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 Eckart zur Nie den – Jutta Lücking – Die 3 vom Ast – Das Lesebuch – SCM Kläxbox

Inhaltsverzeichnis

Ein Morgen im Wald

Kuniberts Wunsch

Falsch oder echt

Der Versuch

Gedächtnistraining und Geduldsübungen

Die Spechtschmiede

Wettknabbern

Fragen macht klug

Waldemar und Kleo überzeugen sich selbst

Der Lurch

Schwere Fragen

Die Amsel Anneliese

Ein sicheres Versteck

Ein Nest voll kleiner Amseln

Ein Ort der Geborgenheit

Der neue Teich

Ein alter Freund

Karl-Ferdinand Mümmelholz, der Biber

Ein kühles Bad

MeiBel-Heini ist beleidigt

Der Wettkampf

Was Tiere können

Ein nächtliches Gespräch

Die 3 vom Ast haben noch mehr erlebt!

Ein Morgen im Wald

»Nun wach endlich auf!«, sagt Kleopatra, die Elster, und stößt ihren Freund Waldemar neben ihr auf dem Ast mit dem Schnabel an. Waldemar ist ein kleines braunes Eichhörnchen, das gerade von einer Haselnuss träumt, so groß wie ein Berg. Bei dem schönen Traum will es sich nicht stören lassen.

»Hm.«

»Aufstehen, Waldemar!«

»Hä? Warum denn?«

»Der Tag ist angebrochen! Die Sonne blinzelt schon durch die Fichtenzweige im Osten unserer Lichtung, alle Vögel singen …«

»Bloß du nicht!«, knurrt Waldemar.

»Wie meinst du das?«

»Du solltest lieber auch singen, statt dauernd mit mir zu reden und mich sogar mit deinem Schnabel anzustoßen. Dann könnte ich wenigstens schlafen.«

»Meinst du?«, fragt Kleopatra, setzt sich aufrecht auf den Eichenast, auf dem sie zu Hause sind, reckt den Hals und singt. Nein, das ist falsch – sie singt nicht, sie versucht es nur. Was da herauskommt, ist ein durchdringendes, nervenaufreibendes Krächzen.

»Halt, halt!«, ruft Waldemar, und jetzt ist er richtig wach. »Ich nehme alles zurück. Sing lieber doch nicht!«

»Warum nicht?«, fragt die Elster enttäuscht.

»Och …, äh …« Waldemar weiß, dass seine Freundin Kleo schnell verärgert ist, deshalb muss er vorsichtig sein. »Dein Gesang ist …, also, äh …«

»Sag nur nicht, ich könnte nicht schön singen!«

»Na gut, dann sage ich’s nicht.«

Aber damit ist Kleopatra auch nicht einverstanden. »Ich sehe schon, du findest mein Lied nicht schön.« Waldemar will nicht lügen und deshalb sagt er lieber gar nichts dazu. Er versucht abzulenken: »Einen Hunger hab ich! Ich könnte eine Nuss verspeisen, so groß wie ein Berg!«

Kleo setzt sich wieder aufrecht hin und holt tief Luft.

»Übrigens, Kleo«, beeilt Waldemar sich zu sagen, »kennst du den Spruch über die Vögel, die morgens singen?«

»Nein. Was ist das für ein Spruch?«

»Vögel, die morgens pfeifen, holt am Abend die Katze. Oder so ähnlich.«

»Ach ja?«

Kleopatra überlegt ein Weilchen, dann gibt sie ihren Plan zu singen auf.

»Es wird hell«, stellt Waldemar fest. »Es wird Zeit, dass die Gräfin zurückkehrt.«

Kaum hat er das ausgesprochen, da ertönt ein leises Rauschen und ihre Freundin kommt angeflogen, Eulalia Hedwig Sophie Gräfin von Eichenhain-Uhland, die kluge alte Eule.

»Guten Morgen, Gräfin«, sagt Kleopatra. »Guten Morgen, Gräfin«, grüßt Waldemar. »Guten Abend, meine Freunde«, antwortet Eulalia. Das sagt sie aber nicht, weil sie die beiden ärgern will, weil sie ein bisschen durcheinander ist oder sich versprochen hat, sondern weil Eulen ja Nachttiere sind. Wenn andere schlafen, sind sie wach, und wenn andere aufstehen, begeben sie sich zur Ruhe.

Die alte Eule plustert ihr Federkleid auf und setzt sich gemütlich hin, die Krallen fest in den Ast der Eiche gedrückt, die noch älter ist als der große Vogel. »So«, sagt sie, rutscht ein wenig hin und her, bis sie noch bequemer sitzt, und wiederholt: »So.«

Da sitzen sie nun nebeneinander, die 3 vom Ast.

