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Luftschiff | HIER UND JETZT

LIEBE UND VERNUNFT – Lina und Eugen Huber Porträt einer Ehe – Verena E. Müller – HIER UND JETZT

Vorwort

AUFTAKT

Hinterlist mit Folgen

TEIL I

Lina Weissert aus Heilbronn

Ausbruch aus Altstetten: Die Grossfamilie Huber

Der Stammheimer «lingg Hauptmä»

Hans Conrad Huber und Anna Widmer – eine tumultuöse Beziehung

TEIL II

Sturm und Drang in Zürich

Bewegtes Familienleben in Zürich und Mutters Tod

Die Bollerei: Linas Lebensschule und zweite Heimat

Frau Keller oder Frau Huber? Werben um Lina

«Ihr Wille allein fehlt noch zur Ausführung»

Zwischen Ebbe und Flut, Hoffnung und Katastrophen

TEIL III

Die «Genferin» oder die Frau nach seinem Bilde

Der «unruhige Schwärmer»

Liebe – Freundschaft –Eifersucht: Otto Stoll

Linas Genfer Alltag

Wissenschaft – nichts als ein ferner Traum?

Verkümmerter Arm und kranke Füsse

Steiniger Weg zum Hochzeitsfest

TEIL IV

Frostiges Zürcher Intermezzo

«Du warst niemals so gerne in Trogen wie ich»

Zwischen Chance und Enttäuschung: die ersten Basler Jahre

Missstimmungen und neue Chancen: die letzten Basler Jahre

Endlose Geldnöte oder: wo blieb die «Besoldung, aus der man in unsern Kreisen leben kann»

Ihre glücklichste Zeit? Lina und Eugen Huber in Halle

TEIL V

Auf der Zielgeraden zum ZGB: die Berner Jahre

Eine ganz und gar unerwartete Tragödie

Lina oder die Sünderin von Bethanien

Dienstbare Geister und die Bewältigung des huberschen Alltags

TEIL VI

Gespräche mit der verstorbenen Lina – Blick durchs Schlüsselloch in Hubers Alltag

Im Schatten der Heimlichkeit – Marieli zwischen Hochschule, Ehe und Tochterpflichten

Hubers zweites Glück: Maria Schuler aus Glarus

Epilog: Leben im Korsett der Konvention – auf dem Weg in eine neue Zeit

Anhang

Anmerkungen

Zeittafel

Bibliografie

Namensregister

Stammbaum

Dank

VORWORT

Eugen Huber, der Schöpfer des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, war eine Persönlichkeit des öffentlichen Interesses und sein Nachlass fand Eingang ins Schweizerische Bundesarchiv in Bern. Unter den Dokumenten befindet sich ein reicher Schatz von Briefen sowie Hubers Agenden mit allerlei privaten Notizen. Linas Tagebücher dagegen sind verschollen und es sind einzig Briefe überliefert, die sie an ihren Verlobten und späteren Gatten schrieb.

Keine Biografie ist objektiv, doch in diesem Fall kommt erschwerend hinzu, dass Lina aufgrund der überlieferten Papiere stets durch Eugen Hubers Brille gesehen wird. Ihrem Mann berichtete sie Dinge, von denen sie annahm, sie würden ihn interessieren. Was Lina sonst beschäftigte, wissen wir nicht. Einen Briefwechsel zwischen den beiden gab es zudem nur in Zeiten der Trennung. Bestimmte Lebensabschnitte sind deshalb weniger gut dokumentiert als andere. So kennen wir die schwierigen Kämpfe der Verlobungszeit, während die glücklichen Jahre in Halle kaum schriftliche Spuren hinterliessen.

Nach Linas Tod schrieb der einsame Witwer über sieben Jahre lang Lina täglich einen Brief – auch ein Ersatz für die gemeinsamen Gespräche am Mittagstisch. Sie geben einen vielleicht einseitigen, aber faszinierenden Einblick in die Alltagsgeschichte jener Epoche, und sie spiegeln darüber hinaus die Gedanken und Gefühle eines Mannes zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

AUFTAKT

HINTERLIST MIT FOLGEN

Sonntagmorgen, 16. November 1873, an der Schifflände in Zürich: Am Eingang des «Café Boller» – im Volksmund «Bollerei» genannt – meldet sich in aller Frühe Emil Zürcher bei der 22-jährigen Kellnerin Lina Weissert. Er überbringt ihr eine mündliche «Citation» auf das Obmannamt, die Staatsanwaltschaft. Um kein Aufsehen zu erregen, habe er auf eine formelle Vorladung durch den Weibel1 verzichtet. Lina solle sich um acht Uhr auf sein Büro bemühen, um «in einer eiligen Prozedur Auskunft zu geben». Das Obmannamt, keine zehn Minuten von Linas Arbeitsplatz entfernt, liegt am Rand der Zürcher Altstadt. Mit welchen Gefühlen sie sich wohl auf den kurzen Weg machte? Wie sie auf dem Amt eintrifft, empfängt der Jurist Zürcher Lina mit den Worten: «Fräulein, der Mensch wünscht sie zu sprechen, wollen sie ihm Audienz geben.»2 Verblüfft erkennt sie Eugen Huber und macht Zürcher ein Zeichen, er möge weg gehen.

Der 24-jährige Eugen Huber, auch er Jurist, war als Student regelmässiger Gast in der Bollerei, seit Kurzem arbeitet er in Bern. Über Freund Zürcher erhielt er einige Tage vorher endlich ein Bild von Lina, ein Zeichen ihres Wohlwollens, auf das er Jahre gewartet hatte. Erfüllten sich jetzt seine Hoffnungen? Huber mochte nicht schreiben, er wollte Linas Antwort auf der Stelle hören. Während der Fahrt von Bern nach Zürich überlegte er hin und her: Hätte er seiner Angebeteten nicht doch besser einen Brief gesandt? Was, wenn er sie missverstehen und sie ihm einen Korb geben würde? Kurz vor Zürich fiel ihm der rettende Plan ein, wie es anzustellen wäre, um mit Lina allein sprechen zu können.3 Die Samstagnacht verbrachte Huber bei Zürcher und sie heckten den «fidelen Bubenstreich»4 aus, am frühen Sonntagmorgen steht er dann «im kalten Wind»5 und beobachtet von fern die Szene an der Schifflände.

In der Amtsstube kommt Huber sofort zur Sache, bietet Lina das Du an, gibt ihr «halb elend, halb glücklich»6 den ersten Kuss und bittet sie, seine Frau zu werden. Lina, vom Gang der Ereignisse überrollt, lässt alles mit sich geschehen. Huber «ist selig»,7 glaubt sich am Ziel seiner Träume, er ist mit Lina verlobt: «Mir kam es vor», schreibt er ihr einen Tag später, «wir gleichen zwei Heimatlosen [und] wie wir auf dem Bureau unsres Freundes mit Küssen den Schwur besiegelten, zusammen uns eine Heimat zu gründen.»8

Kaum verlobt, hetzt Lina zur Arbeit zurück. Jetzt erst kommen Huber Zweifel. «Als du die Treppe herunter giengst, kam ich mir ganz elend vor, dass ich dich ins Obmannamt gerufen.»9 Fürs Sinnieren bleibt indessen keine Zeit, Zürcher warnt vor der drohenden Ankunft seines Chefs, des Staatsanwalts, die beiden jungen Männer machen sich aus dem Staub.

