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Marc Engelhardt

Heiliger Krieg – heiliger Profit

Marc Engelhardt

Heiliger Krieg –
heiliger Profit

Afrika als neues Schlachtfeld
des internationalen Terrorismus

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Den Opfern des Terrors
(auch wenn sie Täter genannt werden)
und ihren Angehörigen

2. Auflage, März 2016 (entspricht der 3., aktualisierten und erweiterten Printausgabe, März 2016)
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Covergestaltung unter Verwendung zweier Fotos
von Sven Torfinn, © Torfinn / laif
(Das Bild oben zeigt einen Milizionär vor einer zerstörten Kirche,
das Bild unten somalische Währungshändler,
beide Aufnahmen aus Mogadischu.)
Karten: Christopher Volle, Freiburg

ISBN 978-3-86284-334-3

Inhalt

Vorwort

1 Blutbad im Supermarkt

Wie der Terror zurück nach Kenia kam

2 Kampf um Somalias Schattenwirtschaft

Wie sich Terrorismus und organisierte Kriminalität verbinden

3 Reiseziel: Terror

Wie junge Männer zu heiligen Kriegern werden

4 Attentäter für Europa

Was al-Qaida im Geheimen plant

5 Joseph Kony, Terrorpionier

Wie ein »christlicher« Milizenführer im Herzen Afrikas wütet

6 Gangster-Dschihadis

Wie Schmuggel und Kidnapping den Islamismus finanzieren

7 Unheilige Herrscher

Wie Timbuktu von den Islamisten übernommen wurde

8 Dunkle Sahara

Wie Wirtschaft, Geheimdienste und Terror zusammenhängen

9 Schnee in der Wüste

Wenn Terroristen Drogen schmuggeln

10 Afrikas islamischer Staat

Wie Boko Haram Nigeria in Angst versetzt

11 Der verbrecherische Staat

Wenn Kriminalität und Politik Hand in Hand gehen

12 Gold, Uran und Bürgerkrieg

Wenn der Terror regiert

13 Puntlands verschwundene Piraten

Wenn Seeräuber zu Terroristen werden

14 Drohnen und das große Geld

Was tun gegen Afrikas Terroristen?

Anhang

Quellen und weiterführende Literatur

Abkürzungen und Namensbedeutungen

Verzeichnis wichtiger Protagonisten

Karten

Zum Autor

Vorwort

Am 20. November 2015, einem Freitag, beginnt der Gärtner vor dem Radisson Blu-Hotel in Malis Hauptstadt Bamako wie jeden Morgen bei Sonnenaufgang mit seiner Arbeit. Das Radisson gilt als eine der bei Ausländern beliebtesten Unterkünfte. Es hat einen Fitnessraum, einen Pool und auch sonst alle Annehmlichkeiten einer Luxusherberge. Um sieben Uhr, eine Stunde nach Tagesbeginn, füllen sich die Straßen in Bamakos Regierungsviertel nur langsam. Deshalb fällt es dem Gärtner auf, als ein Wagen mit Diplomatenkennzeichen an der Sicherheitsabsperrung vor dem Hotel durchgewunken wird. Er hat kaum Zeit, sich darüber zu wundern. Sekunden später springen maskierte Männer aus dem Fahrzeug, verletzen mit ihren Schusswaffen die zwei Wächter vor dem Hoteleingang und schießen dann in der Lobby um sich. Während der Gärtner und andere Angestellte in Panik fliehen, verschanzen sich die Kämpfer einer islamistischen Terrorgruppe in den oberen Stockwerken. Zeitweise haben sie 170 Geiseln in ihrer Gewalt. Am Ende des Tages stürmen malische Soldaten mit Hilfe von französischen und amerikanischen Elitetruppen das Hotel, mehr als 20 Menschen sterben. Es ist der bislang tödlichste Terrorangriff in Malis Hauptstadt, die früher einmal als eine der sichersten Städte Afrikas galt. Auch weil der Terrorangriff eine Woche nach einer Serie von Attentaten mit 130 Toten in Paris stattfindet, sorgt er weltweit für Aufsehen.

Es ist ein weiteres Mal, dass afrikanische Terroristen Schlagzeilen machen. Ihre Anschläge, Überfälle und Entführungen beschäftigen immer häufiger Politik und Öffentlichkeit. Als die nigerianische Bewegung Boko Haram am 15. April 2014 mehr als 240 Schülerinnen aus dem Norden Nigerias entführte, forderten Hunderttausende weltweit über den Kurznachrichtendienst Twitter »#bring-backourgirls« (bringt unsere Mädchen zurück) – eine Kampagne nigerianischer Mütter, an der sich selbst die US-amerikanische First Lady Michelle Obama beteiligte. Andere Attentate bleiben oft unbemerkt. Fast täglich ereignet sich irgendwo südlich der Sahara ein Anschlag, für den eine von Dutzenden Terrorgruppen verantwortlich zeichnet. Die meisten von ihnen behaupten, für einen mittelalterlich anmutenden Gottesstaat zu kämpfen. Al-Qaida und der sogenannte Islamische Staat (IS) heizen die Gewalt der Gruppen direkt oder indirekt an, dienen als Vorbild oder knüpfen enge Verbindungen. Nicht etwa der IS in Syrien und im Irak, sondern Boko Haram hatte nach Angaben des Global Terrorism Index 2014 die meisten Menschenleben auf dem Gewissen. Mehr als 6600 Tote gingen auf ihr Konto, mehr als drei Viertel der Opfer waren Zivilisten. Die Auswirkungen dieser brutalen Gewalt reichen bis nach Deutschland. In Somalia, in Mali, dem Sudan oder der Zentralafrikanischen Republik waren oder sind deutsche Soldaten direkt am Kampf gegen Terrorgruppen beteiligt. Auch deutsche Islamisten zieht es nicht nur nach Syrien, sondern auch nach Afrika, um sich den dortigen Terroristen anzuschließen.

Seit zehn Jahren berichte ich aus und über Afrika. Doch Afrika gibt es nicht, wie mein Korrespondentenkollege Georg Brunold schon vor vielen Jahren richtig schrieb. Tatsächlich unterscheidet sich der Terror, dessen Folgen ich in Somalia, Mali, Nigeria und anderswo gesehen habe, so sehr wie die Länder und die dort lebenden Menschen. Und doch: Manches gleicht sich auch. Terrorgruppen gewinnen überall auf dem Kontinent an Einfluss. Al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQMI), die somalische Shabaab oder Boko Haram in Nigeria versetzen ganze Länder in Angst, um ihre Ziele zu erreichen. Dabei gehören diesen Gruppen oft nur wenige Hundert, maximal ein paar Tausend Menschen an. Die Verbreitung von Furcht ist eine Strategie der Schwäche. Terror ist das Mittel der Wahl für Gruppen, die im offenen Krieg oder gar bei einer demokratischen Wahl unterliegen würden. Ihre Drohung, jederzeit an jedem Ort ohne Rücksicht auf Verluste zuzuschlagen, verschafft ihnen Macht und untergräbt zugleich den Schutzanspruch des Staates.

