image

Gerd Braune
Die Arktis

GERD BRAUNE

DIE

ARKTIS

Porträt einer Weltregion

image

Für Julian

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, März 2016

ISBN 978-3-86284-324-4

Inhalt

Einführung:
Aus dem geografischen Abseits
ins Zentrum der Aufmerksamkeit

1.

Auf dünnem Eis: Der Klimawandel
und die Arktis

2.

Eisbären, Walrosse & Co.:
Die arktische Natur

3.

»Unser Land«: Die indigenen
Völker der Arktis

4.

Eine neue Weltregion entsteht:
Die Arktis als geopolitischer Raum

5.

Der Griff nach dem Nordpol:
Kooperation und Konflikte zwischen
den Arktisstaaten

6.

Die eisige Schatzkammer:
Das »Rennen« um die Rohstoffe
der Arktis

7.

Kein Panamakanal:
Alte und neue Seewege

8.

Die Zukunft
des zirkumpolaren Raums

Anhang

Anmerkungen

Abkürzungen

Karte

Kleine Chronik der Arktis

Danksagung

Über den Autor

Einführung:
Aus dem geografischen
Abseits ins Zentrum der
Aufmerksamkeit

Mehr als Eis und Schnee

Ein kalter Wind fegt über das Plateau und bewegt die weißen Köpfe des Arktischen Wollgrases, das selbst auf diesem kargen, sandigen Boden zwischen Steinen gedeiht. Wie Schneebälle sehen die Blüten aus, ein kleiner, leuchtender, grün-weißer Teppich. Für die Inuit1, die indigene Bevölkerung der kanadischen Arktis, war diese Pflanze einst lebenswichtig, denn aus der Blüte drehten sie den Docht für ihre Qulliq, die aus Speckstein gefertigten und mit Robben- oder Walfett gefüllten Lampen. Sie waren ihre Wärme- und Lichtquellen in Zelten und Iglus.

Wir sind im Norden der Baffin-Insel im kanadischen Arktisterritorium Nunavut. Das heißt »Unser Land« in Inuktitut, der Sprache der Inuit im Osten der kanadischen Arktis. Eine eisbedeckte Meeresbucht, der Strathcona-Sund, ragt in das Land hinein und unterbricht die rotbraune Steinwüste. Dahinter erhebt sich eine kahle, baumlose Bergkette. Und über allem wölbt sich der blaue, fast wolkenlose Himmel. Hier an Strathcona- und Lancaster-Sund beginnt die berühmte Nordwest-Passage, der legendäre Seeweg durch die arktische Inselwelt, den Forscher und Seefahrer aus Europa jahrhundertelang suchten.

Mit der Arktis werden Eisberge, der Nordpol und der eisbedeckte Arktische Ozean assoziiert. Aber die Arktis ist nicht nur der Nordpol. Sie ist Land und Wasser. Hier im Norden Kanadas ist die Arktis im kurzen Sommer ein Land wie ein Steinbruch, Gestein und Geröll, von Bachläufen mit Schmelzwasser durchzogen. Keine Bäume und Büsche, allenfalls Flechten und Moose und ein paar Blumen können hier gedeihen. Nördlich des Polarkreises geht die Sonne im Sommer für einige Tage oder Wochen nicht unter. Die Niederschläge sind geringer als in vielen südlicheren Regionen, weite Bereiche der Arktis gelten als polare Wüste. Im langen arktischen Winter, in dem mancherorts wochenlang Dunkelheit herrscht, ist das Land von Eis und Schnee bedeckt, mit Temperaturen, die oft unter minus 40 Grad Celsius liegen. Und der Arktische Ozean ist eine riesige, 14 Millionen Quadratkilometer große Eisfläche.

Wer die Weite der Arktis erlebt, wer Siedlungen und Städte ein paar Kilometer hinter sich lässt und vor sich nur Steine, Seen und Bäche, Eis und Schnee liegen sieht, der fragt sich unweigerlich: Hat jemals ein Mensch seinen Fuß auf dieses Fleckchen Erde gesetzt? Im Oktober 1996 war ich erstmals in der kanadischen Arktis. Nach Gesprächen in Iqaluit ließ ich mich von einem Taxifahrer an den Rand des Sylvia Grinnell Territorial Parks bringen und bat ihn, mich in einer Stunde wieder abzuholen. Ich stieg die Anhöhe hinauf und sah das scheinbar unberührte Land vor mir. Auf dem Sylvia-Grinnell-Fluss hatte sich schon Eis gebildet, das in der Sonne funkelte. Die Stille, die nur vom Wind unterbrochen wurde, faszinierte mich. Seitdem bin ich mehrmals an diesen Ort zurückgekehrt. Die Faszination ist geblieben.

Der Run auf die Arktis

In den zwei Jahrzehnten seit meinem ersten Besuch hat sich unser Blick auf die Arktis erheblich verändert. Der Nordpolarraum findet unser wissenschaftliches Interesse, denn die Arktis spielt für das Weltklima und dessen Wandel, die Strömungen der Ozeane und die Zukunft der Menschheit eine wichtige Rolle. Vor allem aber verändern der unstillbare Hunger der entwickelten Länder nach Rohstoffen und der Drang der Nationalstaaten, sich Hoheitsrechte und damit den Griff nach Öl und Gas, Edelmetallen und Industrierohstoffen zu sichern, die unter den Landflächen und dem Arktischen Ozean vermutet werden, unsere Wahrnehmung der Arktis. Festmachen lässt sich diese Wende an einem Ereignis und einem Datum: dem Verankern einer russischen Flagge auf dem Meeresboden direkt am geografischen Nordpol am 2. August 2007.

Rund zwei Wochen zuvor hatte der russische Forschungseisbrecher »Akademik Fedorov« den Hafen von St. Petersburg verlassen. Die Expedition war Teil des Beitrags Russlands zum »Internationalen Polarjahr« 2007/2008. Nach einem Zwischenstopp in Murmansk ging es weiter nach Norden. Der Eisbrecher »Russia« bahnte den Weg. Am Morgen des 2. August begannen zwei bemannte U-Boote, »MIR 1« und »MIR 2«, den Tauchgang zum Meeresboden. Russischen Angaben zufolge erreichten drei Stunden später erstmals Menschen den Meeresboden am Nordpol in 4261 Metern Tiefe und setzten eine aus Titan gefertigte rostbeständige russische Flagge ab.2

