Verborgene Wesen

Kryptozoologische Anthologie

 

 

 

 

 

 

 

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Twilight-Line Medien GbR

Redaktion „KryptoFiction“

Obertor 4

D-98634 Wasungen

 

ISBN 978-3-944315-38-6
eBook-Edition

3. Auflage, 2022

 

www.kryptozoologie.net

www.twilightline.com

 

© 2009 Twilight-Line Verlag GbR

Alle Rechte vorbehalten.

 

Inhalt

 

 

 

Trunko

 

Pogo

 

Die Kreatur

 

Expedition Mokélé

 

Nach der Party

 

Trojaner

 

Ein weiteres Opfer

 

 

 

 


Trunko

 

Thomas Pielke

 

Jacob saß auf der Reling seines Motorbootes und schaute auf die ruhige See hinaus. Wie fast jeden Tag in den letzten drei Jahren hatte der junge Mann auch an diesem Tag das kleine Boot im Hafen von Magate bestiegen und war auf den weiten Ozean hinaus gefahren. Genau wie immer ging er davon aus, dass ihm ein langweiliger Nachmittag bevorstand. Jacob hatte schon oft überlegt sich ein Buch mitzunehmen. Doch besaß er nur zwei Stück davon und hatte beide schon mehrfach während seiner Kindheit verschlungen. Bücher waren teuer – zu teuer für den jungen Schwarzen. Auch wenn ihn seine Arbeit langweilte, war sie doch sehr leicht auszuführen und brachte gutes Geld, mit dem er einen wichtigen Beitrag für die Versorgung seiner Familie leisten konnte. Jacob dachte fast täglich an die Scharen seiner Freunde und Verwandten, die für weitaus weniger Geld auf Farmen oder Diamantminen ihre Körper kaputtschufteten.

„Ich habe es wirklich gut getroffen!“, sprach er bei diesem Gedanken in die weite Einsamkeit des Ozeans und dachte an diesen einen Tag, als er bereits an der Bushaltestelle stand, um sich bei einer Quecksilbermine hunderte Kilometer von zu Hause entfernt als Arbeiter zu bewerben, als ihn dieser seltsame Engländer angesprochen hatte.

„Hast du schon mal was vom Trunko gehört?“, hatte er Jacob gefragt und bei diesem dadurch ein Kopfnicken hervorgerufen. Jeder, der ihn Magate und Umgebung aufgewachsen war, kannte die Geschichten über dieses merkwürdige Seewesen, was achtzig Jahre zuvor das erste Mal gesichtet worden war. „Dann bist du engagiert!“, hatte der Fremde auf das Nicken Jacobs geantwortet.

Seit diesem Tag fuhr Jacob jeden Morgen hinaus, um das Treiben der blauen Wellen zu beobachten und jede Merkwürdigkeit in ihrem regelmäßigen Spiel aufzuzeichnen. Am Anfang hatte er bei jedem größeren Fisch, der die Oberfläche berührte, aufgeregt nach seinem Fernglas gegriffen und das Tier mit seinen Blicken verfolgt. Mittlerweile brachte es ihn nicht einmal mehr aus der Ruhe, wenn er einen Wal oder Weißen Hai erblickte.

„Wenigstens ist die See heute ruhiger!“, murmelte Jacob leise und dachte dabei an die letzten Wochen, in denen die vom Wind gepeitschten Wellen mit seinem Boot gespielt hatten. Doch mit der Zeit langweilte er sich. Sein Blick wanderte zum Strand von Magate, der sich als hellbrauner Streifen die am Horizont sichtbare Küste entlang zog. Viele bunte Punkte, die sich von dem Braun abhoben, stellten Sonnenschirme dar. In den letzten Jahren hatte die Region immer mehr Bedeutung im internationalen Tourismus gewonnen. An dem Strand, an dem Jacob seine Kindheit mit Muschelsuchen und Angeln verbracht hatte, ließen sich nun dicke Touristen in der südafrikanischen Sonne braten, bis ihre Haut die Farbe von gekochten Hummern annahm. Der junge Mann schüttelte den Kopf und rief sich das Bild von dicken Europäerinnen, die viel zu leicht bekleidet durch die Straßen seines Heimatdorfes liefen, um zu sehen, wie die halbwilde Bevölkerung des Landes wohnte, in den Kopf.

„Miller an Jacob!“, rauschte es aus dem alten Funkgerät, woraufhin Jacob aufstand und sich zum Unterstand des Bootes bewegte, der Steuerrad und andere technische Geräte beherbergte.

„Hallo Herr Professor. Jacob hier!“, antwortete der junge Mann.

