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Wolfgang Schüler
Der goldene Zwerg

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Sherlock Holmes in Leipzig
Sherlock Holmes in Berlin
Sherlock Holmes in Dresden

Sherlock Holmes und die Schwarze Hand
Sherlock Holmes und die letzte Fahrt der Lusitania

Wolfgang Schüler ist ein ausgewiesener Spezialist für historische Literatur. Er hat inzwischen mehr Sherlock-Holmes-Romane veröffentlicht als sein großer Lehrmeister Arthur Conan Doyle. Wolfgang Schüler verfasste außerdem die erste deutschsprachige Edgar-Wallace-Biografie und das Handbuch zur Kriminalliteratur Im Banne des Grauens. Er ist Mitglied in der Deutschen Sherlock Holmes Gesellschaft (DSHG), im Syndikat, der Autorengruppe deutschsprachiger Kriminalliteratur, sowie im Literaturverein FürWort.

Wolfgang Schüler

Der goldene Zwerg

Edgar Wallace ermittelt

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Originalausgabe
© 2016 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de
E-Mail: info@kbv-verlag.de
Telefon: 0 65 93 – 998 96-0
Fax: 0 65 93 – 998 96-20
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
unter Verwendung von: © Bolkins www.fotolia.de
Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln
Print-ISBN 978-3-95441-286-0
E-Book-ISBN 978-3-95441-300-3

Für meinen Freund »Charlie« Jörg Schaden, der mich sehr ermuntert hat, dieses Buch zu schreiben.

Vorbemerkung des Autors:

Dies ist ein Roman und kein Tatsachenbericht, auch wenn viele der handelnden Personen tatsächlich gelebt haben und in der Wirklichkeit wahrscheinlich ähnlich gehandelt hätten.

Personenverzeichnis

- John Arranways, Richter

- Gregory Brixan, Constabler

- James Cottonfield, Henker

- Dr. Leslie Craig, Anthropologe

- Robert Curtis, Privatsekretär von E.W.

- Robert Downs, Butler von E.W.

- E’tznab’ix, Hohepriester der Mam-Maya

- Graham Fowles, Chauffeur von E.W.

- Robert Gaskell, Butler des Bankiers

- Ernst Gennat, Kriminalkommissar

- Stan Goodman, Kammerdiener von E.W.

- Paul Graetz, Theaterregisseur

- Dorothy Lawrence, Dienstmädchen des Bankiers

- Wesley Mayford, Gefängnisdirektor

- Henry Arthur Milton, eine als der »Hexer« bekannt gewordene Romanfigur von Edgar Wallace

- Peter Muldoon, Inspektor von Scotland Yard

- Pa’chan – König der Mam-Maya

- David Osborne, Chefinspektor von Scotland Yard

- Charles Summer, Polizeisergeant

- Dr. Raymond Tickler, Humangeograph

- Bryan Wallace, Sohn von E.W.

- Edgar Wallace, Kriminalschriftsteller

- Violet Wallace, seine Ehefrau

- Baron von Westen, Hoteldirektor

- Samuel Wordsworth, Bankier

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Kapitel: Edgar Wallace trifft den Hexer

2. Kapitel: Professor Tarling geht spazieren

3. Kapitel: Der schwarze Freitag

4. Kapitel: Die schwarze Sonne

5. Kapitel: Kombiniere, kombiniere

6. Kapitel: Tropisches Gift

7. Kapitel: Geier, Maiskolben, Eidechse & Fisch

8. Kapitel: Mord auf der Parkbank

9. Kapitel: Schreie im Nebel

10. Kapitel: Das Netz zieht sich zu

11. Kapitel: Henkersmahlzeit

Epilog

Vorwort

»Meine Schule. Eine große gelbe Baracke, an einer Stelle errichtet, wo sich früher eine Müllgrube befunden hatte, in die das Gebäude nun Stück für Stück versank. Wir pflegten Kreidestriche an der Wand kurz über dem Boden anzubringen, um das Sinken feststellen zu können. Und jeden Morgen, wenn ich um die Ecke der Reddins Road in Peckham bog und die Volksschule noch an ihrem Platz stehen sah, war ich von einem Gefühl hilfloser Enttäuschung erfüllt.«

