Geister, Spuk und
Poltergeister

 

Anthologie des Paranormalen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Twilight-Line Medien GbR

Redaktion „Dunkle Seiten“

Obertor 4

D-98634 Wasungen

Deutschland

 

www.twilightline.com

 

2. Auflage, Februar 2016

ISBN 978-3-941122-18-5

 

© 2009-2016 Twilight-Line Medien GbR

Alle Rechte vorbehalten.

 


Inhalt

 

Kein Ding ist nur ein Ding

 

Der Geist aus dem Sekretär

 

Im Winter

 

Weg der Verdammten

 

Die Geister, die sie rief

 

Geisterhaus

 

Knuffel

 

Little Duke

 

Das letzte Kapitel

 

Tot

 

Jetzt und in alle Ewigkeit

 

Black Bill

 

Tante Berta

 

Spuk im Levke-Haus

 

Mitternachtsmond

 

Sensenmanns Kiste

 

Kein Ding ist nur ein Ding

Anett Steiner

 

Ronaldo war nicht unbedingt ein liebenswerter Zeitgenosse. Jeder wusste das, aber ihn störte es nicht. Er nannte sie Freunde, mit denen er sich in Kneipen zuerst prügelte und dann betrank. Er war groß und mager, seine Augen gerändert und tiefliegend, als würde er nicht besonders oft schlafen. Auf sein Haar legte er ebenso wenig Wert wie auf die Sauberkeit seiner Kleidung, aber all dies sollte ihm weniger zum Nachteil sein als seine Respektlosigkeit. Ein loses Mundwerk zu haben sei der Jugend vorbehalten, mahnte ihn Sandanti immer wieder, und so jung war Ronaldo nicht mehr, um diese Narrenfreiheit für sich zu beanspruchen. Aber was scherte Ronaldo das Geschwätz eines alten Mannes?

 

Sandanti zahlte Ronaldo einen Tagelohn dafür, dass er ihm gelegentlich half. Die Jahre hatten sein Haar grau und seinen Rücken krümmer gemacht als seine Nase es seit jeher gewesen war. Sandanti war ein Schausteller der alten Schule – mit Rummelplätzen verwachsen und auf der Kirmes zuhause, mit der gleichen Begeisterung wie sonst nur die Kinder. Sandanti besaß ein altes Fuhrgeschäft und Ronaldo half dem Alten sein Gefährt aufzustellen und abzubauen und von einem Jahrmarktsplatz zum anderen zu transportieren. Die Schaustellerei war dem Alten in die Wiege gelegt worden, sein Leben lang hatte er so sein Geld verdient – doch Kinder waren ihm nicht vergönnt gewesen und er selbst war viel zu alt dafür geworden, den LKW zu fahren und die Transportkisten auf die Ladefläche zu wuchten. Ja, sehr alt war er, älter, als er es je für möglich gehalten hätte.

 

Ronaldo war schlecht gelaunt an diesem Morgen, und müde – hatte wohl nicht vertragen, was der Kneipenwirt ihm letzte Nacht verkauft hatte.

„Ronaldo, beweg dich, komm, mach schon!“, rief Sandanti mit seiner rauen, krächzenden Stimme über den Rummelplatz. Im Gegensatz zu Ronaldo war Sandanti ein liebenswerter alter Kauz, nett zu den Menschen, freigiebig zu Kindern und liebevoll mit Dingen und Tieren, zufrieden mit seinem Leben und bereit solange unterwegs zu sein auf den Jahrmärkten des Landes, wie Gott es eben wollte. Er war auf Tagelöhner wie Ronaldo angewiesen, die für eine kleine Zeit Hilfe waren, bevor sie verschwanden, wie sie gekommen waren.

„Nur die Ruhe alter Mann, ich werde deinen Müll schon noch aufladen!“, murmelte Ronaldo und trat mit dem Fuß eine der Holzkisten auf, in die er achtlos eine lebensgroße Puppe warf, die nur ein Auge hatte. Ein Arm hing noch heraus. Ronaldo spuckte auf den Boden und wischte mit dem glänzenden Ärmel seiner schmutzigen Jacke seine Nase ab. Er hatte Kopfschmerzen.

Der alte Sandanti beobachtete ihn aus der Ferne und so ein scharfes Auge hatte Ronaldo ihm in seinem Alter gar nicht zugetraut. Mit seinem gebeugten Rücken kam er herbeigeschlurft.