Russland hatte bereits 2002 territoriale Ansprüche bei der Kommission zur Begrenzung des Festlandsockels angemeldet, einer durch die Seerechtskonvention der Vereinten Nationen geschaffenen Institution. Diese waren aber als nicht ausreichend fundiert zurückgewiesen worden. Nun sollte mit der Flaggenaktion und dem Sammeln von Bodenproben dieser Anspruch untermauert werden. Im Jahr 2000 hatte der United States Geographical Survey (USGS), der geologische Dienst der US-Regierung, Schätzungen über gewaltige unentdeckte Öl- und Gasreserven im Arktisraum veröffentlicht, die 2008 aktualisiert wurden. Da die UN-Seerechtskonvention den Arktisanrainern das Recht gibt, den Meeresboden über die 200-Seemeilen-Zone hinaus wirtschaftlich zu nutzen, wenn dieser die »natürliche Verlängerung« ihres Kontinentalschelfs darstellt, bemühen sich die Nordpolarstaaten, genau dieses nachzuweisen. Wegen des Lomonossow-Rückens, eines Unterwassergebirges, das sich von Sibirien nach Grönland und Nordkanada erstreckt, können sich Russland, Kanada und Dänemark-Grönland berechtigte Hoffnungen machen, viele hunderttausend Quadratkilometer Meeresboden erfolgreich für sich zu reklamieren.

Darüber, welche Bedeutung die Flaggenaktion und die Probenentnahme über das Symbolische hinaus hatten, wurde sofort heftig gestritten. Die Russen sahen sich einen Schritt näher an dem Ziel, sich den potenziell rohstoffreichen Meeresboden im Eismeer anzueignen. Kanadas damaliger Außenminister Peter MacKay tat das Pflanzen der russischen Flagge dagegen als »Show Russlands« ab. Man sei ja schließlich nicht mehr im 15. Jahrhundert, als es genügt habe, irgendwo seine Fahne aufzustellen, um Territorialansprüche zu erheben.

Aber mit dieser Aktion hatten die Russen das eröffnet, was in den Medien vielfach als »Wettlauf zum Nordpol« bezeichnet wird. Bei diesem handelt es sich, wie in späteren Kapiteln gezeigt werden wird, um ein griffiges, aber verkürztes und irreführendes Schlagwort. Auch das Eismeer ist kein rechtsfreier Raum, keineswegs gilt das Prinzip »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst«. Souveränitäts- und Nutzungsrechte werden zunächst in einem wissenschaftlichen Verfahren geklärt, dann folgen, falls sich Ansprüche überlappen, politische Verhandlungen. Das Eismeer unterliegt den Regeln der UN-Seerechtskonvention, es gibt Verträge zwischen den acht Arktisstaaten, auch im Rahmen des von ihnen gebildeten Arktischen Rats, sowie Vereinbarungen zwischen den fünf Küstenstaaten des Eismeers. Dies gilt sowohl für die wirtschaftliche Nutzung des Meeresbodens als auch für die Schifffahrt. Nichtsdestotrotz war das Interesse an der Arktis mit Russlands Flaggencoup geweckt. Nun war jeder Schritt eines Arktisstaats, jede wissenschaftliche Expedition und jedes Militärmanöver ein »Griff nach dem Nordpol«. Die Arktis war aus der Randlage ins Zentrum politischer und wirtschaftlicher Erwägungen gerückt. Wem gehört die Arktis? Wer hat Anspruch auf den Meeresboden? Souveränität in der Arktis, Souveränität über die Arktis wurden in Ost und West zu politischen Kampfbegriffen.

Das Land unter dem Großen Bären

Das griechische Wort »Arktos« (Bär) ist der Ursprung für die Bezeichnung dieser Region: Die Arktis ist das Land unter dem Sternbild des Großen Bären, dessen sieben hellste Sterne den Großen Wagen bilden. Sie ist das Gebiet nördlich des Polarkreises, 66° 33′ nördlicher Breite, das Gebiet, in dem mindestens an einem Tag im Jahr die Sonne nicht aufgeht und an mindestens einem Tag nicht untergeht. Sie ist das Land der Mitternachtssonne.3

Aber diese Grenzziehung entspricht weder klimatischen Kriterien noch den Besonderheiten der Vegetation. Daher wird zur Abgrenzung von den südlicheren subarktischen Regionen oft die Baumgrenze herangezogen. Nach dieser Definition ist die Arktis die Region, in der es keine Wälder gibt, sondern allenfalls Büsche wachsen. Bäume und Wälder versperrten nur die Sicht in die Ferne, sagte mir einmal scherzend ein Inuk, als ich darüber klagte, dass mir im Norden die grünen Wälder fehlten. Oder man nimmt als Kriterium die Temperatur: Dann wird als Arktis das Gebiet bezeichnet, in dem selbst im wärmsten Monat die Durchschnittstemperatur kälter als zehn Grad ist. Diese Juli-Isotherme von zehn Grad grenzt die Arktis von der Subarktis ab. In einigen Sektoren des Nordpolarraums – etwa in Kanada, Grönland und der Tschuktschen-Region – reicht sie über den Polarkreis hinaus nach Süden. In Skandinavien und weiten Teilen Russlands und Alaskas liegt sie dagegen nördlich des Polarkreises. Und sie zieht sich mitten durch Island, dessen Klima vom Golfstrom und der arktischen Grönlandströmung beeinflusst und als subarktisch bezeichnet wird.

Acht Länder können sich als Arktisstaaten bezeichnen, weil sie Küstenstaaten des Arktischen Ozeans sind, ein Teil ihres Territoriums den Polarkreis berührt oder darüber hinausreicht oder Klima oder Vegetation »arktisch« sind: die Vereinigten Staaten von Amerika mit ihrem Bundesstaat Alaska, Kanada mit Yukon, den Nordwest-Territorien und Nunavut, Dänemark mit Grönland und den Färöer-Inseln, Island, Schweden, Finnland, Norwegen mit der Inselgruppe Spitzbergen und Russland. Diese Staaten sind die Akteure, wenn es um die Gestaltung des Arktisraums geht. Sie bilden den Arktischen Rat, der sich in den vergangenen 20 Jahren zum wichtigsten Diskussions- und Entscheidungsforum in arktischen Angelegenheiten entwickelt hat. Aber die Nationalstaaten sind nicht die einzigen Akteure. Vor ihrer Herausbildung in den heutigen Grenzen und den daraus folgenden Eifersüchteleien und Ansprüchen lebten hier längst die indigenen Völker der Arktis. Sie erheben heute lautstark ihre Stimme, wenn es um die Nutzung der Arktis geht.

