Inhaltsverzeichnis


Band I.
Band II.
Band III.
Band IV.
Friedrich Rückert

Die Weisheit des Brahmanen

Dichterisches Tagebuch
e-artnow, 2018
Kontakt: info@e-artnow.org
ISBN 978-80-268-5180-6

Band I.

Inhaltsverzeichnis
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
31.
32.
33.
34.
35.
36.
37.
38.
39.
40.
41.
42.
43.
44.
45.
46.
47.
48.
49.
50.
51.
52.
53.
54.
55.
56.
57.
58.
59.
60.
61.
62.
63.
64.
65.
66.
67.
68.
69.
70.
71.
72.
73.
74.
75.
76.
77.
78.
79.
80.
81.
82.
83.
84.

1.

Inhaltsverzeichnis

Ein indiſcher Brahman, geboren auf der Flur,
Der nichts geleſen als den Weda der Natur;

Hat viel geſehn, gedacht, noch mehr geahnt, gefuͤhlt,
Und mit Betrachtungen die Leidenſchaft gekuͤhlt;

Spricht bald was klar ihm ward, bald um ſich's klar zu machen,
Von ihn angeh'nden halb, halb nicht angeh'nden Sachen.

Er hat die Eigenheit, nur Einzelnes zu ſehn,
Doch alles Einzelne als Ganzes zu verſtehn.

Woran er immer nur ſieht ſchimmern einen Glanz,
Wird ein Betkuͤgelchen an ſeinem Roſenkranz.

2.

Inhaltsverzeichnis

Die Flamme waͤchſt vom Zug der Luft, und mehrt den Zug;
So haͤlt ſich Leidenſchaft durch Leidenſchaft im Flug.

Das Feuer ſchuͤrt der Wind, und loͤſcht das Feuer wieder;
So kaͤmpfet Leidenſchaft die Leidenſchaft danieder.

Wie ſtill die Lampe brennt am windbeſchirmten Ort,
So ein beruhigt Herz in Andacht fort und fort.

3.

Inhaltsverzeichnis

Wie nur die Schleuder kann in rechter Ferne wirken,
So muß der Sinne Kraft auch eine Grenz' umzirken.

Zu nah den Augen iſt nicht beſſer als zu fern;
Dich ſelbſt durchſchauſt du nicht, und nicht den Himmelsſtern.

Doch zwiſchen deinem Ich und jenem Daͤmmerſterne
Liegt eine weite Welt, die zu durchſchauen lerne!

4.

Inhaltsverzeichnis

Wer Furcht vor keinem hegt, Furcht keinem auch erregt,
Sieht den furchtbaren Tod von keiner Furcht bewegt.

Wer keine Luft verſtoͤrt, wen keine Luft bethoͤrt,
Erlangt die hoͤchſte Luft, wo alle Luft aufhoͤrt.

Wem hoch und niedrig gleich, gleichviel iſt hart und weich,
Gleichgiltig reich und arm, der iſt in Armuth reich.

Wer Lieb' mit Lieb' umfaßt, und ſelbſt den Haß nicht haßt,
Der iſt zu Hauſe dort, hier auf der Welt ein Gaſt.

5.

Inhaltsverzeichnis

Bedenke daß ein Gott in deinem Leibe wohnt,
Und vor Entweihung ſei der Tempel ſtets verſchont.

Du kraͤnkſt den Gott in dir, wenn du den Luͤſten froͤhneſt,
Und mehr noch wenn du in verkehrter Selbſtqual ſtoͤhneſt.

Gott ſtieg herab, die Welt zu ſchaun mit deinen Augen;
Ihm ſollſt du Opferduft mit reinen Sinnen ſaugen.

Er iſt, der in dir ſchaut und fuͤhlt und denkt und ſpricht;
Drum was du ſchauſt, fuͤhlſt, denkſt und ſprichſt, ſei goͤttlich licht.

6.

Inhaltsverzeichnis

Alswie der Menſch, ſo iſt ſein Gott, ſo iſt ſein Glaube,
Aus geiſt'gem Aether bald, und bald aus Erdenſtaube.

Doch doppelt iſt der Gott, der Glaube doppelt auch,
Hier ſelbſtentglommner Trieb, dort uͤberkommner Brauch.

Das Eigenſte wird ganz nie frei vom Angenommnen,
Doch uͤbt die Eigenheit ihr Recht am Ueberkommnen.

Man reißt das Haus nicht ein, das Vaͤter uns gebaut,
Doch richtet man ſich's ein, wie man's am liebſten ſchaut.