Von Hubers Aufenthalt in Zürich darf niemand etwas erfahren. So nehmen die Freunde den Zug nach Baden, spazieren «in traulichem Geplauder über unsere zukünftigen Frauen» durch die Stadt, essen zu Mittag, besteigen den Felsvorsprung oberhalb der Schlossruine und bewundern den schönen Abendhimmel. Huber denkt fast ununterbrochen an Lina und ist überglücklich.

Zurück im Wirtshaus kann Lina ihrer Chefin Frau Vontobel nur mit Mühe «eine scheinbar gleichgültige Antwort» geben. Sie sei gerufen worden «wegen einem Individuum, das seinerzeit Überröcke gestohlen habe und da meine Aussage nicht mit den polizeilichen Anzeigen stimmte, so wurde ich entlassen unter Verdankung der geleisteten Dienste».10

Lina ist in grosser Aufregung, doch richtet sich ihr Zorn nicht gegen Huber, sondern gegen Zürcher. In ihm sieht sie «die Quelle einer grossartigen Hinterlist, von der ich mich umzingelt glaubte; ich sagte mir, dass ich sozusagen wie ein armer Spatz in einem Netz gefangen wurde, ohne nur irgend eine Ahnung zu haben».11

In den folgenden Tagen erkranken die Wirtsleute Vontobel und Lina kümmert sich sowohl um die Gäste im Lokal wie um die beiden Patienten. Ihre privaten Sorgen rücken in den Hintergrund.

Hubers Hochstimmung bleibt indessen ungetrübt: «Wenn ich nur Worte finden könnte, dir zu sagen, wie klar? wohl es mir ist, seit ich weiss, dass du mich auch lieb hast – bist du nicht auch so glücklich? Ich danke dir unsäglich für deinen Entschluss, für deine Liebe. Mit jeder Stunde fühl ich es mehr, welche Lücke sie in mir ausfüllt, und hoffe nur eines, dass bei dir die gleiche Ruhe und Sicherheit obwalte.»12 Ungeduldig wartet er auf ein Lebenszeichen aus Zürich.

Als sich Lina vier Tage nach der Vorladung endlich einige Minuten für einen Brief stehlen kann, versetzen ihre Vorbehalte Huber in Panik. In der Zwischenzeit hat sie nachgedacht: «Das plötzlich unerwartete Zusammentreffen auf diese Weise raubte mir allen Halt, die Seelenangst in die ich in jener Stunde gerathen, wirkte zu sehr auf meine sonst schon empfängliche Natur. Erst jetzt wird mir klar, was ich Dir Alles gelobt, welch grosses Wort ich wagte auszusprechen und mein armer Verstand sucht jetzt einen Ausweg aus diesem Labyrinthe von Verwicklung.»13

War diese Verlobung ein grandioses Missverständnis? Oder Auftakt zu einer aussergewöhlichen Liebesgeschichte? Lina Weissert und Eugen Huber brauchten Jahre, um darauf eine gemeinsame, gültige Antwort zu finden.

TEIL I

LINA WEISSERT AUS HEILBRONN

Linas Kindheit liegt weitgehend im Dunkeln. In ihren Briefen tauchen vereinzelte Erinnerungen auf, kleine Geschichten aus der Schulzeit oder gelegentliche Episoden aus dem Leben ihrer Mutter, mehr nicht. Es ist anzunehmen, dass sie ihre ersten Jahre als Handwerkerkind in einer bescheidenen, jedoch wohlbehüteten Umgebung verbrachte. Erst der frühe Tod ihrer Eltern versetzte sie unvermittelt in ein fremdes Umfeld und eine unbarmherzige Arbeitswelt.

Als achtes Kind in der Ehe von Johannes Weissert und Johanna Barbara Rückert kam Lina am 6. August 1851 zur Welt (siehe Stammbaum auf S. 250/251). Heilbronn mit seinen rund 14 000 Einwohnern gehörte zum Königreich Württemberg, damals eine konstitutionelle Monarchie mit einer ausgeprägt liberal-demokratischen Opposition. Die Stadt schaute auf eine lange Tradition zurück und war auf dem Weg in eine neue Zeit: Tüchtige Unternehmer suchten den Anschluss an die Moderne. Auf dem Neckar erreichte am 7. Dezember 1841 das erste Dampfschiff von Mannheim herkommend Heilbronn,1 ein symbolischer Augenblick. Linas ältester Bruder Ernst war damals 10 Monate alt, ihre Schwester Pauline zwei Jahre alt.

Vater Johannes Weissert (1818–1865) stammte aus dem Dorf Stetten am Heuchelberg, im Januar 1840 erwarb er das Heilbronner Bürgerrecht.2 Am 2. Mai desselben Jahres folgte das Meisterrecht als Sattler. Schon am nächsten Tag verheiratete er sich mit der Heilbronnerin Johanna Barbara Rückert (1814–1864). Das Paar hatte in der Folge zwar elf Kinder, dennoch blieb die Familie klein – eine Folge der dramatischen Kindersterblichkeit selbst noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Wie sehr die fortwährenden Schwangerschaften die Gesundheit einer Frau beeinträchtigten, lässt sich nur erahnen.

Fünf der zwölf Kinder des Paares kamen tot zur Welt oder starben im Jahr ihrer Geburt. Ob Pauline Weissert, 1839 die Erstgeborene, Linas Schwester oder Halbschwester war, lässt sich nicht eindeutig bestimmen, die entsprechenden Dokumente sind verblasst und unlesbar.3 Sicher war sie eine Tochter von Linas Mutter.

Merkwürdigerweise erwähnte Lina ihre beiden jüngsten Geschwister Johanna Maria (1855–1856) und Adolf (1854–1856) nie. Bei deren Tod war sie bereits fünf Jahre alt und musste deren Krankheiten miterlebt haben. Anders verhielt es sich mit Ernst (1841–1859), dem Familienältesten, der 18-jährig starb. Mutter Weissert gelang es nicht, den tiefen Schmerz über den Verlust ihres Sohnes zu überwinden. An Ernsts 13. Todestag berichtete Lina im Brief an Huber: «Mit dem Tode dieses unvergesslichen Bruders begann der erste Schlag, der mir wirklich nahe ging, nicht nur einzig um des lieben Todten willen, sondern weil von da an meine Mutter untröstlich war, Tage, ja oft ganze Nächte hindurch weinte, und weder durch meinen Vater noch durch irgend Jemand Beruhigung finden konnte.» Umsonst schloss Lina ihre Mutter in die Arme, «zu trösten vermochte ich noch nicht».4

Lina stand ihrer Mutter sehr nahe. Mit der um ein Jahr älteren Schwester Emma (1850–1924) stritt sie sich, wer im Haushalt wie viel helfen dürfe. Die Mädchen trugen Wasser, wichsten Schuhe, machten Feuer, kurz, erledigten alle Arbeiten, für die sie gross genug waren. Lina nahm sich vor, sobald sie erwachsen sei, würde sie sich um die Mutter kümmern und diese müsse es schöner haben.5 Trotz allen Schwierigkeiten verstand es Johanna Weissert, den Kindern zum Beispiel an Weihnachten ein frohes Fest zu bereiten. Sie war überzeugt, dass die beiden Mädchen schliefen, wenn sie den Christbaum schmückte, doch die «kleinen Schelme» spähten durch den Vorhang, weil sie die «seligen Stunden» kaum erwarten konnten.6 1864 starb Johanna Weissert. Ihr einziger, letzter Kummer galt Lina. «Um mich war ihr bange, um die andern zwei Geschwister [Pauline und Emma] nicht, das sagte sie noch auf dem Totenbette.»7 Über Johanna Weisserts letzte Krankheit ist nichts Näheres überliefert.

