Gerd Pfitzenmaier

Wir schaffen das – aber so nicht

Gerd Pfitzenmaier

mit Lukas Diringshoff

WIR

SCHAFFEN

DAS –

ABER SO

NICHT

 

Wie Deutschland und seine
Gesellschaft durch die
Flüchtlingskrise gespalten wird

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Originalausgabe

1. Auflage 2016

© 2016 CBX Verlag, ein Imprint der Singer GmbH

Frankfurter Ring 150

80807 München

info@cbx-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf in keinerlei Form – auch nicht auszugsweise – ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Ulla Bucarey und Tamara Hell

Umschlaggestaltung: Nina Knollhuber

Satz: Sina Georgi

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-945794-85-2

 

INHALTSVERZEICHNIS

 

 

Vorwort

1. Ursachen – wie konnte es soweit kommen?

1.1 Das neue Gesicht des Terrors

1.2 Vom Mittelalter direkt ins Internet

1.3 Die Saat geht auf

1.4 Die traurige Wahrheit

1.5 Die Politik ist planlos

1.6 Zündeln mit Worten

1.7 Fetter Reibach

2. Fakten – die Flüchtlingskrise in Zahlen

3. Auswirkungen – was jetzt dringend anders werden muss

3.1 Politik muss endlich agieren statt nur reagieren

3.2 Aufklären statt Betroffenheit erzeugen

3.3 Fokus der Politik ändern: Der Mensch muss wieder in den Vordergrund

3.4 Krieg ist keine Lösung

3.5 Integration ernsthaft angehen

4. Lösungen – wie schaffen wir das?

4.1 Recht gewähren

4.2 Der Radikalisierung die Basis entziehen

4.3 Integration vorantreiben

Literaturverzeichnis

 

Vorwort

 

 

 

„Wir schaffen das!“ – An dieser vollmundigen Ankündigung der deutschen Kanzlerin vom Herbst 2015 zweifeln heute viele. Zurecht: Denn unsere Politiker versagen reihum bei einer der wichtigsten Herausforderungen in der Geschichte unseres Landes. Sie sind überfordert. Sie lavieren, treffen falsche Entscheidungen. Das enttäuscht die Menschen. Zu viele reagieren deshalb ängstlich, gar gehässig, oder sie zündeln – mit Worten und Brandsätzen. Die Willkommenskultur ist Hass und populistischen Tiraden gewichen. Die umfangreichen Recherchen für dieses Buch, zu denen Lukas Diringshoff wesentliche Teile beisteuerte, zeigen die vielschichtigen Gründe, wie es so weit kommen konnte.

Tatsächlich stellt die Eingliederung vieler Tausend Flüchtlinge, die vor Krieg, Bomben und Terror in ihrer Heimat bei uns Schutz suchen, Deutschland und die hier lebenden Menschen vor eine schwierige Aufgabe. Die Frage ist aber nicht, ob wir das schaffen. Deutschland ist stark genug, diese Aufgabe zu schultern. Die Frage muss lauten, wie wir es schaffen und wie wir die Werte, die wir allzu oft in Sonntagsreden preisen, jetzt mit Leben erfüllen. Das erfordert Mut. Es braucht eine Vision für ein menschliches Miteinander. Darüber müssen wir alle gemeinsam nachdenken. Das müssen wir diskutieren und uns notfalls auch darüber streiten. An dieser Aufgabe jedoch können Deutschland und die Deutschen wachsen. Jetzt gilt es, den hehren Worten von Toleranz Taten folgen zu lassen und die ewig Gestrigen, die aus der Not der Flüchtlinge nur ihren eigenen Nutzen ziehen wollen, in die Schranken zu weisen. Denn wie wir die Flüchtlinge aufnehmen entscheidet, ob Deutschland ein liebenswertes Land bleibt, in dem wir auch in Zukunft noch gemeinsam leben wollen und weiter erfolgreich bleiben.

