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Kurt Lehmkuhl

Tödliche Annakirmes

Kriminalroman

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlagbild: © Fotimmz – Fotolia.com

Umschlaggestaltung: Benjamin Arnold

ISBN 978-3-7349-9396-1

Kirmes-Schmitz

»Sie sind doch Journalist, oder?«

»Ja«, knurrte Bahn ungehalten. Er mochte es überhaupt nicht, wenn ihn jemand in seiner Mittagspause anquatschte, während er mit einem Schinkenbaguette in der Hand durch die Fußgängerzone bummelte und in die Schaufenster schaute. Und er mochte es noch weniger, wenn ihn jemand von hinten ansprach.

»Das ist doch wohl nicht verboten, oder?«, meinte er kauend, während er sich langsam umdrehte.

Bahn erblickte einen älteren, schäbig gekleideten Mann, nach seiner Einschätzung einen heruntergekommenen Penner. Trotz der hochsommerlichen Temperaturen Mitte Juli trug der unrasierte, langhaarige Mann einen viel zu großen, abgewetzten Lodenmantel, in dem er sich fast schon versteckte. Er hielt eine angetrunkene Flasche Metaxa in der Hand.

Der kann am Pegel der Flasche ablesen, wie viel Uhr wir haben, dachte Bahn zynisch, darauf gefasst, dass der Penner ihn gleich um ein Almosen anhauen würde. Instinktiv nestelte er in seiner Lederjacke herum, um vielleicht ein Geldstück zu finden. Dem Kerl ein paar Kröten in die Hand zu drücken, war wahrscheinlich die beste Methode, ihn schnell wieder quitt zu werden. Er hatte Besseres zu tun, als sich von der Schnarchtüte in ein Gespräch verwickeln zu lassen.

Der Penner stierte Bahn lange mit großen, tiefliegenden Augen an, ohne etwas zu sagen.

»Was soll das?« Der Journalist reagierte herrisch. Er hatte es wahrlich nicht nötig, sich mit einem derartigen Typen abzugeben. Das war nicht seine Welt.

»Willst du Geld, oder was?«

»Kennen Sie mich denn nicht mehr, Herr Bahn?« Höflich und unsicher fragte ihn der Penner. Mit zitternden Händen führte er die Flasche an den Mund und nahm einen kräftigen Schluck. Zweifelnd und ängstlich blickte er Bahn an.

Bahn war verwirrt.

»Keine Ahnung, woher soll ich Sie denn kennen?« Er musterte vorsichtig den Alten, der die abschätzenden Blicke geduldig ertrug.

»Nein. Woher soll ich Sie denn kennen?«

Bahn biss in sein Baguette und blickte sich verstohlen um. Ein Gespräch mit einem Penner auf offener Straße mitten in der bevölkerten Dürener Einkaufspassage war nicht gerade nach seinem Geschmack. Auch war es ihm unangenehm, von Vorübergehenden mit diesem zersausten Zeitgenossen gesehen und eventuell sogar erkannt zu werden. Er war der Ansicht, förmlich die Blicke der Passanten auf sich zu ziehen, und manchen, der ihn anstarrte, glaubte Bahn zu kennen. Dieser Störenfried gehörte einfach nicht zu seinem gesellschaftlichen Umfeld. Immerhin war der Journalist nicht unbekannt in Düren und er achtete dementsprechend auf sein Image.

Wieder musterte er den verhärmten Penner. Irgendwie, die Augen, dachte sich Bahn. An Augen erinnerte er sich gelegentlich. Vielleicht habe ich ihn doch schon einmal gesehen. Doch diese Augen, trüb, fast schon glasig tot, hatte er nicht ein Erinnerung.

Auch wenn er sich innerlich sträubte, seine Neugierde hatte der Unbekannte geweckt.

»Sie kennen mich garantiert«, meinte der Alte überzeugt.

»Von der Annakirmes, Herr Bahn.« Er lächelte kurz.

»Klingelt’s jetzt?«

Der Journalist schüttelte verneinend den Kopf.

»Tut mir leid. Ich weiß wirklich nicht, wohin ich Sie stecken soll.«

Die Annakirmes, das war so etwas wie seine zweite Heimat, da glaubte Bahn, sich bestens auszukennen. Die Dürener Annakirmes war das größte Volksfest zwischen Köln und Aachen mit einer langen Tradition und mit ständig neuen Attraktionen. In jedem Jahr kamen bis zu eine Million Besucher an den acht Kirmestagen von nah und fern auf den Platz an der Rur.

