Titelbild
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Für Georg und Emma

ISBN 978-3-492-97182-9

März 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur

Gerd F. Rumler (München)

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: Anna Verdina/getty images (Himbeeren);

www.buerosued.de (Rosmarin, Lavendel)

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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1

Sie umarmten sich zärtlich. Seine Hand lag auf ihrer Hüfte, die Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, die Finger waren ineinander verschlungen. Das Paar lag in einer flachen Grube auf einer Waldlichtung, ein Stück entfernt vom nächsten Weg. Die beiden hätten sich ungestört in die Augen blicken und ihre Zweisamkeit genießen können.

Wenn sie noch Augen gehabt hätten.

Doch dort waren nur leere Höhlen, weiße Knochen, die Zähne zu einem ewigen Grinsen verdammt.

Anne spürte, wie ihr die Gänsehaut über den Rücken kroch. Sie kam sich wie ein ungebetener Gast vor, wie die Augenzeugin eines innigen Moments, der nur den beiden Toten gehörte. Zum Glück war sie nicht allein auf der Lichtung. Ein Rechtsmediziner im Schutzanzug beugte sich kopfschüttelnd über die beiden Skelette in der Grube.

»Kein Fall für die Polizei, wenn ich das richtig sehe. Die sind schon so lange tot, dass auch die Täter garantiert das Zeitliche gesegnet haben. Und ihre Kinder und Kindeskinder auch.« Er lachte auf und nickte in Richtung der beiden Männer, die einige Meter entfernt standen. »Auf jeden Fall haben sie unseren Schatzsuchern einen gründlichen Schrecken eingejagt. Kommt ja nicht so oft vor, dass man alte römische Münzen sucht und dann über zwei echte Leichen stolpert.«

»Werden diese Leute eigentlich oft fündig? So ein Metalldetektor kostet doch sicher eine Stange Geld.« Anne konnte sich nicht vorstellen, warum man als erwachsener Mann an einem wunderbaren Sommertag mit einem solchen Gerät in der Hand durch den Wald rannte.

Der Mediziner zuckte mit den Achseln. »Hier in der Gegend finden die jeden Tag etwas. Natürlich geben sie es nicht ab, sondern behalten ihre ›Schätze‹ für sich. Eichstätt ist schon ewig besiedelt, hier haben sich die Menschen seit der Keltenzeit wohlgefühlt – da ist natürlich so einiges liegen geblieben.«

Der Polizist, der neben Anne stand und ebenfalls in die Grube sah, runzelte die Stirn. »Wenn diese Herrschaften hier historische Leichen sind, dann sollte ich mir wohl besser die beiden Männer und ihre illegalen Funde vorknöpfen. Da kann ich wenigstens so etwas wie ein richtiges Vergehen aufklären und nicht nur ein paar Knochen beim Vermodern zusehen.«

Er klopfte sich seine Uniformjacke ab und wandte sich zum Gehen.

»Halt!«, rief Anne. »Können Sie mir wenigstens noch sagen, was mit den beiden Skeletten jetzt passiert?«

»Ist mir egal«, erklärte der Polizist mürrisch und stapfte durch das hohe Gras zu den beiden Schatzsuchern. Offensichtlich waren sie die lohnenderen Opfer seiner Arbeit.

»Ich rufe jetzt die Archäologen an«, erklärte der Rechtsmediziner, der inzwischen aus der Grube gestiegen war. »Die können dann genauer ihr Alter bestimmen und rauskriegen, aus welchem Jahrhundert sie stammen. Und ich kann einen Bericht schreiben, in dem ich erkläre, warum hier kein Fahndungsbedarf besteht.«

»Und dann?« Anne sah ihn neugierig an. Irgendwo musste es doch noch eine Geschichte hinter den beiden Toten geben.

Der Mediziner holte eine Kamera aus seiner Tasche und lichtete die beiden Skelette aus allen erdenklichen Blickwinkeln ab. »Das entscheiden die Archäologen«, sagte er. »Die schauen, ob das ein bedeutender Fund ist und ob sich das Weitergraben in dieser Grube noch lohnt. Nach meiner Erfahrung ist das aber nur selten der Fall. Dann werden die Knochen in eine Kiste gesteckt und in einem Regal abgestellt. Wahrscheinlich können die beiden froh sein, dass sie das nicht mehr mitkriegen …«

Anne sah wieder in die Grube. Der Anblick des Paares rührte sie merkwürdig an. »Bleiben sie dann wenigstens zusammen?«

Er schüttelte den Kopf, schulterte seine Tasche und machte sich auf den Weg zu seinem Auto, das er ganz in der Nähe auf einem Waldweg geparkt hatte. »Jetzt sind Sie aber sentimental, junge Frau. Wenn die beiden so lange tot sind, wie ich denke, dann wären sie vor allem glücklich gewesen, in geweihter Erde begraben zu werden. Das war den Leuten vor ein paar hundert Jahren sehr wichtig. Die hatten Angst, dass sie sonst als Wiedergänger herumgeistern oder für ewig im Fegefeuer schmoren. Beides keine schönen Aussichten, erst recht nicht für mittelalterliche Gemüter.«

»Wie lange geben Sie den beiden Toten denn? Sind die wirklich aus dem Mittelalter?« Anne stolperte neben ihm her, um ihm noch ein paar Informationen zu entlocken.

»Keine Ahnung, ob sie wirklich so alt sind. Das müsste ich genauer untersuchen. Hundert Jahre auf jeden Fall, vielleicht sogar dreihundert oder vierhundert. Wenn Sie mehr drüber wissen wollen, dann rufen Sie doch in den nächsten Tagen mal bei den Archäologen in der Uni an.« Er musterte sie genauer. »Sie sind die Volontärin bei der Donaupost, richtig?«

Anne lächelte. »Seit dem 1. Mai nicht mehr. Ich bin jetzt Redakteurin in der Lokalredaktion.« Sie zückte ihre neue Visitenkarte und überreichte sie voller Stolz.