München, Februar 2016 Gerd Pfitzenmaier

 

 

 

 

 

1. URSACHEN – WIE KONNTE ES SOWEIT KOMMEN?

 

 

1.1 Das neue Gesicht des Terrors

 

 

„Der Dschihad kennt keine Grenzen mehr.“ Die Titelzeile des „Stern“ vom Herbst 2015 trifft – leider – den Kern der neuen Sicherheitslage auch in Deutschland. Die Pariser Anschläge auf die Redaktion der Satire-Zeitschrift „Charly Hebdo“ im Frühjahr sowie im November vor dem „Stade de France“, auf Bars und Restaurants entlang der Flaniermeilen in Frankreichs Hauptstadt und zeitgleich bei einem Rock-Konzert im Club „Bataclan“ am Boulevard Voltaire oder die abrupte Absage des Fußball-Freundschaftsspiels wegen einer drohenden Anschlagsgefahr zwischen „der Mannschaft“ und den Niederlanden im Stadion von Hannover belegen, was Beobachter längst wissen und immer wieder prophezeit haben: Terrorismus wandelt sich. Inzwischen ist das Problem ubiquitär – die Angreifer lauern überall, sie können jederzeit zuschlagen.

Das schürt Angst. Das Gefühl von Sicherheit weicht dem einer ständigen Bedrohung.

Die Wirklichkeit dagegen zeichnet ein durchaus konträres Bild der Lage. Ein Blick in den aktuellen „Global Terrorism Index“1 des Institute for Economics & Peace (IEP) in Sydney und New York belegt, dass sich seit den Anschlägen auf die Doppeltürme des World Trade Centers von 2001 in New York und das US-Verteidigungsministerium in Washington Anzahl und Frequenz der Terrorattacken beträchtlich erhöht haben. Inzwischen beklagen schon 162 Staaten der Erde solch gewaltsame Übergriffe, bei denen immer häufiger auch Menschen zu Schaden kommen. Die Intensität der Attacken nimmt seit der Jahrtausendwende stetig zu und gipfelt bislang 2014, schreibt das IEP in seinem Report, in einem 80 Prozent-Plus gegenüber dem Vorjahr: „Das war der größte Zuwachs in den zurückliegenden 15 Jahren.“ Tatsache ist, dass seit dem Jahr 2000 die weltweit belegten Terror-Opferzahlen von 3.329 auf 32.658 im Jahr 2014 kletterten. Und ja: Dabei sterben immer häufiger unbeteiligte Privatpersonen, die zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Dennoch täuschen diese Zahlen hinsichtlich der tatsächlichen Gefahr im Alltag.

Die Wahrnehmung vermutlich der allermeisten Menschen vom Ausmaß solch allgegenwärtiger Terror-Gefahr trügt, denn mit rund 437.000 Morden weltweit pro Jahr fordern noch immer „normale“ Kriminaldelikte um das 13-fache mehr Menschenleben als Terroranschläge. Und 2014 starben allein auf deutschen Straßen bei Verkehrsunfällen 3.368 Menschen.2 Zudem leben wir in den industrialisierten Ländern des Westens im Vergleich mit den Regionen, in denen der Terror tatsächlich wütet, noch immer relativ unbehelligt. „Nur“ 0,5 Prozent aller tödlichen Attacken ereignen sich – die Flugzeugangriffe von 2001 in den USA einmal ausgenommen – in Nordamerika, Europa oder Japan. Die weitaus meisten Anschläge finden in nur fünf Ländern der Erde statt: Irak, Nigeria, Afghanistan, Pakistan und Syrien.

Mit 6.644 Opfern hält nach wie vor die islamische Miliz der Boko Haram im Osten Afrikas den Spitzenplatz im Terror-Ranking3. Sie steigerte die Zahl ihrer Opfer allein 2014 um 300 Prozent und verdrängt damit den Islamischen Staat (IS) auf Platz zwei der Top Terrororganisationen. Dessen Konto bilanziert 2014 „lediglich“ 6.073 Tote. Gemeinsam sind diese beiden Gruppen dennoch für die Hälfte aller Terroropfer weltweit verantwortlich4. Weit mehr Menschen sterben im Namen des IS allerdings auf den Schlachtfeldern in den Wüsten Arabiens. Nach Zählungen des IEP fielen dort bis Ende 2015 mindestens 20.000 „Gotteskrieger“ und die von ihnen massakrierten „Ungläubigen“.