Die von den Terroristen verbreitete Angst reicht weit über Afrika hinaus. Dass afrikanische Terrorgruppen Europa bedrohen, davor hat außer der EU auch schon die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel gewarnt. Die Furcht ist groß, dass Islamisten quasi in unmittelbarer Nachbarschaft zu Europa sichere Rückzugsräume erobern, um von dort nach Norden vorzustoßen. Die derzeit zu beobachtenden Gefahren sind indes andere, nicht minder dramatische: die zunehmende Militarisierung einer ohnehin vernachlässigten Region und der Zusammenbruch ganzer Staaten; Verarmung, massive Menschenrechtsverletzungen, massenhafte Vertreibung und Flüchtlingstrecks vor allem in die Nachbarländer, aber zunehmend auch nach Europa. Mit der wachsenden Terrorherrschaft droht der Traum vom aus der Armut aufstrebenden afrikanischen Kontinent zu platzen, bevor er richtig begonnen hat.

Deshalb tun europäische Politiker tun gut daran, den Terror in Afrika zu fürchten, obwohl afrikanische Islamisten sich (anders als oft dargestellt) nicht auf dem Marsch nach Europa befinden. Auch sind sie viel seltener ideologisch verblendet, als man glauben mag. Ich habe im Gegenteil erlebt, dass wirklich ideologischer Terrorismus eine Seltenheit ist. Sicher, es gibt sie, die Islamisten, die für ein globales Kalifat kämpfen, oder Extremisten, die für das Primat ihrer Volksgruppe Terror verbreiten. Viele von ihnen sind Mitläufer. Was die Terrorgruppen nach meiner Erfahrung vor allem antreibt, zumal an ihrer Spitze, ist aber etwas ganz anderes: das Geschäft.

Längst sprechen Politologen vom »symbiotischen Terrorismus«, der Verquickung von Terrorismus und organisierter Kriminalität. In manchen Fällen arbeiten terroristische Gruppen mit der organisierten Kriminalität zusammen, etwa im Drogenhandel, wie sich in Westafrika zeigt. Doch oft praktizieren Terroristen die kriminellen Geschäfte gleich selber, ob als Schmuggler, Schleuser, Entführer, Auftragsmörder, Waffenschieber oder Geldwäscher. Von der Privatisierung des Terrorismus ist die Rede, einem Terrorismus, der sich selbst finanziert. Doch wenn man den Terror in Afrika genau beleuchtet, dann stellt sich zwangsläufig die Frage, ob die Kriminalität ein Mittel zur Förderung des Terrors ist – oder nicht doch eher der Terror ein Mittel zur Förderung des kriminellen Geschäfts. Ich bin der Überzeugung, dass Letzteres der Fall ist. Die Front des Terrors erleichtert kriminelle Machenschaften und spiegelt hehre Ziele vor, wo keine sind. Für den islamistischen Kampf lassen sich leichter Mitstreiter gewinnen als für den Kampf um Geld und um Ressourcen, die sich zu Geld machen lassen. Sektenführer können davon ein Lied singen. Ideologie erscheint mir für die terroristischen Gruppen, die ich Ihnen in den folgenden Kapiteln vorstellen will, allenfalls zweitrangig zu sein. Ihr heiliger Krieg ist oftmals scheinheilig.

Auf den folgenden Seiten beschreibe ich auch, wie die Ausbeutung afrikanischer Ressourcen durch europäische Staaten, die USA und China den Terroristen in die Hände spielt. Diktatoren und Autokraten können ungestraft walten, solange ihre Schutzmächte von ihnen profitieren. In manchen Ländern unterscheidet sich der staatliche Terror kaum von dem der Terroristen. Das treibt Terrorgruppen Unterstützer zu, die glauben, schlimmer könne es ohnehin nicht werden. Unterschlupf für Terrorgruppen gibt es in Afrika genug. In vielen Ländern ist der Staat nicht willens oder in der Lage, sein Territorium und die dort lebenden Bürger zu schützen. Diese rechtsfreien Räume werden zunehmend von Terrorgruppen als Basis für ihre illegalen Geschäfte genutzt. Doch sie dienen auch westlichen Staaten als Basen im »Anti-Terror-Krieg«, mit dem sie ihrerseits eigene Ziele verfolgen.

Ich beschäftige mich mit dem Terror in Afrika (vor allem südlich der Sahara), weil ich die Region gut kenne – aber auch, weil die strategische Bedeutung Afrikas ständig wächst. Europa kann kein Interesse daran haben, dass immer mehr afrikanische Staaten zu Unrechtsstaaten werden, in denen kriminelle Terrorgruppen den Ton angeben. Die international vernetzte Kriminalität bedroht zudem tatsächlich auch Europa.

In diesem Buch möchte ich Sie mitnehmen auf eine Reise quer durch Afrika, von Somalia ganz im Osten bis nach Guinea-Bissau im Westen. Dabei möchte ich Ihnen einen Eindruck vom Terror in Afrika, seinen Hintergründen und auch den Umständen geben, in denen er wächst und gedeiht. Doch bitte bedenken Sie: Auch wenn es in einem Buch über Terror und Kriminalität erwartungsgemäß düster zugehen kann, so soll das nicht heißen, dass es keine Lichtblicke gibt. Afrika ist ein Kontinent, auf dem es nicht nur Not, Leid und Gewalt gibt (wie in Europa übrigens auch), sondern auch unermesslich viel Kreativität, Aufbruch und Hoffnung. Ich glaube nicht, dass Afrika sich kampflos dem Terror ergeben wird, ganz im Gegenteil.

Viele der in diesem Buch erzählten Geschichten habe ich selbst erlebt, war vor Ort, habe mit Opfern und Tätern gesprochen, habe gesehen, gerochen und geschmeckt, wie der Terror das Leben in Afrika beeinträchtigt. Anderes habe ich nach bestem Wissen rekonstruiert und mich dabei an das gehalten, was mir Augenzeugen, Berichterstatter und andere Informanten geschildert haben. Es liegt in der Natur des Themas, dass nicht alle Quellen genannt werden möchten oder auch nur erscheinen wollen. Ich bin ihnen dennoch ausnahmslos zu großem Dank verpflichtet. Mein Anspruch ist es, mit diesem Buch den Terror in Afrika möglichst umfassend darzustellen. Dazu gehört auch, dass ich Erkenntnisse und Analysen anderer Autoren aufgenommen und verarbeitet habe. Wo ich dies getan habe, habe ich es nach bestem Wissen und Gewissen gekennzeichnet. Ein ausführliches Verzeichnis von Quellen und weiterführender Literatur findet sich am Ende des Buchs.

Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre und viele neue Erkenntnisse.