Von der Terra incognita zur Rohstoffkammer

Die Arktis und ihr Gegenstück auf der südlichen Halbkugel, die Antarktis, werden oft als »ungleiche Schwestern« bezeichnet. Die Antarktis ist im wahrsten Sinne des Wortes die »Gegen-Arktis«: ein eisbedeckter und – abgesehen von Forschungsstationen – unbewohnter Kontinent, Antarktika, der vom südlichen Polarmeer umgeben ist. Dagegen ist die Arktis das eisbedeckte nördliche Polarmeer, der Arktische Ozean, und das Land, das ihn umgibt. Der Arktische Ozean mit seinen Nebenmeeren – der Tschuktschen- und der Ostsibirischen See, der Laptev-, Kara- und Barents-See, dem Weißen Meer, der Grönland- und der Beaufort-See – ist der kleinste Ozean der Erde. Seine Fläche wird meist mit rund 14 Millionen Quadratkilometern angegeben, aber dies hängt davon ab, in welchem Maße die Wasserstraßen des kanadisch-arktischen Archipels, die Nebenmeere oder gar Randmeere wie die Bering-See oder die Norwegensee einbezogen werden.4 Zum Vergleich: Der Atlantik kommt einschließlich seiner Nebenmeere und möglichen Überschneidungen mit den Ausläufern des Arktischen Ozeans auf knapp 90 Millionen Quadratkilometer.

Bis heute ist der Arktische Ozean ein Meer, das viele Rätsel aufgibt. An den Küsten, vor allem im Norden Kanadas, wurde es noch nicht vollständig kartografiert. Und was in den Tiefen des nördlichen Eismeers lebt, ist noch lange nicht erforscht. Auf Landkarten der beginnenden Neuzeit wurde es als »mare incognito« oder »terra incognita« bezeichnet. Es war das unbekannte, unerforschte Land oder Meer. Der griechische Entdecker Pytheas war bereits um 325 vor Christus in den Norden gereist, hatte möglicherweise gar den Polarkreis überquert und eine Insel nördlich von Britannien erreicht, die er als Thule bezeichnete. Sie galt als der äußerste Norden der Welt, als »ultima Thule«, hinter der das »geronnene Meer«, vermutlich das Eismeer, begann. Ob damit Island, die Shetland-Inseln oder eine Insel vor Trondheim gemeint war, wird bis heute diskutiert. Thule wurde ein Mythos. Geologen definieren »ultima Thule« nüchterner: Es ist der nördlichste Landpunkt der Erde. Vielleicht liegt er auf einer kleinen Insel an der Nordküste Grönlands, auf Schmitt’s Island. Falls ja, könnte der Ort seinen Namen behalten: »Ultima Thule 2008«, benannt nach einer Expedition, die im Juli 2008 diese Stelle erreichte.5

Schon Jahrtausende vor Christi Geburt waren Menschen aus Sibirien in das heutige Alaska gekommen und weiter nach Osten gezogen. Erst viel später wurden die Inseln des Nordatlantiks für Europäer die Trittsteine in die Arktis Nordamerikas und nach Grönland. Mönche aus Irland sollen im 8. und 9. Jahrhundert Island betreten haben, aber die aus Norwegen kommenden Wikinger waren die Ersten, die Siedlungen bauten. Von dort war es nicht allzu weit nach Grönland. Erik der Rote, ein Mann, der für seine Unbeherrschtheit bekannt war und schnell zur Waffe griff, um Gegnern den Kopf einzuschlagen, musste 982 Island verlassen – er wurde für drei Jahre verbannt. Mit rund zwei Dutzend Gefährten und Sklavinnen erreichte er die Küste Grönlands und folgte ihr, bis sie einen Landstrich fanden, auf dem der Boden grün war. Von Grönland aus fuhren sie weiter nach Westen und erreichten vermutlich die Küste einer Insel, die heutige Baffin-Insel. Drei Jahre später kehrten Erik der Rote und sein Tross nach Island zurück und erzählten von »Grünland« und dem Fischreichtum an den Küsten, von Eisbären, Walrossen und Narwalen – und lösten damit eine erste Emigrationswelle nach Grönland aus.

Die gezielte Erforschung der Nordkappe der Erde begann erst nach dem Untergang der Wikinger auf Grönland im 16. Jahrhundert. Nach der »Entdeckung« Amerikas suchten besonders Niederländer und Briten einen Seeweg von Europa nach Asien, denn der Seeweg in den fernen Osten um die Südspitzen Afrikas und Südamerikas war lang und beschwerlich, zudem wurde er von Spaniern und Portugiesen beansprucht. Alternativen sollten die Nordwest-Passage durch die Inselwelt des heutigen Nordkanada oder die Nordost-Passage entlang der sibirischen Küste bieten. Martin Frobisher, der 1576 die heute nach ihm benannte Bucht erreichte, dachte, den östlichen Eingang zur Nordwest-Passage gefunden zu haben, musste dann aber enttäuscht feststellen, dass er in einen Meeresarm eingefahren war, eine Sackgasse ohne Öffnung nach Westen. Zu denen, die auf ihn folgten, gehörten John Davis und Henry Hudson, Robert Bylot und William Baffin. Die 1670 in London gegründete Hudson’s Bay Company schob ihre Außenposten im Gebiet des heutigen Kanada nach Westen und Norden bis an den Arktischen Ozean vor und tauschte mit Indianern und Inuit Pelze gegen Lebensmittel, Decken, Kessel, Waffen und allerlei wertlosen Krimskrams.

Als Baffin 1616 in das Gewässer vorstieß, das jetzt seinen Namen trägt, hatte der niederländische Seefahrer, Kartograf und Forscher Willem Barents bereits zwischen 1594 und 1597 auf der anderen Seite des Eismeers Teile der Nordost-Passage an der russischen Küste entdeckt. Einen großen Schritt nach vorne machte die Arktiserforschung dann mit der Großen Nordischen Expedition von 1733 bis 1743 unter Vitus Bering, einem dänischen Offizier im Dienste der russischen Marine, welche die Nordküste Sibiriens, die Beringstraße und die Inselkette der Aleuten erforschte und kartografierte. Bis zu den ersten Durchquerungen von Nordost- und Nordwest-Passage sollte es aber noch mehr als ein Jahrhundert dauern. Erst 1878/1879 gelang es einer schwedischen Expedition unter Führung von Adolf Erik Baron Nordenskiöld, mit der »Vega« erstmals die Nordost-Passage zu durchfahren. Roald Amundsen schließlich brauchte drei Jahre, von 1903 bis 1906, um erstmals die Nordwest-Passage zu bezwingen.