Vom Rummel sollte er den Typen kennen?

Kann nicht sein, sagte er sich.

Helmut Bahn und die Annakirmes, das gehörte zusammen wie Pech und Schwefel oder Hänsel und Gretel. Als Redakteur des Dürener Tageblatts hatte er schon seit mehr als zehn Jahren über die Annakirmes geschrieben. Er kannte viele Schausteller persönlich und hatte manche gesellige Nacht in den Wohnwagen von Kirmesbeschickern versoffen. Wenn es galt, in der Lokalzeitung über den Rummel zu berichten, da lief Bahn zur Hochform auf, da gingen aber auch manchmal die Pferde mit ihm durch in seiner Begeisterung.

Kirmes und Karneval, das war seine journalistische Welt. Da gab es niemand in Düren, der ihm das Wasser reichen konnte. Wenn’s um soziale oder kulturelle Themen ging, legte er den Rückwärtsgang ein und überließ sie gerne seinen Kollegen vom Dürener Tageblatt.

Kirmes und Karneval, mehr brauchte er nicht an journalistischen Höhepunkten. Er wurde von den Schaustellern respektiert, ihm gewährten sie gerne einen Blick hinter die Kulissen, der anderen verwehrt blieb. Das hatten in den letzten Jahren zähneknirschend auch seine Kollegen der beiden lokalen Konkurrenzblätter, Dürener Zeitung und Dürener Nachrichten, akzeptieren müssen.

Bahn engagierte sich als Redakteur, aber in erster Linie als eingeschworener Dürener für die Annakirmes. Er hatte im Laufe der Jahre die Akteure und Besucher, die Betreiber der Fahrgeschäfte ebenso wie die Inhaber der Losbuden oder die vielen, oft wechselnden Gastronomen kennengelernt, und er hatte auch mit eigenen Ideen dazu beigetragen, das Kirmesprogramm noch zu verbessern. So hatte er Franz Zins, dem früheren Leiter des Amtes für Gewerbe und Marktangelegenheiten in der Dürener Stadtverwaltung, der wegen seiner souveränen und geschickten Art, den Rummel für die Stadt zu organisieren, liebevoll »Kirmesdirektor« genannt wurde, unter anderem vorgeschlagen, am Eröffnungstag der Annakirmes die Weltmeisterschaft im Kirschkernweitspucken auszutragen. Bei der Einführung einer alljährlichen Wahl der Miss Annakirmes hatte Bahn ebenfalls kräftig mitgemischt.

Und auch in diesem Jahr freute sich der Journalist schon auf das Volksfest, das in weniger als zwei Wochen beginnen sollte. Immer am letzten Samstag im Juli wurde die Kirmes Punkt 14 Uhr mit drei Böllerschüssen eröffnet, und er würde, wie immer, dabei sein.

Aber den abgehalfterten Typen, der jetzt in der belebten Fußgängerzone vor ihm stand, den konnte Bahn beim besten Willen nicht mit der Annakirmes in Zusammenhang bringen.

»Ich seh’s Ihnen an, Sie kriegen’s nicht auf die Reihe.« Wieder lächelte der Penner verständnisvoll.

»Kein Wunder, woher sollen Sie mich auch wiedererkennen.« Entschuldigend und verlegen rückte er den schweren Lodenmantel zurecht.

Bahn war sich nicht schlüssig. Sollte er sich auf das Gespräch weiter einlassen oder sollte er sich mit einer Floskel verabschieden und zurückziehen?

Gib’ ihm ’ne Mark und es ist gut, sagte er sich und griff wieder in seine Lederjacke.

»Drei Jahre ist’s schon her, dass wir uns auf der Annakirmes das letzte Mal gesehen haben, Herr Bahn.« Der Penner hatte ihm die Entscheidung über das weitere Vorgehen abgenommen.

