe nicht«, sagte Ling. »Ich mache Ihnen ein Angebot.«

»Was für ein Angebot?«

»Das Angebot einer Probeaufnahme. In L. A.«

»Quatsch«, sagte Cubbin und versuchte wieder an Ling vorbeizugehen.

»Hier«, sagte Ling und nahm ein Telegramm aus seiner Tasche. »Lesen Sie das.«

Das Telegramm war von Lings Produzentenonkel, einem Mann, der einen gewissen, zum Teil fabrizierten Ruf für seinen Widerwillen gegen die Verschwendung von Wörtern genoß. In dem Telegramm stand: »NUR BUSGELD GRUSS FISHER.«

»Ich kapier’s nicht«, sagte Cubbin.

»Fisher. Das ist Arnold Fisher, ein Produzent. Mein Onkel. Bei Warner Brothers. Ich arbeite für deren PR-Abteilung. Ich habe Sie neulich abends in dem Stück gesehen. Ich habe meinem Onkel ein Telegramm geschickt, und sie sind bereit, Ihr Busticket nach L. A. zu bezahlen, Für einen Test. Kein Scheiß.«

»Sie haben mich gesehen?« sagte Cubbin, der in Gedanken eine Nachricht an seinen Vater formulierte: Warum mußtest du hingehen und sterben und keinen Job mehr haben?

»Ich glaube, Sie könnten es dort draußen schaffen«, sagte Ling. »Ich meine, wirklich schaffen.«

Cubbin reichte ihm langsam das Telegramm zurück. »Tut mir leid, aber im Augenblick ist es einfach nicht möglich.«

»Herrgott, alles, was Sie tun müssen, ist, in einen Bus zu steigen.«

Es gab einen Augenblick für Cubbin, in dem es alles möglich war, besser als möglich, es war alles geschehen, die Busfahrt, die Probeaufnahmen, der sofortige Ruhm und das gigantische Gehalt. Er hatte das alles für einen unvorstellbar schönen Augenblick, bis er sich wieder an seine Mutter erinnerte, die frischgebackene Witwe, die allein im ersten Stock wartete, darauf wartete, daß der einzige Mensch, den sie in Pittsburgh kannte, nach Hause kam und ihr sagte, wie sie den Rest ihres Lebens verbringen würde. Ich lasse dich nachkommen, Mutter, dachte er, aber er sagte zu Bernie Ling: »Mein Vater ist gerade gestorben, und ich kann meine Mutter nicht allein lassen.«

»Ach, das ist hart. Tut mir leid.«

»Vielleicht später, wenn die Dinge sich eingespielt haben.«

»Klar«, sagte Ling. »Hier ist meine Karte. Melden Sie sich bei mir, wenn Sie etwa klarer sehen, und dann machen wir etwas aus.«

»Sie meinen, Sie glauben wirklich, daß da eine Chance besteht?«

»Ich schicke meinem Onkel erst dann ein Telegramm, wenn ich glaube, daß sie verdammt groß ist.«

»Also, ich weiß kaum, wie ich Ihnen dafür danken soll – «

»Vergessen Sie’s. Zum Teufel, nein, vergessen Sie’s nicht. Melden Sie sich stattdessen bei mir.«

»Klar«, sagte Cubbin, »das mache ich. Sobald alles geregelt ist.«

Aber das tat er nicht, und sechs Monate später verließ Ling Hollywood, um einen Job bei einer neu gegründeten Werbeagentur in New York anzutreten, wo er nach einer gewissen Zeit so reich wurde, daß er zur Finanzierung einiger Stücke beitragen konnte, die deprimierend kurze Laufzeiten hatten.

Und was Donald Cubbin anging, so gab es keinen Tag in seinem Leben, an dem er sich nicht an sein Gespräch mit Bernie Ling auf der Veranda vor der Pension und an die Entscheidung erinnerte, die er getroffen hatte. Und es gab keinen Tag in seinem Leben, an dem er sie nicht bedauerte.

Der zweistrahlige Learjet 24 für sechs Passagiere mit Donald Cubbin und seiner vierköpfigen Gefolgschaft an Bord hatte gerade Hamilton, Ontario, verlassen und nahm Kurs auf den O’Hare International in Chicago, als Fred Mure, der gewartet hatte, bis sein Boss mit dem Unterhaltungsteil in der Zeitung fertig war, den er immer als erstes las, sich hinüberlehnte, um Cubbin auf die Schulter zu klopfen.

»Yeah?«

»Chicago in einer Stunde. Nicht schlecht, was?«

Gott, was für ein Trottel, dachte Cubbin. Aber er nickte und sagte: »Nicht schlecht«, bevor er sich wieder mit der Zeitung umgab. Es war sein zweiter Ausflug nach Chicago in weniger als einem Monat, und er würde mindestens drei weitere Ausflüge dorthin machen, bevor der Monat vorüber war, weil er wußte, daß sie versuchen würden, sie ihm zu stehlen, und der beste Ort, einen solchen Versuch zu unternehmen, war Chicago. Chicago war eine Stadt, dachte Cubbin, wo sie sehr gut darin waren, fast alles zu stehlen, und wo sie im Lauf der Jahre eine gewisse Fertigkeit darin entwickelt hatten, das zu stehlen, was sie ihm zu stehlen versuchen würden, und das war natürlich eine Wahl.