„Wie ist die Lage?“, kam die Antwort vom Festland.

„Alles ruhig“, begann er seinen täglichen Bericht durchzugeben. „Heute Morgen kam ein kleiner Schwarm Delfine vorbei, das war bisher alles. Keine Spur von Trunko.“

Jacob bereitete sich darauf vor, das Gespräch, wie jeden Mittag nach seinem kurzen Bericht, zu beenden.

„Pass heute bitte besonders gut auf“, fuhr Professor Miller mit seiner durch das Funkgerät leicht verzerrten Stimme fort. „Letzte Nacht haben Passagiere eines Kreuzfahrtschiffes einige Meilen südwestlich von Magate ein merkwürdiges Wesen im Wasser gesichtet. Es soll eine Zeitlang neben dem Schiff hergeschwommen sein und dabei einen äußerst plumpen Eindruck gemacht haben. Die Passagiere haben den Kapitän informiert, doch als der dazukam, hat er nur noch gesehen, wie das Ende einer Art Rüssel aus dem Wasser ragte und kurz daraufhin im Meer versank.“

Jacob dachte sich bei dieser Information nichts weiter, gab es doch häufig Berichte über vermeintliche Sichtungen des Trunko, die sich als falsch herausstellten. Meist hatten Touristen vom Strand aus lediglich einen Hai oder Thunfisch gesehen, hielten ihre Sichtung aber für einen Beweis des sagenumwobenen Tieres, das sie von Plakaten oder Broschüren der lokalen Tourismusorganisation her kannten.

„Hab verstanden“, bestätigte Jacob trotzdem kurz die Meldung und verabschiedete sich vom Professor. Der junge Mann hängte das Mikrofon zurück an das Funkgerät und setzte sich wieder auf die Reling. Sein Blick wanderte von der Unendlichkeit des Ozeans am Horizont entlang und blieb wieder bei dem von Touristen bevölkerten Strand hängen. Die Hälfte seines Arbeitstages hatte er erfolgreich hinter sich gebracht und war über diese Tatsache äußerst froh. So war er dem schmackhaften Reisgericht, was seine Mutter unzweifelhaft als Abendessen zubereiten würde, schon deutlich näher als noch am Morgen. Jacob freute sich immer sehr auf die abendliche Mahlzeit, konnte er sich dadurch nicht nur stärken, sondern seine Familie und Freunde treffen und sich mit ihnen über die täglichen Ereignisse unterhalten. Doch hatte er dabei meistens am wenigsten zu erzählen. Lediglich wenn ein Weißer Hai sein Boot genauer in Augenschein genommen oder sich ein Riesenkalmar für kurze Zeit an die Oberfläche gewagt hatte, konnte er seiner Sippe eine spannende Geschichte erzählen. Ein Ereignis, an das sich Jacob immer wieder gerne erinnerte, war, als plötzlich eine große Pottwalkuh gemeinsam mit ihrem Kalb die Oberfläche der ruhigen See durchstoßen hatte. Seitdem wünschte sich der junge Mann täglich, dass sich dieses imposante Ereignis wiederholte, doch bisher vergeblich. Plötzlich riss ihn eine Bewegung an der Wasseroberfläche, gefolgt von einem lauten Schnauben, aus seinen Gedanken. Im ersten Moment dachte Jacob, dass die Pottwale wieder aufgetaucht waren. „Schade!“, brachte er enttäuscht zum Ausdruck, als er schnell merkte, dass er einem Irrtum unterlegen war. „Es sind nur zwei Orcas.“

Die schlanken, schwarzen Körper der Wale stießen aus der Wasseroberfläche empor, um nach einem kleinen Bogen wieder, begleitet von einem leisen Platschen, einzutauchen. Jacob ergriff seinen Protokollblock und den danebenliegenden Stift. Das oberste Blatt, was an der Oberseite das Datum des Tages aufwies, war bis auf einen kurzen Eintrag über eine Schule Delfine komplett leer. Doch das änderte der junge Mann. Er fügte dem Tagesprotokoll einen weiteren Eintrag über die Sichtung der beiden Orcas hinzu, was jedoch nichts Ungewöhnliches darstelle und so gut wie wöchentlich vorkam. Nach seiner knappen Aufzeichnung beobachtete Jacob die Wale weiter. Doch statt sich zu entfernen, schienen die beiden anmutigen Tiere eine Stelle, ungefähr hundert Meter östlich von Jacobs Boot, zu umkreisen. Der junge Mann hörte zum ersten Mal das aufgeregte Fiepen und Quieken der Wale. Diese Tatsache weckte sein Interesse. Er ergriff sein Fernglas und schaute hindurch, genau auf die Stelle, die die Aufmerksamkeit der Orcas einnahm. Etwas Großes bewegte sich knapp unterhalb der Wasseroberfläche. Zunächst dachte Jacob, dass es sich um einen weiteren Orca handelte, verwarf diesen Gedanken aber wieder schnell. Das Ding im Wasser war fast doppelt so groß wie die Wale und es schimmerte schneeweiß durch die Oberfläche hindurch. Die beiden Meeressäuger tauchten aufgeregt unter. Jacob konnte genau erkennen, dass sie unterhalb der Wasseroberfläche auf das weiße Wesen zuhielten. Plötzlich färbte sich das Wasser rot. Jacob erschrak und konnte seinen Blick nicht mehr von der See loseisen.