„Wie oft habe dir schon gesagt, Ronaldo mein Junge, dass du die Puppen mit Respekt behandeln sollst? Sie sind mein Eigentum, nicht deines! Und überhaupt solltest du alle Dinge, ob sie dir nun gehören oder nicht, mit Respekt behandeln! Ja, ich weiß, du achtest nichts, nicht einmal die Luft, die dich am Leben hält!

Er lächelte sanft und Ronaldo antwortete: „Sei still, alter Mann.“

Dann packte er eine grausig aussehende Puppe angewidert bei den Haaren und zerrte sie durch den Staub zur nächsten leeren Kiste. „Diese hässlichen Dinger sind also dein Eigentum, doch mehr hast du nicht.“ Er zog ein spöttisches Gesicht und die Mundwinkel respektlos nach unten. „Alles was du im Leben besessen hast, Sandanti, ist diese alte Geisterbahn. Vor fünfzig Jahren mag das ja mal was Besonderes gewesen sein, heute ist sie nur noch Schrott! Wertloser Müll, Plunder, vor der sich nicht einmal mehr kleine Mädchen fürchten!“

Als wolle er seine Worte bekräftigen, nahm er der nächsten Geisterbahnpuppe, die einen Henker darstellte und einen blutigen Kopf in der Hand hielt, den alten staubigen Schädel aus den Fingern und trat ihn mit dem Fuß über den Platz hinweg wie einen Fußball. Der Geisterbahnpuppenkopf rollte holpernd über die Steine und dann durch eine Pfütze und den Damm der angrenzenden Bahnstrecke hinunter.

„Genau da, zum Müll am Bahndamm, gehört dein altes Gerümpel hin!“ rief Ronaldo triumphierend aus, den Blick des Alten nicht beachtend, der so viel Zorn versprühte, als hätte man seinen eigenen Kopf die Gleise hinab gestoßen.

„Du dummer Junge“, schimpfte Sandanti, „was fällt dir ein! Ist dass der Respekt, den ich dich zu lehren versuche? Geh in dich und bereue, bevor das Leben dich straft! Und tust du so etwas noch einmal, hab ich dich das letzte Mal angeheuert!“

Ronaldo winkte genervt ab, während der Alte sich bekreuzigte.

Ganz ruhig, Alter. Reg dich nicht auf. Ich baue dein klappriges Fuhrwerk auseinander und lade den Kram auf den LKW. Genauso wie immer. Und ich fahre damit zum nächsten Rummelplatz, genauso wie immer. Und vielleicht suche ich auch den hässlichen Puppenkopf aus dem Gebüsch und packe ihn in die Kiste, bevor du noch nen Herzanfall kriegst! Also entspann dich und gib mir lieber nen Vorschuss. Ich bin durstig!“ Beinahe brachte er einen netten Gesichtsausdruck zustande.

 

Nachdem Ronaldo eine Zigarette geraucht hatte, warf er weiter die nummerierten Einrichtungsgegenstände und Puppen der Geisterbahn in die Transportkisten und wuchtete alles auf den Auflieger des LKW. Einen kurzen Moment lang erwog er, den Puppenkopf tatsächlich zurück zu holen und schlenderte zum Bahndamm, wo er das hässliche Ding mit den Haaren in einem Dorngebüsch hängen sah. Er entschied sich dann dagegen, da hinunter zu steigen und sich die Finger schmutzig zu machen, oder gar den Hals zu brechen beim Versuch, dem Lumpen-Henker samt vor ihm liegenden Puppen-Torso den Plastikkopf zurückzubringen.

Ronaldo verriegelte den Auflieger und während Sandanti noch bei Seinesgleichen blieb, machte er sich schon auf den Weg. Knapp hundert Kilometer Richtung Süden hatte er vor sich, um zum nächsten Volksfestschauplatz zu gelangen.

Er fuhr jedoch nur die Hälfte und legte sich dann mit einer kleinen Flasche Schnaps, die er sich vom Vorschuss geleistet hatte, für ein paar Stunden unruhig schlafen. Ronaldo träumte – doch wovon er geträumt hatte, daran konnte er sich nicht mehr erinnern, als er schweißgebadet erwachte. Fluchend richtete er sich auf, um nach dem Handtuch zu greifen, was er immer auf dem Beifahrersitz liegen hatte – doch dort fand er es nicht – stattdessen den Puppenkopf vom Bahndamm - mit grausig verdrehten Plastik-Augen und Resten des Dornenbusches in den künstlichen Haaren. Erschrocken zog Ronaldo seine Hand zurück und stieß einen kurzen Schrei aus – konnte es sein, dass er keinen Schnaps mehr vertrug? Beim nächsten Blick auf den Beifahrersitz war der Kopf jedoch verschwunden. Da lag, wie erwartet, das schmierige Handtuch und Ronaldo wischte sich den Schweiß von der Stirn und wunderte sich über seinen heftigen Puls. Das musste gepanschter Fusel gewesen sein, den er getrunken hatte und schimpfend schüttete er den Rest aus der Flasche auf die Straße, bevor er weiterfuhr.