»Sie sind heute ziemlich spät«, stellt Kleopatra fest.

»Ja, wisst ihr«, sagt die alte Freundin, »mit der Jagd auf Mäuse ist das so eine Sache. Sie gelingt nicht immer. Besonders wenn man so alt ist wie ich. In meiner Jugend war ich viel flinker. Aber nun lässt meine Kraft etwas nach, meine Augen sehen nicht mehr ganz so scharf und mein Reaktionsvermögen ist auch nicht mehr das beste …«

»Dein was?«, fragt Waldemar.

»Meine Fähigkeit, schnell zu handeln, wenn’s nötig ist. Heute sind mir mehrmals Mäuse entwischt. Aber jetzt bin ich satt und kann in Ruhe …«

»Waldemar!« Der Ruf kommt von unten. Alle drei haben es deutlich gehört. Aber man kann durch das viele Laub nichts sehen.

»Wer will denn so früh schon was von mir?«, fragt das Eichhörnchen.

»Am besten, du siehst mal nach«, schlägt die Eule vor.

Kuniberts Wunsch

Waldemar läuft den Stamm hinunter und Kleopatra folgt ihm natürlich. Sie ist viel zu neugierig, um sitzen zu bleiben.

Da, unter der alten Eiche, neben der halb verfallenen Bank, steht ein junger Rehbock.

»Kunibert!«, ruft Waldemar. »Schön, dass du mich mal besuchst. Ich bin gerade erst aufgewacht. Aber Rehe sind, glaube ich, immer schon früh auf den Beinen. Wollen wir ein bisschen spielen?«

»Ich dachte eigentlich … Ach, Kleopatra, du bist ja auch da. Guten Morgen!«

»Morgen, Kunibert«, krächzt die Elster. »Darf ich mitspielen?«

Kunibert, der junge Rehbock, scharrt ein bisschen mit dem rechten Vorderlauf. Es ist wohl eine Geste der Verlegenheit. »Spielen wollte ich eigentlich nicht. Nehmt’s mir nicht übel, aber dafür bin ich schon zu groß. Ich habe etwas anderes vor, etwas Ernsthaftes, und wollte Waldemar bitten, mir dabei zu helfen.«

»Gerne. Was soll ich tun?«

Kleo sitzt jetzt neben Waldemar auf der Rückenlehne der alten Bank. »Kann ich dir auch helfen? Mache ich gerne.«

»Kaum. Ich brauche Waldemars scharfe Zähne. Ich wollte, also er soll mir einen Ast … Du kannst doch einen Ast abbeißen, Waldemar?«

»Na ja, wenn er nicht zu dick ist. Ich bin natürlich nicht so gut in der Holzverarbeitung wie der Meißel-Heini.« Kleo redet schon wieder dazwischen: »Da wollten wir doch heute hin, Waldemar!«

»Wer ist denn das?«, fragt Kunibert.

»Der Specht«, erklärt Kleopatra. »Wir waren mit ihm da drüben am anderen Ende des Waldes. Da hat er einer Eidechse den Schwanz abgebissen. Eigentlich mehr aus Versehen. Hinterher hatte er ein schlechtes Gewissen. Aber die Gräfin hat gesagt, bei den Eidechsen wächst der Schwanz wieder. Das wollen wir dem Meißel-Heini sagen, damit er beruhigt ist. Er ist unser Freund. Manchmal wird er schnell wütend, aber sonst ist er ganz nett.«

»Ich schlage vor«, meint Kunibert jetzt, »du, Kleo, fliegst zum Specht, und Waldemar kommt mit mir. Ihr könnt euch ja später wieder treffen.«

»Gut«, nickt Waldemar. »Aber warum willst du nicht den Specht um Hilfe bitten? Der kann wirklich viel besser mit Holz umgehen.«

Der junge Rehbock druckst wieder etwas verlegen herum: »Na ja, es ist … Ich wollte nicht … also, es sollen nicht so viele Tiere wissen, was ich vorhabe. Verstehst du? Es ist ein Geheimnis.«

»Aber ich darf es doch wissen, oder?«, fragt Kleo.

»Ja, meinetwegen. Du bist ja sowieso Waldemars Freundin, und ich könnte wohl kaum von ihm verlangen, es vor dir geheim zu halten.«

»Na, dann mal raus mit der Sprache!«, sagt Waldemar.

»Was soll ich machen?«

Kunibert wird noch verlegener. »Ja, weißt du, ich … äh … Die Sache ist die: Ich bin ja nur ein Reh und kein Hirsch.«

»Das wussten wir schon«, stellt Kleo trocken fest.