Die Orcas tauchten synchron auf, nur um ihre Körper wieder ins Meer hinab und auf das mysteriöse Wesen zu stoßen. Doch plötzlich schlug die Kreatur mit ihrer weißen Schwanzflosse und beförderte damit einen der angreifenden Wale im hohen Bogen aus dem Wasser hinaus. Für den Bruchteil einer Sekunde schien der anmutige, schwarzweiße Körper in der Luft stehen zu bleiben, bevor er mit einem gewaltigen Platschen wieder auf der Oberfläche aufschlug. Jacob war wie erstarrt. Vor Anspannung und Aufregung konnte er sich kaum bewegen. Dann tauchte das geheimnisvolle Wesen zum ersten Mal komplett auf. Zunächst war ein weißer, ungefähr anderthalb Meter langer Rüssel erkennbar. Aus seiner zweigeteilten Öffnung stieß er Wasser in einer hohen Fontäne hinaus. Kurz darauf folgte der Kopf, den Jacob nicht als solchen erkennen konnte. Er war einfach das abgerundete Ende seines plumpen Körpers, aus dem der rüsselartige Auswuchs hervortrat. Flankiert wurde das Ende von einem Paar kleiner, knopfartigen Augen, die so tiefschwarz schienen, wie die endlosen Weiten des Universums. Der Kopf versank samt Rüssel wieder in den kalten Fluten, worauf der Rest des Körpers zu Tage kam. Er war langgezogen und unförmig, womit er, anders als die anmutigen Orcas, den Eindruck einer schwimmenden, mit dichtem Haar besetzten Wurst erweckte. Abgeschlossen wurde die kurze Darstellung des Körpers durch eine gewaltige Schwanzflosse, die wie zwei übergroße, aneinander gewachsene Paddel wirkte. Da sie waagerecht und nicht senkrecht wie bei Fischen verlief, ging Jacob davon aus, dass es sich bei dem Wesen um ein Säugetier handeln musste.

„Trunko!“, stammelte er wie in Trance verfallen. „Es gibt ihn wirklich.“

Tatsächlich fühlte sich Jacob an den Tag vor über achtzig Jahren zurückversetzt, an dem dutzende Strandbesucher von dem Kampf eines Trunko gegen zwei Orcas Zeugen wurden. Ein Kampf, bei dem der Trunko gegenüber seinen Angreifern unterlegen war. Die Wale starteten einen weiteren Angriff und schienen damit die Vergangenheit wiederholen zu wollen. Aggressiv, wie es Jacob bei diesen Tieren zuvor nie erlebt hatte, verbissen sich die Wale in den weißen Körper, was eine weitere Verfärbung des Wassers in Richtung rot verursachte. Der junge Afrikaner hatte die Zeit der letzten drei Jahre damit verbracht, die Tiere der Meere zu beobachten, doch nie zuvor war ihm ein solches Vorgehen von den sonst als friedlich geltenden Meeressäugern aufgefallen. Die beiden Tiere waren nicht auf Beutejagd. Was sie zu diesen Taten brachte, war purer Hass.

Fasziniert betrachtete Jacob das Spiel, welches sich ihm darbot. Dabei vergaß er ganz die Anweisung von Professor Miller, jegliche Ereignisse von ungewöhnlicher Art, insbesondere die, die die Existenz des Trunko beweisen könnten, mit einer Kamera aufzuzeichnen. Völlig in das Geschehen vertieft, merkte der junge Mann nicht, wie etwas Gigantisches sich von Hinten dem kleinen Boot näherte. Ein gewaltiger Schlag ließ das Wassergefährt auf dem glatten Spiegel des Ozeans tanzen. Jacob taumelte unter diesen plötzlichen, komplett unerwarteten Bewegungen nach vorne. In einer Geste der Verzweiflung versuchte er sich an der Reling festzuhalten, doch es war schon zu spät. Im hohen Bogen flog er von den Planken des kleinen Bootes und landete mit einem lauten Platschen im kalten Nass der weiten Fluten.