Edgar Wallace, People

Ende der Zwanzigerjahre des vorigen Jahrhunderts hatte der weltberühmte englische Kriminalschriftsteller Edgar Wallace (1875-1932) den Zenit seines Erfolgs erreicht. Jedes vierte in Großbritannien verkaufte Buch stammte aus seiner Feder. Die Gesamtauflage seiner mehr als hundert Detektivromane und Dutzenden Abenteuererzählungen hatte die Millionengrenze bereits weit überschritten. Doch nicht nur in England, auch auf dem Kontinent und in den USA war das Edgar-Wallace-Fieber ausgebrochen. Der 1926 vom Wilhelm-Goldmann-Verlag in Leipzig kreierte Werbespruch »Es ist unmöglich, von Edgar Wallace nicht gefesselt zu sein!« wurde zum geflügelten Wort.

Edgar Wallace hatte ein hartes Leben gehabt. Er war als unehelicher Sohn einer Wanderschauspielerin geboren worden und in größter Armut als Pflegekind in der Familie eines Hafenarbeiters aufgewachsen. Nach einer kurzen Schulzeit musste er sich als Zeitungsjunge, als Drucker, als Smutje, als Milchmann und schließlich als Soldat durchs Leben schlagen. Er kämpfte im Burenkrieg in Südafrika und brachte sich nebenbei im verbissenen Selbststudium das Schreiben bei.

1899 gelang es ihm, sich von der Armee freizukaufen und sich als Kriegsberichterstatter zu verdingen. Sein unaufhaltsamer Aufstieg hatte begonnen, der ihn über verschiedene Zwischenstationen bis an die Spitze der Gesellschaft führte.

Im Frühjahr 1929 wurde Edgar Wallace von der Zeitschrift Topic of the Day um ein Interview gebeten. In dem Gespräch behauptete der Self-Made-Man voller Überschwang, dass er a) seit seiner frühesten Jugend engen Kontakt zur Polizei halte, b) selbst jahrelang Polizist gewesen sei und c) häufig um Rat bei der Lösung schwieriger Kriminalfälle gebeten werde.

Alle drei Behauptungen entsprangen seiner Phantasie. Die Falschaussagen waren aber deshalb schwer zu durchschauen, weil in jeder von ihnen (wie in allen guten Lügen) ein Körnchen Wahrheit steckte: Edgar Wallace hatte a) als Kind einen Polizisten auf die Spur eines Geldfälschers gebracht. Edgar Wallace war b) während des Ersten Weltkriegs als Hilfspolizist bei der Bewachung des Buckingham-Palastes eingesetzt worden. Und c) fragten ihn tatsächlich alle möglichen Leute nach seiner Meinung zu spektakulären Verbrechen, die damals durch die Presse gingen.

Die Topic of the Day druckte das Interview in voller Länge ab. Andere Zeitungen übernahmen den Inhalt ungeprüft. Rund um den Globus entstand der Mythos vom Kriminalexperten Edgar Wallace, der vor allem seine eigenen Erfahrungen als Detektiv literarisch verarbeitete.

Irgendwann wurden auch einige Beamte von Scotland Yard hellhörig. Doch die Kommunikation zwischen den einzelnen Abteilungen ließ zu wünschen übrig. Das führte zu Missverständnissen. Ein Chefinspektor glaubte vom anderen, dass ihm Edgar Wallace als beratender Detektiv zur Seite stehe. Und so geschah es schließlich, dass die Fiktion von der Wirklichkeit eingeholt wurde.

1. Kapitel

»Der Hexer!«, murmelte er. »Am Leben!«
Das Papier in seiner Hand zitterte.

Edgar Wallace, Der Hexer

 

