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Jan Schröter

Engel fallen tiefer

Ein Hamburg-Krimi

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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die gedruckte Ausgabe dieses Romans erschien 1994 im Verlag Hamburger Klönschnack Klaus Schümann mit der ISBN 978-3980386319.

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Herstellung: Edition Temmen

E-Book-ISBN 978-3-8378-8044-1

Vorwort zur Neuauflage

»Engel fallen tiefer« schrieb ich 1991. Überwiegend während meiner Arbeitszeit: Damals war ich Teilhaber einer kleinen Buchhandlung, in die sich eher selten Kundschaft verirrte. Ein Jahr später war die Buchhandlung abgewickelt und ich setzte meine Karriere auf die Karte »Vollzeitautor«, zunächst vor allem als freier Journalist und Verfasser von Reiseliteratur. Die »Engel« brachte ich glücklich bei einem Verlag unter, der eigentlich keine Krimis im Programm führte, sondern eine Stadtteilzeitung herausgab – weshalb man lediglich eine sehr kleine Auflage druckte und diese nicht annähernd verkaufte. Das war es dann mit dem Raketenstart als Bestseller-Autor.

Nach annähernd 25jährigem Autorendasein mit etlichen Buch- und Drehbuchveröffentlichungen ist »Engel fallen tiefer« nun als E-Book zu haben. Ein neues Medium für einen Kriminalroman aus einer Zeit, in der man weitgehend ohne Mobiltelefone und Internet auskam und selbst privat genutzte Personalcomputer nicht flächendeckend präsent waren. Vielleicht gefällt mir genau deshalb mein erster Roman von damals heute noch so gut.

Ihnen hoffentlich auch, wünscht

Jan Schröter.

Kapitel 1

Ein gebrochener Sonnenstrahl malte skurrile Gebilde an die Decke. Eindeutig Chagall. Die Junihitze sorgte für Stille auf Altonas Straßen, als wäre es ein mexikanisches Provinznest zur Mittagszeit. Irgendwo wurde ein Fenster geschlossen, die Lightshow stürzte ab. Ich lag auf meinem Sofa und dachte über die Möglichkeit nach, die Kaffeemaschine mittels intensiver geistiger Konzentration telepathisch zu animieren, sich selbstständig mit Filtertüte, Kaffee und Wasser zu füllen. Ich hätte es bestimmt geschafft, doch gerade, als ich die Widerstände in der Maschinenelektrik förmlich dahin schmelzen fühlte, klingelte es an der Tür. Ich öffne nie, wenn es nur einmal läutet – wer wirklich etwas von mir will, wird sich schon bemerkbar machen. In diesem Fall schien der Störenfried mit meinen Gewohnheiten vertraut zu sein, denn nach dem fünften Klingeln erzitterte die Tür unter einem derben Faustschlag.

»Mach auf Quincy – hier is’ Kalle!«

Mein Nachbar Kalle. Knappe vierzig Jahre alt, geschieden, Staplerfahrer im Baustoffhandel, bekennender Fußballfan. Kaum eine samstägliche Sportschau in der vergangenen Saison, die wir nicht zusammen gesehen haben. Allerdings war heute Montag.

»Ich komme!«

Kalle war nicht allein. Neben ihm stand ein schmächtiges, etwas schüchtern wirkendes Männchen, das auf den ersten Blick nur aus Mittelmaß und einer Hornbrille bestand. Natürlich sieht neben Kalle fast jeder etwas unscheinbar aus. Kalle ragt 204 Zentimeter in die Höhe, hat eine Statur, als würde er sich ausschließlich von Hormonpräparaten ernähren und ein Gesicht wie ein militärisches Sperrgebiet – nach dem Manöver.

»Lass uns rein!« dröhnte er. Ich trat beiseite und die beiden schlingerten mit leichter Schlagseite in meine gute Stube. Ich brauchte nur dem Bierdunst zu folgen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Kalle sank ächzend in meinen Ledersessel, Mr. Durchschnitt hockte auf dem äußersten Rand des verbliebenen Stuhls wie ein verängstigtes Huhn.«Mann, ist mir heiß!« stöhnte mein Nachbar.

»Ich hab trotzdem kein Bier im Haus«, baute ich seiner fraglos nächsten Bemerkung vor. »Wer ist denn dein Kumpel da?«

»Heinz Schubert, mein Arbeitskollege. Heinz, das ist Quincy«.

