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Marianne J. Voelk

Daniel,
mein jüdischer Bruder

Eine Freundschaft im Schatten des Hakenkreuzes

Diese Geschichte beruht auf wahren Begebenheiten.
Verschiedene Schauplätze und Namen einzelner Personen mussten jedoch geändert werden, um die Privatsphäre zu schützen.

© 2016 Brunnen Verlag Gießen

www.brunnen-verlag.de

Umschlagfoto: FPG / Getty Images

Umschlaggestaltung: Wolfgang Staisch, ZERO Werbeagentur

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-7655-7387-3

Geleitwort

Wie kann in einer extrem judenfeindlichen Zeit wie der des Dritten Reiches eine Freundschaft zwischen einer christlichen und einer jüdischen Familie entstehen und bestehen bleiben?

Die Christin Ludwina und die Jüdin Mirjam freunden sich an, als Mirjam mit Ehemann und Stieftochter in der Nachbarsvilla einzieht, und bald werden die Männer in die freundschaftliche Beziehung integriert. Die Freunde nehmen einander wahr als das, was sie sind: als liebenswerte Menschen, und sie respektieren und schätzen sich gegenseitig.

Rosalie und der Nachbarsjunge Daniel werden 1933 im Jahr der Machtergreifung Hitlers geboren. Wie selbstverständlich schildert die Autorin, die sich später Marianne nannte, ihren Alltag, die Freundschaft zwischen den beiden Familien und deren Kindern, bis die nationalsozialistische Judenverfolgung immer stärker dieses Leben beeinträchtigt.

Die „Nürnberger Rassengesetze zum Schutz des Deutschen Blutes“, welche Juden den Umgang mit „Ariern“ unter Androhung empfindlicher Strafen untersagen, lassen die Familien jedoch Mittel und Wege finden, ihre Freundschaft weiterhin im Geheimen zu pflegen.

Von Kapitel zu Kapitel dramatischer nimmt die Autorin ihre Leser mit durch die Jahre der nationalsozialistischen Diktatur. Sie lässt uns die zunehmenden Schikanen gegen die jüdischen Freunde und das Grauen mit allem Schrecken, das ihnen widerfährt, wie auch ihre Hoffnung auf Rettung miterleben.

Marianne J. Voelk lässt ihre Leser daran teilhaben, wie der Krieg an der „Heimatfront“ erlebt wurde. Aus eigenem Erleben als Kind beschreibt sie aufrüttelnd die Hilflosigkeit der Bevölkerung gegenüber dem Bombenterror und den täglichen Kampf ums Überleben. Man begegnet Menschen, denen man lieber aus dem Weg gehen würde, und wird doch auch Zeuge tiefer Mitmenschlichkeit.

Antisemitismus wird als gefährliche Dummheit entlarvt. Aus der Sicht des Mädchens Rosalie wird deutlich, wie unbegreiflich, widerwärtig und unsinnig die damalige Judenhetze war. Das Buch muntert dazu auf, anderen ohne Vorurteil zu begegnen und sie wahrzunehmen, wie sie sind.

Es ist erstaunlich, wie das der Autorin ohne moralischen Zeigefinger gelingt. Es reicht aus, dass sie diese berührende Geschichte erzählt. Sie kann dazu beitragen, dass die Erinnerung an die Schikanen und die Gräueltaten der Nazis im Dritten Reich im Bewusstsein der Deutschen nicht verloren gehen.

Das Buch ist ein packendes und ergreifendes Werk. Ich wünsche der Autorin und dem Buch viel Erfolg.

Dekan Christopher Krieghoff

Evangelischer Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Franken e.V. in Nürnberg

Inhalt

Geleitwort

1. Rosalie – das Glückskind

2. Daniel – mein Freund

3. Rassengesetze

4. Die geheime Gartentür

5. Die Entführung

6. Besucher in der Reichskristallnacht

7. Ein verloren gegangenes Mädchen

8. Wissbegierige Kinder

9. Keine Schule für Daniel

10. Kriegsbeginn

11. SA-Führer vor der Tür

12. Noah in Flossenbürg

13. Diphtherie im Hause Rosenholz

14. Zuflucht im Baumhaus

15. Schmerzlicher Abschied

16. Daniels Flucht

17. Mein jüdischer Bruder

18. Getarnt und verborgen

19. Bomben über Nürnberg

20. Evakuierung aufs Land

21. Unser sonderbarer Lehrer

22. In Stalingrad vermisst

23. Jüdischer Pimpf

24. Aufdringlicher Verehrer

25. Daniels Enttarnung

26. Dr. Strettners „Ermordung“

27. Unter Tieffliegern, Feuerregen und blutendem Himmel

28. Die Amerikaner kommen

29. Neuer Anfang am Dutzendteich

30. Gefährliche Spiele auf Trümmerbergen

31. Deutsch-amerikanische Freundschaft

32. Glückliches Wiedersehen

33. Zukunftsträume

Die Autorin

Im Gedenken an meine geliebte Mutter,
die mich schon vor vielen Jahren dazu drängte,
unsere Geschichte aufzuschreiben.

1. Rosalie – das Glückskind

„Mein Gott, hat das Kind große Ohren und Füße“, entschlüpfte es der Hebamme, als sie mich nach der Geburt an den Füßen hochhielt, um mir den obligatorischen Klaps auf den Po zu geben. Mein Vater erhob sich von seinem Platz neben Mutter, wo er während meiner Geburt gesessen und sie im Arm gehalten hatte. Er trat näher, begutachtete mich kritisch und nickte. „Stimmt!“, lautete sein alarmierender Kommentar, der meine Mutter sofort in Tränen ausbrechen ließ, und ich leistete ihr sogleich lauthals mit kräftigem Schreien Gesellschaft.

Natürlich kann ich mich nicht wirklich an das Erlebnis meiner Geburt am Pfingstmontag im Juni 1933 erinnern, doch mein Vater und Oma Franzi mussten mir später, als ich größer war, von allen Ereignissen dieser Nacht und des folgenden Tages wieder und wieder jede Einzelheit erzählen, sodass sich in mir im Laufe der Zeit die feste Vorstellung entwickelte, ich hätte alles bewusst erlebt. Ebenso beruhen die in diesem Buch geschilderten späteren Ereignisse, bei denen ich noch zu jung war, um sie zu verstehen oder bei denen ich nicht persönlich anwesend war, auf Erinnerungen meiner Eltern, meiner Oma Franzi und der Familie Rosenholz.

„Gebt mir mein Baby!“, forderte meine Mutter unter Tränen. Die Hebamme hüllte mich in ein vorgewärmtes Tuch und legte mich in ihren Arm.