Der Wettlauf zum Südpol endete mit einem eindeutigen Sieger: Roald Amundsen, der am 14. Dezember 1911 den geografischen Südpol erreichte. Beim Nordpol ist bis heute nicht klar, wer ihn zuerst erreichte. Von 1893 bis 1896 unternahm Fridtjof Nansen einen spektakulären Versuch, den Nordpol zu erreichen. Nansen, begleitet von Otto Sverdrup, fuhr die »Fram« in das Packeis der Kara-See und ließ sich vom Eis davontreiben. Drei Jahre lang trieb die »Fram« durch das Nordpolarmeer, bis das Eis sie nördlich von Spitzbergen wieder freigab. Nansen versuchte 1895 von der im Eis steckenden »Fram« aus zusammen mit Hjalmar Johansen den Nordpol mit einem Schlittenhundegespann zu erreichen. Sie kamen zwar bis 86° 14′ nördlicher Breite, so weit wie noch nie ein Mensch vor ihnen, aber zum Nordpol schafften sie es nicht. Mehr als zehn Jahre später erhoben die US-Amerikaner Frederick A. Cook und Robert E. Peary den Anspruch, als Erste den Nordpol erreicht zu haben. Cook behauptete, 1908 mit zwei Inuit von der kanadischen Axel-Heiberg-Insel aus bis zum Nordpol gekommen zu sein, Peary will 1909 dorthin gelangt sein. An beiden Darstellungen bestehen bis heute Zweifel. Sicher ist, dass schließlich 1926 der Nordpol erreicht wurde: Amundsen, Umberto Nobile und Lincoln Ellsworth überflogen am 12. Mai den Nordpol mit dem Luftschiff »Norge«. Die US-Amerikaner Richard Byrd und Floyd Bennett wollen ihn bereits am 9. Mai 1926 mit einer Fokker von Spitzbergen aus erreicht haben, allerdings wird dies in Zweifel gezogen: Möglicherweise kehrten sie wegen eines Öllecks um, bevor sie den Nordpol erreicht hatten.6

Die Nordwest- und die Nordost-Passage waren jahrhundertelang ein Traum derer, die für den Handel kürzere Seewege von Europa oder der Ostküste Nordamerikas nach Asien suchten. Ihr Traum erfror in den Eismassen, die die Schiffswege blockierten. Heute wird auf höchster Ebene, in den Vereinten Nationen, im Arktischen Rat, in der Weltschifffahrtsorganisation IMO und in der Europäischen Union über die Arktis gesprochen. Arktisstaaten und Nicht-Arktisstaaten entwerfen Politikkonzepte für den Nordpolarraum, Regierungen beanspruchen Souveränität in polaren Seegebieten, rhetorisch wird auf- und wieder abgerüstet, Eisbrecherflotten werden geplant oder gebaut und Militärstützpunkte eingerichtet. Schiffe bahnen sich den Weg zu Siedlungen und Rohstofflagerstätten an der Küste des Arktischen Ozeans. Energiekonzerne sichern sich Explorations- und Förderrechte im Polarmeer und auf dem arktischen Festland. Diamantenminen liefern Rohedelsteine in alle Welt. Kohleminen sowie Nickel- und Eisenerzbergwerke gewinnen Nachschub für die Stahlwerke der Industriestaaten. Die Arktis, einst ein wahrlich »abseitiges« Gebiet, ist zu einer Weltregion geworden, für die sich nicht nur die direkten Anrainer und Wissenschaftler interessieren, sondern die auch die Aufmerksamkeit weiter entfernter Länder und der breiten Öffentlichkeit findet. Das Eis – und davon soll das nächste Kapitel berichten – ist nicht mehr die unüberwindbare Barriere, an der die europäischen Seefahrer jahrhundertelang scheiterten.

image1.image

Auf dünnem Eis:
Der Klimawandel und
die Arktis

Schneemobilrennen auf der Frobisher Bay

Iqaluit, Hauptstadt des kanadischen Arktisterritoriums Nunavut, im April. Drei Stunden dauert der Flug von der Bundeshauptstadt Ottawa nach Iqaluit. Das leuchtendgelbe Flughafengebäude Iqaluits ist schon aus großer Entfernung vom Flugzeug aus zu sehen. Die meist ein- oder zweigeschossigen Häuser Iqaluits entlang der Küste des Koojesse Inlet scheinen sich zu ducken, um nicht allzu sehr dem Wind ausgesetzt zu sein. Im Schneetreiben zunächst kaum zu erkennen ist die anglikanische St.-Judas-Kathedrale, benannt nach Judas Thaddäus. Die igluförmige weiße Kirche ist eines der markantesten Gebäude dieser jungen Stadt. Unübersehbar auf einem Hügel über der Stadt steht der Astro Hill Complex mit Hotel, Kino und einem achtgeschossigen Appartementblock.

Die Frobisher-Bucht mit dem Koojesse-Meeresarm, an dem die 7000 Einwohner zählende Stadt liegt, ist eine Eiswüste. Bizarr ragen die Eismassen in die Höhe, Ebbe und Flut haben sie aufgetürmt. Der Tidenhub ist hier am Ende der Bucht gewaltig – bis zu zehn Meter können es sein. Wo das Eis eben ist, führt eine Eisstraße von der Stadt hinaus auf die Bucht. Langsam fahren Trucks in Kolonne über das Eis. Auf dem Eis mitten in der Bucht halten sie. Dutzende Fahrzeuge und Schneemobile und Hunderte Menschen kommen zusammen. Ein Schneemobilrennen, ein »Drag Race«, ist angekündigt, die letzte Veranstaltung des Frühlingsfests Toonik Tyme.

Von mehreren Seiten führen Fahrspuren für die Schneemobile vom Festland zum Veranstaltungsort auf dem Eis. »Es ist supersicher«, sagt mir Jerry Ell, ein mit Speckstein arbeitender Bildhauer, als ich ihn frage, ob ich gefahrlos die rund 500 Meter über das Eis zu Fuß zurücklegen kann. »Das Eis ist bestimmt fünf Fuß dick«, beruhigt er mich, »aber bleib auf der Spur, in der die Schneemobile fahren.« Die Stellen, an denen das Eis angetaut und matschig ist, solle ich meiden.

Wenn das eineinhalb Meter dicke Eis Autos und die schweren Schneemobile trägt, sollte es auch mich tragen. Ich bin nicht der Einzige, der über das Eis geht. Einige Menschen sehe ich in weiter Ferne, kleine schwarze Punkte inmitten von Schnee und Eis. Schneemobile brausen an mir vorbei. Dennoch habe ich ein etwas mulmiges Gefühl, vor allem wenn Eistürme den Blick auf Iqaluit oder den vor mir liegenden Rennplatz versperren und mich niemand sieht. Zu wissen, dass sich unter dem Eis das arktisch-kalte Wasser in einer heftigen Strömung bewegt, hat etwas Beunruhigendes.