Der Mediziner sah sich die Karte an. »Anne Thalmeyer. Dann gratuliere ich zu Ihrem neuen Job. Wir werden uns sicher öfter begegnen.« Er steckte die Karte achtlos in seine Hosentasche und winkte zum Abschied.

Anne sah ihm hinterher. Seine Glückwünsche klangen in ihren Ohren nicht ganz echt. Hielt er die Stelle bei der Donaupost womöglich für keine gute Sache? Immerhin hatte sie mit ihren erst vierundzwanzig Jahren einen Festvertrag ergattert und wurde nach Tarif bezahlt. Das hatten nur wenige ihrer Mitstudenten geschafft.

Sie lief die wenigen Schritte zurück zu dem mit gelben Bändern markierten Fundort. Zum ersten Mal an diesem Nachmittag stand sie allein an der Grube mit den beiden Skeletten. Sie trat nahe an den Rand und spähte noch einmal hinunter. Täuschte sie sich, oder umklammerte die eine knöcherne Hand einen Gegenstand? Mit der Handykamera zoomte sie die Hand heran. Vielleicht konnte sie ja später auf dem Bildschirm ausmachen, was das war. Sie drückte noch einige Mal auf den Auslöser.

Dann sah sie sich suchend nach dem Polizisten um. Aber der sprach jetzt aufgeregt mit den Schatzsuchern, die am späten Vormittag die beiden Toten gefunden und bei der Polizei gemeldet hatten. Offensichtlich hatten die schweren Gewitter der letzten Tage die Knochen aus dem Erdreich freigespült. So reimte sie sich das zumindest aus den knappen Aussagen der Männer zusammen.

Die Sonne sank tiefer zwischen den Bäumen. Es wurde Zeit, in die Redaktion zurückzukehren. Der zufällige Fund der Skelette war dem Chef der Lokalredaktion sicher eine längere Geschichte wert. So viel passierte in Eichstätt an einem durchschnittlichen Dienstag wie diesem schließlich nicht. Widerwillig machte sie sich auf den Rückweg. Zu gerne hätte sie noch zugesehen, was ein Archäologe mit den beiden Skeletten anstellte. Wurden sie einfach nur für ihren letzten Transport ins Archiv eingepackt? Oder passierte noch etwas hier vor Ort?

Sie nahm ihre Tasche und ging durch das unwegsame Gelände zurück zu ihrem Auto. Ihre Gedanken eilten voraus, und sie überlegte schon, wie sie den Artikel anfangen könnte. Vielleicht mit einem Zitat des Rechtsmediziners? Oder doch lieber mit einer Beschreibung, wie die beiden Toten gefunden worden waren?

Anne liebte ihren Beruf. Schreiben, das war ihre Begabung, das hatte sie seit den ersten Artikeln gewusst, die sie für die Schülerzeitung verfasst hatte. Die Welt als Reporterin zu bereisen, mit einer Sonnenbrille im Haar und den wildesten Geschichten auf der Spur – so hatte sie in der Abiturzeitung ihre Zukunft beschrieben. Die Stelle bei der Donaupost war nur der erste Schritt in die richtige Richtung. Davon war sie überzeugt.

Sie setzte sich ans Steuer des klapprigen Golf, der als Dienstfahrzeug der Redakteure diente, und das schon einige Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte. Doch die Rostlöcher waren ihr egal. Er brachte sie überallhin – was ihr mit dem eigenen Fahrrad schwergefallen wäre.

Schwungvoll fuhr sie den schmalen Waldweg entlang, als ihr ein anderes Auto entgegenkam. Nur wenige Zentimeter voneinander entfernt kamen die beiden Fahrzeuge zum Stehen. Anne forderte den Fahrer des anderen Wagens wild gestikulierend auf, zurück in Richtung Straße zu fahren, aber der reagierte nicht.

Entnervt sprang sie aus dem Auto. »Können oder wollen Sie nicht rückwärtsfahren? Ich habe zu arbeiten.«

Der Fahrer sah sie aus freundlichen grauen Augen überrascht an. »Ich auch. Und ich muss schnell zu meinem Arbeitsplatz, bevor es dunkel wird. Die Ausweichstelle ist doch nur ein paar Meter hinter Ihrem Auto – das geht viel schneller, als wenn ich durch den halben Wald rückwärts bis zur Straße fahre. Meinen Sie nicht?«

Seine Freundlichkeit nahm Anne den Wind aus den Segeln. »Wollen Sie zu den beiden Skeletten?«, fragte sie neugierig.

Der Mann nickte. »Und wie gesagt: Es ist eilig. Wenn die Knochen vor der Nacht nicht geschützt werden, dann wird die Grabungsstelle womöglich verwüstet.«

»Wer würde denn so was machen?« Jetzt war sie wirklich überrascht.

»Tiere.« Seine Stimme wurde ungeduldig. »Es gibt jede Menge kleine und große Nager, die gern einen Knochen verschleppen oder zerbeißen. Wenn Sie also jetzt die Güte hätten, ein kleines Stück zurückzufahren?«

Verlegen zückte Anne zum zweiten Mal an diesem Tag ihre Visitenkarte. »Ich bin Redakteurin bei der Donaupost und soll über den Skelettfund schreiben …«

Er nahm die Karte an sich, ohne einen Blick darauf zu werfen. »Schön. Dürfte ich jetzt bitte …?«

Anne sprang ins Auto und holperte rückwärts über den engen Waldweg. Es dauerte ein Weilchen, bis sie einen Platz zum Ausweichen fand und den Archäologen vorbeilassen konnte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie ihn gar nicht nach seinem Namen gefragt hatte. Ein Fehler, aber wahrscheinlich war das auch nicht so wichtig. Wen interessierte schon, welcher Archäologe sich jetzt mit den Knochen beschäftigte?

So schnell es ging, machte sie sich zum zweiten Mal auf den Weg. Es wurde Zeit, dass sie ihren Artikel schrieb.