Und raͤumt man nicht hinweg ehrwuͤrd'ge Ahnenbilder,
Durch Deutung macht man ſie und durch Umgebung milder.

Des Glaubens Bilder ſind unendlich umzudeuten,
Das macht ſo brauchbar ſie bei ſo verſchiednen Leuten.

7.

Inhaltsverzeichnis

Wie Blaſen in dem Strom auftauchen und zergehn,
So ſah die Fantaſie Goͤtter aus Gott entſtehn.

Die Kunſt, das wirre Spiel der Fantaſie zu mildern,
Bezaubernd bannte ſie den Geiſt in Marmorbildern.

Des Sinnbilds Misgeſtalt will nichts ſein, nur bedeuten;
Der Wohlgeſtalt gebuͤhrts, Anbetung zu erbeuten.

Doch ſoll der Allgeiſt nicht im engen Haus verkuͤmmern,
Muß mit dem falſchen Schein die Schoͤnheit ſelbſt zertruͤmmern.

Wenn der verſoͤhnte Geiſt frei mit unſchuld'gem Spiel
Begoͤttert die Natur, dann iſt die Kunſt am Ziel.

8.

Inhaltsverzeichnis

Wenn das Erhabne ſtaunt die junge Menſchheit an,
Spricht ſie im hellen Traum: das hat der Gott gethan.

Und wenn ſie zum Gefuͤhl des Schoͤnen dann erwacht,
Bekennt ſie freudig ſtolz: Es hats der Menſch vollbracht.

Und wenn zum Wahren einſt ſie reift, wird ſie erkennen,
Es thuts im Menſchen Gott, der nicht von ihm zu trennen.

9.

Inhaltsverzeichnis

Die Sekten alle ſind im Glauben einverſtanden,
Es ſei ein hoͤchſtes Gut zu ſuchen und vorhanden.

Wo es zu finden ſei, das iſt die erſte Spaltung,
Und wie zu ſuchen? das des weitern Streits Entfaltung.

Der eine ſteckte hoch das Ziel, der andre tiefer,
Danach nach ſeiner Kraft dann kroch er oder lief er.

Der Niedrigſte wird auch nach etwas Hoͤchſtem geizen,
Das hoͤchſte Hoͤchſte kann den hoͤchſten Sinn nur reizen.

Ein Hoͤchſtes iſt Genuß, ein Hoͤh'res ſel'ge Ruh;
Was dir das Hoͤchſte gilt, Erkenntnis ſuche du.

In der Erkenntnis iſt Genuß das Suchen ſchon,
Und einſt wird ſel'ge Ruh ſeyn der gefundne Lohn;

Wenn alles du als gut im hoͤchſten Gut erkennſt,
Und einen boͤſen Schein allein das Boͤſe nennſt.

Inzwiſchen mußt du Gut und Boͤſes unterſcheiden,
Und fuͤr das Gute ſelbſt den Schein des Boͤſen meiden.

Erkenntnis, Ruh, Genuß, iſt nie bei boͤſem Muth;
Nur auf des Guten Pfad kommſt du zum hoͤchſten Gut.

10.

Inhaltsverzeichnis

Drei Eigenſchaften gibts, die ſich verſchieden gatten
In dir und jedem Ding: Licht, Finſternis und Schatten.

Urgoͤttlich iſt das Licht, ungoͤttlich Finſternis,
Und zwiſchen beiden ſind die Schatten ungewis.

Die Schatten ſuchen Theil am Licht, um zu entſtehn,
Und durch die Finſternis beſtehn ſie und vergehn.

Ob ſie in Finſternis vergehen, ob im Licht?
Im Kampf vergehen ſie, den dis und jene ficht.

Im Kampf, in welchem ſie vergehn, entſtehn ſie immer,
Verſoͤhnen wollen ſie den Kampf und koͤnnens nimmer.

Sie legen, um den Kampf zu ſuͤhnen, ſich dazwiſchen,
Und muͤſſen in den Kampf ſich wider Willen miſchen;

Alswie ein Brudervolk ſich in zwei Voͤlker ſpaltet,
Wenn um die Krone Streit von zweien Haͤuptern waltet.

Das iſt der große Kampf, der ringt durch die Natur,
Und alles Groß' entringt ſich dieſem Kampfe nur.

11.

Inhaltsverzeichnis

Aus Finſternis zum Licht ſteigt eine Stufenleiter,
Die dunkel iſt am Fuß und an der Spitze heiter.

Im Schatten ſiehſt du nicht, wie hoch die Leiter du
Aufklommeſt, doch du klimmſt zum Licht auf, klimm nur zu!