Dann bin ich mit den vielen anderen am Startplatz. Die Motoren der Schneemobile dröhnen. Zwischen den Rennen wird Schnee auf die Motoren geschaufelt, um sie zu kühlen. Neben der Piste spielen Kinder im Schnee. Einige Frauen tragen ihre Babys in Amautis, den weißen oder farbenfrohen traditionellen Parkas der Inuit. Das »drag race« ist ein Familienereignis auf dem Eis. Eine Woche zuvor fand das Langstreckenrennen von Iqaluit nach Kimmirut an der Südküste der Baffin-Insel statt. Etwa 150 Kilometer Tundra und Berge, Eis und Schnee liegen zwischen den beiden Orten. Wer dieses Rennen gewinnt, der gilt etwas. So wie der mittlerweile verstorbene Jimmy Kilabuk, mit dem ich mich bei meinen früheren Besuchen in Iqaluit getroffen habe, um mit ihm in der Kneipe der Royal Canadian Legion eine Partie Poolbillard zu spielen. Er hatte das Rennen mehrmals gewonnen. Das trug ihm den Ehrennamen »Flash«, der Blitz, ein.

Die Piste des »drag race« ist kurz, nur rund 300 Meter. Aber das Eis der Frobisher Bay reicht noch viele Kilometer nach Südosten, bis es auf offenes Wasser stößt. Ich denke an das tragische Unglück, das wenige Tage vor meinem Eintreffen die Menschen hier erschüttert hat. Sandy Oolayou, ein erfahrener Jäger, fuhr mit seinem Schneemobil hinaus zur Jagd. Irgendwo da draußen traf er auf trügerisches Eis. Er erkannte es zu spät und brach mit seinem Schneemobil ein. Die Strömung riss ihn vermutlich unter das Eis. Niemand konnte ihm helfen. Sandy Oolayou war bekannt dafür, dass er seine Jagdbeute, ob Robben, Wale oder Karibus, mit der Gemeinde teilte.

All dies zeigt: Das Arktiseis ist mehr als eine weiße Fläche, deren Ausdehnung uns wegen der Klimaveränderungen im Nordpolargebiet und der Perspektiven für die Schifffahrt und die wirtschaftliche Nutzung der Arktis interessiert. Es ist mehr als der Lebensraum des Eisbären, der unser Bild von der Arktis prägt. Das Eis ist Teil des Lebens der Menschen in der Arktis. Die Jagd, die vom Eis aus betrieben wird, ist für die Inuit lebensnotwendiger Nahrungserwerb. Die Inuit, sagt mir Sheila Watt-Cloutier, sind ein Volk, dessen Kultur auf Kälte beruht. »Für die Menschen im Süden hat Schnee und Eis etwas mit Freizeit zu tun. Hier aber geht es um unseren Supermarkt. Das Eis, das das Land bedeckt, die Inseln verbindet oder weit in das Meer hinausragt, und der Schnee, über den wir mit Schneemobilen oder Hundeschlitten fahren, sind unsere Straßen, um zu den Nahrungsquellen zu kommen.« Seit Jahren bemüht sie sich, dem Klimawandel ein »menschliches Gesicht« zu geben, denn er betrifft nicht nur Eis und Eisbären, sondern auch die Menschen der Arktis. Ein »Recht auf Kälte« haben die Inuit, sagt sie, und so heißt auch ihre Autobiografie: »The Right to be Cold«. Sheila Watt-Cloutier war Präsidentin des Inuit Circumpolar Council (ICC), des Dachverbandes der Inuit Kanadas, Alaskas, Grönlands und der russischen Tschukotka-Region, und vertrat die Inuit bei den Verhandlungen, die zur Stockholmer Konvention über das Verbot langlebiger Umweltgifte wie PCB und DDT führte. Für ihre lebenslange Arbeit, die Kultur der Inuit und die arktische Umwelt zu schützen, wurde sie im Oktober 2015 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet.7

Der Kreislauf des Eises

Der Verlust an Eisfläche im Arktischen Ozean spielt in der Berichterstattung über den Klimawandel, die Rohstoffe und die Schifffahrt in der Arktis eine wichtige Rolle. Vom »ewigen Eis« ist die Rede, von Eisschollen und Eisbergen, von Packeis, den zusammen- und übereinandergeschobenen Eisschollen, und von Festeis, der an der Küste oder an festsitzenden Eisbergen verankerten Meereisfläche, von Winter- und Sommereis. Die Vorstellungen vom arktischen Eis sind oft sehr verschwommen. Das Meereis der Arktis ist nicht starr – und es ist zum größten Teil nicht »ewig«. Es bildet sich und es schmilzt. Anders als die Gletscher und Eiskappen, die Grönland und den antarktischen Kontinent bedecken und Tausende Jahre alt und mehrere Kilometer dick sein können, ist das Eis, das auf dem Ozean liegt, jung – zu großen Teilen nur so alt wie der zurückliegende Winter – und nur einige Meter dick. Meereis ist gefrorenes salzhaltiges Meerwasser, Gletscher hingegen sind Landeis, das sich aus Schnee und Regenwasser, also aus Süßwasser, bildet. Die riesigen Eisstücke, die von Gletschern abbrechen und in den Ozean fallen – die Gletscher »kalben«, wie die Experten sagen –, sind die Eisberge, die weit nach Süden treiben und Schifffahrtswege kreuzen können wie jener Eisberg, mit dem 1912 die »Titanic« kollidierte. Da sich Meereis auf dem Ozean aus dem Meerwasser bildet, führt das Abschmelzen der Meereisfläche auch nicht zum Anstieg des Meeresspiegels. Die Prognosen über dessen Anstieg beruhen vor allem auf Berechnungen über das Abschmelzen der Eisschilde von Grönland und Antarktika, die so dem Ozean Wasser zuführen, und die stärkere Ausdehnung des Meerwassers durch den Anstieg der Wassertemperatur.

Die Temperaturen in der Arktis und in den Alpen steigen offenbar doppelt so stark wie im globalen Durchschnitt.8 Das bestätigte im Dezember 2015 erneut die »Arctic Report Card«, die die US-amerikanische National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) alljährlich herausgibt: »Die Arktis erwärmt sich zweimal so schnell wie andere Gebiete des Planeten«, stellte der leitende NOAA-Wissenschaftler Rick Spinrad fest. Die durchschnittliche Lufttemperatur über Land habe von Oktober 2014 bis September 2015 1,3 Grad Celsius über dem Durchschnitt gelegen und sei die höchste seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1900 gewesen.9 Ein globaler Temperaturanstieg um drei Grad in diesem Jahrhundert könnte einen Anstieg um sechs Grad in der Arktis bedeuten. Falls es gelingen sollte, den Temperaturanstieg auf maximal zwei oder gar 1,5 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen, dann würde das für die Arktis immer noch ein Plus von drei bis vier Grad bedeuten.