2

»Die Liebenden?« Gerhard Kuhn sah seine jüngste Redakteurin stirnrunzelnd an. »Gehst du da nicht ein bisschen weit? Bloß weil sie gemeinsam in einer Grube liegen, heißt das noch lange nicht, dass sie auch zusammen durchs Leben gegangen sind.«

Anne lächelte verlegen. »Ich fand, sie sahen so aus. So, als ob sie sich immer noch im Arm halten würden.« Sie deutete auf das Bild. »Das wird auch jeder Leser so sehen. Außerdem werden die beiden nicht widersprechen oder uns wegen der Verletzung ihrer Privatsphäre verklagen.«

»Na, vielleicht hast du recht. So kriegst du wenigstens ein bisschen Gefühl in so eine dröge Geschichte über alte Knochen.« Er runzelte die Stirn. »Aber dann kannst du das nicht einfach so stehen lassen. Eine Liebesgeschichte muss immer auch ein Happy End haben. Mach doch jetzt eine kürzere Geschichte über den Skelettfund – und dann kümmerst du dich um die Geschichte dahinter. Wie lange liegen die da? Gibt es noch mehr Tote? Woran sind die Menschen gestorben? Liegen die Wälder entlang der Altmühl voller Skelette, und jeder Spaziergänger muss fürchten, dass er über solche Knochen stolpert? Schau einfach, was du alles herausfinden kannst. Vielleicht wird das ja eine schöne Sommergeschichte für eine komplette Seite.« Er lächelte ihr aufmunternd zu. »Dann leg mal los! Ist sonst alles in Ordnung bei dir?«

Anne nickte nur und sah ihn etwas überrascht an. »Klar, was sollte nicht in Ordnung sein?«

»Na ja – so ein Haus will ja auch betreut werden.«

Sie winkte ab. »Es ist doch nur ein kleines Häuschen. Meinen größten Kampf führe ich im Garten gegen wuchernde Brombeeren und Schnecken, die mein bisschen Gemüse noch mehr lieben als ich. Aber ansonsten ist alles tadellos, es gibt keinen Grund zur Klage. Mach dir keine Sorgen.«

Damit verschwand sie etwas übereilt aus dem Zimmer des Chefredakteurs. Er war ein Freund ihrer Eltern gewesen, die vor drei Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren. Ständig machte er sich Sorgen, dass sie allein nicht zurechtkäme und dass das Hexenhäuschen an der Altmühl eines Tages zusammenbrechen würde, während sie halb verhungert in der Küche saß. Oder so ähnlich. Bis heute war sie sich nicht sicher, ob er ihr das Volontariat nur wegen des tragischen Tods ihrer Eltern gegeben hatte – oder weil er von ihrem Talent überzeugt war. Und jetzt auch noch der Festvertrag: Wollte Kuhn sie gut versorgt wissen?

Doch es hatte keinen Sinn, immer wieder über die gleichen Fragen nachzugrübeln. Stattdessen änderte sie im Redaktionssystem die letzten Kleinigkeiten im Artikel über die beiden Liebenden, loggte sich dann aus und machte sich mit dem Fahrrad auf den Weg in ihr Häuschen, das unweit des Zentrums direkt am Fluss lag. Es war umgeben von einer Hecke und hohen Bäumen. Keiner der Besucher des Freibades auf der Insel gegenüber vermutete, dass hier jemand wohnte. Das Grundstück war schon so lange in Familienbesitz, dass es keine Urkunden mehr über den Kauf gab. Vor etwas mehr als hundert Jahren hatte ihr Urgroßvater das kleine Haus darauf bauen lassen. Im Erdgeschoss gab es einen großen Raum und eine geräumige Küche, im oberen Stockwerk zwei Zimmer und das Bad. Das war alles. Offensichtlich hatte er nur einen kleinen Zufluchtsort für sich und vielleicht auch noch für seine Frau gebaut. Für Kinder war in diesem kleinen Häuschen wirklich kein Platz. Oder höchstens für eines: Anne hatte den Verdacht, dass sie nur deswegen ein Einzelkind war, weil ihre Eltern lediglich ein Kinderzimmer hatten.

Doch an diesem Abend hatte Anne keinen Blick für die schöne Lage ihres Elternhauses. Stattdessen schob sie das Fahrrad in den kleinen Schuppen, der von Johannisbeersträuchern umgeben war. Gähnend erhob sich unter einem der Sträucher die braune Mischlingshündin, die früher ihrer Mutter gehört hatte. Tinka streckte sich ausgiebig und kam dann freundlich schwanzwedelnd zu ihrem jungen Frauchen, um sich ein wenig streicheln zu lassen.

Dann öffnete Anne die Haustür, die sie im letzten Sommer leuchtend blau gestrichen hatte, und stand bald darauf in der Küche. Helles Holz, Kräuter auf der Fensterbank und Sonnenflecken auf den Fliesen. Sie ließ sich für einen kurzen Augenblick auf einen der alten Küchenstühle fallen und schloss die Augen.

Um sie sofort wieder zu öffnen. In ihre Hand hatte sich eine feuchte Hundeschnauze geschoben. Tinka wartete immer den ganzen Tag geduldig im Garten auf sie, aber jetzt forderte sie ihr Recht. Und es gab keinen Grund, einfach hier herumzusitzen und der alten Standuhr beim Ticken zuzuhören. Mit einem kleinen Seufzer ging Anne ins Badezimmer, schlüpfte aus ihren Kleidern und zog ihre alte Laufhose und ein T-Shirt an. Dann schlüpfte sie in die leuchtend gelben Schuhe. Sie warf einen letzten Blick in den Spiegel und war zufrieden mit dem, was sie da sah.

Kurz geschnittene, leuchtend rote Locken und dunkle Augen. Gebräunte Haut, die verriet, dass sie sich viel draußen aufhielt, und ein Haufen Sommersprossen, die sich unregelmäßig über ihr Gesicht und ihre Arme verteilten.