Edgar Wallace trifft den Hexer

Berlin, 12.06.1929

Am 12. Juni 1929 hatte sich am Anhalter Bahnhof in Berlin eine große Menschenmenge versammelt. Sie wartete auf den sächsischen Mittagszug, der pünktlich um 12.15 Uhr eintraf. Aus einem Raucherabteil der I. Klasse stieg ein gut gekleideter Ausländer, ein stark beleibter Mann von Anfang fünfzig. Er nahm seinen runden, steifen Hut ab und schwenkte ihn zur Begrüßung, um sich dann mühsam seinen Weg durch die ihm zujubelnden Massen in Richtung Ausgang zu bahnen. Immer wieder musste er ihm entgegengestreckte Hände schütteln und Autogramme geben. Bei dem Reisenden handelte es sich weder um einen bekannten Politiker noch um einen beliebten Filmstar, sondern um den weltberühmten Kriminalschriftsteller Edgar Wallace. Der britische Erfolgsautor war wieder einmal zu Besuch nach Deutschland gekommen. Nach einer ruhigen Überfahrt hatte er bereits einige Tage in Leipzig verbracht und dort unter anderem seinen Verleger Wilhelm Goldmann getroffen. Auch die Woche in Berlin würde alles andere als erholsam werden. Seit dem sensationellen Erfolg des Hexer befand sich ganz Deutschland im Wallace-Fieber. Auf allen seinen Wegen war der Romancier von einem Pulk aus Reportern, Fotografen, Karikaturisten, Literaturagenten und Übersetzern umgeben. In Berlin wollte er seinen neuen Verleger Martin Maschler treffen, der als Kontrast zur roten Reihe der Goldmann-Bücher eine blaue Serie aufzulegen beabsichtigte.

Außerdem hatte der populäre Komiker Paul Graetz darum gebeten, das Stück Der Zinker aufführen zu dürfen. Der Meister hatte wie üblich abgelehnt, sich aber aus einer Laune heraus zu einem Besuch im Deutschen Künstler-Theater in der Nürnberger Straße überreden lassen. Zu einer Inszenierung würde es nicht kommen. Edgar Wallace führte grundsätzlich bei allen seinen Theaterstücken selbst Regie. Niemals würde er eine solch wichtige Aufgabe einem deutschen Komödianten überlassen.

Vor dem Anhalter Bahnhof stand ein luxuriöses Automobil für den Kriminalschriftsteller bereit, und zwar ein blitzblanker sechszylindriger Hansa. Edgar Wallace stieg nach hinten in die geräumige Cabrio-Limousine ein und ließ sich zum Hotel Adlon chauffieren, wo wie üblich eine Suite für ihn reserviert worden war. Sein Sekretär Robert Curtis, der Butler Robert Downs und der Kammerdiener Stan Goodman folgten mit dem umfangreichen Gepäck in einem schlichten Wanderer W 10 nach.

In der riesigen Empfangshalle vom Adlon wiederholte sich die Szene vom Bahnhof, nur mit anderem Publikum. Edgar Wallace genoss sichtlich das Bad in der Menge, ließ sich dann aber doch ohne jeden Widerstand von einem großen Herrn mit buschigem Backenbart vor der aufdringlichen Menge abschirmen und zum Aufzug führen.

»Sir, gestatten Sie, mein Name ist Baron von Westen. Ich bin der neue Hoteldirektor. Kommerzienrat Kempkes ist in den wohlverdienten Ruhestand getreten.« In der ersten Etage angekommen öffnete der Baron die Zimmertür zur Suite Nummer drei und versprach: »Seien Sie versichert, dass wir alles tun werden, um Ihnen Ihren Aufenthalt in unserem Hause so angenehm wie möglich zu machen.« Damit deutete er auf einen reich gefüllten Früchtekorb neben einer guten Flasche Champagner. »Es freut uns natürlich sehr, dass Sie sich wieder für unser Haus entschieden haben und nicht für das Hotel Bristol nebenan, wo die meisten Engländer abzusteigen pflegen.«

»Das liegt am besseren Service im Adlon und an der Nähe zur Kunstakademie, mit der ich mich sehr verbunden fühle«, entgegnete der prominente Gast jovial.

Der Baron verabschiedete sich mit einer angedeuteten Verbeugung.

Edgar Wallace atmete erleichtert auf und zog stöhnend die zwar äußerst eleganten, aber viel zu engen Stiefeletten aus. Er lief auf Strümpfen einige Schritte hin und her, bis die Zehen wieder durchblutet waren, legte dabei Mantel, Jackett sowie Weste ab und schlüpfte in einen rot geblümten Morgenrock, den ihm sein umsichtiger Diener bereithielt. Schließlich streifte sich der dicke Mann bequeme Hausschuhe über und rückte eine bis zum Rand gefüllte Zigarettendose nebst einer Zigarettenspitze aus Bernstein zurecht. »Robert«, meinte er zum Butler, »ich glaube, eine Tasse Tee würde mir jetzt guttun.«

»Sir, wenn Sie sich bitte einen Augenblick gedulden würden. Der Proviantkorb und der Spirituskocher befinden sich noch im Wagen. Soll ich Tee ordern und Goodman in die Hotelküche schicken, damit er dort die Zubereitung überwachen kann?«

»Gute Idee, der Kammerdiener soll sich darum kümmern«, brummelte der Meister. »Die Deutschen besitzen keine Kultur. Sie würden den Tee nur verderben.« Damit ließ er sich in einen gewaltigen, kalbsledernen Fauteuil am Fenster sinken. Er zündete sich eine Zigarette an, sah hinaus und beobachtete interessiert den Trubel auf der Straße Unter den Linden.