Veränderungen in der Arktis können den Rest der Welt beeinflussen.10 Das Arktiseis wird als eine der wichtigsten Klimavariablen im hohen Norden angesehen. Die Meereisfläche isoliert Wasser, das Temperaturen zwischen null Grad und wenigen Graden über dem Gefrierpunkt hat, von der kälteren Luft. Andererseits kühlt das Eis im Sommer die Luft. Zudem funktioniert die weiße Eisfläche wie ein Spiegel, der die Sonnenstrahlen reflektiert. Als »Albedo« wird dieses für das Klima so wichtige Rückstrahlvermögen der Eisfläche bezeichnet. Schwindet die Eisfläche, nimmt die dunklere Wasserfläche mehr Wärme auf, was wiederum zum stärkeren Abschmelzen des Eises führt. Das Eis der Arktis beeinflusst den Wärme- und Feuchtigkeitsaustausch an der Meeresoberfläche, eine Reihe von Meeresströmungen, die für das Klima weltweit bedeutend sind, die Wolkenbildung und die Luftfeuchtigkeit. Gerne verwendet wird das Bild vom »Kanarienvogel in der Kohlengrube«, auf das sich auch die Autoren des Arctic Climate Impact Assessment (ACIA) von 2004, das die acht Staaten des Arktischen Rats in Auftrag gegeben hatten, beziehen: So wie Bergleute früher einen Kanarienvogel mit unter Tage nahmen, der sie vor einer steigenden Konzentration giftiger Gase warnte, so sehen Klimaforscher Meereis als Frühwarnsystem für Veränderungen. Daher gilt diesem ihr besonderes Augenmerk.

Meereis geht und kommt mit dem Jahreskreislauf. Es wächst im Winter und schmilzt im Sommer. Beginnend im September oder frühen Oktober weitet sich die Eisfläche aus und erreicht im Februar oder März ihre größte Ausdehnung. Die »maximale Meereisfläche« bedeckt dann den gesamten Arktischen Ozean, die Hudson Bay und die Wasserwege durch die Inselwelt im Norden Kanadas. Auch die Baffin-Bucht zwischen Grönland und der kanadischen Baffin-Insel und Teile der Davis-Straße leuchten im März auf den Eiskarten des US-amerikanischen National Snow and Ice Data Center (NSIDC) im hellen Weiß des Eises. Auf der anderen Seite des Arktischen Ozeans reicht die Eisfläche bis an die Küste Sibiriens und erstreckt sich über die Bering-Straße zwischen Alaska und Sibirien bis in die Bering-See, die in den Nordpazifik übergeht, und in das Ochotskische Meer.

Ende März beginnt der Prozess des Abschmelzens, erst langsam, dann immer schneller. Zunächst bricht in den südlichen Ausläufern des Eismeers und in den Rand- und Nebenmeeren das Eis, dann wird auch im zentralen arktischen Ozean die Eisfläche brüchiger und kleiner. Das Minimum, die geringste Meereisfläche, wird am Ende des arktischen Sommers im September erreicht. Aber der Trend ist beunruhigend. Das Ausmaß der Eisflächen wird im ACIA-Bericht bis in das Jahr 1900 rückverfolgt. Bis 1950 war die Eisfläche relativ stabil. Dann setzte der Abwärtstrend ein, der sich ab etwa 1970 verstärkte. Die Eisfläche erreicht im Winter nicht mehr das gewohnte Ausmaß und im Sommer schmilzt sie stärker.

Weniger Meereis im arktischen Winter

Das Grind and Brew-Café in Iqaluit liegt direkt an der Küste neben den Booten der Jäger und Fischer und den Hütten, in denen sie ihre Ausrüstung aufbewahren. Es ist das, was man eine Institution nennt. Hier finden sich Touristen und Einheimische ein, um sich bei einer Tasse Kaffee oder Tee zu wärmen. Nichts ist »fancy«, schick, im Grind and Brew. Man bedient sich selbst an den Kaffeemaschinen, nimmt sich vielleicht einen Snack aus den Regalen oder bestellt einen Hamburger. Ein paar Kühlschränke stehen in dem kleinen Raum, gefüllt mit Getränken und Lebensmitteln. Der raue Charme des Ortes lockt die Gäste an. Draußen auf dem Eis und Schnee der Koojesse-Bucht liegen Schlittenhunde. Sie haben sich zusammengerollt, ihr Schwanz bedeckt die Nase. So schützen sie sich vor dem eisigen Wind. Die Hunde bleiben den ganzen Winter im Freien, sie trotzen der Kälte. Kommt man ihnen zu nahe, springen sie auf und kläffen. Die Ketten, die mit Holz- oder Eisenpflöcken im Eis befestigt sind, rasseln.

Wer im März oder April bei minus 20 Grad an der Küste entlanggeht – bei Wind können es leicht minus 40 Grad gefühlte Temperatur sein – und die scheinbar endlose Eisfläche sieht, denkt nicht an schwindendes Eis und Klimaveränderungen. Aber der Blick auf die Arktis als Ganzes ergibt ein anderes Bild. Noch Ende der 1970er und in den 1980er Jahren wurden im Februar oder März maximale Eisflächen von 16 Millionen Quadratkilometer gemessen. Demgegenüber wurde im Februar 2015 ein neuer Negativrekord erreicht, denn nur noch 14,54 Millionen Quadratkilometer des Ozeans und seiner Rand- und Nebenmeere waren am 25. Februar auf dem Höhepunkt des arktischen Winters mit Eis bedeckt.11 Die Zufuhr wärmerer Luft auf der pazifischen Seite der Arktis beeinflusste die Ausdehnung der Eisfläche. Vor allem auf der Bering-See und dem Ochotskischen Meer war die Eisfläche kleiner als im Durchschnitt seit Beginn der Messungen vor 35 Jahren.12 Die Eisbildung im Spätherbst 2015 begann erneut sehr langsam. Im November lag die Meereisfläche nach Berechnungen der NOAA und des NSIDC rund 900 000 Quadratkilometer unter dem Durchschnitt der Jahre 1981 bis 2010. Zum Jahreswechsel 2015/2016 wurden im hohen Norden ungewöhnlich hohe Temperaturen bis zu 23 Grad Celsius gemessen, die das NSIDC gar von einer »kurzen polaren Hitzewelle« sprechen ließ.13

Das Sommereis
und die »eisfreie Arktis«

Während die Berichte der wissenschaftlichen Institute über die Wintereisfläche selten viel Aufmerksamkeit finden, ist das beim Sommereis anders. Denn diese Zahlen liefern den Stoff für die erschreckenden Szenarien einer »eisfreien Arktis«. Aber die Bezeichnung »eisfreie« Arktis ist nicht ganz korrekt, wenn nicht irreführend: Die Prognosen der Wissenschaftler über eine eisfreie Arktis beziehen sich allein auf den Sommer. Im Winter wird sich weiter Eis in der Arktis bilden, denn die Temperaturen fallen nach wie vor weit unter den Gefrierpunkt. Zudem können während des Sommers auch in »eisfreien« Gebieten immer noch große Eisschollen treiben. Es ist wichtig, diese Einschränkungen bei allen Diskussionen über die Zukunft der Arktis, über Rohstoffförderung und Schifffahrt stets im Auge zu behalten. Sie nehmen den Szenarien aber nichts von ihrer Dramatik.