Anne lächelte ihrem Spiegelbild aufmunternd zu und stöpselte die Kopfhörer in die Ohren, bevor sie sich auf ihre übliche Abendrunde begab. Eine halbe Stunde lief sie jeden Tag nach der Arbeit, egal ob es Winter oder Sommer war – das war sie Tinka schuldig, die schwanzwedelnd neben ihr herlief.

Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie mit dem Laufen angefangen hatte: Es war der Abend nach der Beerdigung ihrer Eltern gewesen. Sie war nach der Trauerfeier nach Hause gekommen und hatte wie gelähmt auf einem der Stühle gesessen.

Sport war damals ihre Rettung gewesen – und Tinka der Ansporn. Vermutlich waren deren Vorfahren ausdauernde Jagdhunde gewesen, die sich mit einem Leben als Schoßhund nur schwer anfreunden konnten.

Wie jeden Tag bog sie von der Westenstraße auf den Ulrichsteig ein und rannte bergauf. Die Musik in ihren Ohren gab den Rhythmus vor, und sie spürte, wie ihr Herz unter der Anstrengung immer schneller schlug. Ob sie im Herbst wirklich den Halbmarathon wagen sollte? Fit genug dafür war sie auf jeden Fall. Sie steigerte das Tempo, als der Weg allmählich ebener wurde.

Erst unter der Dusche fielen ihr wieder die beiden Skelette ein. Der Rechtsmediziner hatte sich nicht einmal darauf festgelegt, dass es wirklich ein Mann und eine Frau waren. Vielleicht würde man herausfinden, dass es sich um zwei Frauen oder zwei Männer handelte? Um Mutter und Tochter? Einen Neffen und seinen Onkel? Womöglich war es ein lesbisches oder schwules Pärchen, dachte Anne lächelnd. Dann würde die Sache sicher noch richtig Schlagzeilen machen. Aber es war seltsam: Sie war sich eigentlich vollkommen sicher, dass es ein Mann und eine Frau waren.

Anne rubbelte sich die Haare trocken und wickelte sich in das Handtuch, bevor sie zum Kühlschrank lief. Stirnrunzelnd musterte sie den Inhalt. Welker Salat, ein vertrocknetes Käsestück und eine halb leere Dose mit Oliven.

»Ich glaube, du musst dein Hundefutter mit mir teilen, Tinka«, murmelte sie. »Oder du isst dein Hundefutter und begleitest mich anschließend in den Supermarkt. Was ist dir lieber?«

Tinka legte den Kopf ein wenig schief und sah sie aufmerksam an. Wie so oft hatte Anne das Gefühl, dass die Hündin sie ziemlich gut verstand.

Eine Stunde später teilte sie sich den Schinken gerecht mit Tinka, während sie das Brot ganz alleine aufessen durfte. Den vertrockneten Käse und den welken Salat hatte sie auf den Komposthaufen geworfen. Vielleicht erbarmten sich ja die Schnecken oder wenigstens eine Maus der Reste.

Dann setzte Anne sich unter ihren Lieblingsplatz im Garten. Ein alter Schaukelstuhl stand unter einem ausladenden Apfelbaum. Von hier aus konnte man durch die Bäume hindurch den Fluss glitzern sehen. Sein Rauschen beruhigte auch den aufgeregtesten Gedanken. Mit der einen Hand kraulte Anne gedankenverloren ihre Hündin hinter den Ohren, in der anderen hielt sie ihre Teetasse. Sie erinnerte sich, dass sie als Kind eines Sommers ein kleines Zelt unter dem Apfelbaum aufschlagen durfte. Nachts hörte sie den Fluss und die Tiere, die im nächtlichen Garten herumschlichen. Als ihre Mutter nach dem Ende der Sommerferien darauf bestanden hatte, das Zelt wieder abzubauen, war Anne untröstlich gewesen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätte sie den Rest ihres Lebens an genau diesem Platz unter dem Baum verbracht. Sie erinnerte sich noch genau, wie ihre Mutter gelächelt und ihr liebevoll über die Wange gestreichelt hatte. »Du wirst eines Tages aus Eichstätt hinaus in die große weite Welt wollen, Anne. Und dann wirst du deinen Apfelbaum vergessen. Das ist häufig so mit den Dingen, die einem als Kind wichtig sind. Warte nur ab, bis du groß bist …«

Jetzt war sie groß, verdiente ihr eigenes Geld und saß immer noch am liebsten unter diesem Baum und sah nach oben in die Zweige oder auf den stetig fließenden Fluss. Ihre Mutter hatte sich geirrt: Manche Dinge änderten sich einfach nie.

Es war schon weit nach Mitternacht, als sie endlich aufstand und sich auf den Weg in ihr Bett machte.

3

Mühsam schleppte sie sich durch eine enge Gasse, auf der Unrat und Fäkalien lagen. Hinter ihr johlten ein paar zerrissene Gestalten. Anscheinend waren sie hinter jemandem her, der schreckliches Unrecht begangen hatte. Und diesen Menschen wollten sie töten. Jetzt.

Es dauerte einen Augenblick, bis ihr klar wurde, dass sie diejenige war, um die es hier ging. Sie hatte die Regeln dieser Leute verletzt und sollte jetzt mit ihrem Leben bezahlen. Verzweifelt versuchte sie, ihre Beine schneller zu bewegen, aber sie schienen in dem stinkenden Dreck der Straße festzukleben, ließen sich kaum noch vom Boden lösen. Schweiß lief ihr die Schläfen hinab, während sie unter Aufbietung der letzten Kräfte ein Bein vor das andere setzte. Warum nur war sie so schwerfällig? Sonst rannte sie den Menschen doch einfach davon – aber dieses Mal wollten ihre Beine den verzweifelten Befehlen nicht gehorchen.

Sie spürte, wie ihr die Sinne schwanden, und schloss die Augen, während sie sich in den Dreck sinken ließ. Ihre Verfolger waren ganz nahe und johlten auf, als sie sie endlich erwischt hatten. Schon spürte sie die ersten Fäuste und Tritte, dann wurde alles um sie herum dunkel.