Problemlos schaffte Lina die Schule. Später bedauerte sie, dass ihr das Lernen inzwischen schwerer fiel: «Ich habe nimmer die Leichtigkeit, die ich ehemals in der Schule besass.»8 Leicht habe sie auswendig gelernt, «wie selten eines in der Schule»,9 erinnerte sie sich stolz. Aus jener Zeit ist auch die Anekdote vom «furchtbar strengen Lehrer» der letzten Klasse überliefert. An ihn erinnerte sie sich «nicht anders als mit gewisser Furcht». Als er den Kindern das Aufsatzthema «Rom ist nicht an einem Tag erstanden» stellte, konnte niemand das Sprichwort deuten. «Und so diktierte uns der Lehrer, Rom ist nicht an einem Tag entstanden; es haben viele fleissige Leute Tage und Jahre lang daran gearbeitet und nicht nachgelassen bis die prächtige Stadt sich nach und nach erhoben; so ist Rom entstanden: Was Du zu thun beabsichtigst, mach’s auch so!» Dem Schulmeister war es gelungen, mit seiner Interpretation in Lina schwäbische Arbeitsmoral, Freude an Leistung und Erfolg einzupflanzen. Es war ein Satz, «der mir als Kind schon so wohl gefiel und den ich wohl nie vergessen werde»,10 schrieb sie Huber und ermunterte ihren Verlobten zum Durchhalten.

Nach dem Tod seiner Frau entschloss sich Johannes Weissert, mit Emma und Lina zur verheirateten Tochter Pauline in die Schweiz zu ziehen. Am 1. August 1864 traf das Trio in Zürich ein «und wir Kinder mit unsern naiven Ansichten glaubten, die grösste Stadt der Welt zu sehen. Wir taumelten in reinstem Glück …»11 Für Lina war es der endgültige Abschied von ihrer württembergischen Heimat. Die Faszination, die Zürich auf die Kinder ausübte, ist umso erstaunlicher, als Heilbronn damals grösser war und mehr Einwohner zählte. Immerhin war das erste Dampfschiff, die «Minerva», schon seit 1835 auf dem Zürichsee unterwegs.

Die beiden Mädchen lebten bei Schwester Pauline und Schwager Blatter an einem malerischen Platz in der Altstadt an der Oberen Zäune 66, der Vater hauste als Untermieter in der Nähe an der Niederdorfstrasse 47.12 Über Johannes Weissert berichtete seine Tochter kaum etwas. Mit einem einzigen Satz beschreibt sie in einem Brief die Welt ihres Vaters: «‹Nur immer kaltblütig›, waren die täglichen Worte meines Vaters, bei allem was Unangenehmes vorkam.»13 Drückt dieser Satz einen gewissen Gleichmut aus – oder war es Ergebenheit ins Schicksal?

Die Freude über das neue Leben war kurz. «Die erste Zeit gings natürlich schön, wir kamen überall herum, der gute Vater wurde mit allen Sehenswürdigkeiten der Stadt und Umgebung bekannt gemacht, und so verstrich ein schöner Theil der Zeit bis der Vater sah, dass er in Zürich nicht fand, was er suchte, eine Stellung die seinem Alter und seinem Handwerk entsprach, denn hätte ihm die Schwester nicht so grosse Versprechungen gemacht, er wäre nie mit uns Kindern nach der Schweiz gekommen. Des Suchens und Nichts Findens wurde er zuletzt überdrüssig und so sagte er denn Zürich Adieu, nachdem er einen schönen Theil seines Geldes verbraucht hatte. Er entschloss sich, mit Emma nach Heilbronn zurückzukehren, dort sein Geschäft wieder anzufangen und dann nachher mich nach Hause zu nehmen.»14 Wenige Wochen nach der Heimkehr starb Johannes Weissert am 12. Juli 1865. Lina, noch nicht 14-jährig, war nun Vollwaise, ihre Schwester Emma kam wieder nach Zürich.

Die 15-jährige Emma sollte sofort ihren Teil zum Familienbudget beitragen. Sie machte Wollarbeiten in einem Geschäft, doch das viele Sitzen bekam ihr nicht. Anderswo, als Botengängerin, klagte sie über schmerzende Füsse und gab auch diese Stelle auf.

Lina hatte miterlebt, wie Pauline und Johann Hartmann Blatter in stetem Unfrieden lebten. Regelmässig drohte die Gattin ihrem Mann, ihn zu verlassen. Eines Tages verschwand sie mit Emma und Lina, übernachtete bei einer Polizeidienersfrau und kehrte erst am folgenden Abend wieder heim.15 Im November 1865 wurde Lina Dienstbotin bei einer Wirtsfamilie, verliess diese aber nach drei Monaten und wohnte nochmals kurze Zeit bei Schwester und Schwager Blatter. Erst mit Antritt der Stelle in der Bollerei und der Beziehung zur Familie Vontobel wurde die Trennung endgültig.

Linas Verhältnis zu Pauline blieb auch nach ihrem Wegzug angespannt: «Ich mag noch schreiben wie ich will, ich werde immer falsch verstanden».16 Pauline habe seit jeher einen «neidischen Ton» ihr gegenüber gehabt und es gebe keine Briefe «ohne Zankereien»,17 beklagte sich Lina bei Huber. Allerdings war auch Lina zurückhaltend mit wichtigen Nachrichten. Sie informierte Familie Blatter nicht, bevor sie 1874 die Bollerei und Zürich verliess, wollte weder «Zu- noch Abratungen»18 hören und verbat sich jede Einmischung.

Linas Schwager Johann Hartmann Blatter – die Familie hatte eine Tochter Emma und wohnte inzwischen in Basel – war Mitglied des dortigen Polizeikorps. Im Oktober 1874 erhielt sie die Nachricht, er sei «schnell und unerwartet»19 gestorben. Erst Mitte November erfuhr Lina nähere Einzelheiten zu Blatters Tod. In der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 1874 hatte sich eine Tragödie abgespielt: Der Gefreite Blatter hatte sich auf dem Polizeiposten bei der Rheinbrücke mit seiner Dienstwaffe erschossen. Unmittelbarer Anlass war ein geringfügiges Vermögensdelikt. Im Abschiedsbrief an seinen Vorgesetzten Major Hoffmann beklagte er sich wortreich, dass er seit Längerem von einem gewissen Haller «verfolgt und sogar im Dienste mit Beschimpfungen beleidigt» worden sei. An die Adresse seiner Kollegen schrieb er in einem zweiten Brief: «Wünsche zu meinem Abschiede, dass jeder seinem Vorgesetzten den gehörigen Gehorsam leisten möge, jedoch sich nicht unterdrücken oder coujonieren lasse.» Waren es wirklich nur Probleme am Arbeitsplatz, die ihn in den Tod trieben? Trotz früherer Streitereien verabschiedete er sich von seiner Frau Pauline versöhnlich: «… ich weiss mit Wissen und Gewissen, dass du mir … stets eine treue und rechtschaffene Hausmutter warst. Leid thut es mir, dass ich mich auf eine solche Art und Weise von dir trennen muss. Wünsche dir und meinem kleinen Emma ein langes Leben, gute Gesundheit.»20

Paulines unglückliche Ehe hatte elf Jahre gedauert; Linas Schwester war jetzt mittellos. Sie wusste sich zu helfen, eröffnete eine Pension und kochte täglich für über 30 Kostgänger. – Huber war der Familie Blatter nicht gewogen – er fürchtete um Linas Ruf als unverheiratete Frau – und wohl nicht zuletzt um seinen eigenen.