»Ihre Freundin hatte da doch die Wahl zur Miss Annakirmes gewonnen. Sie waren darauf noch stolzer als Ihre Freundin und haben unentwegt gestrahlt.«

Bahn erinnerte sich nur zu gut an diese Zeit. Er hatte damals alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit seine Dauerfreundin Gisela bei dem Wettbewerb gewann. Und es hatte geklappt, dank Schausteller und Organisatoren. Sie hatten Gisela im Wettbewerb mit allen Mitteln unterstützt und sie schon vorher mit allen Spielen und Fragen vertraut gemacht. Die kleine Kulissenschieberei zum Nachteil der anderen Kandidatinnen war nie rausgekommen.

Heutzutage wäre das nicht mehr möglich gewesen. Da hatte sich nach dem Abschied von Zins zu viel auf dem Rummel verändert, da war eine Wahl zur Miss Annakirmes nicht nur mit repräsentativen Pflichten, sondern auch mit handfesten wirtschaftlichen Vorteilen verbunden.

»Sie waren Sie doch noch bei mir an der Losbude.« Der Alte riss Bahn aus der Erinnerung.

»Ich habe Ihrer Freundin einen Riesenteddybär gegeben. Sie haben uns dann fotografiert. Beim Zauberer nebenan haben wir dann mit Ihrer Freundin und dem Plüschbären den Trick mit der Kettensäge versucht. Das war doch eine gewaltige Sauerei. Das vergisst man doch nicht.«

Bahn schluckte und stutzte. Es fiel ihm wieder ein. Der Bär war durch die Kettensäge zerfetzt worden, seine Freundin war, selbstverständlich, unversehrt geblieben. Er hatte damals eine Supergeschichte geschrieben vom Teddybären, der sich für Miss Annakirmes geopfert hatte.

Das war Kirmes, das war Schau pur gewesen.

»Und Sie waren damals an der Losbude?«, fragte er den Penner interessiert.

»Und Sie haben den Teddy rausgerückt?« Krampfhaft kramte er in seinem Gedächtnis nach Anhaltspunkten, die auf diesen Kerl zutrafen. Irgendwie …

»Ja, ich war da an der Bude einer der Losverkäufer.« Der Säufer stockte kurz und senkte verschämt den Blick.

»Schmitz ist mein Name.«

Der Name kam Bahn bekannt vor. Schmitz gab es in Düren zwar so häufig wie kaum einen anderen Namen, von Müller einmal abgesehen, aber dieser Mann, der da vor ihm stand, den kannte er tatsächlich.

»Schmitz? Sind Sie etwa der Kirmes-Schmitz?« Bahn schüttelte ungläubig den Kopf. Das konnte eigentlich nicht sein. Das war geradezu absurd, dass dieser Typ vor ihm Kirmes-Schmitz sein sollte.

Kirmes-Schmitz war trotz seiner ihm eigenen Zurückhaltung eine Institution gewesen auf der Annakirmes. Kirmes-Schmitz hatte als bester Losverkäufer in Düren gegolten. Die Losbuden rissen sich alljährlich förmlich um ihn, wenn sie den Zuschlag für Düren bekommen hatten. Aber er war immer nur einer Bude treu geblieben. Kirmes-Schmitz hatte den richtigen Draht zu den Kirmesbesuchern, an ihm kam keiner vorbei im noch so großen Gedränge, ohne ein Los gekauft zu haben. Mit hohen Provisionen hatten sie ihn gelockt, auch auf dem Öcher Bend in Aachen und auf dem Pützchens Markt in Bonn-Beuel mitzuarbeiten.

Doch Kirmes-Schmitz hatte stets abgelehnt. Für ihn gab es nur die eine Kirmes, die Annakirmes in Düren.

Aber das war nur die eine Seite von Kirmes-Schmitz gewesen. Er hatte es gar nicht nötig, Lose zu verkaufen. Er tat es aus purem Spaß an der Freud’. Er hatte Bierbuden auf dem Rummel stehen. Zwar bescheiden im Hintergrund, aber strategisch gut verteilt, hatte er auf dem Kirmesplatz zuletzt zehn Getränkestände, die er von Aushilfskräften während der Kirmestage betreiben ließ. Kirmes-Schmitz hatte direkt nach dem Krieg die ersten Bierbuden angeschafft, und er gehörte seitdem einfach zum Rummel dazu. Die Bierquellen warfen genug Ertrag für ihn ab, um sorglos übers Jahr zu kommen.