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Blutbad im Supermarkt

Wie der Terror zurück nach Kenia kam

Wie oft habe ich samstags um die Mittagszeit meinen Einkaufswagen durch die Regalreihen des Nakumatt-Megamarkts geschoben und mich geärgert, dass ich nicht früher aus dem Haus gekommen bin, um den Massen zu entgehen. Um diese Uhrzeit hatte sich das von Glas, Chrom und Gold glitzernde Westgate-Einkaufszentrum in Nairobi bereits prall gefüllt und in eine Freizeitlandschaft für Besserverdienende verwandelt. Wer zur wachsenden kenianischen Mittelschicht gehörte, kam hierher, ebenso Touristen, die in den Ketten westlicher Modelabels shoppten, Sushi aßen oder einen Latte Macchiato im schicken »Art Caffé« schlürften. Und Samstagmittags, wenn Hüpfburg und Kinderkochstudio, Verkaufsshows und Promibühnen aufgebaut waren, strömten noch einmal Tausende Besucher mehr ein, um sich zu vergnügen. Die Terroristen, die am 21. September 2013 – einem Samstag – die Westgate-Mall stürmten, wussten all das. Sie hatten Zeitpunkt und Ort bewusst gewählt, um möglichst viele Menschen zu ermorden.

Das Attentat

Drei Autos halten Augenzeugen zufolge um kurz vor eins vor der Mall. Eine Anzahl Vermummter, vier, sechs oder mehr Personen, springen aus den Fonds und teilen sich auf. Einige stürmen den Haupteingang im Erdgeschoss herauf, oberhalb einer marmornen Treppe. Die Sicherheitsleute, die hier seit zwei Jahren Rucksäcke und Taschen von Besuchern kontrollieren, sind die ersten Opfer. Während in der Haupthalle schon wild umhergeschossen wird, wird auch zur Straße hin noch auf Passanten gefeuert. Das andere Grüppchen stürmt das Einkaufszentrum vom Parkdeck auf der dritten Etage aus. Schon zwischen den Autos werden Besucher, unter ihnen Kinder und eine prominente Fernsehmoderatorin, von Kugeln getroffen.

Bilder der Überwachungskameras im Supermarkt zeigen, wie zwischen den Regalreihen erst die Erkenntnis ausbricht und dann das Chaos. Während die einen schon zum Lieferantenausgang flüchten, schieben andere noch ihre Einkaufswagen vorbei an Schuhcreme und gestapeltem Toastbrot. Später machen Fotografen Bilder von Leichen, die zwischen umgestürzten Alltagswaren liegen. Allein vor seiner Theke seien es sechs Menschen gewesen, so Fred Bosire, ein Metzger und Verkäufer, der den Anschlag überlebt. »Ich wollte zum Ausgang laufen, als ich sah, wie Leute um mich herum zu Boden gingen – da bin ich zurück und habe mich hinter die Fleischtheke geworfen, Gesicht nach unten.« Bosire vermutete zunächst das, was wohl viele dachten: »Ich hörte Rufe, Mwizi, Dieb, und dachte, die Polizei verfolgt ein paar Verbrecher.« Dass sie dabei wild um sich schießt und Unschuldige zu Boden gehen, ist in Kenia nichts Ungewöhnliches. Doch dann hört Bosire Stimmen in einer Sprache, die er nicht erwartet hat. »Ein schwer verständlicher Mix aus Englisch, Suaheli und etwas, das ich erst für Arabisch hielt – einer schrie ›Ihr habt unser Land überfallen, es ist Zeit, dass wir Rache üben.‹« Dann sind lange Zeit nur noch Schüsse und Schreie zu hören. Eine Frau mit Kindern lassen die Invasoren ziehen. »Dann hat eine andere Frau gesagt, lasst mich gehen, ihr könnt all mein Geld haben – und sie haben sie kaltblütig erschossen. Da wusste ich, dass ich keine Gnade erwarten kann.«

Spätestens in diesem Augenblick erkennen Bosire und die anderen auch, um wen es sich bei den Angreifern handelt. Die islamistische al-Shabaab aus dem Nachbarland Somalia hat Attentate angekündigt, nachdem Kenias Armee im November 2011 in Somalia einmarschiert war, um die Shabaab zu bekämpfen. Das Westgate-Einkaufszentrum galt seitdem als hochgradig gefährdet: weil es alles repräsentiert, wogegen die Shabaab-Führung agitiert, aber auch, weil die Eigentümer Israelis sind. Ein paar Wochen lang mieden Expats das Westgate, obwohl neue Wachleute eingestellt wurden, die die Besucher mit Metalldetektoren abtasteten. In der Einfahrt suchten sie mit Spiegeln den Unterboden von Autos nach Bomben ab. Dann ließ die Vorsicht langsam nach, bei Besuchern und Sicherheitskräften. Die Spiegel blieben, aber irgendwann schaute niemand mehr in den Kofferraum. Die Konsumenten kehrten zurück, als wäre nichts gewesen. Auch im Wahlkampf vor den Wahlen im März 2013 spielte die Terrorgefahr keine Rolle. Später wird man kritisieren, dass Warnungen von Kenias Geheimdienst nicht ernst genommen wurden. Man wird Berichte entdecken, in denen Experten Kenias Sicherheitskräften schon 2011 attestierten, in keiner Hinsicht auf einen möglichen Terroranschlag vorbereitet zu sein. Zusätzliche Mittel für die Terrorbekämpfung versickerten in dunklen Kanälen. Es herrschte das Prinzip Hoffnung: Die Shabaab wird sich schon nicht trauen, in Kenia anzugreifen. Es war eine fatale Fehleinschätzung, womöglich auch eine Lüge, die die Herrschenden zum Schluss selbst glauben wollten.

Für Fred Bosire werden an diesem Samstag seine schlimmsten Alpträume wahr. Plötzlich stehen zwei Terroristen vor der Theke und schießen mit ihren Schnellfeuergewehren die Glasscheibe in Splitter. Bosire glaubt, sich an das schmatzende Geräusch zu erinnern, als die Kugeln die aufgestapelten Steaks zersieben. Dass er selbst von Querschlägern getroffen wird, bemerkt er nicht. »Erst später, als ich zu frösteln begann, habe ich meine Hand zum Bein geführt – und da war alles voller Blut. Ich wollte schreien, aber ich habe mich gezwungen, still zu bleiben – Leichen schreien nicht.« Manchmal hört Bosire ein Stöhnen, kurz darauf einen Schuss. Dann klingelt ein Handy, es folgt eine Gewehrsalve. Schließlich Schritte. »Sie kamen zurück, aber nicht zu mir, sie haben die Regale mit Wein, Bier und Schnaps zerschossen, die neben der Fleischtheke standen.« Bosire erinnert sich an den Alkoholgestank, als eine Flut aus Bier, Wein, Schnaps, Blut und Scherben auf ihn zufließt. Er unterdrückt ein Würgen. Schließlich wird ihm schwarz vor Augen.