Panisch bewegte er seine Arme und Beine in paddelnden Bewegungen, um sich dadurch wieder an die Oberfläche zu befördern. Jacob hustete das eingeatmete Wasser aus seiner Lunge heraus und zog danach tief die Luft ein. Er schaute sich um. Vor ihm war der Kampf zwischen den beiden Orcas und dem vermeintlichen Trunko noch im Gange. Das Wasser hatte sich um die Kämpfenden in ein tiefes rot gehüllt. Doch mittlerweile trat der Lebenssaft nicht nur aus Wunden des mysteriösen Wesens aus, sondern auch aus Blessuren und Verletzungen der beiden Wale. Jacob drehte sich im Wasser um. Wenige Meter vor ihm tänzelte sein kleines Boot auf den seichten Wellen auf und ab. Mit wenigen schnellen Schwimmbewegungen war er an der Bordwand angekommen.

Gerade in dem Moment, als er sich mit seinen Händen an der Reling emporziehen wollte, streifte etwas sein Bein. „Ein Hai!“, durchfuhr es ihn und mit einer peitschenartigen Anspannung in seinen Armmuskeln katapultierte er sich geradezu wieder an Bord. Der Aufprall auf den Boden des Bootes war hart und bescherte ihm eine ordentliche Beule an der Stirn, doch wenigstens hatte er durch diese panische Aktion das nasse Element verlassen können. Langsam richtete sich Jacob auf und rieb sich dabei den schmerzenden Kopf.

„Da hab ich aber noch mal Glück gehabt!“, sprach er leise zu sich selbst und stellte sich dabei vor, wie ein Weißer Hai, angelockt von den vielen Litern Blut, die in der Nähe seines Bootes das Wasser verunreinigt hatten, auf der Suche nach leichter Beute sein Bein gestreift hatte. Langsam erhob sich Jacob und wollte seinen Augen kaum trauen, als er über die Reling schaute. Zu den drei kämpfenden Wesen hatte sich eine weitere Kreatur gesellt. In Form und Gestalt glich sie dem Trunko, doch wies sie die doppelte Größe auf. Jacob schätzte diesen zweiten Trunko auf eine Länge von dreißig Metern. Noch nie zuvor hatte er ein Wesen dieses Ausmaßes gesehen. Der Anblick ließ die Erinnerung an das Pottwalweibchen mit seinem Jungen geradezu verblassen. Gespannt beobachtete er, was nach der Ankunft des ausgewachsenen Trunko passieren würde. Dieses Mal machte er aber nicht den gleichen Fehler, sondern sicherte sich mit einem festen Stand gegen eine weitere unfreiwillige Begegnung mit dem Ozean ab und klammerte sich zusätzlich noch an der Reling fest.

„Professor Miller würde vor Freude ausrasten, wenn er das hier sehen könnte!“, sprach er, um seiner überschwänglichen Faszination Luft zu machen.

Der große Trunko war mittlerweile beim Kampfgeschehen angekommen. Sofort umschlang er mit seinem mehr als drei Meter langen Rüssel einen der Wale, hob ihn aus dem Wasser heraus und schleuderte ihn mit einer kraftvollen Bewegung mehrere Meter in die Luft empor. Der Orca jaulte, überrascht von dieser Attacke in hohen Tönen, bevor er wieder ins Wasser zurückfiel, um sich vorerst ein wenig benommen unterhalb der Wasseroberfläche Schutz zu suchen. Der zweite Wal hatte noch weniger Glück. Der große Trunko öffnete sein gigantisches Maul, welches unterhalb des Rüssels angesiedelt war, und ergriff ihn damit. Erschrocken schlug Jacob seine rechte Hand vor den Mund, als das weiße Tier sein Maul wieder schloss und somit ein großes Stück aus dem Wal herausbiss. Das verwundete Tier schrie und zuckte mit der Schwanzflosse, bevor es, bewusstlos von dem plötzlichen Blutverlust, reglos an der Oberfläche zu treiben begann. Der verbleibende Orca hatte sich mittlerweile von seiner Benommenheit erholt.

Jacob konnte geradezu erkennen, wie er mit sich haderte. Soll ich angreifen oder mich zurückziehen?, schien er sich zu fragen und entschied sich letztendlich für die zweite der Optionen, doch kam er damit nicht weit. Der kleinere Trunko kam auf den fliehenden Wal zugerast und verbiss sich in seinem Körper. Im Schutz seines großen Verwandten ließ er seinen Rachegelüsten freien Lauf und biss der armen Kreatur die rechte Brustflosse aus.