4

Nicht allzu viele Leute außer denen, die seine Dienste in Anspruch nahmen, wußten genau, womit Walter Penry seinen Lebensunterhalt verdiente. Seine Frau hatte eine leise Ahnung, aber sie verbrachte den größten Teil ihrer Zeit neben ihrem Swimmingpool in Bel-Air, während Penry den größten Teil seiner Zeit auf Reisen oder in Washington verbrachte, wo sich der Hauptsitz von Walter Penry and Associates, Inc., befand.

Penry hatte ungefähr zehn Partner, aber seine zwei wichtigsten waren Peter Majury und Ted Lawson, und sie wußten, was er tat. Wenigstens den größten Teil der Zeit. Majury war ein Planer und Strippenzieher und machte die Korridore Washingtons unsicher, wobei er ausnahmslos, ob Winter oder Sommer, Frühling oder Herbst, einen langen Trenchcoat mit Gürtel anhatte, der aussah, als wäre er billig bei einem Ausverkauf von Ausrüstung des Afrikakorps erstanden worden. Majury sprach in einem Tonfall, gerade lauter als ein Flüstern und mit einem leichten Akzent gewürzt, den jemand einmal als sinistres Slawisch bezeichnet hatte, der aber in Wirklichkeit deutsch war, das Vermächtnis seiner Eltern, beide Schwaben, die in den Dreißigerjahren nach New Braunfels, Texas, emigriert waren und sich nie die Mühe gemacht hatten, Englisch zu lernen. Wenn er wollte, konnte Majury auch mit einem grellen, näselnden Texas-Tonfall sprechen.

Ted Lawson, der andere wichtigste Partner, war ein großer, schlaksiger Mann, der sich schlingernd zu bewegen schien. Er legte normalerweise eine schroffe Herzlichkeit an den Tag und setzte ein lautes Wiehern als Lachen ein, weil er beschlossen hatte, daß die Leute das von einem Mann seiner Größe erwarteten, der einen strahlenden, kräftigen Teint und einen Mund hatte, dessen Winkel von Natur aus fröhlich nach oben zeigten. Wenn man in solchen Dingen eine Wahl treffen könnte, hätte Lawson sich dafür entschieden, ein Einzelgänger zu sein, aber weil man damit kein Geld verdienen konnte, war er geworden, was er war: ein Mann, der Sachen für Leute in Ordnung bringen konnte, die Sachen in Ordnung gebracht haben mußten. Es spielte keine große Rolle, was getan werden mußte – Lawson kannte jemand, der es tun konnte.

Worauf Walter Penry and Associates, Inc., sich tatsächlich spezialisiert hatten, war Betrug, die Sorte, die sich gerade noch innerhalb des Gesetzes bewegt. Walter Penry wußte, wie das Gesetz aussah, weil er 1943 von der University of Iowa ein Diplom in diesem Fach bekommen hatte, obwohl er nie als Anwalt praktizierte, weil er statt dessen zum FBI gegangen war und auf diese Weise die Unannehmlichkeit des Militärdienstes vermieden hatte, während er seinem Land ehrenhaft zu einem vernünftigen Gehalt diente.

Penry war 1954 relativ einvernehmlich, mit einer Personalakte, die er immer als makellos bezeichnete, aus dem FBI ausgeschieden. Der Grund, weshalb er ausgeschieden war, jedenfalls der, den er dem FBI angegeben hatte, lautete, daß er sich selbständig machen wollte, aber das stimmte nur zum Teil. Der wahre Grund bestand darin, daß er ein bißchen Industriespionage für eine Kosmetikfirma betreiben wollte, was ihm innerhalb von zwei Monaten das Doppelte dessen einbringen würde, was er als Special Agent in Los Angeles pro Jahr verdiente.

Mit dem Geld, das er mit seinem ersten Auftrag als Industriespion verdient hatte, gründete Penry seine Firma mit Hauptsitz in Washington und einer Außenstelle in Los Angeles, obwohl die Außenstelle zu jener Zeit nur aus seiner Frau und seinem Telefon zu Hause bestand. Zu Hause hatte er jetzt eine geheime Telefonnummer, aber seine Frau meldete sich immer noch mit »Walter Penry und Partner«.

Penry wußte von Anfang an, auf welche Art von Geschäft er es abgesehen hatte. Es gab eine Menge unangenehme Aufgaben, die verschiedene Organisationen erledigt haben mußten, und Penry ließ verlauten, daß er bereit war, sie zu erledigen. Er hatte mal einen ganzen Februarnachmittag in Dallas damit verbracht, die Unternehmensleitung einer Elektronikfirma zu feuern, während ihr Aufsichtsratsvorsitzender und Gründer und größter Anteilseigner, der ein ziemlicher Feigling war, am Sapphire Beach auf St. Thomas in der Sonne lag.

Penry arbeitete auch an der Peripherie der Politik, ließ sich von beiden Parteien engagieren und spezialisierte sich dabei auf Ermittlungen im tiefen Hintergrund, die Informationen mit erschütternden politischen Folgen hervorbrachten. Bisher hatten seine erwähnenswerteren Bemühungen verhindert, daß drei zukünftige Kabinettsmitglieder, zwei Demokraten und ein Republikaner, vereidigt wurden. Ein anderes Mal hatte er Informationen herbeigeschafft, die zwar zwanzig Jahre alt, aber immer noch so schädlich waren, daß sie einen Richter des Supreme Court davon abhielten, sein Amt anzutreten.