Unser Blick ist aber auf Europa fixiert. Vielleicht allzu sehr: Er blendet damit einen Teil der wirklichen Konfliktherde der Welt aus. Zur gleichen Zeit, als im November etwa alle geschockt nach Paris blickten, um aus den rund um die Uhr ausgestrahlten TV-Nachrichten Neues über die Anschläge in der französischen Hauptstadt zu erfahren, sprengten sich in Nigeria zwei Attentäterinnen der Boko Haram in die Luft. Sie rissen 50 unschuldige Menschen mit in den Tod. In Europa oder Amerika nahm davon aber kaum jemand Notiz. Bei Zeitungen, im Rundfunk oder in den Fernsehanstalten fanden die Redaktionen nur für den Terror vor der eigenen Haustür Raum in ihren Berichten. Die Menschen konzentrieren sich auf ihre eigene Umgebung. Dort spüren sie die Dauerbedrohung irgendwie unmittelbarer. Das scheint eine menschliche Reaktion zu sein, und sie ist vordergründig durchaus verständlich.

In Deutschland nehmen die Bürger die geänderte Situation spätestens seit dem abgesagten Länder-Match gegen Hollands Kicker in Hannover als Bedrohung ihres Alltags wahr. Eine Blitzumfrage der „Bild“-Zeitung ermittelte schon kurz darauf: „Die Anschläge haben in der Gemütslage der Deutschen Spuren hinterlassen.“

Diese Atmosphäre diffuser Angst spielt dabei genau jenen Radikalen in die Hände, die sie bewusst schüren – und als Waffe missbrauchen. Sie nutzen eine solche Stimmung. Mit ihr rekrutieren die Werber für einen radikalen Islam neue Mitglieder für ihren soge-nannten „Heiligen Krieg“, den Dschihad. Der Berliner Islamwissenschaftler und Nahost-Experte, Journalist und Politikberater Michael Lüders bringt dies in einem Interview auf den Punkt: „Der IS freut sich über die Reaktion des Westens.“ Sein aktuelles Buch „Wer Wind sät“ erklärt die Rolle des Westens beim Entfachen dieser Gewalt im Terror-Milieu. Der erfahrene TV-Mann beschreibt darin, wie der Westen den Aufstieg des Islamischen Staates beflügelte. Lüders wird mehr als deutlich: „In dem Maße, wie sich Deutschland mehr und mehr militärisch engagiert, wird es auch vermehrt ein Anschlagsziel für den IS.“

Die bärtigen Rambos aus den Propaganda-Videos des Islamischen Staats hält der Szenekenner dabei lediglich für die „Bodentruppen des IS“. Deren Befehlsgeber sind Lüders zufolge ehemalige Offiziere des gestürzten irakischen Diktators Saddam Hussein, „die ihren Machtverlust in der Region wettmachen wollen“5, so erklärt der Kenner der Materie in einem Interview. Diese machtbesessenen Offiziere wollten sich vor allem für den Verlust ihres Einflusses rächen, den sie als Sunniten mit Saddams Sturz erlebten. Ihre Volksgruppe regierte die Region seit der osmani-schen Zeit. Jetzt verfolgen sie nach Lüders Meinung „zwei klare Ziele“. Er nennt sie der „Frankfurter Rundschau“ in einem Interview: „Erstens, den Westen in einen Bodenkrieg in Syrien hineinzuziehen, den er nicht gewinnen kann. Und zweitens, die innenpolitische Lage bei uns zu destabilisieren, indem Rechtspopulisten und Islamisten oder auch verunsicherte Flüchtlinge irgendwann aufeinander losgehen.“6

Dieser perfide Plan könnte aufgehen. Zur Destabi-lisierung sollen wohl vor allem jene Kämpfer beitragen, die der IS nach Europa entsendet oder die er hier direkt vor Ort anheuert. Die radikalen Islamisten holen die meist unter 30-Jährigen nach Syrien. Dort bilden erfahrene Kämpfer sie an Waffen aus, lehren sie Logistik und Taktik, ehe sie zurückkehren in ihre Heimatländer. In Deutschland warnt daher Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen im Herbst 2015: „Wir müssen einfach sehr, sehr wachsam sein.“7 Immerhin zählt seine Behörde bereits im Sommer des Jahres nach Angaben des Magazins „Spiegel“ 720 solcher Terror-Touristen – darunter ein Fünftel Frauen. Maaßen ist sich sicher: „Viele der jungen Leute, die Richtung Syrien ausgereist sind, sind sich offenbar immer noch nicht klar darüber, dass sie dort nur als Kanonenfutter eingesetzt werden.“8 Der oberste deutsche Verfassungsschützer zitiert aus den Erkenntnissen seiner Auslandsagenten: „Die Nachrichtendienste wissen mittlerweile von über 20 Selbstmordattentätern, die auf diese Weise vom IS verheizt wurden.“