„Hör gar nicht hin, meine Süße“, flüsterte meine Mutter tröstend. „Du bist wunderschön!“ Sie streichelte mir zärtlich über Kopf und Wangen, bis ich mich beruhigt hatte und hingebungsvoll an meiner kleinen Faust saugte. Als nach einer Weile die Hebamme die Hände nach mir ausstreckte, um mich zu reinigen und zu versorgen, gab sie mich nur zögernd frei.

„So, nun nehmen Sie Ihr Töchterchen einmal“, sagte die Hebamme resolut und legte mich frisch gewaschen und gewickelt in Vaters Arme. „Sehen Sie, Ihre Frau ist vor Erschöpfung eingeschlafen.“

Er trug mich mit vorsichtigen Schritten durchs Schlafzimmer hinaus auf die sonnige Veranda, wo uns aus dem Garten der süße Duft der Pfingstrosen entgegenströmte.

Während der Nacht waren heftige Gewitterstürme über Nürnberg hinweggezogen. Doch jetzt zeigte sich zwischen vereinzelten Wolken tiefblauer Himmel und eine strahlende Frühlingssonne umfing uns mit ihren wärmenden Strahlen.

„Sieh mal, meine Kleine, welch wunderschönen Regenbogen der liebe Gott dir zum Geburtstag geschenkt hat!“

Ein farbenprächtiger Regenbogen spannte sich hoch über dem Dutzendteich vom bewaldeten Ufer des Gewässers bis hinüber zum Luitpoldhain. Abziehende graue Wolken im Hintergrund ließen ihn in besonders kräftigen Farben erscheinen.

„Du bist ein Glückskind, weil du zum Pfingstfest auf die Welt gekommen bist, weißt du das?“, erzählte Vater mit leiser Stimme weiter. „Ich wünsche dir alles Glück der Erde, meine kleine Pfingstrose, und einen Lebensweg so klar und so schön wie dieser Regenbogen!“

Nun, Regenbogen haben bei den tief greifenden Ereignissen, die ich im Dritten Reich erlebte, zwar keine Rolle gespielt, aber die gefährlichsten Situationen, die ich im Laufe dieser Zeit erlebte und verkraften musste, waren nicht selten von heftigen Gewittern begleitet, welche – bei Gott – nicht alle naturgegeben waren.

Am Nachmittag hatten sich rund um Mutters Bett auf herbeigeholten Stühlen Besucher gruppiert: die Eltern meines Vaters und Eva, die beste Freundin meiner Mutter, sowie Oma Franzi. Leider fehlte deren Mann, mein Opa, denn er war schon während Mutters Kindheit gestorben. Lisa, die treue Seele unseres Hauses, hielt sich ein wenig im Hintergrund, stets bereit, der Familie eine Gefälligkeit zu erweisen.

„Na, auf welchen Namen soll das Kind denn nun getauft werden?“, fragte mein Großvater und machte Anstalten, sich eine seiner Havanna-Zigarren anzuzünden.

„Nein, lass das bitte!“, rief Mutter entsetzt. „Willst du unser Baby mit deinem Rauch gleich vergiften?“

Unter den missbilligenden Blicken seiner Frau steckte er die Zigarren wieder weg und beugte sich in seinem Sessel vor: „Also, was ist? Bekommt sie den Namen ihrer Großmutter, wie ausgemacht?“

„Ja, sie erhält zwar den Namen Johanna“, erklärte Vater, „aber nachdem unsere Tochter zur Blütezeit der Pfingstrosen geboren ist, wollen wir ihr einen Rufnamen geben, in dem die ‚Rose‘ enthalten ist.“

Mutter saß lächelnd und mit geschlossenen Augen in ihrem Bett.

Vater berührte sanft Mutters Arm. „Ludwina, du sagst ja gar nichts!“

Meine Mutter öffnete die Augen und lächelte. „Rosalie wird sie heißen und Eva wie ihre Taufpatin“, sagte sie. „Eva-Rosalie! Hinzu kommen die Namen ihrer Großmütter Franziska und Johanna und ihrer Urgroßmutter Maria-Anna.“

Mutter beugte sich über die Wiege: „Einverstanden, Eva-Rosalie?“

„Eva-Rosalie! Das ist ja ein wunderschöner Name!“, rief die Hebamme beim Betreten unseres Konferenzraums. Vater nickte zustimmend. Damit war die Namensgebung beschlossene Sache: Eva-Rosalie Bartels.

Mein Vater hatte mir prophezeit, dass Gott mich als „Glückskind“ zum Pfingstfest auf die Welt geschickt habe. Ob es wirklich an dem, nach seiner Meinung Glück bringenden Pfingstmontag lag, bleibt dahingestellt. Rückblickend betrachteten meine Familie und Freunde mich als ein durchaus glückliches, unbeschwertes Mädchen, das trotz aller Miseren der Nazizeit die Gabe besaß, allen auftretenden Misslichkeiten vorbehaltlos entgegenzutreten oder sich zumindest erfolgreich aus ihnen herauszuwinden.

2. Daniel – mein Freund

Drei Wochen später wurde in der Nachbarvilla Daniel geboren und mit ihm eine tiefe Freundschaft, aber im Dritten Reich ein Ding der Unmöglichkeit, denn Daniel war Jude. Doch was kümmern Kinder Glaubensunterschiede oder Rassenwahn? Wir wuchsen so eng verbunden zusammen auf, als seien wir Bruder und Schwester.

Die jüdische Familie Rosenholz und meine christliche Familie inklusive Mutters Freundin Eva waren sich von Anfang an, das heißt, seit David und Mirjam mit Tochter Ruth und der Arztpraxis in die Nachbarvilla eingezogen waren, außerordentlich sympathisch und es entwickelte sich innerhalb kurzer Zeit eine herzliche Freundschaft. Die Familien tolerierten nicht nur ihre unterschiedlichen religiösen Glaubensrichtungen, sie nahmen auch gegenseitig an vielen ihrer Feste teil, die zu Hause gefeiert wurden.

Unsere Mütter fuhren uns täglich im Kinderwagen am Dutzendteich spazieren, und kaum konnten wir uns mit etwa sieben oder acht Monaten aufrichten, unternahmen wir schon Anstrengungen, zueinander in die Wagen zu krabbeln.

„Wir sollten einen Zwillingswagen kaufen“, lachte Mutter, als sie unser unübersehbares Vorhaben zum ersten Mal beobachtete.

Was aber unser Aussehen anging, konnten wir keineswegs als Zwillinge gelten. Ich hatte blonde, glatte Haare und grüne Augen, während Daniel mit dunkelbraunen Augen unter dunkelbraunen Locken in die Welt blickte. Dagegen hätte man meine Mutter und Mirjam leicht für Schwestern halten können. Sie waren von schlanker, zierlicher Statur, trugen ihr kastanienbraunes, welliges Haar schulterlang, hatten beide dunkelbraune Augen und ein schmal geschnittenes Gesicht mit schmaler Nase und vollem Mund.