 

Er fuhr und fuhr, und obwohl Stunde um Stunde verging, schien er seinem Ziel keinen Meter näher zu kommen. Die Kilometerangaben auf den Straßenschildern verwirrten ihn ebenso wie sein Blick auf die Uhr – die Nacht wollte kein Ende nehmen. Es blieb dunkel und neblig und die Scheinwerfer brachten kein Licht auf die Straße, sondern spiegelten nur sein leichenblasses Gesicht mit den tiefliegenden Schlaflosaugen auf die Windschutzscheibe – und obwohl er ganz allein im LKW war, erschienen neben seinem eigenen Gesicht plötzlich zwei weitere auf der Frontscheibe. Ronaldo fuhr erneut zusammen und schüttelte sich dann heftig. Er trat fest auf die Bremse, so fest, dass der LKW ins Schleudern zu kommen drohte.

„Verdammt nochmal, was...“, doch beim erneuten konzentrierten Blick auf die Spiegelungen in der Windschutzscheibe sah er nur sich selbst – dabei hätte er schwören können, dass da vor wenigen Sekunden die Gesichter des Geisterbahnhenkers und des geköpften Plastikschädels vom Bahndamm erschienen waren! Doch jetzt war da nichts mehr außer der Spiegelung seines eigenen Gesichtes.

Alles in Ordnung. Schwitzend und gleichzeitig mit Eiseskälte im Nacken zündete Ronaldo eine Zigarette an. Um ihn herum war noch immer Nacht, schwärzer als schwarz. Kein Wagen war ihm seit Stunden entgegengekommen. Kein Haus hatte er gesehen, keine Kreuzung, nichts. Verdammter Nebel! Wie spät war es eigentlich? Unmöglich! Sollte er seiner Uhr glauben, dass er erst seit zwanzig Minuten unterwegs war und nur wenige Kilometer zurückgelegt hatte? Seinem Gefühl nach müsste er doch längst am Ziel angekommen sein...

Plötzlich sehnte Ronaldo dem dämmernden Morgen und der aufgehenden Sonne entgegen. Er sehnte sich nach Licht und Wärme und menschliche Gesellschaft. Er verfluchte den Schnaps des vergangenen Abends und diesen Job mit der verdammten Geisterbahn auf dem Auflieger in seinem Nacken. Er hatte auf einmal das Bedürfnis alle Lampen im Fahrerhaus anzuschalten, und wenn schon nicht mit einem anderen Menschen, so doch mit sich selbst zu reden. Doch was sollte er sich selbst zur Ablenkung von seiner aufsteigenden Unruhe erzählen? Singen? Ja, vielleicht sollte er einfach ein Lied singen – doch bei der Suche nach Worten und Tönen musste er sich eingestehen, dass er keine Lieder kannte.

 

Der LKW rollte weiter durch die endlos scheinende Nacht und es war, als würde er keine Geräusche erzeugen. Nicht einmal die Lüftung summte. Als Ronaldo sich erneut und zunehmend zitternd eine Zigarette entzünden wollte, machte nicht einmal mehr der Feuerstein seines Feuerzeuges das vertraut klickende Geräusch. Unheimlich! Er fühlte sich in zeitlosem, geräuschlosem Raum und weil er keinen Ton hörte und neben der Straße nichts sah, spürte er zum ersten Mal in seinem Leben Angst in sich aufsteigen. Sie kroch an seinem rechten Großzeh hinein in seinen unruhigen Körper, die Angst, und fraß sich den Unterschenkel hinauf bis in seinen Bauch und von da direkt in seinen Kopf. Wenn er jemals Furcht empfunden hatte, dann jetzt. Beim Blick in rückspiegelnde Scheibe war da plötzlich wieder das Bild des Henkers aus der Geisterbahn und von irgendwoher fiel ihm der Kopf des Gehenkten mit den Dornen im struppigen Haar genau in den Schoß.