»Bisse’n Ami?« fragte Heinz, das Hühnchen.

»Nein«, klärte ich ihn auf. »Quincy ist bloß ’ne Abkürzung. Für Quinctilius.«

»Bitte?«

»Vergiss es.«

Dabei war es nicht gelogen: ich heiße tatsächlich so. Mein Vater hatte eine Schwäche für Geschichte und für Ausgewogenheit. Unseren Familiennamen – Hermann- empfand er als Reminiszenz an Hermann, den Cheruskerfürsten, der mit seinen Stammesgenossen Anno 9 n.Chr. die Römer erfolgreich davon abhielt, den germanischen Norden mit Viadukten, Sportarenen und Kasernen zu beglücken, indem sie die anrückenden römischen Legionen im Teutoburger Wald nahezu restlos massakrierten. Hermanns Gegenspieler war der römische Statthalter Germaniens, Publius Quintcilius Varus. Nach der Niederlage beging er Selbstmord, vermutlich, um einem schmählichen Ende im Circus Maximus zu entgehen. Der Name Publius erschien meinem Vater wohl als zu ordinär, Quinctilius war offenbar besser geeignet, die Harmonie zwischen Vor- und Nachnamen zu gestalten. Ich kann noch von Glück reden, dass Vater kein Buddhist war, sonst würde ich wahrscheinlich als Ying-Yang Hermann durch die Welt laufen.

»Sieht so aus, als müsste der glorreiche Baustoffhandel W&F heute ohne die beiden Spitzenkräfte des Hauses seine Transaktionen abwickeln. Riecht auch so, nebenbei bemerkt.«

»Hörsse, wie der geschwollen reden tut, Heinz? Is ’n richtig gebildeter Typ, der Quincy, hab ich doch gesagt.«

Heinz grunzte nur und blickte mit seinen durch dicke Brillengläser grotesk verzerrten Spanielaugen abwechselnd zu Kalle und zu mir. Bisher war dieser Besuch wirklich nicht die Krönung des Tages.

»Gut, Jungs. Ihr habt doch irgendetwas auf der Pfanne, sonst würdet ihr mir an eurem außerplanmäßigen Urlaubstag nicht auf die Pelle rücken. Was ist los?«

»Mein Kumpel hat Sorgen«, Kalle wies mit dem Zeigefinger auf Heinz, »da hab ich mir gedacht, dass du ihm vielleicht helfen kannst. Erzähl’ doch noch mal, Heinz.«

»Wenn du meinst, Kalle…«

Ich lehnte mich auf dem Sofa zurück und versuchte, Heinz durch eine mild-verständnisvolle Onkel-Doktor-Miene zu enthemmen.

»Meine Tochter ist weg.« Heinz hockte noch immer auf der Stuhlkante und zog die Schultern hoch. »Schon über einen Monat jetzt. Ruft sonst jeden Sonntag an, die Kleine. Bloß jetzt schon fünf Wochen nicht, nicht mal letzten Donnerstag, wo ich Geburtstag hatte und sie doch sonst immer kommt, wenn ich Geburtstag hab’.«

Seine Schultern sackten herab, Trauer und Hilflosigkeit ließen ihn verstummen. Ich sah mich im Spiegelbild seiner dicken Brillengläser: Ein kleiner Quincy auf einem kleinen Sofa. Kummerkasten auf Empfang.

»Ich hab schon öfter versucht, bei Sandra anzurufen. Ist nie da. Gestern war ich sogar bei ihrer Wohnung, war aber auch nichts. Ich sehe sie zwar nicht oft, meine Kleine, aber sie ruft sonst immer sonntags an.«

»Heinzis Tochter studiert!« warf Kalle ein, als sei damit hinreichend erklärt, dass sie den telefonischen Kontakt einem persönlichen Besuch bei ihren Vater normalerweise vorzuziehen schien.

»Ja, Köpfchen hat Sandra! Lehrerin will sie werden!« Der Stolz gab Heinz sichtlich Auftrieb und Kraft genug, mir die Problematik der Geschichte etwas genauer darzustellen.