Die Familien hatten ähnliche Interessen, vor allem ihre Liebe zur Musik. Jeder von ihnen beherrschte ein Instrument. Vater spielte Geige, Mutter und Mirjam Klavier. Daniels Vater David glänzte mit Bratsche und Cello, während Ruth, Daniels vierzehn Jahre ältere Stiefschwester, die Querflöte liebte.

Die Familien setzten sich oft abends oder an Sonntagnachmittagen in unserem oder im Rosenholzschen Wohnzimmer zum gemeinsamen Musizieren zusammen.

Daniel und ich lagen nie ruhiger und braver in unseren Kinderwagen, als wenn musiziert wurde, und als wir etwas größer waren und schon krabbeln konnten, suchten wir jeweils unsere Lieblingsplätze auf: unter Mirjams großem Flügel oder neben Mutters Klavier, wenn das Konzert in unserem Haus stattfand.

Nur der Sabbat, der von Freitagabend bis Samstagabend gefeiert wurde, war ausgenommen. In dieser Zeit besuchten Familie Rosenholz und ihre Freunde die Synagoge und widmeten sich ihren Bräuchen.

Manchmal wurden alle Bewohner des Hauses Bartels, das heißt unsere gesamte Familie, einschließlich Mutters bester Freundin Evi, sowie Lisa, unsere getreue Hilfe, zum Sabbatausgang eingeladen. Schon als Baby faszinierte mich das Ritual, wenn die Flammen der mehrdochtigen Hawdalakerze die neue Woche ankündigten, während Onkel David das Abendgebet sang und den Segen der Woche über einem Glas Wein sprach. Jeder der Erwachsenen trank einen kleinen Schluck, dann wurde mit dem restlichen Wein die Kerze gelöscht. Tante Mirjam stellte eine kleine Dose mit Gewürzen auf den Tisch, deren Düfte noch tagelang an den Sabbat erinnerten, und wünschte allen „Schawua tow“, das heißt „Gute Woche“.

Tischgebete wurden bei uns natürlich auch gesprochen, wenn auch nicht mit besonderen Ritualen. Große Feierlichkeiten fanden an unseren wichtigen Festen wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten statt. Da unsere Familie immer am Sonntagvormittag zum Gottesdienst ging, war am Nachmittag wieder Zeit für gemeinsame Freizeitaktivitäten mit Familie Rosenholz.

Daniel und ich durften nahezu jeden Tag einige Stunden miteinander verbringen. Unsere Mütter mussten bald feststellen, dass ihre Kleinen besonders ruhig und fröhlich waren, wenn sie beisammen sein konnten. Dies lehrte uns von Anfang an, dass die Spielsachen des einen ohne Vorbehalt auch die Spielsachen des anderen waren. Wir waren ein Herz und eine Seele und teilten im wahrsten Sinne des Wortes „Freud und Leid“. Weinte der eine, weil er sich irgendwo gestoßen hatte, weinte der andere aus Mitleid mit, und wenn es etwas zu lachen gab, lachten wir beide.

Mit zunehmendem Alter interessierten uns jedoch die Turngeräte unserer Väter weitaus mehr als die schönsten Spielsachen. Da sie beide begeisterte Turner waren, sahen wir sie oft schon vor dem Frühstück im breiten Flur der oberen Etage unseres Hauses am Trapez oder an den Ringen trainieren und wollten es ihnen unbedingt nachmachen. Wir bettelten so lange, bis mein Vater uns an den Geräten einfache sportliche Übungen beibrachte, deren Schwierigkeitsgrad er von Zeit zu Zeit steigerte. Daniel zeigte sich besonders talentiert und setzte die Erwachsenen in Erstaunen, mit welcher Kraft und mit welcher Ausdauer er bereits als Zweieinhalbjähriger an den Geräten turnte.

Niemand hätte sich zu diesem Zeitpunkt träumen lassen, dass dieses Talent ihm eines Tages ausgerechnet in einer Vereinigung Anerkennung einbringen würde, in der man niemals einen Juden vermutet hätte.

3. Rassengesetze

„Ludwina, Mirjam, hört euch das an!“, rief Vater auf dem Sofa hinter seiner Zeitung. „Unglaublich! Die Nationalsozialisten haben am 15. September, zum siebten Nürnberger Reichsparteitag, ein Gesetz ‚zum Schutze des deutschen Blutes‘ erlassen!“

„Und was bedeutet das?“, fragte meine Mutter beunruhigt.

Mein Vater vertiefte sich weiter in den Artikel und schüttelte schockiert den Kopf.

„Na, nun sag schon, Friedrich!“, drängte Mirjam.

„Ab sofort gelten Ehen zwischen Juden und Nichtjuden als Rassenschande. Es wird zur Auflösung dieser Ehen geraten und neue Eheschließungen oder Liebschaften zwischen Juden und Nichtjuden sind unter Androhung schwerster Strafe verboten. Das bedeutet es!“

„Nicht auszudenken, was diese Gesetze für solche ‚Mischehen‘ bewirken werden!“, rief Mutter empört. „Welche Ängste diese Menschen ausstehen müssen, vor allem ihre Kinder!“

„Es ist doch ungeheuerlich, was die Nazis sich alles ausdenken!“, pflichtete Mirjam ihr bei. Sie griff nach dem Blatt, um sich selbst von den Ankündigungen ein Bild zu machen.

Daniel und ich tummelten uns gerade mit Purzelbäumen auf dem Parkett und hatten unseren Spaß beim Üben des Spagats.

Erschreckt durch den erregten Tonfall der Erwachsenen, blickten wir verwirrt von einem zum anderen, bis wieder Ruhe eintrat. Wir verstanden ohnehin nichts von „Rassenschande“ und „reinem deutschen Blut“. Wir hatten uns lieb und wollten zusammen sein. Das war alles, was für uns zählte.

Für die Freundschaft zwischen unseren Familien waren die Rassengesetze ohne Bedeutung. Sie fühlten sich nicht von ihnen betroffen. Es gab schließlich kein Gesetz, das die Freundschaft zwischen Juden und Nichtjuden verbot. Dennoch ergaben sich im Laufe der Zeit Änderungen, die uns allen nach und nach bewusst wurden.