Ronaldo schrie auf und stieß den Kopf weg von seiner Hose, hinunter in den Fußraum der Beifahrerseite, wo er langsam hin und her rollte und ihn aus schattigem Dunkel mit seinen verdrehten Plastikaugen anstarrte. Der LKW schleuderte ob des verrissenen Lenkrades hin und her und der zitternde Ronaldo hatte alle Mühe, ihn wieder in die Spur zu bekommen. Ihm war übel und wenn er gekonnt hätte, hätte er sich liebend gern übergeben – stattdessen wich jede Wärme aus seinem Körper und die Reste seiner Sinne suchten nach einem Gebet – doch er kannte keins.

Der Kopf der gehenkten Puppe aus der Geisterbahn, den er mit dem Fuß böswillig wie einen Ball über den Platz gespielt hatte, war irgendwie wieder vom Fußraum hinauf auf den Beifahrersitz gekommen und starrte ihn jetzt an – die Augen waren nicht mehr verdreht, sondern ganz klar, und die stilisierte rote Farbe am Hals verflüssigte sich und begann wie echtes Blut aus der Wunde über den Sitz zu laufen und den Fußraum langsam anzufüllen. Ronaldo würgte angewidert, und der Schrei, den er gern ausgestoßen hätte, blieb ihm im Hals stecken, genau wie das Gebet, dass er nicht kannte.

„Sandanti!“, wollte er schreien, „Sandanti, ruf deine verdammten Puppen zurück, Schluss mit dem Streich, Ende des Traumes, ich will aufwachen!“

Doch kein Ton drang aus seiner Kehle. „Ich verspreche, ich verspreche und schwöre, nie wieder respektlos zu sein mit den Wesen der Geisterbahn!“

Doch wen interessierte das Versprechen Ronaldos? Er starrte auf den Kopf, der auf dem Beifahrersitz auf und ab hüpfte und weiter rote Ströme in den Fußraum vergoss, während sich die Henkerspuppe noch immer in der Windschutzscheibe spiegelte. Der Kopf schüttelte sein zottiges Haar, dessen Spitzen rot tropften und eine Platzwunde tat sich an der Stelle auf, die Ronaldo mit seinem Schuh getreten hatte.

„Verschwinde! Verschwindet beide!“, schrie Ronaldo verzweifelt und die Angst beherrschte ihn inzwischen ganz. Er ließ das Lenkrad los und hob die Arme vor die Augen, so verharrte er eine Weile reglos, ohne zu sich zu finden und mit geschlossenen Augen öffnete seine linke Hand die LKW-Tür. Als er ein letztes Mal zur Beifahrerseite schaute, sprang der Kopf ihn an. Ronaldo ließ sich rücklings aus dem LKW fallen und schlug hart auf die Straße auf. Wenige Meter weiter kam der fahrerlose LKW wie selbstverständlich alleine zum Stehen.

 

Die Nebel lichteten sich, der Morgen dämmerte, die Sonne ging wärmend auf und in ihrem Licht erschienen die Straßenbäume, die Häuser, der Rummelplatz und der alte Sandanti.

„Dummer Junge. Ich hab dich gewarnt. Kein Ding ist nur ein Ding!“, sagte der alte Mann und stieg über den leblosen Körper Ronaldos hinweg, nachdem er den Kopf seiner Puppe vom Fahrersitz genommen und liebevoll in der betreffenden Kiste auf dem Auflieger verstaut hatte...

 

 

 


Der Geist aus dem Sekretär

 

Anett Steiner

 

Verdammt weit weg vom Orient wartete Michael auf seine geschiedene Frau. Mit einer beachtlichen Menge Ignoranz und wenig Sensibilität hatte er es geschafft, dass sie aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war. Heute würde sie ihn noch einmal besuchen, um die Möbel auszusuchen, die ihr gehörten, um sie später abzuholen. Missmutig, knurrig und beschämt hatte Michael seit der Scheidung einsehen müssen, dass sie wohl nicht mehr zu ihm zurückkommen würde. Auch wenn die Sonne mit großer Macht und Freude schien an diesem Tag, machten Michael und die Wohnung einen sehr glanzlosen Eindruck. Fast schien es, als würden sie einen dauerhaften Schatten vor den Fenstern haben, seit Klara weg war. Es war schon dämmrig gewesen, als sie am vergangenen Abend angerufen hatte. Beim Klang ihrer Stimme, trotz der Störungen in der Telefonleitung, hatte Michaels Herz einen kleinen Sprung gemacht und die Zeit war stehen geblieben, so wunderbar schön fand er diesen Moment - so schön ihre Worte – sie kam ihn besuchen, und sei es nur wegen der Möbel. Er würde sie wiedersehen...