Bereits in Sandras frühester Kindheit starb ihre Mutter an einer Überdosis Tabletten. Ob es eine absichtliche Flucht aus der engen Welt zwischen Windeln, Heinz und einer viel zu kleinen Wohnung war oder ein Unfall, blieb ungeklärt. Zurück blieben Heinz, hilflos und traurig, und Sandra, die nun bei ihrer Großmutter aufwuchs und im Lauf der Jahre einen Ehrgeiz entwickelte, den ihr Vater nie gehabt hatte. Sie besuchte ein Gymnasium, erreichte ein gutes Abitur und begann ihr Studium. Was Heinz mit Stolz erfüllte, war allerdings gleichermaßen Grund für die zunehmende Entfremdung zwischen ihm und seiner Tochter, denn Heinz Schuberts Intellekt stieß bereits an seine Grenzen, wenn er das Wort Universität buchstabieren sollte. So sahen sie sich schließlich nur noch an Geburtstagen und Weihnachten. Und sie telefonierten miteinander – immer sonntags.

»Ich weiß ja gar nicht mehr so viel über Sandra«, schloss Heinz seinen Bericht, »aber irgendwas ist los. Angerufen hat sie immer.«

»Was ist mit der Großmutter, bei der sie aufgewachsen ist?« fragte ich.

»Vor zwei Jahren gestorben. Sandra war gerade drei Monate aus dem Haus und an der Uni. War hart für sie.«

»Und sonst? Familie? Freunde?«

»Keine Familie. Über Freunde weiß ich nichts. Hat sie nie was von erzählt.«

Ich lehnte mich zurück.

»Das ist alles nicht schön, Heinz, und ich kann verstehen, dass du dir Sorgen machst. Aber was soll ich da für dich tun können? Ich bin weder Kojak noch Schimanski – hast du es schon bei der Polizei versucht?«

»Hab’ ich. Die haben eine Personenbeschreibung aufgenommen und gesagt, wahrscheinlich macht sie bloß irgendwo Urlaub und ich soll mich nicht aufregen. Ich dachte, du kannst vielleicht… Kalle sagt, du kennst dich da aus an der Uni… du studierst auch… ich weiß gar nicht, wie das da ist und in welche Klasse Sandra geht, oder wie das da heißt. Vielleicht findest du jemanden, der sie kennt oder weiß, wo sie steckt. Mit mir reden die bestimmt nicht, und außerdem muss ich doch tagsüber zur Arbeit…«

»Normalerweise«, quatschte Kalle dazwischen.

»Ich zahle auch was! Fünfzig Mark pro Tag kann ich dir geben«, setzte Heinz nach. Die Spanielaugen fixierten mich bittend, sein halboffener Mund atmete Hoffnung. Ich kapitulierte.

»Ich versuch’s, Heinz. Gib mir Sandras Adresse. Ein Foto wäre auch gut. Mach dir keine großen Hoffnungen. An der Uni laufen tausende Studenten herum, kaum einer kennt den anderen. Aber lass mir deine Telefonnummer da, ich versuch’s.«

Kalle strahlte. »Siehste, Heinz, ist’n Kumpel, der Quincy! Hat was auf dem Kasten und sogar Ahnung von Fußball. Der macht das schon!«

Da war ich zwar anderer Ansicht, aber als ich Heinz erleichtertes Gesicht sah, kommentierte ich das nicht weiter. Meine Zusage schien ihn erheblich mehr zu trösten, als die zweifellos zahlreichen Biere, die Kalle ihm zuvor eingeflößt hatte. Er fingerte eifrig eine Fotografie aus seiner Brieftasche, schrieb ungelenk die gewünschten Daten auf einen Zettel und schob mir beides über den Tisch. Dann stand er auf.

»Kannst mich immer anrufen, auch nachts. Vielen Dank, Quincy! Dir auch, Kalle – kommt, ich geb noch einen aus.«

Kalle war begeistert. Eine gute Tat und Freibier, was will man mehr? Ich wollte allerdings meine Ruhe und schob die beiden zur Tür hinaus. Die Geschichte musste ich unbedingt liegend überdenken. Aber da ich nun schon stand, konnte ich ja zunächst Kaffee kochen – auf konventionelle Weise.

Kapitel 2

Würziges Kaffeearoma überlagerte die Aura aus Schweiß und Bier, die meine Besucher hinterlassen hatten. Auf meinem Bauch balancierte ich einen gefüllten Becher, aus dem eine aufsteigende zweigeteilte Dampfsäule sich auf dem Weg ins Nichts spielerisch mit sich selbst verknotete. Die Doppelhelix als Synonym für den vollendeten Kaffeegenuss – ein Referat von Professor Quinctilius Hermann, anerkannte Kapazität auf dem Gebiet des Nichtstuns.