Wie gefährlich diese Fanatiker sind, wenn sie mit Hass geladen und einem Mordauftrag im Gepäck ihre Rückreise nach Europa antreten, zeigt das Beispiel des Paris-Attentäters Abdelhamid Abaaoud. Der 28-Jährige aus Belgien, den die französische Polizei als Drahtzieher der Pariser Anschläge bezeichnet, wuchs im Brüsseler Vorort Sint-Jans-Molenbeek auf. Ein Kind der Straße – so beschreibt ihn eine Zeitung: Im muslimischen Ghetto fand Abaaoud Freunde, sie steckten in einer ähnlich aussichtslosen Lebenslage wie er. Seine Eltern mühten sich als Einwanderer aus Marokko, die Familie oft eher schlecht als recht über Wasser zu halten. Dem Vater fehlte als kleiner Gewerbetreibender oft das Geld. Große Sprünge konnten die Abaaouds sich und ihren Kindern selten bieten. Dennoch schickten die Eltern den jungen Abdelhamid sogar auf das katholische Collège Saint-Pierre d’Uccle in der Brüsseler Rue du Doyenné, wo er offenbar aber nur wenig Anschluss unter Mitschülern fand und die in einem der besseren Stadtviertel gelegene Schule bald wieder verließ.

Startschuss für eine zweifelhafte Karriere. Das kennen Sozialarbeiter auch aus deutschen Problemvierteln. Der Junge freundete sich mit Jungs aus der Straßengang an. Dort war er akzeptiert, er geriet so jedoch auch auf die schiefe Bahn, eckte – meist wegen eher kleinerer Delikte wie Schlägereien, Trunkenheit oder Widerstands gegen Polizisten – mit der Staatsmacht an. Abdelhamid Abaaoud wanderte immer wieder ins Gefängnis. Dort erst radikalisierte er sich wirklich, mutierte vom halbstarken Jung-Gangster zum verbrämten Islamisten. Gewalt war das Mittel seiner Wahl, das ihm im Knast und auf der Straße Gehör und Respekt verschaffte. „Die Zeit“ zitiert ein Interview mit Abaaouds Schwester, in dem diese den fatalen Teufelskreis, in dem ihr Bruder steckte, bestätigt: „In den Gefängnissen von Vorst und Sint-Gillis, wo er vor einiger Zeit einsaß, hat er sich radikalisiert. Viel mehr als auf der Straße.“9 Im Gefängnis traf der spätere Terrorist dann auch auf jene Kumpel, die anschließend mit ihm – erst in Syrien, danach bei diversen Anschlägen des IS in Frankreich und Belgien – mordend durch Europas Städte zogen, die Anschläge auf Kirchen und in Fernzügen mitplanten und ihm schließlich halfen, in Paris Schrecken und Angst mit Gewalt und Tod zu verbreiten.

Für den belgischen Terror-Experten und Polizisten Alain Grignard, der seit 1985 eine Antiterror-Einheit in Brüssel leitet und an der Universität von Lüttich politischen Islam lehrt, ist diese „Karriere“ typisch. Er kennt die Botschaft, mit der Islamisten solche Jugendliche ködern. „Du hast keine andere Möglichkeit als kriminell zu werden, weil du Teil einer von der Gesellschaft diskriminierten Gruppe bist“, verriet er in einem Interview deren Botschaft und beschrieb das Motiv der jungen Extremisten: „Du verteidigst lediglich dich selbst.“10

Mit Ideologie habe das wenig zu tun, wissen Psychologen. Laut dem Psychoanalytiker Arno Gruen weckt die Botschaft der radikalen Islamisten jedoch ein Gefühl von Omnipotenz. „In Syrien finden sie sich dann in einem realen Videospiel wieder“11, zitiert „Die Zeit“ dazu Alain Grignard. Respekt werde mit Angst gleichgesetzt. „Wenn dir jemand im Weg steht, schießt du ihm einfach eine Kugel in den Kopf“, erklärt der Polizist und Wissenschaftler das in der virtuellen Welt erlernte Verhalten als Reaktion der Ra-dikalisierten. Auch für den französischen Politologen sowie UN-Diplomaten und Islam-Kenner Olivier Roy ist eine solche Verhaltensweise keinesfalls in erster Linie „eine Folge der Existenz von Isis“. Er sieht darin vor allem eine Jugendrevolte und ist überzeugt: „Wir erleben seit Jahren eine Radikalisierung einer bestimmten Kategorie von Jugendlichen in Europa.“ In einem Interview mit der „Frankfurter Rundschau“ sieht er diese jungen Menschen sogar eher als Opfer des IS: Der instrumentalisiere und nutze sie, aber er schaffe sie nicht oder bringe sie nicht erst hervor12.