Mit ihrer Schwester Emma (1850–1924) blieb Lina zeitlebens eng verbunden.21 Eine Frau wie Emma Weissert, ohne Ausbildung und Vermögen, hatte keine attraktiven Lebensperspektiven. In München wurde sie – ledig – schwanger, war also im Jargon der Zeit ein «gefallenes Mädchen». «Denke Geliebter, was ich mit meiner Emma durchgemacht, als ich die Nachricht erhielt, sie sei nach Basel gekommen, um dort ihr Kind zur Welt zu bringen. Wenn ich zurück denke, wird mir ganz schwarz vor Augen, wenn ich annehme, was für Zeiten schon hinter mir liegen.»22 Das Bébé Emma Weissert kam am 2. Juni 1871 in Basel zur Welt.23 Damals arbeitete Lina in der Bollerei und riskierte, dass jemand den Klatsch nach Zürich trug, mit katastrophalen Folgen für ihr eigenes Renommee.

1874 starb das kleine Mädchen an einer Lungenentzündung. «Wahrlich ein grosses Glück für Mutter und Kind; es ist traurig, dies zu sagen, aber es ist eben doch so.»24 Nun wollte sich Emma vom Geliebten trennen, der in seiner Wut keinen Spass verstand. Zornig forderte er nicht nur seine Geschenke zurück, sondern verlangte auch die Rückerstattung des Betrags, den er für das Kindbett ausgelegt hatte, selbst das Reisegeld, «womit das arme Mädchen von München nach Basel fuhr, um ihre Schande dort zu verbergen».25 In ihrer Verzweiflung suchte Emma Hilfe bei einem Anwalt, der sie beruhigte. Als der Bursche drohte, «er wolle nicht bürgen, dass es noch ein Unglück absetze, sobald er Emma antreffe»,26 flüchtete sie erneut zu Schwester Pauline und Schwager nach Basel.

Inzwischen hatte Emma einen braven Herrschaftskutscher kennengelernt, dem sein Patron jedoch die Ehe verbot. Emma nähte den ganzen Tag, verdiente aber nicht genug, um etwas auf die Seite zu legen. Endlich hatte der Patron ein Einsehen und erlaubte seinem Kutscher im Mai 1876 die Heirat.27 Als Lina zehn Jahre später auf der Durchreise in München ihre Schwester besuchte, war sie beeindruckt von deren stattlicher Erscheinung, sie kam ihr «wie eine Statue vor … so schön und gescheit schaute sie mich an».28 Materiell gelangten Emma und ihr Mann nie auf einen grünen Zweig. Bei finanziellen Engpässen mussten Lina und Eugen Huber unterstützend einspringen. Diese selbstverständliche Verwandtenpflicht führte nach Hubers Tod sogar zu Unstimmigkeiten unter seinen Erben. Trotz Hubers Wohlwollen blieb der Makel ihrer Jugendsünde an Emma haften. 1916 litt sie an einer Augenkrankheit und gelangte an ihren Schwager in Bern. «Sie mag gefehlt haben wie sie will, jetzt ist sie eine einsame Seele, der ich gerne die nötige Unterstützung zuwende»,29 kommentierte er. Emma Köhler-Weissert überlebte alle Verwandten ihrer Generation, sie starb am 18. Mai 1924 in München.30

Während Huber in ein enges verwandtschaftliches Netz eingebunden war, pflegte Lina im Lauf ihres Lebens nur mit ihrer Schwester Emma und der Tochter ihrer Schwester Pauline einen lockeren Kontakt. Onkel, Tanten, Vettern oder Cousinen spielten in ihrem Leben keine Rolle. Erklärt sich das mit ihrem frühen Wegzug aus Heilbronn? Oder wollte Huber, dass sie sich auf seine eigene Familie konzentrierte? Die Antwort ist nicht überliefert.

AUSBRUCH AUS ALTSTETTEN: DIE GROSSFAMILIE HUBER

Im Gegensatz zu Lina spielten familiäre Bindungen und Verpflichtungen in Hubers Biografie eine zentrale Rolle. Der junge Eugen profitierte von diesem engmaschigen Netz. In erster Linie kümmerte sich sein älterer Bruder August (1841–1914) um ihn. Ebenso durfte Huber stets auf die materielle oder zumindest moralische Unterstützung durch Onkel und Tanten zählen. Später, nachdem er selbst zu Ansehen und Wohlstand gekommen war, erwarteten vom Schicksal weniger begünstigte Verwandte ihrerseits seine Solidarität. Huber drückte sich nicht vor dieser Pflicht, half gerne mit Rat und notfalls auch mit finanzieller Tat. «Wenn es den einen Familienmitgliedern gut geht, und anderen schlecht, so gehört man doch zusammen, mag auch noch so sehr diese Verschiedenheit des Schicksals in den Vorzügen oder Mängeln der Personen begründet sein. Also nimmt man es hin wie anderes, das einem trifft.»31

Es wäre verfehlt, solch traditionelle Strukturen in allzu rosigem Licht zu sehen. Erbschaftsstreitigkeiten vergifteten Beziehungen, Mädchen wurden oft verheiratet, bevor sie die Volljährigkeit erreicht hatten, Geldgeber fühlten sich bemüssigt, bei den Empfängern ihre Vorstellungen vom richtigen Leben durchzusetzen. Finanzgeschäfte führten regelmässig zu innerfamiliären Konflikten. «Es ist eine dumme Geschichte, aber sie liesse sich voraus sagen. Drum wollen wir jeden Falls klug sein, keine zu grosse Freundschaft anfangen, dann kann man auch in keine Ungelegenheiten kommen»,32 kommentierte Hubers Schwester Anna den Streit zwischen dem Onkel in der Enge und der Familie der Tante in Wiedikon wegen eines Darlehens.

Ein Blick auf Hubers Stammbaum (siehe S. 250/251) soll helfen, die komplexen familiären Verhältnisse etwas zu entwirren. Sowohl Hubers väterliche wie die mütterlichen Vorfahren lebten auf dem Land. Vater Hans Conrad Huber (1813–1862) und Mutter Anna Widmer (1818–1869) verbrachten Kindheit und Jugend in ihrer Heimatgemeinde Altstetten, bis 1934 ein eigenständiges Dorf nahe der Stadt Zürich. Anlässlich der Volkszählung von 1836 lebten 992 Personen im Dorf, 1850 noch 959. Zu den Auswanderern zählten auch Hubers Angehörige.

Hubers Eltern kamen in der Epoche der städtischen Vorherrschaft zur Welt. Seit Generationen behinderten Gesetze zugunsten der Stadt die Landschaft in ihrer Entwicklung. Eifersüchtig verteidigte Zürich seine Privilegien, doch liess sich die Landbevölkerung im 19. Jahrhundert nicht mehr ohne Weiteres bevormunden. Am sogenannten Ustertag, dem 22. November 1830, versammelten sich rund 10 000 Männer zu einem Protestanlass in Uster und verlangten eine neue Verfassung. Es war die Wende zum modernen Kanton Zürich. Die Kantonsverfassung von 1832 sicherte die politische Gleichstellung von Stadt und Land, 1837 war der wirtschaftspolitische Einfluss der städtischen Zünfte endgültig gebrochen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Hubers Vater bereits seine erste Arzpraxis in Altstetten eröffnet. Der Aufstieg der Familie Huber ist typisch für die historische Entwicklung dieser Zeit.