Etwa eineinhalb Jahre später, als unsere Familien Ende Mai, kurz vor meinem vierten Geburtstag, an einem sonnigen Sonntagnachmittag auf der Terrasse der Familie Rosenholz gemütlich am Kaffeetisch saßen, verkündete Mutter, dass es Neuigkeiten gebe: „Röschen, wir haben dich im Kindergarten angemeldet. Ab Montag darfst du in den gleichen Kindergarten gehen, den auch Tante Evis Nichte Helma und Neffe Heinz besuchen. Das ist doch schön für dich, dass du gleich Freunde findest, nicht wahr?“

Mutter hatte mich im Kindergarten angemeldet! In meinem Kopf läuteten die Alarmglocken, denn das konnte nur Trennung von Daniel bedeuten. Auf meinen Protest hin erzählte meine Mutter, dass sie ein Geschwisterchen erwarte, das im September auf die Welt kommen solle, und sie bis dahin Zeit und Ruhe für die Vorbereitungen benötige.

„Aber Mutti, ich brauche doch gar kein Geschwisterchen“, sagte ich widerborstig, „ich habe ja Dani!“, und nach kurzem Überlegen fragte ich hoffnungsvoll: „Oder kommt Dani mit mir in den Kindergarten?“

„Nein, das geht nicht, Rosalie. Daniel kommt in eine jüdische Vorschule, in der er die hebräische Sprache lernt“, erklärte Onkel David.

Daniel wusste das offensichtlich schon. Er sah zwar nicht ausgesprochen glücklich drein, nickte aber brav.

Unsere Eltern hatten unserem kindlichen Fassungsvermögen entsprechend schon frühzeitig versucht, uns die Unterschiede zwischen unseren Glaubensrichtungen verständlich zu machen. Dazu gehörte, dass Daniel die Sprache seiner Urahnen lernen sollte, die früher in Ländern gelebt hatten, welche ich mir allerdings nur schemenhaft vorstellen konnte. Anscheinend war es jetzt so weit und ich musste mich damit abfinden.

„Weißt du“, sagte Mutter tröstend, „du bist ja nur vormittags im Kindergarten und Daniel ist zur gleichen Zeit in seiner Vorschule. Nachmittags könnt ihr zusammen spielen, so lange ihr wollt.“

„Nun gibt es noch eine Neuigkeit, bei der es um Ruth geht“, meinte Onkel David. „Willst du selbst erzählen, Ruth?“

Daniels achtzehnjährige Schwester wirkte ausgesprochen unruhig. Sie wickelte unablässig das Ende ihres dicken Zopfes um die Finger. Nun hob sie ruckartig den Kopf. „Ja, ich … ich habe ja jetzt das Abitur gemacht, aber ich möchte nicht an eine deutsche Universität gehen. Tante Rebekka und Onkel Simon haben mich eingeladen, bei ihnen in Zürich zu wohnen, damit ich dort studieren kann.“ Ruth senkte wieder den Kopf und fuhr fort, mit ihrem Zopf zu spielen.

Ruth würde uns verlassen? Das war für Daniel und mich unfassbar. Ruth hatte sich immer liebevoll um uns gekümmert, wenn unsere Mütter verhindert waren. Sie spielte uns auf der Flöte vor, sang mit uns Kinderlieder, lehrte uns Kinderreime, reparierte für uns kleine Schäden an Spielzeugen und tröstete uns, wenn wir unglücklich waren, weil mal etwas nicht nach unserem Kopf ging.

Wir stürzten auf sie zu. Daniel kletterte auf ihren Schoß und legte die Arme um ihren Hals und ich umklammerte ihre Taille.

„Nein, Ruth, bleib hier!“, rief Daniel, wobei ihm Tränen über die Wangen kullerten. „Du kannst doch auch in Nürnberg in die Unität!“

Ich sagte nichts, aber auch ich weinte ihr Kleid nass.

„Ruth möchte Ärztin werden, wie ich“, erklärte Onkel David. „Das ist aber in Nürnberg nicht möglich. Stellt euch vor, sie müsste zum Studium in eine andere Stadt ziehen und ganz alleine wohnen, wo sie niemanden kennt. Da ist es doch besser für Ruth, sie geht zu meiner Schwester, eurer Tante Rebekka, und zu Onkel Simon. Das versteht ihr doch! Ihr wollt bestimmt, dass es Ruth gut geht, und bei Tante und Onkel ist es fast wie zu Hause.“

„Aber sie hat dann uns nicht mehr“, wandte ich ein. „Uns hat sie doch auch lieb!“

Für Onkel David war es wirklich nicht leicht, zwei Vierjährigen klarzumachen, warum Ruth nicht hierbleiben konnte. Für sie als Jüdin war es höchst unwahrscheinlich, in Deutschland einen Studienplatz zu bekommen, daher boten ihr die Schweizer Verwandten ihre Hilfe an.

Um Daniel und mich auf andere Gedanken zu bringen, zog Ruth uns in eine Gartenecke zur Schaukel. Sie schob uns an, bis wir höher und höher flogen. „Noch mehr, Ruth, noch mehr!“, riefen wir und jauchzten vor Vergnügen.

Ruth hatte selbst große Bedenken, ob sie in Zürich nicht arges Heimweh nach uns allen plagen würde. Dennoch freute sie sich auf Tante Rebekka und Onkel Simon, die sie in sehr guter Erinnerung hatte. Im tiefsten Innern wusste sie, dass es für sie keine andere Lösung gab, als Deutschland zu verlassen. Das Land konnte ihr keine Zukunft mehr bieten.

„Das Vernünftigste wäre, ihr würdet gleich alle zusammen in die Schweiz auswandern“, schlug Vater vor, obwohl er wusste, dass er mit diesem Rat bei David auf Granit biss. Auch die Züricher Verwandten bedrängten David seit Langem, mit seiner Familie das für Juden sich immer unsicherer entwickelnde Deutschland zu verlassen und über die Schweiz nach Amerika zu weiteren Verwandten auszuwandern.

Das lehnte David strikt ab. „Mir und meiner Familie wird nichts geschehen. Mein Vater ist im Vierzehner Krieg (dem Ersten Weltkrieg) gefallen und ich selbst habe als Freiwilliger für Deutschland an der Front gekämpft und sogar das Eiserne Kreuz für besondere Tapferkeit erhalten. Außerdem kann ich als Arzt meine jüdischen Brüder hier nicht im Stich lassen!“

Diese Begründung konnte Ruth als angehende Ärztin zwar verstehen, andererseits hielt sie ihrem Vater vor, dass ihm die eigene Familie doch am wichtigsten sein sollte. Aber seinem Argument, er sei als ehemaliger deutscher Soldat so sicher wie jeder andere Deutsche, hatte sie nichts entgegenzusetzen. (Tatsächlich waren ehemalige jüdische Frontkämpfer im Dritten Reich zunächst von einschneidenden Maßnahmen ausgenommen; das galt aber nur für eine gewisse Zeit; Anmerkung der Autorin.)