Kleine Wunder

Inmitten von Brutalität und Angst geschehen an diesem Tag auch Wunder, kleine und große. Katherine Walton stammt aus North Carolina. Waltons Mann ist auf Dienstreise, die 38-jährige IT-Spezialistin mit ihren fünf Kindern allein zu Hause. Um Abwechslung in den Tag zu bringen, entscheidet sich Walton am Samstagmorgen für einen Ausflug ins Westgate-Einkaufszentrum. Ihre beiden Söhne im Teenageralter sind begeistert. Sie rennen voraus in den Supermarkt, während sich Mutter Walton mit ihren drei Töchtern – vier und zwei Jahre sowie 13 Monate alt – Zeit lässt. Gerade als sie den Laden betreten will, hört sie eine Detonation. »Ich habe mir die Mädchen geschnappt und bin losgerannt, weg von dem Knall«, erzählt sie später der Journalistin Aislinn Laing. »Eine Frau hat uns hinter einen Werbestand gezogen, direkt am Eingang – ich konnte sehen, wie die Kugeln überall einschlugen, und hörte die Leute schreien.« Eine verletzte Kenianerin und zwei indische Frauen helfen Walton, die Töchter ruhig zu halten. Die Mutter erinnert sich kaum noch an Details, am ehesten noch daran, dass die Kleinen zwischendrin still miteinander spielen. »Ich konnte nicht verstehen, dass sie so tun konnten, als wäre alles ganz normal.« Vier Stunden halten sie aus. Immer wieder fallen Schüsse. Der Geruch von Schwarzpulver hängt in der Luft, ein Geruch, den sie noch Tage später in der Nase hat. Dann erscheint auf einmal auf der anderen Seite des Gangs ein Mann mit einer Pistole in der Hand.

Der Mann ist Abdul Hadschi, der Sohn eines ehemaligen kenianischen Innenministers. Sein Bruder hat ihm eine SMS geschickt. Auch er ist im Westgate gefangen. Um seinen Bruder zu retten, dringt Hadschi mit anderen Freiwilligen ins Einkaufszentrum vor. Er wagt sich auch dorthin, wo die Polizei sich nicht hintraut. Unter seinem Feuerschutz retten Helfer vom kenianischen Roten Kreuz Verletzte. »Wir haben viele tote Menschen gesehen«, sagt Hadschi später. »Sehr junge Menschen, Kinder, Senioren – man kann es sich nicht vorstellen.« Am Eingang zum Supermarkt liefert Hadschi sich gerade ein Feuergefecht mit einem der Angreifer, als er die Frauen hinter dem Werbestand sieht. »Die waren mitten im Kreuzfeuer, da haben wir uns umgruppiert und überlegt, wie wir sie rausholen können.« Katherine Walton, die inzwischen begriffen hat, dass der Mann mit der Pistole sie retten will, deutet auf ihre Kinder. Sie kann unmöglich mit allen dreien aus der Deckung kommen. Hadschi bedeutet ihr, die Älteste alleine loszuschicken. »Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hat, aber sie hat es getan – sie hat gemacht, was ich ihr gesagt habe, und ist losgerannt«, seufzt Walton. Zu einem Unbekannten, der eine Pistole in der Hand hält. Der Reuters-Fotograf Goran Tomasevic hält die Szene fest. Das Bild von Portia Walton, der Vierjährigen, die mit verängstigtem Gesicht zwar, aber zielstrebig durch einen verwaisten Korridor zu ihrem Retter läuft, geht um die Welt. Nach Portia rennt auch Katherine Walton los, das Baby auf dem Arm, die kleine Tochter an der Hand. Erst als sie durch einen Notausgang das Tageslicht erreichen und die Familie hinter der Polizeiabsperrung mit den beiden aus dem Supermarkt geretteten Jungen vereint wird, löst sich die Anspannung der vergangenen Stunden. Alle brechen in Tränen aus.

Die kalte Grausamkeit der Täter

Auf mindestens 200 wird Kenias Innenminister Joseph Ole Lenku später die Zahl der Verletzten schätzen, andere gehen von deutlich mehr aus. Wie viele Menschen ermordet wurden, ist selbst Monate später noch unklar: Weit mehr als 60 sind es, so viel steht fest. Die meisten sind Kenianer, andere kommen aus Frankreich, Großbritannien, Indien, Peru, Südkorea, China, Südafrika, Trinidad. Ein australischer Mann und seine niederländische Freundin werden erschossen, sie ist im achten Monat schwanger. Ein Neffe des kenianischen Präsidenten Uhuru Kenyatta und seine Frau sterben und Kofi Awoonor, ein ghanaischer Schriftsteller.

Die, die überleben, berichten, dass die Täter Muslime aufgefordert haben sollen, zu fliehen. »Wir wollen keine Muslime töten«, soll einer gerufen haben. Doch ein Bekannter, selbst Muslim, erzählt tränenerstickt, dass ein Maskierter vor seinen Augen eine hochschwangere Frau mit einem Kopfschuss hingerichtet hat. Sie hatte zuvor eine Koransure aufgesagt, weil sie hoffte, dem Todesurteil zu entgehen. »Warum hast du sie getötet, sie war doch Muslimin«, keuchte mein Bekannter. »Weil sie nicht verhüllt war«, erwiderte der Angreifer. Mein Bekannter durfte fliehen und hasst sich heute dafür. »Das waren keine richtigen Muslime«, sagt er. »Das waren kaltblütige Killer, die den Koran überhaupt nicht verstanden haben.« Wenn andere Beobachter Recht haben, dann töteten die Terroristen gezielt Ausländer oder Menschen, die ausländisch aussahen. »Die wollten maximale Aufmerksamkeit erzielen, weit über Kenias Grenzen hinaus«, glaubt auch mein Bekannter. Dass sie willkürlich in die Menge schossen, um Angst zu verbreiten, widerspreche dem nicht.

Fotografen, die eine Stunde nach Beginn des Attentats mit ersten Polizeikommandos in das Einkaufszentrum vordringen, berichten, wie still es geworden ist. Überall liegen Menschen – Tote und Verwundete wie Fred Bosire, die sich tot stellen. Als sich ihm Polizisten nähern, bewegt sich Bosire, mittlerweile wieder bei Bewusstsein, nicht. Einige Zeit zuvor hatte sich eine Gruppe somalisch sprechender Männer ein paar Dosen Cola aus dem nahen Kühlschrank geholt. Zischend entweicht die Kohlensäure, während die Männer sich zwischen die Leichen setzen und miteinander schwatzen. »Ich konnte fünf Paar Schuhe sehen – einer hatte braune Stiefel, so wie Jugendliche sie heute tragen, das muss wohl der mit der hellen Stimme gewesen sein. Ein anderer hatte braune Halbschuhe, ein anderer weiße und zwei trugen schwarze Schuhe – sie alle waren blutverschmiert.« Als die Dosen leer sind, ruft einer nach Überlebenden. »Wir lassen euch gehen«, verspricht er. Bosire will etwas sagen, doch vor ihm melden sich einige Frauen. Der Metzger hört Schritte, dann Schüsse. Als später die Polizisten nach Überlebenden rufen, sagt Bosire nichts. Erst als ein anderer wimmert und keine Schüsse fallen, ruft er die Beamten zu sich. Dann wird es schwarz um ihn. Er wacht in einem Krankenhausbett auf, über sich die gleißend weiße Decke.