Der Nachruf auf Hubers Vater aus der Feder seines Jugendfreundes Johannes Wyss-Schneebeli (1813–1898) gibt Auskunft über Hubers Grosseltern David (1786–1856) und Dorothea Huber (1790–1843): «Sein Vater war ein sehr ehrenwerther Arbeiter in einer Cattunfabrik, welcher gegen 40 Jahre täglich auf eine Stunde Entfernung in unentwegter Treue und mit der grössten Regelmässigkeit in dem nämlichen Geschäftshause seiner Arbeit und seinem mässigen Verdienste nachging.» Baumwolle, Cattun, war in unsern Breiten etwas Neues und fiel daher nicht unter die Regulierung durch die Zünfte. «Seine Mutter, eine stille, sorgsame Hausfrau und ihm vor allen verehrungswürdig.»33

Die Familie Huber lebte offenbar in engen materiellen Verhältnissen, dennoch finanzierte David Huber weitblickend seinen Söhnen das Erlernen eines Berufs. Damals schuldete der Lehrling dem Meister ein Lehrgeld und es spricht für die Offenheit der Eltern, dass sie in eine bessere Zukunft investierten und ihre Jungen nicht in die Fabrik schickten. Hans Conrad Huber, Eugens Vater, und seine Brüder Hans Heinrich (1814–1885) und David (1819–1880) nutzten die Chancen, die sich den Landbewohnern aufgrund der veränderten politischen Verhältnisse eröffneten. Die Brüder erlernten ein Handwerk. Hans Heinrich wurde Schreiner und blieb in Altstetten. Seine Geschwister wanderten in benachbarte Dörfer aus, die heute ebenfalls Teil der Stadt Zürich sind, Hans Conrad wagte sich gar bis ins Weinland. Der Jüngste der Familie, Spenglermeister David, lebte mit seiner Frau in der Gemeinde Enge und brachte es dort bis zum Friedensrichter.34 Da er kinderlos starb, ging ein Teil seines Erbes auf Kosten der Witwe an Neffen und Nichten, so schrieb es das Gesetz vor. Hubers Bruder August notierte zufrieden: «Ein über Erwarten günstiges Erbe.»35

Hubers Tante Regula (*1817), die einzige Tochter der Grosseltern David und Dorothea Huber, verheiratete sich mit Johannes Abegg aus Wipkingen. Auch sie verliess Altstetten, lebte in Wiedikon und starb früh. Regula Abeggs Nachkommen wurden erfolgreiche Kaufleute, die teils in Zürich, teils in Japan Karriere machten, es zu beträchtlichen Vermögen brachten und mit Huber lockere Kontakte aufrechterhielten.

Hans Conrad, Hubers Vater, der Älteste der Familie, verfolgte ehrgeizige Pläne: «In trautem Familienleben entwickelte sich rasch des lebhaften Knaben erste Anlagen; früh schon stand ihm als höchster Lebenswunsch das Ziel vor Augen, Arzt zu werden, und die begeisterte Ausdauer dieses jugendlichen Willens veranlasste denn auch seine Eltern, ihm alle zu jener Zeit [in den 1820er-Jahren] in ländlichen Verhältnissen mögliche Schulbildung zu theil werden zu lassen. Später lernte er dann als Externer eines Privatinstituts, welches ungefähr unseren jetzigen Secundarschulen entsprechen sollte, jedoch kaum die mittelmässigsten derselben erreichen würde, die Anfänge der lateinischen und französischen Sprache neben Fortbildung in der deutschen und in der Arithmetik.»36 Sein Fleiss ermöglichte ihm die Aufnahme an das medicinisch-chirurgische Institut in Zürich, wo er im Frühling 1830 als 17-Jähriger zu studieren begann.37 Den weiten Weg von Altstetten in die Stadt Zürich müssen die beiden Freunde Johannes Wyss und Hans Conrad Huber zu Fuss gemacht haben. Hans Conrad soll eine Vorliebe für Anatomie gehabt haben. «Sein eiserner Fleiss und sein glückliches Gedächtnis liessen ihn unter seinen Commilitonen bald eine hervorragende Stellung behaupten.» Der tüchtige Student erhielt im dritten Lehrjahr gar eine Prämie, wahrscheinlich ein Buchgeschenk. Im Frühling 1833 nahm die neu gegründete Universität Zürich den Unterricht auf. Zur Krönung seiner Studien schrieb sich der junge Mann als Nummer drei überhaupt und als zweiter Medizinstudent für ein Semester ein «und hier ging ihm ein neuer Gesichtskreis auf, mächtig ihn anregend nach allen Seiten hin. Vor allem aus fesselten ihn die Vorlesungen und die klinischen Vorträge Schönlein’s und förderten entschieden seine wissenschaftliche Anschauungsweise.»38

Die praktische Erfahrung eignete sich Hans Conrad Huber als «Gehülfe» bei Dr. Johann Jakob Hegetschweiler (1795–1860) in Rifferswil an. Hegetschweiler, Sohn eines Mediziners, hatte in Göttingen studiert; er durfte seine Ausbildung durchaus mit derjenigen seiner Stadtzürcher Kollegen vergleichen. Neben seiner Praxis führte er seit 1831 das Statthalteramt des Bezirks Knonau. Johann Jakobs bekannterer Bruder Johannes Hegetschweiler (1789–1839), ebenfalls Arzt, sprach als einer der Redner am erwähnten Ustertag 1830. Inzwischen war dieser Regierungsrat, das heisst Mitglied der Zürcher Exekutive geworden, trug als Mediziner massgeblich zur Berufung Schönleins an die Universität bei und ging als Gründer des Kantonsspitals, der Kantonsapotheke sowie der Tierarzneischule in die Zürcher Medizingeschichte ein.39 Beide Brüder waren nicht nur Ärzte und politisch engagierte Bürger, sondern auch begeisterte, fachkundige Botaniker. Landärzte stellten damals Medikamente selbst her. Johannes Wyss, Hans Conrad Hubers Jugendfreund berichtet, wie er als Bub mit seinem Vater Heilkräuter sammelte.40 Hubers Vater hatte auch in diesem wichtigen Bereich versierte Lehrmeister. In Rifferswil hatte Hans Conrad Huber nicht nur Gelegenheit, sein medizinisches Wissen zu vertiefen und mit Patienten zu arbeiten – er lebte in einem eleganten Umfeld, in dem die neuesten Ideen diskutiert wurden. Das herrschaftliche, 1827 erbaute «Doktorhaus» steht heute unter Heimatschutz.41

Nach einem Jahr kehrte Hans Conrad Huber 1834 in sein Heimatdorf Altstetten zurück und eröffnete eine Arztpraxis. 1836 heiratete er Anna Widmer (1818–1869). Diese hatte während zwei Jahren auswärts das Schneiderinnenhandwerk erlernt, war für ihre Zeit überdurchschnittlich gut ausgebildet.42 Für Hans Conrad Huber muss Anna Widmer eine gute Partie gewesen sein, düsterer sah es für die Braut aus, da sie als 17-jährige Waise gegen ihren Willen verheiratet wurde, wie Huber sich erinnerte.43

Über Hubers Vorfahren mütterlicherseits ist Folgendes bekannt: Im Alter von fünf Jahren hatte Hubers Mutter Anna ihren Vater Heinrich Widmer (1784–1823) verloren. Mit seinem Tod verschwand das Geschlecht der Widmer aus dem Dorf.44 Hubers Grossmutter Magdalena Widmer-Meyer (*1793) heiratete in zweiter Ehe einen Landwirt, Leonhard Weber, den späteren Gemeindepräsidenten. Es entstand eine Patchworkfamilie, wie man das heute nennen würde. Weber brachte aus erster Ehe die Tochter Küngold (1820–1880) mit. Das Paar hatte zudem ein gemeinsames Kind, Magdalena (1832–1876). Trotz des grossen Altersunterschieds stand diese jüngere Schwester Hubers Mutter sehr nahe, sie war Hubers Patin, das «Ebenbild seiner Mutter»,45 wie er sie Lina beschrieb.