Schweißnass fuhr Anne in ihrem Bett auf und sah sich panisch um. Der digitale Wecker auf dem Nachttisch zeigte 1:14 Uhr und verriet ihr, dass sie nur eine knappe Stunde geschlafen hatte. Irgendwo vor dem Fenster schrie ein Käuzchen, dann war es wieder still, und sie hörte nur ihren eigenen hektischen Herzschlag.

Um sich zu beruhigen, stand sie auf und holte sich ein Glas Milch aus dem Kühlschrank. Beunruhigt sah sie aus dem Fenster. Was für ein Albtraum! Ihre Verfolger hatten ausgesehen, als wären sie geradewegs der Hölle entstiegen. Kopfschüttelnd ging sie wieder zurück in ihr Bett. »Ich habe einfach eine zu lebhafte Fantasie«, sagte sie, um sich selbst zu beruhigen. Sie wunderte sich, wie unsicher und zaghaft ihre Stimme klang.

Es dauerte lange, bis sie wieder einschlafen konnte. Sobald sie die Augen schloss, tauchten die Fantasiegestalten erneut auf, verfolgten sie und machten ihr Angst. Vor dem Fenster begannen schon die ersten Vögel zu singen, als sie endlich in einen tiefen und traumlosen Schlaf fiel.

Sie hatte das Gefühl, eben erst eingeschlummert zu sein, als der Wecker sie zum nächsten Arbeitstag rief. In der Helligkeit des frühen Morgens kam ihr die Nacht wie ein Schatten vor, an den sie sich kaum erinnerte. Zum Frühstück machte sie sich ein Müsli mit frischen Früchten und eine große Tasse Kaffee. Tinka bekam ein wenig Trockenfutter in ihren Napf und durfte hinaus in den Garten. Genüsslich trank Anne den ersten Schluck und warf einen Blick in ihre Zeitung.

Auf der ersten Seite des Lokalteils suchte sie vergeblich nach der Geschichte von den beiden Skeletten. Offensichtlich hatte ihr Chefredakteur die Story doch nicht so aufregend gefunden und an den prominenten Platz lieber einen Artikel über den Erzieherinnenmangel in den Kindertagesstätten gesetzt. Lebende waren wichtiger als Tote. Vor allem dann, wenn niemand um die Toten trauerte. Erst drei Seiten später fand sie ihren Text, der zu einer einspaltigen Meldung zusammengestrichen worden war.

Enttäuscht machte Anne einen kurzen Morgenspaziergang mit Tinka und machte sich dann auf den Weg in die Redaktion. Hier wartete gleich die nächste Überraschung auf sie. An ihrem Schreibtisch saß ein Mann. Ein sehr junger, sehr gut aussehender Mann.

»Hallo, ich bin Fynn!« Er streckte ihr die Hand entgegen und drückte so fest zu, als wollte er ihr all seine Kraft beweisen.

»Ich bin der neue Volontär. Dein Nachfolger sozusagen.« Er senkte seine Stimme ein wenig und bemühte sich etwas zu sehr um einen verschwörerischen Ton. »Wenn du also irgendwelche Tipps hast, was ich am besten tun und was ich unbedingt lassen sollte, dann verrat es mir einfach.«

Anne deutete kühl auf den Platz, an dem er saß. »Fürs Erste reicht es, wenn du dich nicht an meinen Arbeitsplatz setzt und die Finger von meinem Computer lässt. Dann hast du die schlimmsten Fehler für den Anfang schon einmal vermieden.«

»Ich habe nichts angerührt, versprochen! Und die Schubladen habe ich auch nicht geöffnet.«

»Das ist auch gut so. Ich bin nämlich ziemlich ordentlich und räume am Ende des Tages alle Unterlagen in die Schubladen. Damit ist der Schreibtisch allerdings längst nicht zur feindlichen Übernahme freigegeben.«

Anne musterte ihn genauer. Hellblonde Haare, grüngraue Augen, gebräunte Haut und ziemlich groß.

»Was hast du denn bisher schon gemacht?«, fragte sie etwas versöhnlicher, während Fynn seine Tasche, sein Handy und seine Jacke hastig wieder von ihrem Schreibtisch nahm und sich nach einem Schreibtisch umsah, der wirklich frei war.

»Ich war an der Uni und habe ein paar Praktika gemacht. Im Lokaljournalismus kann ich am ehesten etwas für die Zukunft lernen, habe ich mir gedacht. Der Chefredakteur einer Münchner Zeitung hat mir das empfohlen – und sogar in Aussicht gestellt, dass ich nach meinem Volontariat zu ihm zurückkommen darf.«

Er sah Anne so stolz an, dass sie fast Mitleid mit ihm hatte.

»Wenn er dir das nicht schriftlich gegeben hat, dann würde ich mich nicht darauf verlassen«, versuchte sie seine Begeisterung etwas zu dämpfen. »Und jetzt komm erst einmal mit in die Konferenz, vielleicht darfst du ja heute schon etwas schreiben.«

Fragend hob Fynn seine Tasche und seine Jacke auf. »Und wo soll ich mich hinsetzen?«

Herzlos deutete Anne auf den kleinen Schreibtisch in der Ecke, an dem sie zwei Jahre zugebracht hatte. »Volontäre sitzen da. Für einen großen Schreibtisch muss man sich erst mal eine Festanstellung erkämpfen.«

Es folgte ein langweiliger Tag, an dem nichts passierte. Aber auch gar nichts. Nicht einmal der sprichwörtliche Kaninchenzüchterverein wollte ein Jubiläum feiern. In ihrer Verzweiflung rief Anne bei dem Rechtsmediziner an. Vielleicht gab es wenigstens etwas Neues über die beiden Skelette. Oder er konnte ihr den Namen und die Kontaktdaten von dem Archäologen geben, der den Fall übernommen hatte.