Meine Mutter hatte für mich einen evangelischen Kindergarten gewählt. Er wurde von zwei Nonnen und zwei jungen Kindergärtnerinnen geführt. Helma und Heinz, die Zwillinge von Tante Evas Schwester Maja, besuchten diesen Kindergarten bereits seit einem Jahr und fühlten sich dort sehr wohl.

Sie sprangen sofort auf mich zu, nahmen mich an beiden Händen, führten mich herum und zeigten mir die Einrichtung und alle Spielsachen. Entgegen meinen schlimmen Erwartungen, die natürlich kindlichem Trotz entsprangen, gefiel mir alles sehr gut.

Dann forderte eine Kindergärtnerin die Kinder auf, einen Kreis um mich zu bilden, und stimmte ein Begrüßungsliedchen an, in das alle Kinderstimmen einfielen.

Mit allerlei Spielen, dem Lernen eines neuen Liedes und dem Vorlesen einer spannenden Kindergeschichte verflog der Vormittag im Nu. Als Lisa mich um zwölf Uhr abholte, erzählte ich ihr auf dem ganzen Nachhauseweg ununterbrochen von allen Ereignissen während meines ersten Morgens im Kindergarten.

Am Nachmittag berichtete mir Daniel von seinen Erlebnissen in der Vorschule. Es handelte sich allerdings um keine offizielle Vorschule, sondern um die freiwillige Arbeit eines Rabbiners und zweier Lehrer, die abwechselnd in einem der Wohnräume der Teilnehmer stattfand. Sie kümmerten sich um acht Jungen im Alter von vier bis sechs Jahren. Zuerst las der Rabbiner einen Teil einer Bibelgeschichte vor, den sie anschließend gemeinsam nacherzählen mussten, dann sprach er ihnen einen kurzen Satz auf Hebräisch vor und erklärte ihnen dessen Bedeutung auf Deutsch. Die wenigen hebräischen Worte musste jeder Junge so lange nachsprechen, bis er sie fehlerfrei konnte.

Mit der Zeit gewann Daniel immer mehr Interesse an der Vorschule. Das Nachsprechen und Verstehen der hebräischen Worte machte ihm bald keine Schwierigkeiten mehr und auf die Bibelgeschichten freute er sich jeden Tag. Auch ich mochte sie sehr, und er musste mir nachmittags jedes Detail erzählen. Die Kinder wurden vom Rabbiner oder von einem der Lehrer täglich abgefragt, und Daniel war dank meiner Wissbegier, die ihn ständig zur Wiederholung zwang, bald der beste Schüler der Vorschule.

Allerdings hatte auch ich ihm einiges zu bieten. Die Kinderlieder und einfachen Reime, die ich im Kindergarten lernte, musste ich ihm gar nicht erst beibringen; er hörte ein bis zweimal zu und schon sang er fröhlich mit und Ruth begleitete uns manchmal auf ihrer Flöte.

Eines Nachmittags nahm Ruth sich besonders viel Zeit für uns. Sie spielte uns alle Stücke auf ihrer Flöte vor, die wir uns wünschten, erzählte Bibelgeschichten, las aus unseren Kinderbüchern vor und sang mit uns Kinderlieder.

Als es für mich eigentlich an der Zeit war, nach Hause zu gehen, nahm sie uns beide in die Arme und sagte: „Ich muss euch jetzt etwas erzählen, und wenn ihr versprecht, dass ihr nicht weint, dürft ihr heute Nacht bei mir im Bett schlafen.“

Ab und zu gelang es uns nämlich, Ruth abzubetteln, dass wir bei ihr schlafen durften. Daher musste es schon etwas Außergewöhnliches sein, das sie veranlasste, uns dieses Vergnügen von sich aus anzubieten.

Eifrig nickten wir: „Ja, wir versprechen es!“

Offensichtlich fiel es Ruth sehr schwer, uns ihre Pläne mitzuteilen. Wie immer in schwierigen Situationen, wickelte sie gedankenverloren ihren langen, schweren Zopf um die Finger.

„Na sag schon, Ruth!“, drängte Daniel.

„Ich fahre morgen früh nach Zürich“, gestand sie mit verdächtig feuchten Augen.

„Nein, Ruth, nicht weinen!“, bat Daniel.

Jetzt war es plötzlich an uns, zu trösten, denn Ruth weinen zu sehen, war uns unerträglich. Wir umarmten und streichelten sie.

„Du kannst uns doch bestimmt bald einmal besuchen“, meinte ich.

„Ich werde euch ganz oft schreiben“, wich Ruth aus. Sie gab sich einen Ruck und befahl: „Kommt, jetzt gibt es Abendbrot und dann ab ins Bett!“

Ruth hatte sich bereits am späten Nachmittag von Mutter, Oma Franzi und Tante Evi verabschiedet und fürsorglich gleich Zahnbürste und Pyjama für mich mitgenommen. Nachdem unsere Abendtoilette beendet war, schloss Ruth die Fensterläden in ihrem hübschen Mädchenzimmer und wir kuschelten uns zu dritt in Ruths großes, weißes Bett mit dem sternenbestickten Baldachin. Wir sprachen unsere Abendgebete, und damit nicht noch einmal Trauerstimmung aufkam, knipste Ruth ihre Nachtlampe an und las uns eine Gutenachtgeschichte vor. Das gedämpfte Licht und ihre ruhige Stimme taten ihre Wirkung und wir fielen bald in tiefen Schlaf.

Als wir am nächsten Morgen aufwachten, saß Ruth schon längst im Zug nach Zürich und reiste ihrem neuen Leben entgegen. Sie hatte auf einem Tischchen für Daniel und mich Geschenke zurechtgelegt: für Daniel einen Holzkreisel mit Schnurpeitsche sowie eine wunderschöne Samttasche für einen Gebetsschal. Die dunkelgrüne Tasche hatte sie mit viel Liebe und Geschick genäht, mit gleichfarbiger Seide gefüttert und die Nähte mit dünner Goldkordel verziert. Die Oberseite schmückten Daniels Initialen, mit Goldfaden in kunstvollen Schnörkeln gestickt. Für mich gab es eine ebenso wunderschöne, selbst genähte und bestickte Tasche, nur war sie aus dunkelrotem Samt gefertigt und sollte als Hülle für ein Gesangbuch dienen. Dazu erhielt ich ein Jo-Jo.

Wir waren beide von unseren Geschenken so begeistert, dass wir unseren Abschiedsschmerz für den Augenblick vergaßen. Die Samttaschen nahmen unsere Mütter vorerst in Verwahrung, bis wir alt genug sein würden, sie zu benutzen.