Eugen Hubers Tante Magdalena Gwalter-Weber war die Vertraute seiner Mutter. Ihr Schicksal erlaubt einen Einblick in das Gefühlsleben der damaligen Zeit. Sie heiratete auf die andere Seite der Limmat ins Nachbardorf Höngg. Dort betrieb ihr Gatte Hermann Gwalter (†1877) eine erfolgreiche Landwirtschaft. Als sie im Alter von 44 Jahren an Herzversagen starb, hinterliess sie sieben Kinder, Sohn Emil stand vor dem medizinischen Abschlussexamen. Huber empfand den Onkel zwar als Ehrenmann, aber auch als barsch und hart. Nur 16 Monate später starb der Witwer an gebrochenem Herzen.46 Huber war überrascht, «wie ihm nun der Tod seiner Frau zu Herzen gieng, die er mit seiner Unerbittlichkeit so oft zur Arbeit getrieben, wenn sie fast nicht mehr konnte». Auch Huber quälten Schuldgefühle. «Es war nicht recht von mir, dass ich ihre mütterliche Zuneigung zu mir so wenig erwiderte –, aber früher hielt mich falsches Unabhängigkeitsgefühl und später der Plan, mit meiner lieben Frau zusammen das Versäumte nachzuholen ab, meine nächstliegenden Verwandten- und Gotteskindspflicht gehörig zu erfüllen.»47 Die Kontakte zwischen Zürich und «Höngg» waren stets sehr rege. Musste sich Mutter Huber über ihren Jüngsten ärgern, fand sie in der Familie ihrer Schwester stets ein verständnisvolles Ohr.

Eine ebenfalls sehr enge Beziehung verband Huber mit der Familie seiner anderen Tante. Küngold Weber heiratete 1837 Heinrich Gyr (1812–1888) aus Uster. Wie Hubers Mutter bei ihrer Trauung war auch sie erst 17 Jahre alt. Über Gyrs familiären Hintergrund ist nichts bekannt. Küngold und Heinrich Gyr suchten ihr Glück in der Fremde, sie wanderten nach Württemberg aus. Im Lauf seines langen Lebens machte der Unternehmer eine glänzende Karriere und erwarb ein enormes Vermögen. 1855 wurde Gyr Mitbegründer und von 1856 bis 1881 Direktor der Württembergischen Baumwollspinnerei. Diese lag in der Nähe von Esslingen auf einer Halbinsel am Neckar genannt «Brühl». 1871 erweiterte er die Unternehmung und kaufte die Mechanische Baumwollspinnerei in Bleichach/Allgäu hinzu.

Immer wieder verbrachten die Geschwister Huber Ferien bei Tante und Onkel Gyr in der Fabrikantenvilla. Als Huber kurz vor Abschluss des Gymnasiums in eine schwere Lebenskrise geriet, bat ihn seine Schwester Pauline, nicht die Nerven zu verlieren, und empfahl ganz selbstverständlich: «Gehe für einige Zeit zum Onkel in Esslingen oder auch vielleicht zum Onkel in der Enge.»48 Nach einem Fiasko in London lebte Pauline selbst 1874 einige Zeit bei den Gyrs, bis sie sich wieder aufgefangen hatte und nach Russland weiter zog. Wusste ein Familienglied nicht ein und aus, war der «Brühl» das letzte Refugium. Als Hubers Mutter 1869 gestorben und er Vollwaise war, fühlten sich Onkel und Tante zusätzlich in der Pflicht. «Ich führe hier ein Schlaraffenleben. Bald geht’s da, bald dorthin, ins Theater, auf Besuch»,49 berichtete Huber auf der Reise ins Studienjahr nach Berlin.

Heinrich und Küngold Gyr hatten nicht nur Söhne, die ins Geschäft eintraten, sondern auch mehrere Töchter; bei deren Verheiratung zählten nicht Gefühle, sondern wirtschaftliche Überlegungen. Huber sowie Lina blieben ein Leben lang mit der vorwitzigen Cousine Ida Gyr befreundet. Huber hatte gar kurz erwogen, um Idas Hand anzuhalten, sollte ihn Lina für immer abweisen.50 Trotz der in Aussicht stehenden guten Mitgift blieb sie unverheiratet. War daran ihr kaum sichtbarer kleiner Buckel schuld?51 Später empfingen Gyrs Eugen Hubers Frau Lina herzlich auf dem «Brühl» und zeigten weniger Vorbehalte als einige Angehörige in der Schweiz. Am Ende ihres Esslinger Besuchs 1883 notierte sie ihre Eindrücke. «Lebewohl du gastliches, strammes Haus, du blühender Garten, du traute Stille! Mit dankbarer Liebe will ich noch oftmals Euer gedenken, Ihr, die Ihr mich so freundlich aufgenommen und so weitherzig behandelt habt! Der Umgang mit Euch gab mir ein bisher noch nie empfundenes Bewusstsein, Freunde, wirkliche Freunde zu gewinnen, ist wohl eines der schönsten Ziele des Lebens und ein Kreis von lieben Bekannten mit allen ihren Licht- und Schattenseiten dient schon wesentlich dazu, uns das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu verleihen. Wir fühlen uns Mensch unter Menschen und die Kluft, die sich unwillkürlich bildet, wenn wir an ein abgeschiedenes Leben gewöhnt sind, schwindet allmählich dahin bei solchem Zusammenleben.»52

Heinrich Gyr war der begüterte Clanchef, der für die Grossfamilie einzustehen hatte. Dass er diese Aufgabe übernahm, ist aus heutiger Sicht umso erstaunlicher, als seine Frau mit der Familie Huber nicht blutsverwandt war. Der Selfmademan Gyr hatte Achtung vor der eigenständigen Leistung anderer, wie Huber nach dessen Tod erfuhr: «Er hat stets grosse Sympathie und Vorliebe für dich empfunden und seine Freude bezeugt über die bevorzugte Stellung, welche du dir durch eigene Arbeit und Tüchtigkeit errungen hast.»53 Als Vetter Conrad Gyr diese Zeilen schrieb, war Huber zwar erst Professor in Basel, sein eigentliches Lebenswerk lag noch vor ihm.