Wenn du im Licht erkennſt, wie aus dem Licht erſtanden
Nothwend'ge Finſternis, dann iſt die Welt verſtanden.

War Finſternis einſt Licht, ſo wird ſie Licht einſt ſeyn,
Wann das Entſprungne geht in ſeinen Urſprung ein.

Jedweder Sieg des Lichts im ſchwachen Geiſt vollbracht,
Weiſſagt den ew'gen Sieg der lichten Geiſtermacht.

Ihn profezeit die Sonn' an jedem Tage tagend,
Mit einem Stral von Licht ein Heer von Schatten ſchlagend.

Am Abend wird ſie roth vor Scham daß ſie erlag,
Und traͤumt die Nacht hindurch vom großen ew'gen Tag.

12.

Inhaltsverzeichnis

Als Knabe hab' ich einſt die Frucht am Baum geſehn,
Und ſehe nun als Greis die Bluͤtenknoſpen ſtehn.

Vom Menſchen wird nur das, was er nicht hat, geſucht,
Der Bluͤtentrieb vom Greis, vom Kind die reife Frucht.

Warum nach reifer Frucht das Kind begierig greift?
Weil es die Bluͤt' iſt, die der Frucht entgegen reift.

Warum das alte Herz an jungen Trieben haͤngt?
Weil die getriebne Frucht zu neuen Trieben draͤngt.

Wo traͤgt die Gegenwart der Zukunft Bluͤtenkrone?
Wo ſich ein Vater ſieht verjuͤngt in ſeinem Sohne.

Der Gaͤrtner ſei gelobt, der dieſen Baum begießt,
Wo Frucht aus Bluͤt' und Bluͤt' aus Frucht unendlich ſprießt.

13.

Inhaltsverzeichnis

Stell dich in Reih und Glied, das Ganze zu verſtaͤrken,
Mag auch, wer 's Ganze ſieht, dich nicht darin bemerken.

Mag auch, wer 's Ganze ſieht, dich nicht darin bemerken;
Das Ganze wirkt, und du biſt drin mit deinen Werken.

Stell dich in Reih und Glied, und ſchaare dich den Schaaren;
Und theilſt du nicht den Ruhm, ſo theilſt du die Gefahren.

Wird nicht der Muſterer den Einzelmann gewahren,
Mit Luſt doch wird er ſehn vollzaͤhlig ſeine Schaaren.

Damit im Lanzenwald nicht fehlet eine Lanze,
Heb deine fein, und ſei gefaßt auf jede Schanze.

Sei nur ein Blatt im Kranz, ein Ring im Ringeltanze,
Fuͤhl' dich im Ganzen ganz, und ewig wie das Ganze!

14.

Inhaltsverzeichnis

Wenn es dir uͤbel geht, nimm es fuͤr gut nur immer;
Wenn du es uͤbel nimmſt, ſo geht es dir noch ſchlimmer.

Und wenn der Freund dich kraͤnkt, verzeih's ihm, und verſteh:
Es iſt ihm ſelbſt nicht wohl, ſonſt thaͤt' er dir nicht weh.

Und kraͤnkt die Liebe dich, ſei dir's zur Lieb' ein Sporn;
Daß du die Roſe haſt, das merkſt du erſt am Dorn.

15.

Inhaltsverzeichnis

Zwei Spiegel ſind, worin ſich ſelber ſchaut mit Wonne
Die hohe Himmels- und die hoͤchſte Geiſterſonne:

Ein Spiegel iſt das Meer, von keinem Sturm empoͤrt,
Ein andrer das Gemuͤth, von keinem Drang verſtoͤrt.

16.

Inhaltsverzeichnis

Baumeiſterin Natur ſcheint fuͤr ſich ſelbſt zumeiſt
Zu baun, und baut zuletzt doch Alles fuͤr den Geiſt.

Der ſchrankenloſe Geiſt iſt darum nur gefangen
In Schranken, um darin zur Freiheit zu gelangen.

Ein Saͤugling iſt der Geiſt, Natur iſt ſeine Amme,
Sie naͤhrt ihn, bis er fuͤhlt, daß er von ihr nicht ſtamme.

Die dunkle Mutter will ihr Kind in Schlummer halten;
Von oben bricht ein Stral durch ihres Hauſes Spalten.

Und wie der Schmetterling erwacht vom Puppentraum,
Schwingt der Gedanke frei ſich uͤber Zeit und Raum.

Wie, wann die Frucht iſt reif, von ſelbſt die Kapſel ſpringt,
Und hin der Saame fliegt, von Himmelsluft beſchwingt.