Tatsächlich ist der Rückgang des Sommereises dramatisch und weitaus deutlicher als der des Wintereises – er beträgt bis zu 50 Prozent gegenüber den Werten vor 35 Jahren. Schon 2004 hatte der ACIA-Bericht ein besorgniserregendes Bild der künftigen Arktis gezeichnet: Um 15 bis 20 Prozent sei die durchschnittliche arktische Meereisdecke im Sommer zurückgegangen, und dieser Trend werde sich vermutlich beschleunigen. Einige Modelle sagten damals voraus, dass dieser Trend gegen Ende des Jahrhunderts zum nahezu vollständigen Verschwinden des Meereises in der sommerlichen Arktis führen könnte. Mittlerweile sind einige Prognosemodelle noch pessimistischer. Im Ende 2014 veröffentlichten fünften Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) heißt es, dass alle Szenarien einen Rückgang des Eises im Arktischen Ozean über das gesamte Jahr hinweg prognostizieren und dass nach einigen Modellen ein nahezu eisfreier Arktischer Ozean im September vor Mitte des Jahrhunderts »sehr wahrscheinlich« (likely) sei.14 Daraus ergibt sich ein Zeitraum von drei bis vier Jahrzehnten, bis der Ozean im Sommer nahezu eisfrei sein könnte, wenn keine ausreichenden Maßnahmen gegen die globale Erwärmung ergriffen werden.15

Die Eisschocks von 2007 und 2012

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des NSIDC wählten im Herbst 2007 drastische Worte, um zu beschreiben, was sie im Arktischen Ozean beobachten mussten: »Das arktische Meereis zerschmettert alle vorangegangenen Tiefststände.« Seit 1979 ermitteln sie anhand von Satellitendaten die Meereisfläche, das Maximum der Eisausdehnung am Ende des arktischen Winters im März und das Minimum am Ende des Sommers im September. In den ersten Jahren der Satellitenmessungen waren am Ende des Sommers meist um die sieben Millionen Quadratkilometer des Ozeans eisbedeckt, was bereits deutlich unter den rund zehn Millionen Quadratkilometern Eis liegt, die noch vor 100 Jahren im Sommer den Arktischen Ozean bedeckten. 1996 war das letzte Jahr, in dem der »Arctic Sea Ice Minimum Extent«, die kleinste Eisfläche, noch über sieben Millionen Quadratkilometer groß war. Der Trend ist, auch unter statistischer Berücksichtigung von Ausnahmejahren, deutlich negativ.

Den Absturz im Herbst 2007 hatten die Wissenschaftler in dieser Dimension dennoch nicht erwartet. 4,17 Millionen Quadratkilometer groß war die Meereisfläche am 18. September 2007, rund 1,6 Millionen weniger als noch im Vorjahr. Die Eisfläche im September lag somit 39 Prozent unter dem, was die US-Wissenschaftler als »durchschnittliches Jahr« definieren. Aufzeichnungen von Schiffen und Flugzeugen aus den Jahren vor dem Satellitenzeitalter ließen sogar darauf schließen, dass die Eisfläche gegenüber den 1950er Jahren um bis zu 50 Prozent geschrumpft sein könnte. Als die Schmelzsaison im März 2007 begann, war die Eisfläche mit 14,65 Millionen Quadratkilometern ungewöhnlich klein – und sie war dünner. Zu dem überraschenden Niedrigstand 2007 habe sicherlich eine Reihe natürlicher Faktoren beigetragen, meinte daher NSIDC-Direktor Mark Serreze, aber die Auswirkungen der Klimaerwärmung seien nun »laut und klar«.16

Die darauffolgenden Jahre brachten eine kurze Verschnaufpause, es wurden keine neuen Minusrekorde erreicht. Aber von einer Erholung oder gar Trendwende wollen die Wissenschaftler nicht sprechen. Angesichts eines seit über 30 Jahren anhaltenden Trends sei eine »Erholung« vom niedrigsten auf das zweitniedrigste Niveau keine Erholung, urteilt Serreze.17Eine Erholung setzt nach der Definition des NSIDC voraus, dass ein gegenläufiger Trend über mehrere Jahre anhält und die Meereisfläche zu früheren langfristigen Umfängen zurückkehrt.18

Seitdem bedeckten nur ein Mal, im Jahr 2009, mindestens fünf Millionen Quadratkilometer Eis den Arktischen Ozean. Im Sommer 2012 schrillten wieder die Alarmglocken. Stürme zerbrachen das dünne Eis und beschleunigten damit das Abschmelzen der Eisfläche. Am Ende wurden sogar die pessimistischsten Prognosen unterboten: Das NSIDC gab die Meereisfläche mit 3,41 Millionen Quadratkilometern an. Spätere Berechnungen korrigierten diese Zahl noch weiter nach unten, auf 3,39 Millionen Quadratkilometer. »Wir sind nun in unbekanntem Territorium«, kommentierte Serreze die Zahl. Man wisse, dass sich der Planet erwärme und Veränderungen zuerst und am deutlichsten in der Arktis zu sehen sein würden. Dennoch: »Wenige von uns waren darauf vorbereitet, wie schnell die Veränderungen tatsächlich auftreten würden.«19 Deutsche Wissenschaftler – vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven (AWI), vom KlimaCampus der Universität Hamburg sowie von der Universität Bremen – ermittelten gar nur 3,37 Millionen Quadratkilometer. Unterschiede bei den Zahlenangaben können dadurch entstehen, dass Satelliten eisbedeckte Gebiete als offenes Gewässer interpretieren, wenn sich im Sommer auf der Oberfläche größere Tümpel aus Schmelzwasser bilden. Schmelztümpel sind ein normales Phänomen auf arktischem Meereis, sie treten nach den Beobachtungen der Wissenschaftler jetzt aber immer früher im Jahr und für längere Zeit auf.20 Je fragmentierter das Eis ist, umso schwieriger wird die Berechnung. Aber trotz solcher Abweichungen war die Aussage eindeutig und alarmierend: Die sommerliche Eisdecke auf dem Arktischen Ozean ist in den vergangenen dreieinhalb Jahrzehnten um rund die Hälfte geschrumpft. Eine Trendwende ist nicht in Sicht. So schmolz im Sommer 2015 die Eisfläche im Arktischen Ozean auf 4,4 Millionen Quadratkilometer ab. Das waren zwar rund eine Millionen Quadratkilometer mehr als beim Rekordminimum drei Jahre zuvor, aber immer noch weniger Eis als in den beiden Vorjahren.21

Jäger auf brüchigem Eis

Pootoogoo Elee wurde in einem Zelt in einem Camp auf einer Insel in der Hudson-Straße geboren, etwa 100 Kilometer von der Siedlung Cape Dorset entfernt, die in Inuktitut Kinngait heißt, »die Berge«. Der heute 55 Jahre alte Mann kann sich noch daran erinnern, wie er als Vier- oder Fünfjähriger auf einen Schlitten gesetzt wurde und mit seinen Eltern auf die Jagd nach Karibus und Robben ging. Erbeutete Tierfelle tauschten die Eltern in der Niederlassung der Hudson’s Bay Company in Cape Dorset gegen Lebensmittel und Munition.