Man respektierte Kirmes-Schmitz auf dem Platz und neidete ihm die Buden nicht. Es gab ausreichend Verdienstmöglichkeiten für die anderen Anbieter. Kirmes-Schmitz hatte sich nie aufgedrängt. Man kannte ihn zwar auf dem Rummel, nahm ihn aber doch nicht über Gebühr zur Kenntnis.

So still und leise, wie Kirmes-Schmitz sein stattliches Geld auf und mit der Annakirmes verdient hatte, so still und leise war er auf einmal auch verschwunden.

Selbst Bahn hatte nicht mitbekommen, dass Kirmes-Schmitz nicht mehr am Kirmesgeschäft teilnahm. Als irgendwann einmal das Thema auf dessen Ausscheiden kam, hatte es nur geheißen, Kirmes-Schmitz habe seinen Reibach gemacht und privatiere nur noch vor sich hin.

Damit hatte sich auch Bahn zufriedengegeben.

Und dieser Penner, der jetzt vor ihm stand, sollte Kirmes-Schmitz sein? Bahn konnte und wollte es nicht glauben.

Das konnte einfach nicht sein und war doch so.

»Ja, ich bin’s. Ich bin Kirmes-Schmitz«, bestätigte der Alte leise und verschämt.

»Aber, wieso?« Bahn war betroffen und unbeholfen.

»Was ist?« Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Da half nur die alte Journalistenfrage, die immer wieder zog, wenn dieses Mal auch Verlegenheit mit dabei war: »Was kann ich für Sie tun?«

Schmitz schüttelte seinen Kopf.

»Nichts. Es ist ohnehin zu spät.« Er schaute Bahn traurig an.

»Die Leber, der Suff. Ich hab’ nicht mehr lange.« Wieder führte er zitternd die Schnapsflasche an den Mund. Er nahm einen kräftigen Schluck und hustete.

»Lassen Sie es gut sein, Herr Bahn.« Schmitz drehte sich ab und wollte davonschlurfen.

»Moment mal!« Bahn verstand überhaupt nichts mehr. Er hielt den Penner am Ärmel fest.

»Erst fragen Sie mich, ob ich Journalist sei, und dann wollen Sie so sang- und klanglos verschwinden. Was wollten Sie denn eigentlich von mir, Herr Schmitz?«

»Nichts, wirklich nichts«, beteuerte der Penner.

»Ich wollte mich nur noch testen, ob ich Sie richtig in meinem Gedächtnis habe.«

Bahn glaubte ihm nicht.

»So einfach kommen Sie mir nicht davon, Herr Schmitz. Wenn Sie mich schon auf der Straße anquatschen, dann will ich auch wissen, warum. Wenn Sie Geld wollen, bitte schön!« Bahn langte in eine Hosentasche, zog ein Bündel Geldscheine vor und reichte Schmitz einen Fünfziger.

Schmitz lehnte ab.

»Ich komme schon alleine über die Runden.« Er atmete tief durch und schaute Bahn offen an.

»Ich bin tief gesunken, was?«

Bahn zuckte mit den Schultern.

»Na, das ist eine lange Geschichte, zu lange, um sie Ihnen hier und jetzt zu erzählen. Wenn Sie interessiert sind, sagen Sie mir Bescheid. Sie finden mich bestimmt leicht. Sie sind ja Journalist.«

Wieder drehte Schmitz sich um und jetzt schritt er hurtig davon, ehe der verblüffte Bahn reagieren konnte. Schnell war er in der Fußgängerzone zwischen den vielen Menschen aus Bahns Blickwinkel verschwunden.

Merkwürdig, wie das Schicksal so spielt, grübelte Bahn, während er langsam zur Redaktion in der Pletzergasse ging. Hoffentlich ziehen wir bald um, ärgerte er sich. Jedesmal musste er an der Redaktion der Dürener Zeitung vorbei, die unmittelbar gegenüber der DTB-Redaktion ihre Büroräume hatte. Mit der DZ kam Bahn einfach nicht klar. Das Blatt machte mit seinem Lokalteil dem Tageblatt gehörig zu schaffen. Die sind schon gut, die Jungs. Selbst der Lokalchef Fritz Waldhausen hatte ein Kompliment für die Konkurrenz übrig, was wiederum Bahn missfiel.

Auf seinem Schreibtisch lagen etliche Manuskripte von freien Mitarbeitern, die die Redaktionssekretärin in den Rechner übertragen hatte und die er nun am Computer redigieren sollte.