Die Motive der Shabaab

Ungefähr um diese Zeit, am Samstagabend, bekennt sich al-Shabaab zu dem Anschlag. Auf einer der Webseiten, die die Bewegung üblicherweise nutzt, wird eine Audiobotschaft gepostet. In den folgenden Tagen werden weitere folgen. In ihnen meldet sich der Mann zu Wort, der seit 2008 an der Spitze der Shabaab steht: Achmed Abdi Godane, bekannt auch unter seinem Kampfnamen Abu Zubeir. Den Posten des Emirs der Shabaab hat er inne, seit sein Vorgänger Aden Hashi Ayro von einer US-Drohne getötet wurde. Das Attentat auf die Westgate-Mall bezeichnet er als Vergeltungsschlag für Kenias militärisches Engagement in Somalia: »Dieser Anschlag ist die Rache für das, was eure ungläubige Regierung unschuldigen Muslimen in unserem Land angetan hat.« Godane stellt Forderungen: »Entscheidet euch heute und zieht eure Truppen aus Somalia zurück. Ihr wundert euch, dass euer Land in Flammen aufgeht? Lasst euch gesagt sein, wir haben das bereits erlebt. Stoppt eure Aggression gegen unser Land. Eure Truppen haben illegal die Kontrolle über unsere Städte, den Hafen und Flughafen von Kismayo und die Gewässer vor unserer Küste übernommen. Beendet diese Belagerung, sofort.«

Die Absicht der Shabaab ist klar: Die militärisch geschwächte Bewegung will den Anschlag als Stärkebeweis optimal ausnutzen und so viel Angst wie möglich verbreiten. Gut 5000 selbsternannte Gotteskrieger, so schätzen die UN, soll die Shabaab unter Waffen halten. Seit dem Einmarsch einer Friedenstruppe der Afrikanischen Union (AU) mit zuletzt 22 000 Soldaten haben die Islamisten sich in den Busch zurückgezogen. Die Zeiten, als sie das ganze Land kontrollierten, sind vorbei. Zuletzt galt die Shabaab als militärisch aufgerieben und innerlich zerrissen; manche hatten sie schon abgeschrieben.

Während der Terroranschlag sich zu einem vier Tage andauernden Geiseldrama entwickelt, stellen immer mehr Kenianer die Frage: Warum ist dieser Anschlag jetzt erfolgt, und warum in Kenia? Die Shabaab hatte bis dahin nur einige kleinere Granatattacken an Bushaltestellen und in Slums zustande bekommen; und bei diesen ließ sich nie zweifelsfrei belegen, ob tatsächlich die somalischen Islamisten dahintersteckten. Im kenianisch-somalischen Grenzgebiet gibt es immer wieder Hit-and-run-Attacken – neben Polizisten und Soldaten kommen auch Zivilisten ums Leben. Doch im unwegsamen Nordosten Kenias, der von den meisten bis heute »Grenzdistrikt« genannt wird und per se als unsicher gilt, ist man solche Vorfälle gewohnt. Dass sie sich nach den militärischen Erfolgen der AMISOM gegen die Shabaab häuften, ist einer der Gründe, warum Kenias damaliger Präsident Mwai Kibaki Ende 2011 die Armee nach Somalia schickte.

Es war das erste Mal, dass Kenia sich in das Chaos im Nachbarland einmischte – im zwei Jahrzehnte währenden Bürgerkrieg hatte sich Kenia, das selbst eine große somalische Minderheit und eine wachsende Zahl somalischer Flüchtlinge im Land hat, neutral verhalten. 2011 aber hatten mehrere Überfälle vermutlich somalischer Banditen die im Norden liegende Ferieninsel Lamu erschüttert, ein entführter Brite kam ums Leben. Als er die für Kenia so wichtige Tourismusindustrie bedroht sah, handelte Kibaki – auch um eine Pufferzone zwischen Kenia und den Rückzugsräumen der Shabaab im Süden Somalias zu schaffen. Der Islamismus der Gruppe, gar die Angst vor einem Überschwappen der Ideologie nach Kenia spielten keine Rolle bei seiner Entscheidung, hieß es, ebenso wenig die aus den USA immer wieder erhobenen Forderungen, Kenia solle den Kampf gegen den »islamistischen Terror« nicht nur verdeckt, sondern offen mit Truppeneinsätzen unterstützen. »Für die Regierung war al-Shabaab vor allem eine kriminelle Bewegung, die die Sicherheit und Wirtschaft in unserem Land gefährdet hat«, sagt mir ein ranghoher Mitarbeiter im Innenministerium in Nairobi. »Ob al-Shabaab eine islamistische Agenda verfolgt, war für uns zweitrangig und tatsächlich auch immer wieder fraglich.«

Kenias Regierung hat Erfahrung mit Terroranschlägen. Am 7. August 1998, der Name al-Qaida war nur wenigen bekannt, zündeten Terroristen einen Sprengsatz vor der US-Botschaft im Stadtzentrum von Nairobi. »Ich war bei der Arbeit, einige Blocks entfernt, aber die Wucht der Detonation hat noch bei uns die Fensterscheiben platzen lassen«, erinnert sich die Büroangestellte Betty Nganga. Die Innenstadt war übersät von Trümmern, Staub und Leichen. 258 Personen starben in Nairobi und in Tansanias Wirtschaftsmetropole Daressalam, wo zeitgleich eine Bombe detonierte. Die Anschläge in Nairobi und Daressalam betrachten Terrorexperten heute als Test für die Attentate in den USA am 11. September 2001. »Als ich die Bilder von den einstürzenden Twin Towers gesehen habe, wusste ich, wie die Amerikaner sich fühlten«, sagt Nganga.

Doch der Anschlag auf das Westgate-Einkaufszentrum ist anders. Er trifft gezielt die aufstrebende Mittelschicht Kenias im Alltag und damit ins Herz; eine Bevölkerungsgruppe, die sich bisher vor derlei Anschlägen immun fühlte. »Too close to home«, zu nah am eigenen Zuhause, nennen diese Nairobianer das Attentat. Die Terroristen in der Westgate-Mall verfolgen kein abstraktes Ziel. Sie erheben konkrete Forderungen und stellen im Gegenzug in Aussicht, dass der Terror endet, wenn sich Kenias Armee aus Somalia zurückzieht. Der Anschlag ist nicht ideologisch begründet – es geht um handfeste ökonomische Interessen. Und die hängen nicht mit der auch von der Shabaab immer wieder geforderten islamischen Weltrevolution zusammen. In den Verlautbarungen der Bekenner ist davon nichts zu hören. Dort bestimmt ein Subtext jeden Satz: Es geht ums Geschäft.