Aber auch hier stieß sie nur auf eine genervte Assistentin, die ihr erklärte, dass die beiden Skelette wirklich nicht oben auf der Dringlichkeitsliste stünden. »Es gibt Tote mit Angehörigen, echte Schicksale, verstehen Sie? Die haben ja wohl Vorrang vor den alten Knochen, bei denen wir wahrscheinlich sowieso nichts Neues erfahren.«

Eine gute Journalistin ließ sich so schnell nicht abwimmeln. »Das verstehe ich. Könnten Sie mir trotzdem die Kontaktdaten vom Archäologen geben, der die beiden übernommen hat?«

»Rufen Sie halt im Institut für Archäologie an«, erklärte die Assistentin mit eisiger Stimme. »Das werden Sie ja wohl selber hinkriegen.«

Enttäuscht legte Anne auf und suchte im Internet die entsprechende Nummer heraus. Dort erfuhr sie, dass die Archäologen den Fall gleich an den Kollegen Lukas Marburg vom Historischen Institut weitergegeben hatten. Leider erreichte sie ihn weder unter seiner Privatnummer noch über seinen Anschluss an der Universität. Im Institut meldete sich immerhin ein Anrufbeantworter, dessen Stimme sie vom Vortag wiedererkannte. Freundlich bat Marburg den Anrufer darum, seine Telefonnummer aufs Band zu sprechen, und versprach sich zurückzumelden, »sobald es meine Verpflichtungen zulassen«.

Heute würde sie also nichts mehr in Erfahrung bringen.

An Tagen wie diesen war sie unendlich weit entfernt von ihrem Traumberuf, wie sie ihn sich einst ausgemalt hatte. Keine Spannung, keine Hetze, keine Aufregung, sondern nur lähmende Langeweile. Wenig inspiriert schrieb sie ein paar Polizeiberichte über gestohlene Fahrräder und zu schnelle Autofahrer um.

»Ist es hier immer so tot?«, wollte Fynn von ihr wissen. Er lehnte sich zurück, dehnte sich ausgiebig und ließ seine Finger knacken. Offensichtlich war es ihm egal, dass einige der Kollegen ihn hören konnten.

»Nein«, beruhigte Anne ihn. »Es gibt auch Tage, an denen richtig die Hütte brennt. Und das ist auch gut so, sonst würden wir wahrscheinlich anfangen, selber die Brände zu legen und einzubrechen – nur damit wir auch mal etwas Aufregendes zu berichten haben.« Sie sah ihn neugierig an. »Wie war es denn in München? Große Stadt, große Geschichten?«

»Klar! Das war schon toll. Wenn man das Gefühl hat, auch am großen Rad drehen zu dürfen … So richtig am Puls des Geschehens.«

»Was war denn deine größte Geschichte?«, wollte Anne wissen.

»Ich war beim FC Bayern, beim Training! Und da habe ich sogar mit dem Trainer gesprochen!« Er platzte fast vor Stolz.

»Echt? Pep Guardiola? Ist der wirklich so nett?« Anne war beeindruckt.

»Na ja – es war nicht der Trainer, sondern der Torwarttrainer. Toni Tapalovic´. Echte Legende!«

»Puh, von dem habe ich noch nie gehört. Fußball ist nicht so meins. Was hat er denn erzählt?«, wollte Anne wissen. »Lass mich die Geschichte doch mal lesen, die du damals geschrieben hast. Hätte ich ja nie gedacht, dass man in München Praktikanten für so etwas losschickt.«

Verlegen fuhr Fynn sich durch die Haare. »Wurde nie veröffentlicht«, gab er zu. »An dem Tag war wohl was Wichtigeres passiert …« Er sah auf die Uhr. »Wann ist denn hier Dienstschluss?« Offensichtlich wollte er von seiner etwas missglückten Prahlerei ablenken.

»Kommt immer darauf an, was an Terminen ansteht«, erklärte Anne. »Aber heute ist nichts mehr los, wir können also etwa um sechs gehen.«

»Sollen wir noch was trinken gehen?« Fynn sah sie auffordernd an.

Es konnte nicht schaden, wenn sie sich mit dem Volontär gut stellte, beschloss Anne. »Klar, aber nur für einen kurzen Absacker. Ich möchte noch laufen gehen.«

»Laufen?« Fynn musterte sie unverhohlen. »Das hast du doch gar nicht nötig. Machst du das regelmäßig?«

»Ja. Mein Hund wäre sonst unglücklich. Und es geht ja wohl nicht darum, nur dann Sport zu machen, wenn man es nötig hat, oder?«

Wenig später gingen sie in die kleine Pizzeria um die Ecke. Anne bestellte sich eine Apfelschorle, während Fynn ein »großes, kaltes Bier« orderte. Er sah sie fragend an, als die Kellnerin die Gläser vor ihnen abstellte. »Bist du nicht zu jung, um nur alkoholfreie Sachen zu trinken?«

»Das mache ich ja nur vor dem Laufen. Sport und Alkohol – das verträgt sich einfach nicht. Aber lass dir von mir nicht den Appetit verderben«, sagte sie grinsend.

Nach einem großen Schluck Bier erzählte Fynn ungefragt von seinen Träumen: Er wollte ein Journalist werden, der die ganz großen Skandale aufdeckte. Der in Talkshows eingeladen wurde, weil er als Einziger die Zusammenhänge durchschaute. Ein echter Experte eben. Eichstätt war für ihn wirklich nur ein Zwischenstopp, verordnet von einem Chefredakteur, der den ehrgeizigen Praktikanten erst einmal zwei Jahre in der Provinz sehen wollte.

Ganz nebenher erzählte Fynn von seiner Exfreundin und den Gründen, warum sie nicht mehr zusammen waren. Und von seinen Reisen durch die Welt. Und von seinem Blog, auf dem er regelmäßig ebendieser Welt mitteilte, was er von ihr hielt. Wahrscheinlich war das der Welt ziemlich egal, dachte Anne, sie behielt diese Erkenntnis aber lieber für sich.

Es war schon dunkel, als sie sich endlich von dem ständig redenden Fynn loseisen konnte. Sie winkte ihm zum Abschied zu und radelte schnell nach Hause. Tinka musste heute auf ihren Abendlauf verzichten, es war einfach schon zu dunkel.