Nobelpreisverdächtig.

Allerdings auch die einzige Fakultät, in der ich zu wissenschaftlichen Ehren gelangen könnte. Für Heinz und Kalle galt ich zwar als Geistesriese, nach normalen Maßstäben jedoch bestenfalls als akademischer Lumpenhund.

Mit fast 37 Lebensjahren war ich nicht gerade mehr die Idealbesetzung für die Rolle des jugendlichen Studenten, aber diese Tatsache hielt mich nicht davon ab, seit nunmehr fast zwei Jahrzehnten immer wieder andere Seminare zu belegen, Bis auf Keilschrift und Jazztanz hatte ich wahrscheinlich annähernd alles durch, was die Uni an allgemein zugänglichen Kursen anbot.

Dabei strebe ich nicht nach Examina oder einer Karriere. Ich habe zwar nichts gegen Luxus, aber ich finde es zu anstrengend, ihn zu finanzieren. Das Leben ist zu kurz, um mehr als nötig zu arbeiten. Ein Eigenheim, ein großer Wagen und eine elegante Ledercouch sind natürlich feine Dinge. Aber weil man dafür so viel arbeiten müsste, dass man kaum darin sitzen könnte, ziehe ich meine Bude, meinen alten Opel und das Sperrmüllsofa vor. Dieser bescheidene Lebensstil lässt sich bequem mit einigen Jobs dann und wann finanzieren. Der Umstand, dass mir meine Eltern neben einem gediegenen Vornamen auch ein gewisses Kapital hinterließen, das mir krisenfeste Zinseinkünfte im Rahmen des Existenzminimums garantiert, lässt mich erst recht keinen finsteren Gedanken bezüglich meiner Zukunft verschwenden. Über meinen Status würde jeder Yuppie die Nase rümpfen, aber im Grunde bin ich ein Snob – lasse niemanden über mich verfügen und benutze meine Bildung lediglich, um Kreuzworträtsel zu lösen.

Ich trank einen Schluck Kaffee.

Heinz tat mir leid. Er war nicht sehr helle und gutmütig bis an die Grenze zur Dummheit. Er bot das klassische Exempel eines Menschen, dem immer wieder etwas zustößt, was er sich nicht erklären kann. Die Frau bringt sich um, das Kind verschwindet, das Universum implodiert und die Heinzis der Welt ertragen alles ergeben mit erstaunten Hundeaugen.

Ich nahm das Foto seiner Tochter vom Tisch und betrachtete es. Ein Strandfoto. Eine junge Frau, mittelgroß, kurzgeschnittene, dunkelblonde Haare. Schwarze Radlerhose, weißes T-Shirt. Die Fußspitze des Spielbeins war verlegen in Richtung Standbein gekehrt (»Huch, man fotografiert mich!«), die linke Hand war energisch in die Hüfte gestemmt (»Was, man fotografiert mich?«), der Kopf neckisch seitwärts geneigt (»Dann fotografier mich doch!«). Ihr Gesicht war überraschend hübsch. Ihre Mutter musste wesentlicher attraktiver gewesen sein als Heinz, was auch Sandras gute Figur erklären würde. Sie zu finden, war eine schwierige Aufgabe. Schließlich konnte ich schlecht wahllos Leute auf dem Campus ansprechen, ihnen das Bild unter die Nase halten und geheimnisvoll »Kennen Sie diese Frau?« grunzen. Studenten können da ziemlich unfreundlich reagieren, und ich hatte keine Lust, zusammengeschlagen zu werden, nur weil man mich für eine Art Gestapo-Ermittler hielt Vielleicht könnte ich ihren Namen auf einem Aushang am Schwarzen Brett im Foyer des Pädagogischen Instituts entdecken. Falls Sandra sich für ein Schulpraktikum beworben hatte und auf einer der Bewerbungslisten aufgeführt war, wäre es möglich, über das Sekretariat der ihr zugeteilten Schule den Professor zu ermitteln, der sie betreute, in dessen Seminaren wiederum fänden sich bestimmt Kommilitonen von Sandra, die etwas über sie selbst oder engere Freunde von ihr berichten könnten.

Da ich jetzt, am späten Nachmittag eines schönen Junitages, natürlich kaum Leute in der Universität antreffen würde, konnte dieser Plan erst morgen angegangen werden. Vorher aber wollte ich selbst Sandras Wohnung aufsuchen, schon um mich selbst von ihrer Abwesenheit zu überzeugen, bevor ich die Recherche startete.