Der Kampf um Kismayo

Während die Terroristen der Shabaab im Westgate-Einkaufszentrum einen womöglich seit Monaten vorbereiteten Plan umsetzen und einer Belagerung durch Sondereinheiten standhalten, wird auch in Kismayo geschossen. Ein Reporterkollege, der sich mit Einheiten der afrikanischen Friedenstruppe (AMISOM) in Somalias zweitwichtigste Hafenstadt durchgeschlagen hat, berichtet von schwerem Geschützfeuer, das immer wieder ohne Vorwarnung einsetzt. Wenn die unter Mandat der Afrikanischen Union kämpfenden Soldaten aus Sierra Leone zurückschießen, wird das Feuer eingestellt und später aus einer anderen Richtung wieder eröffnet. Mit ihren »Technicals«, den Pritschenwagen mit aufmontierten Geschützen, ist die Shabaab mobiler als die in Schützengräben und hinter Sandsäcken liegenden Verteidiger. Es ist eine Zermürbungstaktik, die die rund um Kismayo lagernden Einheiten der Shabaab gegen die afrikanischen Truppen in der Stadt anwenden. Im offenen Krieg hätten die paar Hundert Kämpfer gegen die AMISOM-Truppen keine Chance. Doch mit ihrer Guerillataktik halten sie den eigentlich übermächtigen Gegner in Atem. Die Shabaab schafft es zwar nicht zurück nach Kismayo, doch den zur somalischen Regierung stehenden Truppen gelingt es trotz der Unterstützung der AU nicht, das Umland unter ihre Kontrolle zu bringen.

Dass die Shabaab sich aus Kismayo zurückziehen musste, ist der von Süden her vorrückenden kenianischen Armee und ihren Verbündeten der somalischen Raskamboni-Miliz zu verdanken. Der Anschlag in Nairobi, so offenbar das Kalkül der Shabaab-Führung, soll die kenianische Öffentlichkeit gegen den Militäreinsatz im Nachbarland aufbringen. Wenn Kenias Truppen sich zurückzögen, könnte die Shabaab Kismayo womöglich wieder einnehmen.

Dieser Plan hat für die Shabaab Priorität. Denn der Verlust Kismayos und mehrerer anderer, kleinerer Häfen hat sie an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen: dem Geldbeutel. Über Kismayo wickelte die Shabaab illegale Geschäfte ab oder besteuerte sie. In Kismayo saß bis zuletzt das »Finanzministerium« der Shabaab, das Abgaben aus Stadt und Umland sammelte und damit den bewaffneten Kampf gegen die Regierung finanzierte. Geld wird auch gebraucht, um sich Unterstützung bei den Clans zu erkaufen, die der Shabaab Unterschlupf gewähren. Bleibt es aus, schwindet der Rückhalt schnell. Die Beschaffung des Geldes ist so vielfältig wie illegal. In seinem Bericht über transnationale organisierte Kriminalität in Ostafrika legt das UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) der Shabaab neben Schutzgelderpressung auch den Handel mit Heroin, Wilderei, den Verkauf von Elfenbein, Waffenschiebereien und Menschenschmuggel zur Last. Alleine mit dem (ebenfalls illegalen und von der Shabaab offiziell geächteten) Schmuggel von Holzkohle soll die Bewegung jährlich bis zu 40 Millionen Euro verdient haben (s. nächstes Kapitel). »Die Trennlinie zwischen krimineller und politischer Gewalt ist in Ostafrika – wie in anderen Teilen der Welt – sehr dünn«, warnen die Autoren des UN-Berichts. Und sie lassen keinen Zweifel daran, dass sie hinter der ideologischen Fassade der Shabaab in erster Linie eine kriminelle Organisation sehen: »Die Beimischung ideologischer und von Habgier getriebener Motivationen kann besonders hartnäckige kriminelle Gruppen erzeugen, die von der Fortdauer von Konflikten direkt profitieren. Das ist in Ostafrika mehrfach der Fall.« Ein weiterer Beleg für die kriminelle Natur der Shabaab: Anders als bei Rebellengruppen üblich, beschränke sich die Shabaab nicht nur auf die Besteuerung illegaler Geschäfte, so die UN-Experten. »Ihre Mitglieder sind direkt an illegalen Geschäften beteiligt.« Und die Shabaab hat in den vergangenen Jahren – nicht zuletzt in Kenia – viele Kämpfer rekrutiert, die einen kriminellen Hintergrund haben.

Der skrupellose Anführer

»Abu Zubeir« Godane ist beim Erhalt seiner Macht nicht zimperlich. Das amerikanische Time Magazine zählte ihn 2012 zu den 100 weltweit einflussreichsten Persönlichkeiten und attestierte ihm »eine hypnotische Überzeugungskraft bei der Errichtung eines muslimischen Gottesreichs auf Erden«. Der zum Zeitpunkt des Westgate-Anschlags 37-Jährige stammt aus Hargeisa im Norden Somalias, dem Teil des Landes, der sich als »Somaliland« einseitig unabhängig erklärt hat. Dort hat die Shabaab keinerlei Einfluss. In Pakistan wurde Godane zum Islamisten ausgebildet, in Afghanistan hat er gegen die Sowjetarmee gekämpft. Einstige Weggefährten berichten, dass er sich gerne seiner Treffen mit dem al-Qaida-Gründer Osama bin Laden rühmt. Sie sagen auch, Godane sei in Wirklichkeit menschenscheu und uncharismatisch. An seine Anhänger richte er sich auch deshalb überwiegend per Audiobotschaft.

Seinem Machtwillen tut das keinen Abbruch. Seit der Übernahme des Emir-Amtes 2008 hat Godane die Shabaab auf sich zugeschnitten. Die einst einflussreiche Shura, den religiösen Rat der Organisation, entmachtete er schrittweise und schaffte sie schließlich ganz ab. Während al-Shabaab sich bis heute damit brüstet, gemäß der islamischen Scharia zu handeln, schuf Godane eine Parallelinstanz, in der nicht der Koran, sondern er selbst die höchste Autorität darstellt. Die »Amniyat« genannte Zelle steht unter Godanes direktem Kommando und genießt das Privileg »sofortigen Rechtsvollzugs« – konkret heißt das: Hinrichtung all jener, die Godane gefährlich zu werden drohen. Die Entmachtung der Shura sorgte nicht nur dafür, dass die Shabaab sich noch weiter von ihrem ursprünglichen Image als regeltreue Ordnungsmacht entfernte und damit einstige Anhänger verschreckte. Die Shabaab gab implizit auch ihren Anspruch auf, eine islamische Bewegung zur Errichtung eines Kalifatsstaats in Somalia zu sein. So sahen es auch zwei hochrangige Shura-Mitglieder, die nach der Erstarkung der Amniyat flohen. Und so sah es zum Schluss auch ein Vertrauter Godanes: Der Konvertit Abu Mansur al-Amriki, ein US-Amerikaner, warb mit seinen YouTube-Videos erfolgreich Gotteskrieger vor allem (aber nicht nur) unter somalischen Exilanten in den USA. Für die Propaganda der Shabaab galt al-Amriki lange als unentbehrlich. Er rappte Texte wie diesen: »Gönnt den Unterdrückern keine Pause, kommt und kämpft den Dschihad mit mir, von Somalia bis Afghanistan, als Erstes nehmen wir (Äthiopiens Hauptstadt) Addis Abeba ein.« Sein Engagement brachte der Shabaab nicht nur neue Männer, sondern auch Geld: Im US-Exil lebende Somalis überwiesen hohe Summen, um den Dschihad in ihrer Heimat zu unterstützen.