Für Roy ist daher klar, dass Europa an „zwei Fronten kämpfen“ müsse: „Isis im Nahen Osten zu bekämpfen ist eine gute Sache, aber sie wird nicht dazu führen, die Radikalisierung unter den Jugendlichen in Europa zu beenden. Selbst wenn wir die Jugend hier entradikalisieren, wird dies nicht Isis insgesamt zerstören oder schwächen.“13 So wichtig wie der Kampf gegen den IS ist für Roy auch das Bemühen um die Jugend. „Sie revoltiert gegen die ganze Gesellschaft“, weiß er. Daher muss die Gesellschaft herausfinden warum und versuchen, darauf endlich Antworten zu finden – und sie zu geben! Es sei eine Revolte der Verlierer. Roy: „Es ist bekannt, dass eine große Zahl der Terroristen keine Ausbildung hat, sie sind nicht als gute Muslime bekannt gewesen, sie tranken Wein, hatten Mädchen, und so weiter. Doch dann gab es einen Wendepunkt der Jugend hin zu einer Radikalisierung. Es läuft also nicht so, dass sie stetig religiöser und fundamentalistisch werden und dann zu Dschihadisten werden.“14 Roy sieht dahinter keinen Aufstand der europäischen Muslime. Vielmehr sei die Szene eher familiär. „Diese Gruppen ähneln keinen klassischen Untergrundbewegungen. Sie bestehen vielmehr aus Freunden und Verwandten. Sie treffen sich in der Nachbarschaft, in Gefängnissen. Sie befreunden sich. Und es ist ein klassisches Muster, dass einer die Schwester des neuen Freundes heiratet. Es gibt eine Menge von Brüderpaaren, die in den Dschihad ziehen“, analysiert er im Interview mit der „Frankfurter Rundschau“: „Das sind keine politischen Organisationen. Es sind keine islamistischen Untergrundbewegungen.“15

Der Politikwissenschaftler vergleicht die Situation dennoch mit der Revolte von 1968, die auch Brutstätte der deutschen Terrorszene der 1970er-Jahre war: „Nebenbei gesagt gibt es einen gemeinsamen Punkt mit der Rote Armee Fraktion, es ist das Schweigen der Eltern.“ So nämlich wie die Eltern der 68er über ihre Vergangenheit während der NS-Zeit schwiegen, herrscht heute auch Sprachlosigkeit zwischen den Generationen vieler Migranten darüber, warum sie als Gastarbeiter in Europa und dort am Rand der Gesellschaft leben. Die Jungen akzeptieren nicht (mehr), dass sie Teil einer Gesellschaft sein sollen, die sie offensichtlich doch gar nicht haben will. Hier wird das Problem der Migranten zu dem aller: In ganz Europa schafft es kein Land auch Jahrzehnte nach dem Zuzug der seit über 40 Jahren hier lebenden ersten „Gastarbeiter“, diese wirklich in die Gesellschaft zu integrieren – mit allen Rechten und Pflichten. Die Menschen, deren wirtschaftliche Prosperität in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien auf dem Rücken dieser Zuwanderer aus dem europäischen Süden oder der Türkei aufbaut, wollen diese Menschen bis heute nicht als ebenbürtig ansehen und in ihre Gesellschaft mit aufnehmen. Das Zusammenleben ist vielerorts bestenfalls noch immer ein Nebeneinander-Leben. Das Wort von der Parallelgesellschaft träfe darauf bestens. Das Gefühl, nie dazuzugehören aber erzeugt jene Frustration, die sich zum Nährboden für Aggression aus Minderwertigkeitsgefühlen auswächst. Hier klaffen – überall in Europa – Anspruch und Realität noch immer weit auseinander. Daher ist Europa und sind seine Bürger an vielen Reaktionen enttäuschter Ausgeschlossener durchaus selbst schuld.