Edgar Wallace hatte gerade die Augen zu einem kleinen Nickerchen geschlossen, als jemand an die Tür pochte. Der Butler öffnete, und ein aufgeregter Baron von Westen stürmte herein. »Sir, wir brauchen Ihre Hilfe. In unserem Haus hat ein Verbrechen stattgefunden, welches der raschen Aufklärung bedarf«, rief er außer Atem.

Edgar Wallace richtete sich kerzengerade auf. »Was ist geschehen?«, fragte er kühl.

»Vor wenigen Minuten hat ein Stubenmädchen den russischen Großfürsten Igor Stephanowitsch Jakulow in seiner Suite nebenan tot aufgefunden. Er ist ermordet worden. Wenn davon etwas an die Öffentlichkeit dringt, werden uns alle Gäste verlassen. Das kann ich ihnen nicht verübeln, aber es wäre unser Ruin.«

Edgar Wallace litt zwar an maßloser Selbstüberschätzung, aber er war kein Narr. Vor seinem geistigen Auge zeichnete sich ein Schreckensszenario ab: Er würde die Sache vermasseln. Negative Schlagzeilen in den Zeitungen, eine überstürzte Abreise und große finanzielle Verluste wären die Folgen. Aber glücklicherweise erinnerte er sich an einen deutschen Polizisten, der ein großer Fan von ihm war. »Ich werde mich der Sache annehmen, aber ich kann und darf nicht den deutschen Behörden ins Handwerk pfuschen. Verständigen Sie deshalb bitte zuerst Kriminalkommissar Ernst Gennat. Er ist der Leiter der Zentralen Berliner Mordkommission und hat seinen Sitz im Polizeipräsidium am Alexanderplatz. Nur er kann mich dazu autorisieren, den Fall zu übernehmen. Bis dahin werde ich hier in meinem Zimmer warten.«

»Selbstverständlich, wie Sie wünschen«, sprudelte der Hoteldirektor hervor und hastete davon.

Nach einer halben Stunde klopfte es erneut. Edgar Wallace war die ganze Zeit ruhelos hin und her gewandert, denn er meinte, den Namen des Großfürsten vor Kurzem irgendwo gehört oder gelesen zu haben. Es fiel ihm bloß nicht ein, in welchem Zusammenhang.

Vor der Tür stand ein dicker Mann mit hoher Stirn, der Edgar Wallace verblüffend ähnlich sah und deshalb wie ein naher Verwandter wirkte. Er trug einen grauen Ulster mit breiten Revers und Rückengürtel. »Sir, es ist mir eine große Ehre. Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns sobald wiedersehen würden. Baron von Westen hat mich umfassend informiert. Ich schlage deshalb vor, dass wir gemeinsam den Tatort besichtigen. Ihre große Erfahrung auf diesem Gebiet wird mir eine wertvolle Hilfe sein.«

Der Schriftsteller atmete tief ein, erhob sich, ging auf seinen Besucher zu und schüttelte ihm die Hand. »Mein Lieber, erwarten Sie nicht zu viel von mir. Ich bin ein Mann der Theorie. Sie sind der Mann der Praxis. Was kann ich schon sehen, was Sie nicht vor mir erkennen würden?«

»Sir, stellen Sie doch bitte Ihr Licht nicht unter den Scheffel. Soweit ich mich erinnere, sind Sie es doch gewesen, der einen wesentlich Beitrag zur Lösung des Crippen-Falls geleistet hat.«

Der Romancier verzog sein Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. Arthur Newton, der überaus geldgierige Strafverteidiger von Dr. Hawley Harvey Crippen, war 1910 an ihn herangetreten und hatte ihm für viel Geld ein schriftliches Geständnis des Gattinenmörders angeboten. Edgar Wallace schaltete die Evening Times ein. Die Zeitung kaufte das Manuskript und veröffentlichte in einer Sonderausgabe den kompletten Text. Doch Crippens angebliche Beichte war eine plumpe Fälschung gewesen. Wenige Tage später flog der Schwindel auf. Edgar Wallace war der Blamierte. Die Evening Times traf es noch härter. Sie verlor neben der Reputation auch die Leser und ging deshalb bankrott.