Zuletzt aber distanzierte sich al-Amriki von Godane. Am 3. September 2013 griff der bereits auf der Flucht befindliche al-Amriki im Interview mit Voice of America (VOA, der staatliche Auslandssender der USA) den Shabaab-Führer frontal an: »Das Grundproblem ist, dass Godane die Prinzipien unserer Religion aufgegeben hat und al-Shabaab in eine Organisation verwandelt, die jeden Muslim im Land unterdrücken soll, damit er der neue Diktator Somalias wird.« Al-Amriki vergleicht Godane direkt mit Siad Barre, der sich 1969 in Somalia an die Macht putschte und eine Schattenwirtschaft errichtete, von der nur Verwandte und enge Unterstützer profitierten. Um die Kontrolle dieser Schattenwirtschaft kämpft auch Godane. Davor wird unterdessen das Stück vom islamischen Musterstaat gegeben.

In seinem Interview mit VOA spricht al-Amriki davon, dass sein Leben bedroht sei. Zwei Tage später wird er nach einem kurzen Gefecht in einem Dorf südwestlich von Mogadischu erschossen. Gemeinsam mit ihm stirbt ein Brite pakistanischer Herkunft, Osama »al-Britani«. Niemand in Somalia zweifelt daran, dass Amniyat-Kämpfer hinter dem Anschlag stecken. Kurz zuvor war der einst enge Vertraute Godanes, Ibrahim al-Afghani, auf ähnliche Weise hingerichtet worden. Er hatte sich in einem offenen Brief an al-Qaida-Chef Ayman al-Zawahiri über den harschen Umgang des Emirs mit ausländischen Dschihadisten beklagt. Andere Kritiker Godanes entkommen ihrer Ermordung nur knapp durch Flucht, so der ehemalige Shabaab-Sprecher Mukhtar Robow und der einflussreiche Sheikh Hassan Dahir Aweys.

Zum Zeitpunkt des Anschlags auf das Westgate-Einkaufszentrum steht Achmed Abdi Godane unangefochten an der Spitze der Shabaab. Dass 160 islamische Würdenträger im September bei einer Versammlung in Mogadischu eine Fatwa gegen die Shabaab erlassen haben, stört ihn nur insofern, als die wachsende Kritik in den Moscheen die verbündete al-Qaida aufschrecken könnte. Erst Anfang 2012 hat das Terrornetzwerk die Shabaab offiziell in ihre Reihen aufgenommen. »Heute habe ich gute Nachrichten zu verkünden«, eröffnete Ayman al-Zawahiri, der Nachfolger Osama bin Ladens, seine diesbezügliche Videobotschaft. »Die Shabaab wird den heiligen Krieg der Qaida unterstützen und damit offiziell Teil des Terrornetzwerks werden.«

Es ist das erste Mal, dass die Qaida sich zur Shabaab bekennt. Lange ist man in der Führung des Terrornetzwerks misstrauisch gewesen, was die Ziele der Somalis angeht. In seinem Tagebuch beschreibt der einstige Vertraute, Leibwächter und Emissär Osama bin Ladens, Nasser al-Bahri, wie er als junger Dschihadist angeworben wurde und nach Somalia kam. Al-Bahri kommt zu dem Schluss, dass die Islamisten, von denen viele später zur Shabaab wechseln, schon damals – 1996 – nur eines wollen: Geld. »Sie dachten, ich verstehe kein Somalisch, aber das tat ich. Einer fragte: Hast du gesehen, ob der Mann Geld dabei hat? Hast du schon irgendetwas von ihm bekommen? Einer von ihnen fragte mich dann offen, ob ich Geld zu ihrem heiligen Krieg gegen die Äthiopier beisteuern könnte, und ich habe gesagt: Ich bin hier, um zu kämpfen, nicht um Geld zu geben.« Als al-Bahri Jahre später in bin Ladens Auftrag nach Somalia reist, hat er das Erlebte nicht vergessen. Und dass Geld die zentrale Rolle im scheinheiligen Krieg der Shabaab spielt, sagen heute auch diejenigen, die einst als Dschihadisten in Somalia an der Seite der Shabaab kämpften und desertierten.

Godane braucht die formale Anerkennung von außen, um eine Spaltung der Shabaab entlang von Clanlinien zu verhindern. Als Angehöriger des nördlichen Isaq-Clans wäre er dann isoliert. Er braucht die Kämpfer aus dem Ausland, die sich – weil für sie die in Somalia so bestimmenden Animositäten zwischen Clans und Subclans unerheblich sind – immer wieder als integrativer Faktor in der Bewegung bewiesen haben. Nicht zuletzt braucht er Geld und Waffen, nachdem seine Haupteinkommensquellen in Somalia zu versiegen drohen.

Mit dem Anschlag in Nairobi löst Godane sein Problem, zumindest vorläufig. Zwar befindet die Shabaab sich in Somalia weiter militärisch unter Druck, doch kann dem Emir jetzt kaum jemand Stärke und Entschlossenheit absprechen, nachdem er den brutalsten Anschlag auf kenianischem Boden seit 15 Jahren veranlasst hat. Al-Qaida hat er bewiesen, dass er den Dschihad jenseits der somalischen Grenzen ernst nimmt: Ein ultimativer Treuebeweis, der wiederum vermutlich nicht ohne Unterstützung al-Qaidas möglich war. Augenzeugen wollen gesehen haben, dass in den zwei Taschen, die die Terroristen in die Westgate-Mall schleppten, moderne Waffen und Sprengsätze gewesen sein sollen. Der Ablauf, so glauben geschulte Antiterrorspezialisten, trage die Handschrift von al-Qaida.

Immer wieder kursieren Gerüchte, dass auch ausländische Dschihadisten am Sturm auf die Westgate-Mall beteiligt waren. Von mindestens zwei US-Amerikanern und einer Britin spricht Kenias Außenministerin Amina Mohammed. Auch der UN-Sonderbeauftragte für Somalia, Nicholas Kay, hält die Beteiligung von ausländischen Kämpfern für möglich. »Das würde mich nicht wirklich überraschen. Wir wissen seit langem, dass die Shabaab ausländische Kämpfer in ihren Reihen hat.« Auf einige Hundert schätzt Kay die Zahl der ausländischen Dschihadisten bei der Shabaab. Sie sind bei ausländischen Geheimdiensten und Terrorbekämpfern besonders gefürchtet, weil sie durch das übliche Fahndungsraster fallen. Untersuchungen nach Ende des Dramas haben allerdings keine Beweise für eine ausländische Beteiligung erbracht. Die identifizierten Täter sind Somalis, einer von ihnen soll in Norwegen geboren sein. Nicht wenige vermuten, dass an der Vorbereitung des Anschlags auch eine kenianische Terrorgruppe namens al-Hijra beteiligt war. Al-Hijra, auch bekannt unter dem Namen »Muslimisches Jugendzentrum«, gilt als enger und aufstrebender Verbündeter der Shabaab.