Es war die Zeit des großen Umbruchs im Leben der Inuit. Immer mehr Familien ließen sich in der Nähe der Hudson’s-Bay-Stützpunkte nieder, gaben ihr Nomadenleben auf und wurden sesshaft. Auch Pootoogoos Familie vollzog diesen Wandel. So wuchs er in Cape Dorset und Iqaluit bei seinen Eltern und Großeltern auf. Er ging zur Schule und dann auf Universitäten in British Columbia, Saskatchewan, Manitoba und Ontario, wo er Kurse in Rechts- und Umweltwissenschaften belegte, erzählt er. Heute begleitet Pootoogoo Besucher durch Cape Dorset, zeigt ihnen den Ort, der als Künstlergemeinde und durch seine weltweit geschätzten Drucke bekannt ist, und die Stätten, an denen Menschen der alten Dorset-Kultur siedelten. Wenn es die Zeit zulässt, fährt er mit ihnen auf die Mallik-Insel, um durch den Mallikjuag Territorial Park zu wandern. Pootoogoo war dabei, als vor 20 Jahren auf der Insel Häuser, einer 1000 Jahre alten Siedlung aus der Thule-Kultur sowie Werkzeuge und Kunstgegenstände gefunden wurden.

Vor allem aber ist Pootoogoo Jäger, so wie eigentlich alle Männer aus dem arktischen Ureinwohnervolk. Er jagt Karibus und Robben, Walrosse und Wale. Seit etwa zwei Jahrzehnten registriere er Veränderungen im Eis, erzählt er. Das Eis sei nicht mehr so dick, es sei nicht mehr so »vorhersehbar« wie einst, es bilde sich später und breche im Frühjahr früher auf. »Vor zwei Jahren habe ich mein Schneemobil verloren«, sagt er. Er brach auf dem Eis ein und hatte das Glück im Unglück, dass er von der Strömung nicht unter das Eis gezogen wurde. »Es ist schwerer für uns, über das Eis zu den Stellen zu kommen, wo wir jagen können.«

Auch Olayuk Akesuk aus Cape Dorset hat diese Erfahrungen gemacht. »Die Eisbedingungen haben sich verändert. Wir hätten in diesem Jahr fast drei Jäger verloren.« Sie wollten Walrosse jagen, als ihr Schneemobil einbrach. Auch sie hatten das Glück, das manch andere nicht haben. Sie konnten sich an der Kante des Eises festhalten, bis Hilfe kam. Das Eis sei für die Bewohner von Cape Dorset besonders wichtig, erläutert Olayuk. »Wir leben auf einer Insel. Wir müssen auf das Festland, um in Seen zu fischen und Karibus zu erlegen.«

Die Berichte und Anekdoten der Inuit fußen auf punktuellen Erfahrungen, decken sich aber mit dem, was Wissenschaftler messen: Die Eisfläche wird nicht nur kleiner, sie wird auch dünner. Seit mehr als zehn Jahren ist dieser Trend festzustellen. In den 1960er Jahren lag die am häufigsten gemessene Meereisdicke während des Sommers bei drei Metern. In den 1990er Jahren betrug sie noch mehr als zwei Meter, jetzt sind es nur noch etwa 90 Zentimeter.22 Eine Zusammenstellung der für den zentralen Arktischen Ozean seit Mitte der 1970er Jahre gewonnenen Daten zeigt, dass dort die mittlere Eisdicke im Sommer von etwa drei Meter auf weniger als 1,5 Meter zurückgegangen ist. Zudem wird dickes mehrjähriges Eis zunehmend durch dünneres einjähriges Eis ersetzt. Das Eisvolumen, das durch Eisfläche und Eisdicke bestimmt wird, nimmt ab.

Über die Eisdicke gibt es bisher allerdings weniger Informationen als über die Eisfläche. Während die Eisfläche sehr gut von Satelliten aus gemessen werden kann, ist die Feststellung der Eisdicke weiter eine Herausforderung für die Wissenschaftler. In der Vergangenheit wurden Daten mühevoll durch Bohrungen gesammelt. Dann wurden von U-Booten aus Eisdicke und Eisbewegung mit nach oben gerichteten Schallimpulsen, dem »upward-looking sonar« (ULS), gemessen. Eine weitere Methode, die Eisdicke zu ermitteln, waren »Freibord«-Messungen. Der »Freibord« gibt an, wie weit das Eis aus dem Wasser herausragt. Von Flugzeugen aus wird durch Radar oder Laseraltimetrie die Höhe der Eis- oder Schneeoberfläche über dem Wasserspiegel gemessen, anschließend wird unter Berücksichtigung der Schnee- und Eisdichte die Dicke des Eises errechnet.23 Allerdings ist die Stärke des Packeises nicht gleichmäßig, besonders dickes und sehr dünnes Eis wechseln einander ab, so dass eine mittlere Eisdicke schwer zu bestimmen ist. Mehrjähriges Eis wird zudem, wie Christian Haas, Eiswissenschaftler an der York University in Toronto, erläutert, »deformiert« und »akkumuliert«: Eisflächen werden aufeinandergeschoben oder zusammengedrückt.

Eine flächendeckende Erfassung der Eisdicke durch Satelliten ist erst seit etwa zehn Jahren möglich und unterliegt noch einigen Unsicherheiten. Im April 2009 wurde erstmals über eine Strecke von 2400 Kilometern von Spitzbergen bis Alaska eine elektromagnetische Eisdickenmessung mit dem Forschungsflugzeug »Polar 5« des Alfred-Wegener-Instituts vorgenommen. Seit 2010 führt die NASA flugzeuggestützte Laseraltimetrie zur Bestimmung der Eisdicke durch, und die Europäische Raumfahrtagentur ESA hat die Radaraltimetrie-Mission CryoSat gestartet.