Mit dem neuen Redaktionsleiter Waldhausen, der Anfang des Jahres eingestellt worden war, war auch ein neues Zeitalter in der Redaktion angebrochen. Die Redakteure saßen fast nur noch vor dem Computer und bearbeiteten elektronisch das Material anderer Schreiber. So sah es zumindest die neue Arbeitsphilosophie vor. Zeit für eigene Geschichten oder für eine intensive Recherche blieb da den Redakteuren normalerweise wenig.

Ich bin kein Journalist mehr, korrigierte Bahn insgeheim den Penner, während er mit Tastatur und Maus hantierte und auf den Bildschirm starrte, ich bin nur noch ein Redaktroniker.

Dennoch nahm er sich vor, sich mit Kirmes-Schmitz zu treffen. Das war schon eine Sache der Solidarität unter altgedienten Kirmesleuten, zu denen sich auch Bahn zählte.

Warum war Kirmes-Schmitz bloß in der Gosse gelandet? Diese Frage interessierte Bahn sehr. Daraus würde er eine spektakuläre Reportage zaubern.

Unter Brüdern

Mit dem neuen Redaktionsleiter war nicht nur ein neues Zeitalter in der Redaktion angebrochen. Waldhausen, der Nachfolger des im letzten November vermeintlich tödlich verunglückten Werner Taschen, hatte auch ein neues Arbeitsklima geschaffen. Waldhausen setzte verstärkt auf Zusammenarbeit, hielt sich mehr im Hintergrund und zog die Fäden. Er gab den Redakteuren mehr Freiheit für mehr Eigenintiative und damit zwangsläufig mehr Verantwortung für sich und das Blatt und kompensierte damit den Frust, den das öde Redigieren am Bildschirm schnell auslösen konnte.

Bahn gefiel dieser Stil, er kam ihm entgegen. Mit Waldhausen, der vom Bonner Generalanzeiger zum Dürener Tageblatt gewechselt war, lag er auf einer Wellenlänge, was bei Taschen nicht der Fall gewesen war. Bahn hatte nach einem Gespräch mit der Chefredaktion in Köln akzeptiert, dass er nicht DTB-Lokalchef werden konnte. Im Nachhinein waren ihm die Gründe egal, man hatte ihm seine Treue zum Verlag mit einer saftigen Gehaltserhöhung versüßt. Unterm Strich hatte er jetzt nicht weniger im Portemonnaie als der drei Jahre jüngere Waldhausen, aber bei weitem nicht dessen Verantwortung.

Bahn berichtete seinem Chef am nächsten Morgen über die Begegnung mit Kirmes-Schmitz, als dieser ihm die Einladung zu einem Pressegespräch der Schausteller anlässlich der Annakirmes weiterreichte.

»Kümmer’ dich drum«, kommentierte Waldhausen kurz.

»Vielleicht gibt’s ja ’ne Geschichte, du Kirmes-Experte. Und jetzt raus!« Damit gab er scherzhaft zu verstehen, Bahn solle sich auf den Weg machen. Geschichten ersitzt man sich nicht mit einem platten Hintern, sondern erläuft man sich, war Waldhausens Devise.

Bahn hatte freie Fahrt. Er wusste, er konnte sich voll auf Kirmes-Schmitz konzentrieren. Sein Chef würde in der Redaktion den ganzen Kleinkram wegputzen, sich zum Redaktroniker reduzieren, um dem Journalisten Bahn zu motivieren. Taschen hätte ihm wahrscheinlich die Geschichte weggenommen und dann als seine eigene dargestellt. Da war Waldhausen viel kollegialer.

»Weißt du, wo ich hier in Düren die Penner finde?«, fragte Bahn die Redaktionssekretärin.

Fräulein Dagmar, die schon seit Jahrzehnten aus dem Sekretärinnenzimmer heraus als ruhender Pol die Redaktionsgeschicke dirigierte, runzelte erstaunt die Stirn.

»Habe ich was verpasst? Willst du etwa unter die Schluckspechte gehen?« Sie dachte kurz nach.

»Ich würde mein Glück entweder im Stadtpark versuchen oder am Brunnen im Park zwischen Langemarkstraße und Josef-Schregel-Straße.« Sie blickte kurz zur Uhr und überlegte.