Ein kleiner Spaziergang – für mehr reichte es nicht, bevor Anne todmüde ins Bett fiel. Sie lächelte, als sie an den Abend mit Fynn zurückdachte. Es mochte ja sein, dass er etwas zu viel redete. Aber er war eindeutig unterhaltsam. Sie hatte sich an diesem Abend keine einzige Sekunde gelangweilt.

Schreie. Feuer. Menschen mit blutenden Wunden, weinende Kinder und zusammenbrechende Mauern. Sie konnte sich vor dem Elend nicht verstecken, nirgends.

Schweißnass wachte Anne auf, ihr Herz raste und ihre Hände waren zu so festen Fäusten geballt, dass es schmerzte, sie wieder zu öffnen. Sie zwang sich, ruhiger zu atmen und den friedlichen Geräuschen der Nacht zu lauschen, der Eule und dem Fluss. Aber es half nichts. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, tauchten wieder diese grauen Gestalten auf, die sie verfolgten und an ihrer Kleidung zerrten. Sie bedrohten sie mit erhobenen Händen und schrien auf sie ein.

Es war noch lange vor der Morgendämmerung, als sie endlich aufgab und in den Garten ging. Vielleicht würde ihr Platz unter dem Apfelbaum dafür sorgen, dass sie ein klein wenig Frieden fand. Was war nur mit ihr los? Ihr ganzes Leben hatte sie noch keinen Albtraum gehabt – zumindest konnte sie sich nicht daran erinnern. Und jetzt quälten sie schon die zweite Nacht in Folge diese Bilder von Tod und Schrecken. Am schlimmsten war, dass sie in ihren Träumen dem Grauen nicht ausweichen konnte, sondern ihm hilflos ausgesetzt war. Hatte das etwas zu bedeuten?

Den ganzen Tag kämpfte sie mit lähmender Müdigkeit. Sie quälte sich durch ein langweiliges Interview mit einem jungen Uniprofessor, der etwas über sein Spezialgebiet erzählen sollte – irgendetwas mit einem völlig neuen Ansatz in Sachen Wirtschaftswissenschaften. Dabei wurde sie den Verdacht nicht los, dass die Langeweile allein ihrer Müdigkeit geschuldet war. Ihr fielen einfach keine tollen Fragen ein, da half auch kein Espresso. Ihren Vorsatz, Lukas Marburg noch einmal anzurufen, vergaß sie an diesem Nachmittag vor lauter Müdigkeit.

Der einzige Lichtblick war Fynn, der sich kurz vor der Mittagspause unbekümmert auf ihren Schreibtisch setzte.

»Na, bist du gestern wirklich noch gelaufen?«

Anne schüttelte den Kopf. »Nein. Im Dunkeln stolpere ich nur über die Steine und Äste im Wald. Außerdem finde ich es unheimlich. Als Frau alleine im Wald … Ich will nicht für Schlagzeilen sorgen, sondern sie lieber selbst schreiben.«

Fynn lachte. »Das beruhigt mich. Ich dachte schon, du bist Superwoman. Kein Alkohol, Sport, Bilderbuchkarriere …«

Abwehrend hob Anne die Hände. »So aufregend ist das auch wieder nicht. Und ich habe gestern schon gesagt, dass ich nicht generell jedes Bier ablehne. Nur wenn ich noch Sport mache – und das hatte ich gestern wirklich vor –, bin ich ein bisschen vernünftig.«

»Und was machst du jetzt? Hast du einen Tipp für hungrige Volontäre in der Mittagspause?«

Lächelnd fuhr Anne ihren Computer herunter. »Dann komm doch mal mit. Ich zeige dir den besten Mittagstisch der Stadt. Du musst allerdings eine Schwäche für das Essen hier haben. Ein klein wenig fleischlastig ist das nämlich schon …«

»Fleisch ist gesund!«, verkündete Fynn, schnappte seine Jacke und folgte ihr.

Mit seinem unbekümmerten Erzählen lenkte er Anne in der nächsten Stunde zumindest von ihren Erinnerungen an die nächtlichen Albträume ab. Er schien ehrlich an ihr interessiert zu sein und fragte sie immer wieder nach ihrer Zeit als Volontärin bei der Donaupost.

»Was war denn deine schönste Reportage? Und wann hat der Chef beschlossen, dass er dich nach dem Volontariat behalten will?«

»Keine Ahnung, wann er das beschlossen hat. Vielleicht schon bevor ich angefangen habe. Er war mit meinen Eltern befreundet, weißt du.«

»Wieso denn ›war‹?« Fynn sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Ist eine lange Geschichte«, winkte Anne ab. »Aber meine beste Geschichte in den beiden Jahren, an die erinnere ich mich immer noch. Das war der Tag, an dem der Chef mich in einen Kindergarten geschickt hat, wo eine Spende oder so gefeiert werden sollte. Dabei ist mir ein kleines Mädchen aufgefallen. Dunkle Haare, dunkle Augen, saß schüchtern in der Ecke. Ich habe sie angesprochen, und sie konnte genügend Deutsch, um mir ihre Geschichte zu erzählen: von ihrer Flucht aus Syrien, ihrer Ankunft in einem Lager, wie es ihrer Familie heute geht … Das war meine schönste Geschichte.« Anne sah auf ihre Uhr. »Und jetzt wird es Zeit, dass wir in die Redaktion zurückgehen. Ich möchte doch nicht den Volontär von der Einhaltung der Arbeitszeiten abhalten!«

Gemeinsam gingen sie zurück in die Redaktionsräume, und jeder machte sich an seinem Schreibtisch wieder an die Arbeit. Innerhalb weniger Minuten spürte Anne, wie die lähmende Müdigkeit zurückkehrte. Sie sehnte sich nur noch nach ihrem Bett.