Der einsetzende Lärm der abendlichen Rush-Hour hatte die schläfrige Mittagsruhe abgelöst. Ich stellte den leeren Becher auf den Tisch, stand auf und schloss das offene Fenster. Erneute Ruhe war der Lohn für diesen Energieausbruch, erleichtert sackte ich auf mein Sofa zurück.

Mit der Fahrt zu Sandras Wohnung wollte ich bis zur Dunkelheit warten, schon um sehen zu können, ob dort vielleicht Licht brannte oder nicht. Bis dahin ließ sich ebenso gut die unterbrochene Siesta fortsetzen. Das konnte nur nützlich sein – man weiß ja schließlich aus zahlreichen Kriminalromanen, dass am Ende des Falles der Detektiv meist mehrmals angeschossen und verprügelt worden ist und außerdem seit mindestens 48 Stunden nicht mehr geschlafen hat.

Kapitel 3

Ich erwachte einige Minuten nach acht. Mein Magen erzählte mir etwas von Abendessen, also ging ich in die Küche und erschlug den Hunger mit einem King-Size-Sandwich, belegt mit Salat, Käse und Thunfisch.

Allmählich wurde es Zeit für die Pirsch. Ich kramte den Autoschlüssel aus der Jackentasche, steckte Sandras Foto und ihre Adresse ein und verließ meine Höhle.

Mein Opel war von der Sonne derart durchgeglüht, dass er kurz davor zu sein schien, seine Konturen aufzugeben und einzuschmelzen wie ein Bleiorakel am Silvesterabend. Ich fühlte mich wie eine Scheibe Toast.

Um aus dem Labyrinth der Altonaer Einbahnstraßen herauszukommen, bedarf es trotz profunder Ortskenntnis immer einiger Zeit. Die Straßen sind eng, die kleinen Altbauwohnungen mit kinderreichen Familien bevölkert. Ich kurvte um Ballspieler, gummitwistende Gören und zwei betrunkene Skinheads. In der Luft lag ein Hauch von Sommer, Smog und Döner Kebab.

Die Sonne stand schon tief, als ich über die Reeperbahn fuhr, wo die Damen vom Fach heute endlich einmal wettergerecht flanierten. Es war gerade schummrig genug, um den Neonreklamen genügend Licht zu verleihen, der ersten Welle vergnügungssüchtiger Vorstädter hohle Versprechungen ungetrübten Amüsements vorzugaukeln. An der Außenalster keuchten sich einige Jogger vor der Kulisse kreuzender Segeljollen den Bürostaub aus den Lungen, während an den mahagonihölzernen Bartresen der noblen Ruderclubs betuchte ältere Herren ihre Sundowner schlürften. Nicht, dass man mich je in einen solchen Club eingeladen hätte.

Sandra wohnte in Barmbek. In der Weidestraße dominierten Wohnklötze aus rotem Backstein, gebaut zwischen Inflation und Weltwirtschaftskrise. Auf der Suche nach der richtigen Hausnummer durchquerte ich einen Torweg und war überrascht, hinter der abweisend-trutzigen Fassade einen geräumigen, begrünten Innenhof vorzufinden.

Ein gefliester Weg führte von Haustür zu Haustür. Über der vorletzten Tür stand die gesuchte Nummer, neben einem der Klingelknöpfe ihr Name: Sandra Schubert.

Ich prüfte ihre Platzierung auf dem Klingelbrett und zählte die Stockwerke ab. Ihre Wohnung musste in der zweiten Etage auf der linken Seite liegen. Licht brannte dort nicht. Um sicher zu gehen, prägte ich mir die Position der Wohnung genau ein und ging wieder durch den Torweg zurück zur Straßenseite. Auch hier lagen Sandras Räume hinter den Fenstern in tiefer Dunkelheit. Gardinen entdeckte ich nicht. Falls es ein Rollo gab, war es jedenfalls nicht herabgezogen.