Doch weil der Schriftsteller keine Niedertracht im Blick des Kriminalkommissars entdecken konnte, nickte er zustimmend. Baron von Westen, der inzwischen auch eingetreten war, atmete erleichtert auf. Er schien nichts mehr als schmutzige Polizeistiefel zu fürchten, die über die Flure seines Hotels poltern könnten. »Meine Herren, wenn Sie mir bitte folgen wollen, es sind nur wenige Schritte.«

Die Suite Nummer fünf glich der Suite Nummer drei in vielen Details. Der Salon als der zentrale Raum war ähnlich geräumig und ebenfalls äußerst luxuriös eingerichtet. Auf dem polierten Parkettfußboden lagen dicke Teppiche, von der Decke herab hing ein pompöser Kronleuchter, und die gediegenen Möbel hätten jedem Herrenhaus Ehre gemacht. Sehr schöne Stahlstiche mit ländlichen Szenen schmückten die Wände. Am Fenster stand neben einem braunen Schrankkoffer eine Schneiderpuppe, über die ein Frack mit umgelegter Schärpe gehängt war. Darüber hinaus herrschte im gesamten Salon eine gewaltige Unordnung. Überall lagen aufgeschlagene russische Zeitungen herum. Bunte, türkische und einfarbige, russische Zigarettenschachteln unterschiedlicher Marken bildeten mit vollen Aschenbechern, halb gefüllten Wodkaflaschen und leeren Wassergläsern ein unübersichtliches Gemenge. Aber noch mehr störte der tote Großfürst vor dem Kamin das Bild. Der Hoteldirektor drohte, die Contenance zu verlieren. Sein Gesicht nahm die Farbe seiner Unterwäsche an, als er sich dem Ermordeten weiter als fünf Schritte näherte.

Edgar Wallace hingegen blieb völlig unbeeindruckt. In der Sanitätsstation beim Militärdienst und später im Burenkrieg hatte er viele Tote sehen müssen. Auch wenn inzwischen das Blut in seiner Gegenwart üblicherweise nur noch aus Buchseiten tropfte.

Der Leichnam lag auf dem Bauch, leicht nach rechts gekrümmt, mit ausgestreckten Armen und Beinen. Er trug einen rot-samtenen Morgenmantel von sehr guter Qualität, eine dunkelblaue Tuchhose mit scharfer Bügelfalte, schwarze Socken und gefütterte Lederhausschuhe. Die Stellung, in der er sich momentan befand, ließ weitere Einsichten nicht zu. Um sehen zu können, ob er auch mit einem Oberhemd bekleidet war, hätte der Körper umgedreht werden müssen. Der Kopf des Ermordeten lag auf der Seite, an den rechten Oberarm angelehnt. Die Todesursache schien offensichtlich zu sein: Am Hinterhauptbein, kurz über dem Haaransatz, waren drei Einschussöffnungen sichtbar, die wie Gänge von monströsen Würmern wirkten. Die Schusswunden lagen so dicht beieinander, dass ein Souvereign sie abgedeckt hätte. Aus den Wunden war viel Blut geflossen und zu einem schwarzen See um den Kopf herum geronnen. Es stank – so bildete es sich Edgar Wallace ein – nach Verwesung.

»Ist das Ihre erste Leiche?«, fragte der Kriminalkommissar mitfühlend, als er einen Blick auf den Hoteldirektor warf.

Baron von Westen nickte und schluckte mehrmals.

»Wenn Ihnen unwohl wird, gehen Sie lieber nach draußen in einen der Waschräume«, lautete der gut gemeinte Ratschlag von Ernst Gennat, der seinen Blick durch den Raum schweifen ließ, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen.

Der Baron versuchte gar nicht erst, tapfer zu sein. Raschen Schritts eilte er zur Tür hinaus. Als er wenig später zurückkehrte, standen ihm dicke Schweißperlen auf der Stirn. Er presste sich ein gestreiftes Taschentuch vor den Mund und kämpfte mit einem Schluckauf.

»Was für eine Waffe hat der Mörder wohl verwendet?«, formulierte der Kriminalkommissar eine rhetorische Frage und bückte sich.