Trotzdem zog sie sich nach der Arbeit entschlossen ihre Laufsachen an. Wenn sie nur müde genug war, dann würden die Geister der Nacht sicherlich fernbleiben. An diesem Abend reichten ihr die üblichen dreißig Minuten nicht. Sie rannte eine komplette Stunde und ging im Anschluss noch ins Freibad. Dort kraulte sie zehn Bahnen und duschte anschließend eiskalt.

Zum Abendessen – Tomaten mit Mozzarella – trank sie ein Weißbier. Hopfen sollte schließlich beruhigend wirken. Und Alkohol sedierte. Als sie ihren Kopf aufs Kissen legte, war sie fest überzeugt, dass die grauen Zombies heute keine Chance haben würden.

Sie musste sie einfach besiegt haben.

Ein friedlicher Wald, sie ging summend hindurch. Vögel sangen, und in den Blumen suchten Bienen nach Nektar. Es roch nach Harz und frischem Gras. Plötzlich sprang hinter einem Baum ein hellblonder Mann hervor, der in der rechten Hand eine Axt hielt. Er packte sie am Arm und riss sie zu Boden. Mit seinem schlechten Atem näherte er sich ihrem Gesicht, während er grob nach ihrer Brust griff. Als sie sich wehrte, fing er an, sie zu würgen. Sie bekam keine Luft mehr, und ihr wurde schwarz vor Augen …

Nach Luft japsend wachte sie auf. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in die Dunkelheit. Was war das? Welche Geister suchten sie so hartnäckig heim? Es konnte doch nicht sein, dass sie gar keine Ruhe mehr finden konnte?

Sie wagte nicht, sich wieder hinzulegen. Heute Nacht nicht. Stattdessen stand sie auf und schaltete ihren Laptop ein. Den Rest der Nacht lenkte sie sich mit einem Spiel ab, in dem es darum ging, bunte Bälle in Dreierpakete zu sortieren, damit sie explodierten. Genau das, was sie brauchte: Eine etwas dämliche Beschäftigung, bei der sie der Schlaf nicht übermannte.

Als es hell wurde, brannten ihr die Augen, und sie erschrak über ihr Spiegelbild: Tiefe Ringe unter den rot geäderten Augen, die Haut war so blass, dass die Sommersprossen dunkel leuchteten. Weder die kalte Dusche noch der Morgenkaffee taten ihre Wirkung. Zum Glück war heute Freitag. Wenn sie noch diesen einen Tag durchhielt, war Wochenende und sie konnte sich endlich erholen.

Auf ihrem Schreibtisch fand sie einen Zettel, den offensichtlich die Redaktionsassistentin geschrieben hatte. »Lukas Marburg bittet um Rückruf!« Dahinter hatte sie eine Handynummer gekritzelt. Der Historiker, den sie auf dem Anrufbeantworter um einen Rückruf gebeten hatte – und auf den sie dann keinen weiteren Gedanken verschwendet hatte.

Sie griff nach dem Telefon und wählte die Nummer. Der Wissenschaftler meldete sich schon nach dem zweiten Klingelton mit einem freundlichen: »Hallo!«

»Grüß Gott. Ich bin Anne Thalmeyer …«

»Richtig, die junge Redakteurin von der Donaupost. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann wollen Sie wissen, was ich mit den beiden Skeletten gemacht habe.«

»Ganz genau.«

»Dann kommen Sie doch einfach an den Fundort. Da kann ich Ihnen alles genau erklären. Vielleicht ist das ja spannend für Ihre Leser?«

»Vielen Dank! Bin schon unterwegs!«

Anne packte ihre Sachen und stand auf.

»Was hast du denn vor?«, erkundigte sich Fynn neugierig.

»Nur nachsehen, ob aus meinen Skeletten noch eine richtige Geschichte wird. Nichts für einen echten Starreporter aus der großen Stadt«, konterte sie grinsend, schnappte sich den Golfschlüssel und verschwand.

4

Zum Glück hatte es seit vergangenem Dienstag nicht geregnet. Der Waldweg war trocken und ließ sich leicht befahren. Anne parkte ihren Wagen neben dem von Marburg. In dem hohen Gras hatte sich bereits ein erkennbarer Pfad zur Fundstelle gebildet, dem sie nun folgte.

Auf der Lichtung blieb sie wie angewurzelt stehen. Hier hatte sich in den letzten paar Tagen so ziemlich alles verändert. Über die Grube war ein weißes Zeltdach gespannt, das die Fundstätte wohl vor Regen schützen sollte. Oder die Wissenschaftler vor der Sonne.

Neugierig trat sie näher.

In der Grube hockten ein Mann und eine Frau, die in ihre Arbeit vertieft waren. Mit kleinen Pinseln streichelten sie über die bleichen Knochen. Es sah fast zärtlich aus.

»Guten Tag!«, rief Anne, um auf sich aufmerksam zu machen.

Der Kopf des Mannes flog herum, er sah einen Moment verwirrt aus, bevor er sie erkannte und sich ein wenig ächzend erhob. »So schnell habe ich gar nicht mit Ihnen gerechnet«, erklärte er entschuldigend. »Aber schön, dass Sie da sind!«

»Ich muss mich bedanken«, sagte Anne. »Nett, dass Sie mich zurückgerufen haben, obwohl Sie so viel zu tun haben.« Neugierig versuchte sie an ihm vorbei in die Grube zu sehen. »Was machen Sie denn gerade?«

»Wir legen die Knochen vollständig frei. Damit wir dabei nichts zerstören und auch nichts übersehen, machen wir das mit Spaten und Pinsel.«

»Das ist doch unglaublich zeitaufwendig! Es würde viel schneller gehen, wenn Sie die Knochen einfach einpacken und dann in Ihrem Institut untersuchen würden!«

»Das mag sein. Aber schneller ist nicht immer besser. Zum einen sind die Knochen nicht komplett freigelegt. Wir müssen also noch Reste aus dem Erdreich befreien. Und dazu kommt natürlich unsere Hoffnung, dass es noch irgendwelche Beigaben in diesem Grab gibt, die uns verraten, aus welcher Zeit die Toten stammen und ob wir auf weitere Funde hoffen können.«