Ich ging erneut zum Hauseingang und drückte die obere Klingel. Nichts passierte. Ich probierte es einen Knopf tiefer und hatte Glück: Der Türsummer ertönte. Langsam schob ich die Haustür auf und verhielt mich still, bis irgendwo oben geräuschvoll eine Wohnungstür geschlossen wurde. Ich wartete noch ein paar Minuten, bevor ich die Treppenhausbeleuchtung einschaltete und die Briefkästen inspizierte: Merkwürdigerweise steckte zwar etwas Post in Sandras Briefkasten, aber es war nicht so viel, wie es nach wochenlanger Abwesenheit hätte sein müssen.

Ob sie doch zu Hause war?

Ich stieg zwei Treppen hinauf. Ihre Wohnung lag in der Tat im zweiten Stock links. Vorsichtig legte ich mein Ohr gegen die Tür. Quincy, der Spanner. Der Lauscher an den Gemächern züchtiger Jungfrauen. Leider hörte ich nur, was ich gesehen hatte – ein schwarzes Loch. Selbst nachdem ich klingelte, war keine Bewegung und kein Geräusch in der Wohnung zu bemerken. Die Treppenhausbeleuchtung erlosch. Ich würde also morgen die schwarzen Bretter im Pädagogischen Institut abklappern, wie geplant. Für heute schien die Grenze meiner Möglichkeiten hinsichtlich der Suche nach Sandra erreicht zu sein. Vielleicht irgendwo ein Feierabendbier…Das Licht ging wieder an, unten wurde die Haustür geöffnet.

Zeit, das Feld zu räumen.

Lässig trabte ich die Treppe hinab. Vor den Briefkästen, mit dem Rücken zu mir, stand eine junge Frau. Ihre Jeans war derart eng geschnitten, dass sie sich ebenso gut eine Zielscheibe auf den Hintern hätte malen können. Normalerweise hätte mein Blick etwas länger auf der Zwölf verweilt, aber im Moment fand ich ihre Hand viel interessanter, die wie ein Specht auf Beutesuche im Einwurfschlitz eines Briefkastens stocherte.

Der Briefkasten gehörte Sandra Schubert.

Kapitel 4

»Guten Abend«, grüßte ich formvollendet. Ihre Hand schoss aus dem Schlitz, als hätte sie in einen Kaktus gegriffen.

»Guten Abend ebenfalls«, erwiderte sie schnippisch.

Auch von vorn war ihr Anblick erfreulich. Ein gutgeschnittenes Gesicht mit zwei großen blauen Augen, die mich herausfordernd anblitzten. In der linken Hand trug sie einen Stapel Post, die sicher nur zum Teil an sie selbst adressiert war. Wenigstens errötete sie wie eine ertappte Ladendiebin. Ein Geschenk des Himmels.

»Sie sind sicher eine Freundin von Sandra, nicht wahr? Vermutlich damit beauftragt, den Briefkasten zu leeren, während sie weg ist. Blöde Aufgabe. Muss ich auch immer machen, wenn mein Nachbar verreist ist. Ich vergesse dann natürlich regelmäßig seinen Schlüssel in der Wohnung und wenn ich dann nach Hause komme, habe ich die Wahl, einmal zusätzlich die Treppe rauf und runter zu latschen, oder ich hole mir eine Fingerfraktur am Briefschlitz…«

Sie entspannte sich etwas.

»Naja, Freundin ist etwas zu hoch gegriffen. Ich bin Sandras Nachbarin. Ehrlich gesagt, hat sie mich auch nicht direkt darum gebeten, die Post aus dem Kasten zu nehmen. Aber sie scheint nicht da zu sein, und der Kasten quoll schon über.«

Wie zum Beweis streckte sie mir ihre Linke mit den gesammelten Werken entgegen.

»Damit die Briefe hier nicht herumliegen und nicht noch vielleicht irgendein Einbrecher auf dumme Gedanken kommt, fische ich jetzt immer alles aus dem Kasten heraus. Ich versteh’ allerdings nicht, warum Sandra mir keinen Schlüssel dagelassen hat! Wir haben sonst öfter auf unsre Wohnungen aufgepasst, wenn eine von uns weggefahren ist. Oder ist das jetzt ihr Job?«

Das Licht erlosch erneut. Die liebe Nachbarin schien über Sandras Verschwinden auch nicht mehr zu wissen als Heinz. Oder hatte sie ihre Finger im Spiel und bluffte einfach nur gut? Wie auch immer – jedenfalls tappte ich weiterhin im Dunkeln.

Ich stolperte über eine Fußmatte und rammte mit der Hüfte unsanft das Treppengeländer, bis ich endlich das rettende rotleuchtende Auge des Lichtschalters erreichte und wieder für klare Sicht sorgte.