Mit dem Anschlag hat »Abu Zubeir« Godane jedenfalls seine Gegner auf brutale Weise daran erinnert, dass die Shabaab trotz ihrer internen Streitigkeiten nicht zu unterschätzen ist. Sie hat längst Unterstützer in der ganzen Region: solche, die an den islamistischen Kampf der Shabaab glauben, und solche, die von den Geschäften im Schatten profitieren. Es ist diese Mischung, die den Kampf der Shabaab und der anderen Terrorgruppen in Afrika so gefährlich macht.

Das gilt selbst nach dem Tod Godanes, der am 1. September 2014 von einer US-amerikanischen Drohne getötet wurde. Sein Nachfolger Ahmad Diriye, »Abu Ubaidah« genannt und nur wenige Tage nach Godanes Tod nominiert, war ein enger Berater Godanes und soll den Mord an al-Amriki und anderen ausländischen Terrorkämpfern persönlich geplant haben. Da ist es kaum überraschend, dass Diriye Godanes Strategie fortführt. Immer häufiger greift al-Shabaab inzwischen Ziele in Kenia an. Beim Anschlag auf die Universität von Garissa am Gründonnerstag 2015 töteten Kämpfer von al-Shabaab 147 Studenten, mehr als doppelt so viele wie beim Westgate-Anschlag. Nur weil Garissa so entlegen im Norden Kenias liegt, war der Anschlag so viel schneller vergessen. Auch sonst lässt Diriye regelmäßig Anschläge auf Hotels, Restaurants und militärische Ziele verüben. Und nicht zuletzt betreibt er die kriminellen Geschäfte weiter, mit denen al-Shabaab Millionen macht. Damit versucht er, die drohende Spaltung der Shabaab zu verhindern – bisher weitgehend erfolgreich. Zwar hat die Gruppe sich aus Teilen Somalias zurückziehen müssen, doch sie kontrolliert immer noch große Gebiete gerade auf dem platten Land.

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Kampf um Somalias Schattenwirtschaft

Wie sich Terrorismus und
organisierte Kriminalität verbinden

Somalia wirkt nicht wie ein Ort, an dem gute Geschäfte zu machen sind. Verlässliche Daten über das Land am Horn von Afrika sind rar. Nach mehr als 20 Jahren ohne Zentralregierung fällt es Präsident Hassan Sheikh Mohamud, der am 10. September 2012 vom somalischen Parlament gewählt wurde, und seiner Regierungsmannschaft schwer, die staatlichen Institutionen wieder in Gang zu bringen. Die Wirtschaftsleistung Somalias einzuschätzen ist daher kompliziert. Ein verfügbarer Indikator ist der Haushalt der somalischen Regierung: Ende 2012 verabschiedete das Parlament in Mogadischu ein Budget, das für das folgende Jahr Ausgaben von rund 150 Millionen US-Dollar vorsah. Ursprünglich waren nur 109 Millionen US-Dollar eingeplant, doch das Parlament verweigerte die Zustimmung, bis weitere 31 Millionen US-Dollar für soziale Zwecke und 11 Millionen für Sicherheit eingestellt wurden. 150 Millionen US-Dollar oder 109 Millionen Euro – das ist in etwa der Etat der vorpommerschen Hansestadt Greifswald für 2013. Greifswald hat etwa 56 000 Einwohner (Somalia mehr als sieben Millionen) und führt keinen Bürgerkrieg. Auch sind Ämter, Polizeiwachen, Straßen, Krankenhäuser und andere Institutionen – anders als in Somalia – vorhanden und werden teilweise aus anderen Mitteln des Landes und des Bunds bezahlt.

Noch erschreckender ist es, dass Mitte 2013 von den veranschlagten 111 Millionen Dollar Einnahmen nicht einmal die Hälfte, nämlich 43,5 Millionen (31 Millionen Euro), auf somalischen Staatskonten verbucht war. 38 Millionen Dollar davon waren Staatseinnahmen, fast 30 Millionen davon Steuern – die mit Abstand meisten davon werden auf Handelsgüter am Hafen und am internationalen Flughafen erhoben. Erstaunlich ist das, weil Somalia neben so vielen anderen Institutionen seit 1991 auch kein funktionierendes Finanzamt mehr hatte. Von der budgetierten Entwicklungshilfe aus dem Ausland (57 Millionen US-Dollar) hingegen war bis Ende Juni 2013 nicht einmal ein Zehntel eingegangen. Weil Somalia international nicht kreditwürdig ist, führt das unmittelbar dazu, dass der Staat seine Ausgaben stoppt – etwa die Gehälter für Polizei und Militär oder die unter permanenter Lebensgefahr arbeitenden Staatsbediensteten nicht mehr ausbezahlt. Betroffen sind auch die Überweisungen in die Regionen. Der Präsident des teilautonomen Puntland etwa, Abdirahman Farole, drohte im Mai 2013 wegen der ausbleibenden Zahlungen aus Mogadischu bereits mit einem Bürgerkrieg. Farole vermutete, Präsident Mohamud wolle seine Regierung im Norden Somalias ausbluten lassen (s. Kapitel 13).

Die Ökonomie des Terrors

In einer Volkswirtschaft, die 2013 knapp 50 Millionen US-Dollar Steuern erwirtschaftete, ist scheinbar nicht viel zu holen. Doch jenseits des offiziellen Haushalts und der legalen Ökonomie, in der das meiste Geld mit dem Export von Kamelen und Weihrauch gemacht wird, existiert eine Parallelwirtschaft, eine Schattenökonomie, die die Konflikte in Somalia am Laufen hält und um die es sich zu kämpfen lohnt. Dass durchaus Geld zu holen ist, zeigt etwa ein vertraulicher UN-Bericht vom Juli 2014, der aufdeckt, wie Somalias Präsident gemeinsam mit anderen somalischen Politikern und einer US-Anwaltskanzlei ein System zur Abzweigung hoher Geldbeträge auf Konten in Dubai vereinbart haben soll. Es geht um hohe Millionenbeträge im Ausland, die während des Bürgerkriegs der 1990er Jahre eingefroren wurden. Auch sonst scheint die Regierung sich kräftig im Haushalt zu bedienen. 80 Prozent der Barabhebungen von Staatskonten würden für private Zwecke gemacht, berichteten UN-Kontrolleure 2013. Die italienische Wirtschaftswissenschaftlerin Loretta Napoleoni spricht von »Schattenstaaten«, in denen die Führung eine Ökonomie und die dazugehörige Infrastruktur nur mit dem Zweck schafft, weiter kämpfen zu können. Eine Teilhabe der Bevölkerung gibt es nicht. Eine kleine politische wie militärische Elite gibt die Richtung vor und hält den Konflikt am Laufen, durch den andernfalls arbeitslose Männer bezahlte Beschäftigung finden. Dieser Schattenstaat finanziert sich durch eine Mischung aus legalen und illegalen Geschäften; hier ergänzen sich Terror und Kriminalität. Somalia ist lange Zeit ein Beispiel für einen solchen Staat gewesen, gerade unter der Herrschaft der Shabaab. Heute kämpft die Bewegung für eine Rückkehr zu diesem Zustand des maximalen Profits.