»Um diese Zeit werden sie wohl in der Innenstadt sein.«

Sie musste lachen, als sie Bahn verblüfft-fragendes Gesicht sah.

»Die Geschäfte haben gerade aufgemacht. Die Penner müssen sich doch nach der langen, trockenen Nacht Nachschub holen. Und den gibt’s nun mal nicht auf der grünen Wiese«, erläuterte sie.

»Vielleicht triffst du ja auch den Muschelsack zum gemeinsamen Schlucken.« Den Seitenhieb auf einen stadtbekannten Journalisten konnte sich Fräulein Dagmar nicht verkneifen. Der Kollege betrieb fast in Blickkontakt zum Pennertreff auf der Josef-Schregel-Straße seit vielen Jahre schon ein Redaktionsbüro, und er, ausgerechnet ein Verwandter, mit dem Fräulein Dagmar schon seit Jahren im familiären Dauerclinch lag, hatte die rote Nase beileibe nicht nur vom chronischen Schnupfen.

»Der hat sich bei den Pennern doch immer die Informationen geholt. Das macht der bestimmt jetzt noch«, lästerte sie unverblümt.

Aber auch Bahn bekam noch eine spitze Bemerkung mit auf den Weg.

»So wie du rumläufst, erkennen die dich gleich als einen der ihren an. Da bist du gleich unter Brüdern.«

Fräulein Dagmar stammt halt noch aus einer Zeit, als die Herren Redakteure mit Schlips und Anzug durch die Gegend liefen und am Schreibtisch Ellebogenschoner über die Ärmel stülpten, dachte sich Bahn zu ihrer Entschuldigung. Er hatte an seinem Äußeren nichts auszusetzen, wie er mit einem raschen Blick in den Garderobenspiegel feststellte. Das blonde Haar war kurz geschnitten und gepflegt, das Lacoste-T-Shirt und die Diesel-Jeans waren nicht verwaschen oder zerknittert und die Lloyd-Schuhe waren frisch poliert.

Bahn machte kein Hehl daraus, er hatte es mit Mitte 30 geschafft. Das Geld stimmte, seine Dauerfreundin Gisela war fast immer für ihn da, der alte Porsche 911 stand wie so oft im eingeschränkten Halteverbot in der Nähe der Redaktion und sein Haus in der Boisdorfer Siedlung nahm mit zunehmender Renovierung langsam die von ihm gewünschte Form an. Mir geht’s gut, sagte er sich zufrieden, während er seine alte, abgewetzte und doch elegante Lederjacke vom Haken nahm.

Fräulein Dagmar hatte mit ihrer Überlegung recht gehabt, stellte Bahn anerkennend fest, als er vom Parkhaus an der Philippstraße um die Ecke zur Langemarckstraße bog. Die überschaubare Schar der Pennbrüder hatte sich in dem kleinen Park versammelt. Einige saßen auf dem Brunnenrand, andere hatten es sich im Gras bequem gemacht, auf den drei Bänken lagen ausgestreckt schlafende Gestalten. Die Penner musterten Bahn ausgiebig, der sich langsam und zögernd näherte.

Gibt’s denn hier ’nen Häuptling oder so?, fragte sich Bahn. Wen sollte er ansprechen? Die Typen hatten alle nicht seine Kragenweite. Ungepflegt und unrasiert, schäbig gekleidet lungerten die Penner herum, manche hatten Bierdosen in der Hand, leere Schnapsflaschen lugten aus dem vollen Abfallkorb. Viele Plastiktüten flogen umher. Es fiel Bahn auf, dass die Männer dick vermummt waren. Alles, was sie besaßen, nämlich ihre abgetragene, schmutzige Kleidung, trugen sie am Leibe.

»Was wollen Sie hier? Kann ich irgendwie behilflich sein?«

Überrascht von der Höflichkeit, mit der er angesprochen wurde, wandte sich Bahn dem Mann zu, der ihn gefragt hatte. Der Penner unterschied sich nicht sonderlich von seinen Weggefährten.

»Suchen Sie jemanden?«

Offensichtlich war es keine Seltenheit, dass ein Fremder in die Welt der Penner eindrang auf der Suche nach einem Verschwundenen, dachte Bahn.

»Ja«, bestätigte er, während er seine Augen durch das Gelände schweifen ließ. Doch er konnte Kirmes-Schmitz nicht entdecken.