Am Anfang fehlte Ruth uns Kindern sehr, denn sie hatte sich doch fast jeden Tag wenigstens einige Minuten Zeit für uns genommen, um sich etwa meinen neu eingeübten Kinderreim anzuhören oder Daniels neu gelernte hebräische Vokabeln abzufragen. Offensichtlich hatte sie damit gerechnet, dass wir Sehnsucht nach ihr haben würden, daher wohl ihre Geschenke, die Spielsachen, die unsere volle Aufmerksamkeit verlangten.

Es stellte sich heraus, dass das Spielen mit Kreisel und Jo-Jo kein einfaches Unterfangen für vierjährige Kinder war, doch als unsere Eltern mit uns übten, beherrschten wir das Antreiben des Kreisels mit der Schnurpeitsche und das Schwingen und Hochwerfen des Jo-Jos bald sehr gut, und Daniel und ich avancierten zur Sensation unter den Kindern in unserem Bekanntenkreis.

Wenige Wochen später träumte ich in einer Septembernacht, dass ein Mann an unserem Haus vorbeiging, der in seinem Rucksack ein blökendes Schäfchen trug. Als ich morgens aufwachte, kam Oma Franzi mit strahlendem Gesicht in mein Zimmer.

„Oma Franzi, ich habe geträumt, dass auf der Straße ein Mann vorbeigegangen ist. Er hatte einen Sack auf dem Rücken. In dem war ein Schäfchen, das machte ‚mäh, mäh‘.“

Sie winkte mir nur zu, ihr zu folgen, und führte mich an Mutters Bett.

Glücklich lächelte Mutter mich an. „Sieh mal, du hast heute Nacht ein Schwesterchen bekommen“, sagte sie. Sie hielt ein winziges Wesen im Arm, so klein wie meine Babypuppe.

„Oh, ist die süß, und sooo klein! Darf ich sie mal tragen?“ Ich versuchte, auf das Bett zu krabbeln, um das Baby zu nehmen.

„Vorsicht, Röschen“, wehrte Mutter ab, „später darfst du Helga gerne halten, aber jetzt schläft sie, siehst du? Vielleicht gehst du erst ins Badezimmer und zum Frühstück. Wenn du dann zurückkommst, darfst du dein Schwesterchen in den Arm nehmen.“

Schnell rannte ich zum Bad. Oma Franzi half mir beim Duschen und Anziehen, und im Nu war ich auch mit dem Frühstück fertig, um so schnell wie möglich zum Schwesterchen zurückzueilen.

Ein Blick auf ihr Gesichtchen sagte mir, dass sie wach war. Sie hatte die Augen geöffnet und lutschte eifrig an einem Däumchen. „Darf ich sie jetzt tragen, Mutti?“, fragte ich.

„Ja, das darfst du“, sagte Vater. Er erhob sich von dem Sessel, der neben dem Bett stand, und setzte mich hinein. Dann schob er noch ein Kissen unter meinen Ellbogen und legte mir mein Schwesterchen in den Arm. „Sei schön vorsichtig! Und drück sie nicht so fest wie deine Babypuppe!“, warnte er.

Glücklich hielt ich das kleine, warme Bündel und streichelte vorsichtig über das Köpfchen, das von dichten, dunklen Haaren bedeckt war. „Helga ist aber ein schöner Name“, sagte ich.

Als das Baby unruhig wurde und noch kräftiger an seinem Däumchen lutschte, meinte Mutter: „Ich glaube, Helga hat Hunger.“

Sie knöpfte ihr Nachthemd auf, und als Vater ihr das Baby übergab, legte sie es an ihre Brust, wo es sofort kräftig saugte und schluckte.

Ich sah eine Weile fasziniert zu, dann fragte ich: „Habe ich das auch gemacht, Mutti, als ich so klein war?“

„Ja, mein Schatz, alle Babys kriegen eine Zeit lang nur Muttermilch, weil sie nichts anderes vertragen können“, antwortete sie. „Jetzt ist es aber an der Zeit, dich auf den Weg in den Kindergarten zu machen. Helga wird nach dem Trinken bestimmt wieder schlafen, aber heute Nachmittag darfst du sie wieder im Arm halten.“

Nach meinem Mittagsschlaf, den ich trotz aller Proteste immer noch halten musste, eilte ich zu Mutter und Schwesterchen und kam gerade rechtzeitig, um zuzusehen, wie Helga in der Babywanne gebadet und anschließend gewickelt wurde. Dabei ließ ich mir auch gleich erklären, was es mit dem großen Pflaster auf ihrem Bäuchlein auf sich hatte.

Nachdem Helga frisch gekleidet und mit einer kleinen Wolldecke zugedeckt war, durfte ich sie noch einmal eine Weile im Arm halten. „Mutti, weißt du was? Ich bete jetzt abends auch für mein Schwesterchen und ich bitte Jesus, dass er Helga besonders gut beschützt. Sie ist ja noch so klein.“

Als ob sie mich verstehen würde, blickte Helga mich mit ihren großen, blauen Augen an und umklammerte mit einem Händchen meinen Zeigefinger. Auf einmal öffnete sie ihr Mündchen weit zu einem herzhaften Gähnen und ich rief entsetzt: „Mutti, Helga hat ja gar keine Zähne!“

„Keine Sorge, Röschen! Babys kommen ohne Zähne auf die Welt. Sie trinken ja nur Milch. Ungefähr in einem halben Jahr kommen nach und nach die ersten Zähnchen.“

Helga signalisierte schon wieder, dass sie Hunger hatte, und ich musste sie widerstrebend Mutter geben. Dafür erhielt ich die Erlaubnis, zu Daniel zu laufen, um ihm die Neuigkeiten mitzuteilen.

Auch bei Familie Rosenholz gab es neue Nachrichten. Daniel führte mich ins Wohnzimmer. Ruths ungeduldig erwarteter erster Brief war eingetroffen und Tante Mirjam las mir gleich daraus vor. Tante Rebekka und Onkel Simon hatten ihre Nichte sehr herzlich empfangen und sie sofort voller Stolz in ihr kleines, gemütliches Zimmer geführt. Von dessen Fenster aus könne sie einen grandiosen Blick über die Dächer von Zürich genießen. Sie habe sich gleich am ersten Tag nach ihrer Ankunft an der Universität eingeschrieben und nun freue sie sich auf den Beginn ihres Studiums im August. Ruths Eltern waren beruhigt, dass die Umsiedlung ihrer Tochter so problemlos vonstattengegangen war.

„Ruth wird doch zum Chanukkafest nach Hause kommen?“, fragte Daniel hoffnungsvoll.

„Nein, Dinni“, Tante Mirjam streichelte tröstend über seinen Kopf, „die Eisenbahnfahrten sind zurzeit sehr schwierig. Wir wollen hoffen, dass es im nächsten Jahr besser wird.“

Gott sei Dank ahnten wir in diesem Augenblick nicht, dass acht Jahre voller Gefahren und Tücken vergehen sollten, bis wir Daniels große Schwester wiedersahen.