»Keine Ahnung«, antwortete Edgar Wallace wahrheitsgemäß und vollführte ein gewagtes, akrobatisches Kunststück, indem er in die Knie ging. Ein jäher Kopfschmerz bohrte sich in seine Schläfen. Vergeblich versuchte er, vergeistigt zu wirken. Er ließ seine Augen durch den gesamten Salon wandern, aber er entdeckte nicht den geringsten Hinweis, der ihm hätte weiterhelfen können. Deshalb sagte er: »In meinen Büchern erkennen die Detektive immer auf Anhieb das Kaliber. Ich bezweifele stark, dass das in Wirklichkeit auch geht.«

»Irrtum. Es ist tatsächlich möglich«, ließ sich eine fremde Stimme vernehmen.

Die beiden Männer blickten irritiert auf. Hinter ihnen stand ein schlanker, sehr großer Mann mit scharf gezeichneten Gesichtszügen und markanter Nase. Sein karierter Tweedanzug und die robusten Wanderstiefel ließen vermuten, dass er aus England stammte.

»Oh, pardon«, mischte sich der Baron von Westen ein. »Ich vergaß völlig, Ihnen einen Landsmann von Mr. Wallace vorzustellen. Er ist ein Inspektor bei Scotland Yard. Deshalb habe ich ihn gleichfalls um Unterstützung gebeten. Wenn Sie gestatten, das ist Mister …«

Kriminalkommissar Gennat unterbrach ihn unwirsch. »Ich glaube, dass der Zuständigkeitsbereich von Scotland Yard an Ärmelkanal endet. Vielen Dank für das Angebot zur Kooperation, aber momentan kommen wir auch sehr gut ohne fremde Hilfe zurecht.«

»Bitte entschuldigen Sie, meine Herren, ich will mich nicht aufdrängen, zumal ich gar kein Polizeibeamter, sondern nur ein Privatdetektiv bin, der lediglich einige Male mit Scotland Yard zusammengearbeitet hat. Ich lasse Sie sofort allein. Aber weil Sie danach fragten, sei mir der Hinweis erlaubt: Es handelt sich um eine .22er.«

»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Edgar Wallace. »Waren Sie bei dem Mord dabei?«

»Keineswegs. Die Erklärung ist elementar: Es gibt nur Einschusslöcher, keine Austrittsöffnungen. Die Kugeln befinden sich noch im Kopf des Opfers. Das deutet auf ein kleines Kaliber hin. Eine elf Millimeter hätte ihm den halben Schädel weggesprengt.«

Der Polizeibeamte grunzte zustimmend. »Was für Munition?«

Der Engländer wandte sich um. Beim Hinausgehen bemerkte er noch: »Einfache Bleigeschosse. Sie verformen sich beim Eindringen und setzen dabei ihre kinetische Energie frei. Mit anderen Worten: Sie haben das Gehirn des Opfers püriert. Ein Vollmantelgeschoss wäre glatt hindurchgegangen.«

»He, he«, rief ihm der Kriminalkommissar hinterher. »Sie haben mich überzeugt. Bitte bleiben Sie. Sechs Augen sehen mehr als vier. Was schlussfolgern Sie daraus, dass der Mörder ein kleines Kaliber und Bleigeschosse verwendet hat?«

Der dünne, große Mann war zurückgekehrt, aber schwieg zunächst noch.

Stattdessen antwortete Edgar Wallace: »Nichts, gar nichts. Er hat seine Waffe gezogen und geschossen, bumm, bumm, bumm. Und zwar, weil er es so wollte.«

Der englische Detektiv runzelte die Stirn. »Am Tathergang erkennen wir, dass der Coup genau geplant gewesen ist. Der Mörder wusste über alle Details Bescheid. Er war auch nicht in Eile. Er hat ganz kaltblütig seine schmutzige Arbeit erledigt.«

Edgar Wallace dachte laut nach: »Womit wird er wohl geschossen haben? Mit einer Pistole oder einem Revolver?«

Der Kriminalkommissar hob die Achseln. »Das ist schwer zu sagen, solange wir noch keine Waffe gefunden haben.«

Der englische Gentleman war offensichtlich anderer Meinung: »Es war ein Revolver.«

»Wie kommen Sie darauf?«, wollte der Schriftsteller wissen.