Wie der Bruͤtmutter Huhn die Entenbrut entrann,
Und auf die Flut ſich wagt, wo ſie nicht folgen kann.

17.

Inhaltsverzeichnis

Verſtand zu ſeinem Bau braucht manche Stuͤtz' und Kruͤcke,
Natur und Fantaſie baut ganz aus Einem Stuͤcke.

Die Stuͤtzen fehlen nicht, ſie ſind nur nicht zu ſehn;
Und auf ſich ſelber ſteht, was ſcheint auf Nichts zu ſtehn.

Was du begreifen kannſt, ſiehſt du in ſeiner Bloͤße;
Stets unbegreiflich iſt die Schoͤnheit und die Groͤße.

18.

Inhaltsverzeichnis

Ich ſtreue Perlen aus, und Niemand achtet drauf;
Bald ſtreu' ich keine mehr, dann leſt ihr dieſe auf.

Wenn du erkennen kannſt, wie vielfach iſt das Eins,
Faͤllt mit der Vielheit ein die ganze Welt des Scheins.

Das Eins iſt zweierlei, das Eine und das Zweite,
Die Zwei ſind Eines mit ſich ſelbſt im Widerſtreite.

Das eine Eins iſt hier, das andre Eins iſt dort,
Die tauſchen unter ſich den Namen und den Ort.

Blick' in den Spiegel und verdoppelt ſiehſt du dich;
Blick weg, und auf in Eins loͤſt ſich das Doppel-Ich.

Im Spiegel iſt dein Bild, du ſelber aber biſt
Nur deſſen Spiegelbild, der Aller Urbild iſt.

Wenn in den Spiegel er mit Liebesblicken ſchaut,
Entſteht ein Weltbild, das, blickt er hinweg, zerthaut.

Drum preiſt die Liebe, die ihm ſtets den Spiegel haͤlt,
Daß ihm, dem Einen, ſich als zwei zu ſchaun gefaͤllt!

Das Eins iſt zweierlei, hier Einheit unentzweit,
Dort in der Zweiheit hergeſtellte Einigkeit.

Eins iſt der Punkt, der Kreis das andre, und das dritte
Iſt zwiſchen Kreis und Punkt die vieltheilbare Mitte.

Was iſt der Kreis? Ein Punkt, der um ſich ſelber kreiſt,
Und ſeinen Umfang woͤlbt, wie ſeinen Leib der Geiſt.

Zieh einen weitſten Kreis, und ruͤck' ihn weit ins Ferne,
Sogleich erſcheint er dir als Punkt, gleich jedem Sterne.

Setz' einen kleinſten Punkt, ob unſichtbar er waͤre,
Brauch' ein Vergroͤßrungsglas, und er erwaͤchſt zur Sfaͤre.

Ins Waſſer wirf den Stein, und ſieh wie ſich erweitern
Aus Kreiſen Kreiſe, um im weiteſten zu ſcheitern.

Eins ob der Kreis zerfloß, Eins ob er nie entſtand,
Denn Eins iſt Alles, wenn der Schein der Zweiheit ſchwand.

Die Zwei iſt Zweifel, Zwiſt, iſt Zwietracht, Zwieſpalt, Zwitter;
Die Zwei iſt Zwillingsfrucht am Zweige ſuͤß und bitter.

Wenn Zwietracht Eintracht wird, und Einfalt das Zwiefalte,
Dann wird der Schaden heil am alten Weltzwieſpalte.

19.

Inhaltsverzeichnis

Wer Schranken denkend ſetzt, die wirklich nicht vorhanden,
Und dann hinweg ſie denkt, der hat die Welt verſtanden.

Alswie Geometrie in ihren Liniennetzen
Den Raum, ſo faͤngt ſich ſelbſt das Denken in Geſetzen.

Anſchaulich macht man uns die Welt durch Laͤndercharten,
Nun muͤſſen wir des Geiſts Sterncharten noch erwarten.

Indeß geht, auf Gefahr den Richtweg zu verlieren,
Der Geiſt durch ſein Gebiet, wie wir durchs Feld ſpazieren.

20.

Inhaltsverzeichnis

Thu was du kannſt, und laß das andre dem, der's kann
Zu jedem ganzen Werk gehoͤrt ein ganzer Mann.

Zwo Haͤlften machen zwar ein Ganzes, aber merk:
Aus halb und halb gethan entſteht kein ganzes Werk.

Wer halb und halb geſund, der mag nur krank ſich nennen;
Und gar nicht kennen wir, was halb und halb wir kennen.

Wenn etwas Ganzes wuͤrd' aus noch ſo vielen Halben,
Ganz gut! es wimmelt jetzt von Halben allenthalben.