4. Die geheime Gartentür

Eines Tages erklärte Onkel David gleich zu Beginn unseres Besuchs mit resoluter Bestimmtheit, dass unsere regelmäßigen Treffen mit sofortiger Wirkung eingestellt werden müssten. „Wir können nicht mehr zusammenkommen und schon gar nicht mehr miteinander musizieren“, sagte er, „man hört uns selbst bei geschlossenen Fenstern auf der Straße.“

Unsere Einwände, die Leute könnten auch annehmen, die Musik käme aus dem Radio, wehrte er ab. „Wir wollen euch auf keinen Fall in Schwierigkeiten bringen. Auch wenn wir stets vorsichtshalber die Straße meiden und immer nur durch das hintere Gartentor an der Uferpromenade ins Haus kommen, irgendwann werden wir bei den Nachbarn zu große Neugier erregen. Es gibt immer Neider und missgünstige Menschen, die aus reiner Bosheit eine Meldung machen.“

Er stand auf und unterstrich seine Worte mit ausladenden, theatralischen Gesten seiner Hände: „Ihr lest dann in der Zeitung: ,Juden belästigen Arier in ihrem Haus!‘, oder: ,Arier pflegen Freundschaft mit Juden!‘“

Wir schwiegen alle und dachten über diesen drohenden Einschnitt in die gewohnte und lieb gewonnene Freizeitgestaltung in unserem Freundeskreis nach.

„Wir könnten uns aber doch weiterhin bei euch treffen“, schlug meine Mutter vor. „Für uns bringt das ja keine Probleme!“

David schüttelte den Kopf: „Nein, nein, Ludwina! Ein kurzer Kontakt mit Juden, ein gelegentliches Gespräch auf der Straße, wird zwar noch geduldet, aber niemand weiß, wie die Lage sich weiter entwickelt.“

„Kommt nicht infrage, dass wir unsere Freunde so einfach aufgeben!“, rief meine Mutter aufgebracht. „Und wie stellst du dir das mit Rosalie und Daniel vor? Willst du ihnen sagen: Ab morgen ist aus und Schluss, ihr könnt euch nie mehr sehen?“

„Komm, Winnie, beruhige dich“, meinte Vater, „David hat recht, wir müssen vorsichtig sein.“ Er wandte sich an David: „Aber auch Winnie hat recht. Wir sind nun seit fast zehn Jahren Freunde und das werden wir auch bleiben. Wir werden Mittel und Wege finden, wie wir weiterhin zusammenkommen können.“

„Selbstverständlich gibt es Möglichkeiten“, mischte Tante Eva sich ein. „Wir haben uns schließlich auch schon hin und wieder bei mir getroffen. Für meine Wohnung interessiert sich niemand. Da ist ohnehin ein ständiges Kommen und Gehen.“ Tante Eva hatte als Kunstmalerin und -lehrerin täglich viele Besucher, daher waren die Mitbewohner des Hauses an das rege Treiben gewöhnt. Günstigerweise lag ihre Wohnung mit Atelier im Parterre, so konnte sich niemand durch Treppengepolter gestört fühlen. Darüber hinaus war Tante Eva eine liebenswürdige und gesellige Frau, die sich gern ab und zu mit dem einen oder anderen Nachbarn zu einem Schwätzchen bei einer Tasse Kaffee zusammensetzte. Das machte sie im ganzen Haus sehr beliebt. Demnach bot sich uns Freunden die Möglichkeit, ohne Gefahr vor Aufdeckung bei ihr zusammenzukommen. „Nur keine Panik“, schloss Eva die unangenehme Diskussion ab, „wir werden uns weiterhin sehen. Das Musizieren werden wir aber aufgeben müssen – leider.“

Nach wenigen Tagen bestand Vater entgegen Onkel Davids Protest auf einem Treffen der beiden Nachbarsfamilien bei Familie Rosenholz. Diesmal gesellte sich auch Oma Franzi hinzu. Sehr zu unserer Freude hatte sie einige Monate vor Helgas Geburt ihr Geschäft verkauft und war zu uns gezogen. Sie hatte in Augsburg als Schneidermeisterin einen eigenen Betrieb mit mehreren Angestellten gehabt, aber aufgrund einer zunehmenden Sehschwäche konnte sie keine Lehrlinge mehr ausbilden. Es war ihr trotz Brille unmöglich, Feinarbeiten zu kontrollieren.

Vater gab sich sehr geheimnisvoll und als er den letzten Schluck Kaffee getrunken hatte, blickte er jeden Einzelnen von uns eindringlich an und fragte: „Findet ihr nicht, dass es sehr unpraktisch ist, erst zu eurer Haustür und zu eurem Gartentor hinauszugehen, ungefähr fünfzehn Meter auf dem Gehsteig zu laufen, um durch unsere Gartentür und die Haustür in unser Haus zu kommen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Oder noch umständlicher, den langen Weg durch euren Garten zum hinteren Gartentor an der Uferpromenade zu gehen und von dort die Promenade entlangzulaufen bis zu unserem Gartentor und denselben langen Weg durch unseren Garten zurück bis zu unserem Haus?“

Wir wunderten uns, was mein Vater wohl mit dieser langatmigen Ansprache bezweckte. Er schweifte sogar in die Märchenwelt ab. „Das muss eine liebe Fee, die es gut mit uns meint, eingesehen haben. Kommt alle mit, ich will euch zeigen, was ich heute früh beim Heckenschneiden entdeckt habe!“

Er stand auf und führte uns durch die Terrassentür in Richtung der Büsche, die den Zaun zwischen unseren Gärten verdeckten. Dort schob er einige Zweige auseinander und wies mit der Hand auf einen Durchgang: „Bitte einzutreten!“

Staunend betraten wir einer nach dem anderen unseren Garten. Eines Nachts hatte Vater heimlich als Überraschung für uns alle diese schmale Pforte aus dünnem Metallrahmen in den Zaun eingesetzt. Sie lag auf direkter Linie zwischen den zwei Häusern und war von beiden Seiten derart gut durch Büsche verborgen, dass sie kein Uneingeweihter entdecken konnte. Selbst auf der Straße vom Gehsteig aus waren unsere Gärten aufgrund der hohen Thujahecke von Passanten nicht einsehbar; genauso wenig von der Uferpromenade aus. Auch die Fenster von Davids Praxisräumen boten neugierigen Patienten keinen Blick auf die Hecke mit dem geheimen Durchgang, denn die Praxis lag auf der anderen Seite seines Hauses. So konnten wir ohne Sorge vor Entdeckung von unserer Küchentür aus mit wenigen Schritten geradewegs durch die Heckenpforte zur Terrassentür der Rosenholz’schen Villa gelangen, oder in umgekehrter Folge von dort zur Villa Bartels.