»Es liegen keine Hülsen herum.«

»Der Täter kann sie eingesammelt haben.«

»Hülsen, die von Pistolen ausgeworfen werden, sausen völlig unkontrolliert durch die Gegend und pflegen in der Regel irgendwohin zu kullern, wo man sie nur schwer finden kann. Sehen Sie doch einmal unter dem Buffet nach, ob dort Staub liegt.«

»Ja, ein wenig«, klang es schwer atmend vom Boden.

»Hat dort jemand rumgefingert?«

»Nein, niemand.«

»Also war es ein .22er Revolver. Welche weiteren Schlussfolgerungen drängen sich auf?«

Edgar Wallace äußerte sich nicht. Ein Gedanke quälte ihn. Irgendwie kam ihm der englische Detektiv bekannt vor. Aber ihm fiel nicht ein, woher. In letzter Zeit passierte ihm so etwas häufig: Er wollte beispielsweise einen Bekannten ansprechen, und vergaß während der Anrede den Namen. Ob das ein Vorstufe von Altersschwachsinn war?

Der Kriminalkommissar zuckte mit den Schultern. »Der Täter war stinksauer und hat drei Kugeln auf einmal abgefeuert.«

»Das ist technisch nicht möglich. Bei einem Single-Action-Revolver muss nach jedem Schuss der Hahn neu gespannt werden.«

Edgar Wallace, der sich seit seinem Armeedienst in Südafrika mit allen möglichen Schusswaffen auskannte, fragte: »Und wenn er einen Automatic-Colt benutzte?«

»Sie meinen einen Double-Action-Revolver. Der eignet sich zwar zum schnellen Schießen, aber nicht zum genauen Zielen. Bei einer Pistole schiebt der Gasdruck nach jedem Schuss den beweglichen Schlitten nach hinten. Die leere Hülse wird automatisch ausgeworfen. Eine Feder im Magazin drückt die nächste volle Patrone in das Patronenlager. Der Schlitten fährt wieder nach vorn. Die Waffe ist geladen und zum nächsten Schuss bereit. Ein Revolver funktioniert anders, da geschieht nichts automatisch. Auch bei einem Double-Action-Revolver muss der Schütze alles selber machen. Wenn er den Abzug betätigt, dreht er dabei die Trommel, spannt gleichzeitig den Hahn und feuert dann beim Überwinden des Druckpunktes die Waffe ab. Es ist deshalb äußerst schwer, auf ein bewegtes Ziel drei Schuss hintereinander so zielgenau abzufeuern, dass sich ein Trefferbild wie bei dem Opfer ergibt. Wohlgemerkt, auf ein bewegtes Ziel. Daraus folgt, dass bereits der erste Schuss in den Hinterkopf tödlich war. Der Mann sackte sofort zu Boden. Der Täter hat sein Opfer zusammenbrechen lassen und dann noch zweimal abgedrückt.«

»Das vermuten Sie«, ließ sich der Kommissar vernehmen.

»Nein, das erkennt man an den unterschiedlichen Richtungen der Schusskanäle.«

»Er wird wohl mächtig sauer gewesen sein«, mutmaßte der Kommissar.

Auch in diesem Punkt widersprach der Detektiv. »Kaum. Der Mann ist in seinem Salon ermordet worden. Es stehen weder benutzte Gläser noch Teller oder Tassen herum. Die Stühle wurden nicht abgerückt. Da kommt keine Affekthandlung im Verlaufe eines Gesprächs infrage. Menschen in Häusern pflegen sich zu setzen, wenn sie miteinander reden, außer bei einem Stehempfang. Und in Zimmern wie diesem werden Besuchern in der Regel Speisen und Getränke angeboten, selbst Schwiegermüttern. Nein, der Mörder hat an der Tür geklopft. Aus einem Grund, den wir noch nicht kennen, ließ ihn der Großfürst ein und ging voraus. Bei geschlossenen Doppeltüren ist eine .22er auf dem Flur nicht zu hören. Es gab kein Risiko. Im Salon hat der Täter dann abgedrückt. Und zwar aus einer Entfernung von etwa einem Meter.«

»Könnten es nicht ein paar Zentimeter mehr oder weniger sein?«, insistierte Edgar Wallace.

»Nein, die Wundränder zeigen sich klar umrissen, aber es sind keine Schmauchspuren zu sehen.«

»Dann wollte er wahrscheinlich mit den beiden anderen Schüssen auf Nummer sicher gehen.«