In jeder Halbheit wohnt ein Trieb zur Uebertreibung;
Bei Uebertreibung bleibt nicht aus die Unterbleibung.

Zuwenig und zuviel iſt beides ein Verdruß;
So fehl iſt uͤberm Ziel wie unterm Ziel ein Schuß.

Zuwenig und zuviel iſt gleichſehr unvollkommen;
Im Ernſt iſt und im Spiel das rechte Maß willkommen.

21.

Inhaltsverzeichnis

Gelobt ſei jede Form, weich ſei ſie oder ſchroff;
Denn jede neue Form erzeuget neu den Stoff.

Der Geiſt, der einer iſt und vielfach wird geboren,
Sucht neuen Leib, wann er am alten Luſt verloren.

Er thut durch Ein Organ ſich nur zur Haͤlfte kund,
Verſchweigt die Haͤlfte, bis er findet andern Mund.

Was als Kriſtall er konnt', als Edelſtein nicht ſpruͤhn,
Wird er einmal als Pflanz', als Blum' einmal ausbluͤhn.

22.

Inhaltsverzeichnis

Das Echo, das du weckſt, reizt dich, o Nachtigall,
Wie einen Dichter ſpornt des Beifalls Widerhall.

Was iſt der Widerhall? Biſt du es nicht allein?
Gib dir den Beifall ſelbſt, und laß den tauben Stein.

Was hilfts! Es waͤchſt die Kraft des Worts und ſeine Luſt,
Wenn ſtatt aus deiner du es ſprichſt aus Aller Bruſt.

23.

Inhaltsverzeichnis

Wie ich dich kehren mag, du kehrſt dich ſelber zu
Dem Licht, o Bluͤtenzweig, mich ſelbſt beſchaͤmeſt du.

Und jeder Sproß, verkehrt im Boden eingeſenkt,
Hat bald das Unterſte nach Oben umgelenkt.

Von innerm Drang gedraͤngt, von aͤußerm Zug gezogen,
Bleibt ihr dem Licht getreu, und bis zum Tod gewogen.

So haltet ihr das Licht, ihr dunkeln Trieb', in Ehren,
Und nur der lichte Geiſt kann ab zur Nacht ſich kehren.

Doch kann auch er, indeß ihr bleibt an Wurzeln hangen,
Dem Lichte zugewandt, zum Lichte ſelbſt gelangen.

24.

Inhaltsverzeichnis

Der Strom, einmal getruͤbt, muß fließen eine Weile,
Eh aus der innern Fuͤll' er ſeinen Schaden heile.

Vom Sturm erſchuͤttert, muß in Wolkendampf die Luft
Ausgaͤhren, bis ſie ſich verklaͤrt in reinen Duft.

So muß ein menſchliches Gemuͤth auch erſt ausſchwanken,
Wenn es ein aͤußrer Stoß, ein innrer, macht' erkranken.

Leicht heilt die Wunde, die man deinem Leib geſchlagen;
Die ſelbſt dein Herz ſich ſchlug, wird ſpaͤte Narben tragen.

Doch wenn es grauſam heißt, dem Freund die Wund' aufreißen;
Sich ſelber es zu thun, kann auch nicht menſchlich heißen.

Viel lieber lindes Oel geuß, das du haſt im Haus,
Auf deine Schmerzen und auf alle fremden aus.

25.

Inhaltsverzeichnis

Ich freue jeden Tag dem Abend mich entgegen,
Und jede Nacht im Traum mich auf den Morgenſegen.

Ich freue ſtill mich mit unungeſtuͤmer Luſt,
Nicht ungeduldig iſt die Freud' in meiner Bruſt.

Ich freu' mich auf die Stund' und auf den Augenblick,
Auf groß und kleines, mein und anderer Geſchick.

Vom Herbſt den Winter durch freu' ich dem Lenz mich zu,
Und aus dem Sommer durch den Herbſt zur Winterruh.

Ich freu' mich durch des Jahrs und durch des Lebens Zeit,
Und aus der Zeit hinaus mich in die Ewigkeit.

26.

Inhaltsverzeichnis

Ich bin der Leib nicht, der euch vor den Augen ſteht,
Ich bin des Liedes Ton, der euch zu Herzen geht.

Und wenn das Lied ergreift und heiligt euern Sinn,
So danket Gott dafuͤr daß ichs geworden bin.

27.

Inhaltsverzeichnis

Ungluͤcklich biſt du nicht, wie unbegluͤckt du ſeiſt;
Das Schickſal nur begluͤckt, doch gluͤcklich macht der Geiſt.