Hubers älteste Schwester Anna weilte im Juni 1871 zur Erholung in Esslingen. Bei der Gelegenheit wurde sie Zeugin eines Streiks: «Letzte Woche machten die Fabrikarbeiter auch Streike, sie wurden aber durch Oncles energisches Einschreiten bald wieder zur Vernunft gebracht. … Oncle ärgerte sich nachher sehr, dass die Kerle auf solch niederträchtige Art eine Lohnerhöhung erzwingen können; aber er sagte, nur einige Tage ohne Arbeit würde ihnen mehr schaden, als eigentlich die Summe der Lohnerhöhung ausmache; warum thuns auch die Herren nicht vorher, dann würde es gewiss nicht so weit kommen.»54 Der Onkel, «der neben bei gesagt von allen so ziemlich gefürchtet wird», war und blieb Respektsperson, selbst seine Kinder «[waren] alle viel fröhlicher und ungezwungener», wenn er aus dem Haus war.55

Der gyrsche Reichtum weckte zwiespältige Gefühle. Ohne Bedenken nahm Huber von Onkel Gyr zum Abschluss seiner Studien ein Geschenk von 1000 Franken an. Während Huber gelegentlich spitze Bemerkungen über die Millionäre in der Familie fallen liess, schien sein Bruder August eher Bewunderung zu hegen. Jedenfalls war er in grosser Sorge, als bekannt wurde, dass Onkel Gyr 150 000 Franken (von einem Gesamtkapital von 13 Millionen Franken) in die Nord-Ost-Bahn56 investiert hatte und diese vom Konkurs bedroht war.57

Gyrs Bedeutung für sein damaliges Umfeld lässt sich daran ermessen, dass es sowohl neben der Firma im «Brühl» (inzwischen gehört das Land Daimler-Benz) wie in Bleichach eine Heinrich-Gyr-Strasse gibt. Für die Angehörigen jedoch zählte weniger das unternehmerische Geschick als die Verlässlichkeit Küngold und Heinrich Gyrs, ihr offenes Ohr und das gastfreundliche Haus.

DER STAMMHEIMER «LINGG HAUPTMÄ»

Dem Dorf seiner Kindheit – Stammheim im Zürcher Weinland – bewahrte Eugen Huber Zeit seines Lebens eine treue Anhänglichkeit. Immer wieder reiste er in die alte Heimat zurück, etwa bevor er 1869 zum Studium nach Berlin fuhr. «Das war zu schön, die ganze Macht aller Empfindungen, die mir das Heimathland ja erregt, sind stürmisch neu erwacht.»58 Bis zum Tod soll eine Zeichnung der St.-Gallus-Kapelle in Oberstammheim über seinem Bett gehangen haben, die er einst in der Sekundarschule gemacht hatte.59 Am Doktorhaus, in dem Eugen Huber am 13. Juli 1849 zu Welt kam, erinnert eine Inschrift an den berühmten Bewohner. Heute ist die stattliche Liegenschaft an der Hauptstrasse durch Anbauten erweitert und dient als Altersheim für das Stammertal.

Auch im 21. Jahrhundert bezaubert der Dorfkern mit seinen Fachwerkhäusern den Besucher. Landwirtschaft und Rebbau prägen das Bild. Der Charme könnte eine heile Welt vortäuschen, doch blieb dieser malerische Flecken von historischen Umwälzungen nicht verschont.60 Politisch teilte Stammheim das Schicksal der Zürcher Landschaft; Jahrhunderte lang führten die «Gnädigen Herren» aus der Stadt ein mehr oder weniger strenges Regime. Die französische Revolution schien den grossen Um- und Aufbruch zu bringen. 1798 feierten die Stammheimer den Untergang der alten Staatsordnung mit einem Freiheitsbaum. Die Freude währte nur kurz, in den folgenden Jahren plünderten französische, österreichische und russische Armeen das Weinland. In guten wie in schlechten Zeiten drückten die Steuern. 1808 löste der Kanton Zürich die über 1000 Jahre alte Zehntenverpflichtung an das – inzwischen aufgehobene – Kloster St. Gallen für 200 000 Gulden ab. Die Gemeinde musste den Betrag bei der Zürcher Staatskasse in Raten abstottern, eine schwere Last für die lokalen Steuerzahler.

Was hatte Hubers Vater bewogen, im Alter von 25 Jahren Altstetten den Rücken zu kehren? Es gibt nur Vermutungen. An der Universität war einer seiner Kommilitonen der Theologiestudent Hirzel aus Stammheim, zudem soll Hans Conrad Huber das Dorf vom Militärdienst her gekannt haben. Als er 1838 seine Praxis ins Weinland verlegte, zählte Oberstammheim rund 800 Einwohner.61 Es waren unruhige Zeiten. In Erinnerung an den Ustertag vom 22. November 1830 organisierten die Stammheimer jeweils eine Gedenkfeier.62 Ein Jahr nach Hans Conrad Hubers Niederlassung in Stammheim erfolgte in der Hauptstadt der konservative Züriputsch, doch bald mussten auch diese Herren ihre Macht abgeben. Eugen Huber verarbeitete die Ereignisse später in einer unveröffentlichten Novelle.63

Auch wenn dank dem Aufstand eines Teils der Landbevölkerung die Konservativen in Zürich kurzfristig Oberwasser hatten, blieben die neuen Ideen in Stammheim gegenwärtig. Ende 1842 gründeten neun Männer aus Oberstammheim eine Gesellschaft zur Pflege der Geselligkeit. In einem Lokal, das den Mitgliedern täglich zur Benutzung offen stand, lagen unter anderem die «Neue Zürcher Zeitung», der «Landbote» aus Winterthur oder «Der Deutsche Bote».64 1843 wurde eine Volksbibliothek gegründet. Aberglaube, die Furcht vor Hexen, bösen Geistern und Gespenstern, die Anwendung von Beschwörungsformeln zur Heilung von Krankheiten bei Menschen und Tieren hätten zusehends an Bedeutung verloren, weiss Chronist Farner zu berichten65 – eine erfreuliche Folge der Bibliothek? Völlig gefeit vor Aberglauben war jedoch selbst der Doktorsohn nicht; bei Gelegenheit liess er sich die Zukunft voraussagen. 1875 hoffte Lina, Hubers Dorf sowie das Häuschen der alten Wahrsagerin einmal zu sehen und kommentierte deren etwas gewagte Prognose: «Ein ‹Vaterlandsverteidiger› bist du gewiss im schönsten Sinne des Wortes, wenn auch nicht mit Schwert und Degen.»66

1841 kaufte Hans Conrad Huber von seinem Vorgänger Dr. Hirzel ein Fachwerkhaus im Dorfzentrum. Freiwillig oder unfreiwillig investierte er in die Liegenschaft, sodass sie bereits wenige Jahre später um einiges wertvoller war als die umliegenden Gebäude: Chirurg Huber traute sich wirtschaftlich einiges zu.