»Weiß der Himmel, wie viele Leute so zu Tode kommen.« Ich rieb mir die schmerzende Stelle. »Tod durch Minutenlicht! Geht garantiert aus, wenn man mit drei vollen Einkaufstaschen und einer Getränkekiste zwischen zwei Stockwerken auf einer steilen Treppe manövriert.«

Sie lachte nicht einmal. Wieder einen Witz verschwendet.

»Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet. Passen Sie auf Sandras Wohnung auf?«

»Nein. Ich habe auch keine Ahnung, wo sie selbst steckt. Ich hoffte, sie könnten mir da weiterhelfen.«

»Tut mir leid. Fehlanzeige.«

Wäre ja auch zu einfach gewesen. Aber vielleicht wusste sie etwas über Sandras Freundeskreis? Mit ihr zusammen ein Bier trinken zu gehen, wäre fraglos eine wesentlich angenehmere Form der Recherche, als schwarze Bretter abzulatschen. Ich beschloss, die Karten auf den Tisch zu legen.

»Wissen Sie, ich bin ein Freund von Sandras Vater. Er macht sich ein bisschen Sorgen, weil er seit einiger Zeit nichts von seiner Tochter gehört hat. Ich würde gern ein wenig mit Ihnen darüber reden, aber das Ambiente in diesem Lokal ist so nüchtern. Gibt es nicht einen gemütlichen Ort in der Nähe, wo wir uns unterhalten könnten?«

»Ich weiß nicht… Sandra ist richtig verschwunden? Ist ja ein Ding.« Sie kämpfte noch mit meinem Vorschlag. Doch dann sagte sie: »Warten Sie, ich springe bloß schnell rauf und lade meine Sachen ab. Zwei Ecken weiter ist ein kleines Bistro, da können wir hingehen.«

Wer könnte auch meinem Charme und der Aussicht auf Klatsch und Skandale widerstehen? Dreimal Licht-aus-und-an später kam sie wieder die Treppe hinunter. Sie hatte eine frische Bluse angezogen und ihr Blondhaar hochgesteckt. Die formidable Jeans war zum Glück nicht ausgewechselt worden.

»Gehen wir.«

Die Nacht war lau und sommerlich, wie gemacht für Liebespaare. Denkbar ungeeignet für problemorientierte Gespräche.

»Ich heiße übrigens Karin Berger. Wie ist Ihr Name?«

»Quincy Hermann.«

»Besatzungskind?«

»Nee, Humanistensohn!«

»Ach?«

Ich erzählte ihr die Geschichte von den Römern und Germanen. War doch immerhin eine gute Story, das Ding mit Quinctilius. Wunderbar, dass ich nicht Klaus-Dieter heiße. Dazu wäre mir bestimmt nichts eingefallen.

Das »Bistro« sah so französisch aus wie eine Trachtenlederhose. PVC-Weinreben rankten sich um rustikales Fachwerkimitat, der Croque Monsieur kam aus der Tiefkühltruhe. Zum Glück hatte der Wirt drei kleine Tischchen vor das Lokal auf die Straße gestellt. Mit Blick auf die Backsteinschluchten saß man zwar auch nicht viel schöner, aber luftiger.

»Also, Herr Hermann, was wollen Sie wissen?«

»Ach bitte«, stöhnte ich, »nennen Sie mich Quincy! Bei Herr Hermann weiß ich nie, ob mich da jemand korrekt anredet oder schlicht einen Sprachfehler hat.«

Sie hob ihr Bierglas. »In Ordnung, Quincy. Aber dann nennen Sie mich Karin. Bei ›Frau Berger‹ hab’ ich nämlich oft das Gefühl, alle denken sofort an diese Sex-Quasselstrippe aus dem Fernsehen und wollen ihre Beischlafprobleme mit mir diskutieren.«

»Ich hab’ da nichts zu bereden. Kein Beischlaf, keine Probleme.«

Verunsichert sah sie mich an.

»Das war ein Witz«, half ich ihr auf die Sprünge, »Sie haben vergessen, das Gelächter einzublenden.«

Die Strahleraugen sahen mich abschätzend an.

»Ihre Art Humor hat Sie sicher schon die eine oder andere Bekanntschaft gekostet. Quincy.«

»Bestimmt«, gab ich zu. »Und das war jedes Mal ein Gewinn für mich.«