»Außerdem bin ich noch jung und die Spieße auf meinem Kopf sind sehr bescheiden. Sie beeindrucken keinen. Niemand hat Angst vor mir, niemand achtet mich besonders …«

»Ich achte dich aber!«, unterbricht Waldemar.

»Aber nicht besonders. Hast du dagegen schon mal einen großen Hirsch gesehen? So einen richtigen Vierundzwanzigender? Wie der sein Geweih umherträgt! Mit stolz erhobenem Haupt, das gewaltige Gehörn zurückgelegt, tritt er aus dem Wald auf die Lichtung hinaus, röhrt, dass sich vor seinem Maul Dampfwolken bilden, und lässt mit seinem Ruf die Blätter zittern und mit seinem starken Tritt den Waldboden erbeben. Die anderen Tiere verstecken sich, wenn er kommt, und wagen höchstens mal einen staunenden Blick hinter den Bäumen hervor. Und den kleineren Tieren geht ein ehrfürchtiger Schauer über den Rücken. Ja, der Hirsch ist wahrhaftig der König des Waldes und das Geweih ist das Zeichen seiner Majestät.«

Waldemar nickt. »Schön hast du das beschrieben, Kunibert. Aber was hat das denn nun mit dir zu tun?« »Nichts. Das heißt, sehr viel, also …«

»Ja, wie denn nun?«, fragt Kleo.

Kunibert holt tief Luft. Weniger, weil er dies für seine Antwort braucht, sondern mehr, um sich selbst Mut zu machen. »Ich möchte auch so eine beeindruckende Erscheinung werden.«

»Was?«

»Du?«

Waldemar und Kleopatra sind so überrascht, dass sie nur diese beiden Worte herausbringen.

»Ja, ich. Das stelle ich mir ganz toll vor, wenn alle ehrfürchtig staunen, sobald ich auftrete. Keiner würde wagen, mich nicht zu beachten oder gar auszulachen. Jeder würde staunend zu mir aufsehen. Wo immer ich hinkäme, würde mir das Gerücht vorauseilen: Der große Kunibert kommt, dieser Ehrfurcht gebietende Hirsch mit seinem mächtigen Geweih, dieser hoheitsvolle Gebieter über alles niedere Getier des Waldes, dieser Inbegriff von Stärke, dieser …«

»Ja, ja«, unterbricht Waldemar die begeisterte Rede, »das ist ja alles ganz schön und gut, Kunibert. Nur haben wir da das Problem, dass du ein Reh bist und kein Hirsch. Und ein Geweih hast du auch nicht.«

»Eben!«, bestätigt Kunibert traurig. »Aber das Problem will ich lösen. Und dazu brauche ich deine Hilfe. Mir war schon immer aufgefallen, dass die Äste der Bäume mit ihren Verzweigungen manchmal fast wie Geweihe aussehen. Zwei gut geeignete Äste habe ich jetzt entdeckt. Man muss sie nur vom Baum abmachen und die längeren Nebenzweige etwas kürzen. Dann könnte ich sie auf mein Gehörn stecken, einen Ast rechts, den anderen links.«

»Und fertig ist der Hirsch!«, ergänzt Kleo.

»Ja. Tolle Idee, nicht?«

Die beiden kleineren Tiere antworten nicht gleich. Schließlich meint Waldemar: »Nun ja, du kannst es ja mal versuchen. Aber in der Größe reichst du natürlich nicht an einen echten Hirsch heran.«

»Etwas wachse ich ja noch. Außerdem ist das Geweih schließlich das Wichtigste.«

»Wenn du meinst… Gut, ich helfe dir. Aber ich kann dir nicht garantieren, dass es auch klappt.«

»Natürlich. Vielen Dank, Waldemar!«

»Ich wäre dabei sicher nicht nützlich«, meint Kleopatra. »Geht ihr mal, ich bleibe so lange hier.«

Falsch oder echt

»Komm, spring auf meinen Hals!«, fordert Kunibert das Eichhörnchen Waldemar auf. »Dann geht es schneller.« Waldemar macht es sich auf Kuniberts Rücken bequem, soweit das geht. Aber schon bei den ersten vorsichtigen Schritten des Rehs rutscht er hin und her.

Na, ob das gut geht?, denkt Kleopatra. Als sie die beiden schon nicht mehr sieht, hört sie noch die Stimme Kuniberts: »Au! Du darfst doch nicht deine scharfen Krallen in meine Haut drücken!« Dann ist nichts mehr zu hören.

Kleo flattert zu ihrem Wohnast hinauf. Da will sie noch ein Weilchen sitzen bleiben, denn sie hat keine Lust, allein zu spielen.