Der Doktorsohn gehörte zur Dorfelite, eine Stellung, die Huber offensichtlich genoss und manchmal ausnützte. Hubers Spitzname – der «lingg Hauptmä», der linke Hauptmann der Oberstammheimer Buben – rührte von seinem gelähmten rechten Arm her.67 Trotz seiner Behinderung aus frühen Kindertagen war er der Anführer der Bubenspiele; bei Kämpfen bediente er sich jeweils geschickt des gesunden linken Arms. Huber berichtete Lina von einer Geschichte, wie er als «lingge Hauptmä» zusammen mit Besuchern aus Zürich die Unterstammheimer Buben besiegte. Mit seinem Schulfreund Schaggi zog er als Ritter aus und spielte Tournier. Eine junge Zürcherin setzt ihm den Siegeskranz auf, stolz und ein bisschen verliebt spazierte Huber am folgenden Tag mit ihr durchs Dorf.68

Im Alter fiel es Huber auf, wie unbestritten für ihn die besondere Stellung gewesen war. «Ich war ein ‹Doktors› Sohn auf dem Land, ich war mir in den jüngsten Jahren bewusst, eine hervorragende Stelle zu haben und zwar ungesucht, von selbst. Was ich als ‹linker Hauptmann› leistete, das war nur die Folge dieser Prärogative. Und an dieser Idee hielt ich nach dem Tode des lieben Vaters fest. Ich lebte in ihr am Gymnasium, ich empfand den Schulerfolg als etwas Selbstverständliches.»69

Hubers Freund Jakob Schnurrenberger, genannt Schaggi, war ein uneheliches Kind, das bei der Landschreiberfamilie im Nachbarhaus lebte. «Schaggi war gewissermassen mein Diener; er trug die Kleidlein, die mir Mutter nicht mehr flickte, und dieser Umstand, den ich gar wohl erfasste, reichte hin, in meinen Augen den Schaggi zum Vasallen herabzudrücken. … In der Schule war Schaggi geschickt, aber natürlich nach meinen Begriffen, unter mir, wenngleich viel fleissiger als ich.»70 Als Sekundarschüler rückte Schaggi zum Klassenbesten auf und überholte mit seinen guten Noten den Freund. Nun strengte sich Huber an. Der Tod seines Vaters und Hubers Umzug nach Zürich beendeten vorzeitig den Wettbewerb. Doch selbst von Zürich aus fühlte sich Huber befugt, Schaggi Vorschriften zu machen. Als ihm dieser in einem Brief erzählte, er habe mit dem jungen Orelli, dem Sohn des neuen Dorfdoktors gesprochen, wies ihn Huber zurecht. Schaggis Antwort war vorsichtig-kleinlaut, er pflege weder Freundschaft noch Feindschaft. «Nun wäre es mir sehr leid, wenn du glauben würdest, dass ich ein Freund Orellis sei. Das bleibe fern von mir, denn ich weiss wohl, dass ich euch dadurch beleidigen würde.»71

Allein oder mit der Familie ging Huber gelegentlich auf kleine Reisen. Seit der Lehre wohnte Bruder August in Zürich, im August 1861 durfte ihn Eugen besuchen. In einem Brief an August beschrieb Huber den Familienausflug nach Ermatingen und Konstanz, wo die Familie das Münster und den Schiffplatz besichtigte. Morgens um vier Uhr dreissig fuhren sie los, abends um acht Uhr waren sie in Stammheim zurück.72

In der Korrespondenz mit dem grossen Bruder fällt der etwas altkluge Ton auf. Als Bezirksrichter Schuler starb, wurden «durch dessen Tod 18 Aemter unbesetzt».73 Hinter Hubers Zeilen hört man die Gespräche der Erwachsenen, wie auch bei Hubers Kommentar zur Gründung einer Bank, der Leihkasse: «In Stammheim ist man im Begriff eine Leihkasse zu entrichten, was sicher, besonders für die Ärmere Klasse eine wahre Wohlthat wäre.»74

Huber liebte Brombeeren und diese erinnerten ihn stets an Stammheim. «Ich weiss noch, wie ich zu den ersten mit besondrem Bewusstsein gekommen. Ich kletterte an einem Sommermorgen als etwa siebenjährig im Dutteltal an einem hohen steilen Waldbord hinauf und gab nicht nach bis ich oben war. Da aber gelangte ich zufällig an einen Platz voll der köstlichen Beeren und ass nach Herzenslust, indem ich mir sagte, das sei die Belohnung für meine Ausdauer. Von wem Belohnung? Vom lieben Gott, der mich zu den Beeren geführt.»75 Noch folgte der Knabe Huber offensichtlich der väterlichen Weltanschauung.

Vater Hans Conrad Huber war nicht nur in Stammheim tätig. 1845 übernahm er die Stelle eines Adjunkten des Bezirksarztes im benachbarten Andelfingen. Nach einigem Zögern verzichtete er 1861 auf dessen Nachfolge, zu ungewiss schienen ihm seine Aussichten. In Andelfingen besuchte er auch einen medizinischen Lesezirkel. Dagegen kandidierte er nie für ein politisches Amt. «Er mochte sich keine Verbindlichkeiten auflegen, welche ihm die Zeit, welche vor allem seinen Kranken gewidmet und geheiligt war, durch anderweitige Verpflichtungen schmälern konnten.»76

HANS CONRAD HUBER UND ANNA WIDMER – EINE TUMULTUÖSE BEZIEHUNG

Hubers Elternhaus in Stammheim war alles andere als eine Biedermeieridylle. In einer Landpraxis des 19. Jahrhunderts bestimmte der anspruchsvolle, anstrengende Beruf des Vaters den Alltag der Familie. Tag und Nacht war der Dorfmediziner für seine Patienten da. Im Doktorhaus herrschte ständiger Trubel, es war ein Kommen und Gehen, die Leute erschienen unangemeldet, Krankenbesuche auf fernen Höfen waren die Regel, alle Angehörigen halfen mit.

Auch in Hubers Elternhaus war Kindersterblichkeit eine traurige Wirklichkeit, allerdings nicht ganz so dramatisch wie in Linas Familie. Die älteste Tochter Anna kam 1837 noch in Altstetten zur Welt. Das nächste Kind, Sohn Carl, starb im Jahr seiner Geburt 1838. Dann kamen Schlag auf Schlag Hubers drei Geschwister, Pauline (1840), August (1841) und Emma (1843), zur Welt. Ein ungetauftes Söhnchen lebte von 1846 bis 1847. Weshalb er nie getauft wurde und namenlos blieb, ist unklar. Den Schluss machte 1849 der kleine Eugen. Mutter Anna Huber war bei seiner Geburt knapp 31 Jahre alt.77 Die älteren Geschwister sollen über die Ankunft des Jüngsten wenig begeistert gewesen sein, die Mutter musste den Kleinen oft in Schutz nehmen.78

Johannes Wyss’ Nachruf zeichnet Vater Hans Conrads Porträt: «Seiner äussern Erscheinung nach war Huber eine jener sofort Herz gewinnenden Naturen, welche wir schon ihrer Seltenheit wegen beglückwünschen. Von mittlerer Grösse, hager und schmal gebaut, mit scharfem Profile (erst in den letzten Jahren wurden seine Gesichtszüge markig fest79) und lebhaftem Blick, etwas vorüber gebogen, sanguinischen Temperaments, mit leichtem aufbrechendem Benehmen begabt, war er ganz dazu angethan, rasch zu gehen, schnell zu prüfen, entschlossen zu handeln.»80 Ist unter «leichtem aufbrechendem Benehmen» jener Jähzorn zu verstehen, für den sein Jüngster bekannt war? Zwischen den Zeilen deutet Wyss auch autoritäre Charakterzüge des Verstorbenen an, während Hubers Mutter ihrerseits eine starke, streitbare Persönlichkeit war; die Folge waren lange Jahre häuslichen Streits.

«Seine liebste Erholung fand er überdies im Kreise seiner Familie, wo er, den ganzen Geschäftskreis der innern Angelegenheiten seiner trefflichen Gattin unbedingt überlassend, hinsichtlich … der Erziehung und Ausbildung seiner Kinder eine durchaus active Stellung einnahm.»8182