Sprachlos bestaunten wir alle diese ideale Pforte. Noch bevor wir ein Wort herausbringen konnten, erklärte Vater uns beiden Kindern: „Die Fee warnte mich, dass die Heckenpforte ein ganz strenges Geheimnis sein muss, von dem niemand außer unseren Familien wissen darf. Sobald wir jemandem davon erzählen, wird die Pforte für immer verschwinden.“

Wir verstanden das sehr gut, denn in vielen Märchen wurde von geheimen Dingen berichtet, die niemals preisgegeben werden durften, denn sonst würde der Zauber auf ewig verschwinden. Deshalb schwiegen wir konsequent und kein Mensch erfuhr jemals von unserer geheimen „Feenpforte“.

Unser Alltag verlief eine Zeit lang weiter wie gewohnt – bis zu einem schwülen Spätnachmittag im August, an dem ich Tante Mirjam bitterlich weinen hörte, noch bevor ich ihre offene Terrassentür erreicht hatte. Bestürzt machte ich kehrt und schlüpfte durch die Pforte zurück zu unserem Haus. „Mutti, komm schnell!“, rief ich aufgeregt, „Tante Mirjam weint ganz arg.“

Mutter sprang von ihrem Sessel hoch und folgte mir durch die Hecke zur Terrasse des Rosenholz-Hauses.

Onkel David kam uns entgegen. „Es ist unfassbar!“, rief er. „Unsere Hauptsynagoge am Hans-Sachs-Platz soll abgerissen werden!“

„Aber warum denn?“, fragte Mutter entsetzt.

„Weil sie angeblich das Stadtbild stört. Vor einer halben Stunde teilten mir Freunde die Hiobsbotschaft mit. Sie hatten die Ankündigung auf dem Hans-Sachs-Platz selbst gehört.“ Er schüttelte betrübt den Kopf und setzte sich neben Tante Mirjam aufs Sofa. Sie hatte sich inzwischen beruhigt und tröstete ihrerseits Daniel, der durch den Kummer seiner Mutter völlig verstört war. Diese Atmosphäre der Niedergeschlagenheit hatte mich ebenfalls angesteckt. Als Mutter sah, dass auch ich mit den Tränen kämpfte, nahm sie kurzerhand Daniel und mich an den Händen und zog uns zur Wohnzimmertür. „Kommt, wir spielen in Danis Zimmer Domino.“

„Ja, das ist eine gute Idee, dann kommen wir auf andere Gedanken“, stimmte Tante Mirjam zu.

Sofort hellten sich unsere Mienen auf, denn nur selten hatten unsere Mütter Zeit, sich mit uns zu beschäftigen.

Eine Woche später war die schöne Synagoge und das angrenzende Gemeindehaus dem Erdboden gleichgemacht und Familie Rosenholz und alle jüdischen Freunde ihres Gotteshauses beraubt.

„Alles, was gerettet werden konnte“, berichtete Onkel David niedergeschlagen, „ist der große Gedenkstein mit der Inschrift zur Erinnerung an die vor 500 Jahren niedergebrannte erste Synagoge in Nürnberg. Einigen Gemeindemitgliedern gelang es kurz vor Abbruch der Synagoge, ihn heimlich zu entfernen und auf den jüdischen Friedhof transportieren zu lassen.“

5. Die Entführung

Da der Vorschulunterricht abwechselnd in einer der Wohnungen der beteiligten Jungen stattfand, wurde Daniel stets von Mirjam oder Elli, ihrer Hausangestellten, begleitet. An dem aufregenden Tag, an dem er verschwand, war Elli an der Reihe.

Eigentlich hätten Daniel und Elli schon vor einer halben Stunde zurück sein müssen. Mirjam wurde unruhig. Sie war bereits in heller Aufregung, als sie bei uns anrief, ob Daniel etwa bei uns sei. Das mussten meine Eltern verneinen und boten ihre Hilfe bei der Suche an.

Zu dieser Zeit holte mich Oma Franzi gerade vom Kindergarten ab. So bekam ich von dem ganzen Drama vorerst nichts mit. Daniels und meine Eltern suchten die ganze Strecke ab, welche Daniel an diesem Tag zu gehen hatte, und überprüften sogar alle Nebenstraßen. Ohne Erfolg. Als Mirjam und David völlig erschöpft zurückkamen, fanden sie Elli weinend und schluchzend in der Küche. Auch Mirjam war jetzt in Tränen aufgelöst. Sie packte Elli an den Schultern und schüttelte sie: „Wo ist Daniel? Kannst du nicht besser auf ihn aufpassen?“

David hielt Mirjam zurück: „Mirjam, bitte, setz dich! Wir müssen vernünftig darüber sprechen. Was war los, Elli?“

Elli erzählte zwischen Schluchzen und Naseputzen: „Ich hörte ein Auto anhalten und plötzlich packte mich jemand von hinten, stopfte mir ein Tuch in den Mund und stülpte mir eine schwarze Kapuze über den Kopf. Dann zog er am Hals an einer Schnur, bis die Kapuze verschlossen war.“

„Und Daniel, was war dann mit Daniel?“, rief Mirjam ungeduldig.

„Dasselbe muss ein anderer Mann zur gleichen Zeit mit Daniel gemacht haben, denn ich hörte von ihm keinen Mucks. Als der Mann mich losließ, fuhr das Auto auch gleich davon. Bis ich meine Kapuze aufbinden konnte, war es schon um die nächste Ecke verschwunden.“

„Waren denn keine Leute in der Nähe, die etwas gesehen haben könnten?“

„Nein, die Straße war ganz leer.“

„Und warum bist du nicht sofort hergekommen und hast uns alles erzählt?“

Wieder fing Elli zu schluchzen an: „Ich bin erst in die Richtung gerannt, wohin das Auto vielleicht gefahren sein könnte, und weil ich es nicht gesehen habe, bin ich zu mir nach Hause gegangen. Ich habe mich nicht hergetraut.“

Das Läuten des Telefons unterbrach das Gespräch. Mirjam und David eilten gleichzeitig zum Apparat.

„Sie werden Ihren Sohn vermissen!“, sagte eine Männerstimme.

„Ja, selbstverständlich!“, rief David. „Lassen Sie ihn sofort frei!“

„Oder was sonst? Sie wissen genau, dass es die Polizei nicht interessiert, wenn ein Judenbengel weniger auf der Straße ist. Ihrem Jungen geschieht nichts. Ich will ihn weder verletzen noch töten.“

„Also, was wollen Sie? Geld?“