 

Also nutzte er die frühen Stunden des folgenden Tages, indem er mit einem Schmutzlappen über die Möbel wischte, die Klara gehörten. Staub und Flecken wollte er entfernen. Sie sollten sauber sein, wenn sie sie mitnahm. Das würde einen guten Eindruck bei Klara hinterlassen, denn geputzt hatte er vorher noch nie. War es nicht so, dass er sie noch liebte? Er wollte darüber nachdenken und dabei putzen. Zuerst mit großen, kreisförmigen Bewegungen, dann von links nach rechts, rieb er den Lappen über die lackierte Oberfläche von Klaras wunderschönem, altem Sekretär. Es war ein Erbstück von ihren Urgroßeltern. Er wusste, wie sehr sie dieses Möbelstück liebte und sah sie in Gedanken noch davor sitzen und Briefe an ihre Großmutter schreiben. Bestimmt würde sie den Sekretär mitnehmen wollen. Irgendwann hatte seine Bierflasche einen unschönen und hartnäckigen Rand auf dem makellosen Lack des Sekretärs hinterlassen und Michael musste noch fester rubbeln, um ihn wegzubekommen. Ja, dieser Fleck musste in jedem Falle von Klaras Möbel weg – Michael hauchte ihn an und putzte weiter darüber und bald war er kaum noch zu sehen, als... als...

Was war das? Michael hielt irritiert inne, als sich plötzlich eine Wolke seltsam süß riechenden Nebels um ihn herum ausbreitete. „Brennt es hier?“, dachte er und hustete, wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum, um wieder klares Blickfeld zu bekommen. Er erschrak sich fürchterlich! Wie aus dem Nichts war ein riesenhafter Typ vor ihm aufgetaucht, da wo noch vor wenigen Augenblicken die Quelle des süßlichen Nebels gewesen war.

„Mann, du Idiot! Bist du irre, mich so zu erschrecken!“ knirschte Michael, „Mir wär fast das Herz stehen geblieben!“ Dann zögerte er und setzte verwundert hinzu: „Wer bist du eigentlich? Wo kommst du auf einmal her?“

„Erschrocken habt Ihr euch?“, antwortete der blaugewandete Typ mit rostiger Stimme, „Aber Ihr habt mich doch gerufen! Ich bin der Geist aus dem Sekretär!“

Michael, der sich schon viel Unsinn und noch mehr Berichte über Einbrecher angehört hatte, blieb wie angewurzelt stehen und wusste nicht, ob er sich totlachen oder ernsthaft besorgt sein sollte. Er hatte in den letzten Tagen weder getrunken, noch geraucht, und traute doch seinen Ohren genauso wenig wie seiner Fähigkeit zum kommunikativen Verständnis.

„Willst du mich verarschen? Du bist wer?“

„Ich bin der Geist aus dem Sekretär, Meister.“

„Wenn du mich hier blöd anmachst, kannst du gerne eine aufs Maul kriegen, du Spinner!“, gab Michael böse zurück.

„Wenn ich es dir doch sage, Meister, ich bin ein Geist, genauso ähnlich wie bei Aladin und der Wunderlampe.“

Jetzt reichte es Michael.

„Das ist keine Wunderlampe, das ist ein Sekretär, du Gehirnloser.“

„Es ist ein Sekretär, na und? Trotzdem kann der auch einen Geist haben“, schmollte der Typ.

„Hau ab, lass mich in Ruhe, bevor ich auf die Idee komme, die Polizei zu rufen.“

„Du hast drei Wünsche frei, Meister!“

„Dann verpiss dich!“, schrie Michael wütend, „Ich hab zu tun, meine Frau kommt gleich.“

„Ich verstehe nicht, Meister, was soll ich tun?“

„Dich verpissen sollst du, verschwinden, Mann!“ Michael deutete zur Ausgangstür.

„Wie du es wünscht, Meister!“

Voller Unglauben und wütend schüttelte Michael den Kopf und hörte ein schepperndes Geräusch. Er drehte sich um, doch da war niemand mehr hinter ihm, nur eine kleine Wolke süßlichen Rauches und der Sekretär wackelte ein wenig.

„He, was soll das?“ Michael schaute sich um, lief vom Wohnzimmer ins Badezimmer und dann ins Schlafzimmer, auch die Küche war leer – niemand war zu sehen, aber keiner war durch die Tür gegangen. Wohin hatte sich der Kerl so schnell verdrückt? Der war doch nicht wirklich in Klaras Sekretär geklettert? Geist aus dem Sekretär, von wegen! Klara kam gleich, was sollte sie denken, wenn da ein Typ im Schrank saß? Er drehte den Schlüssel, um die Klappe des Schreibpultes zu öffnen, aber die bewegte sich keinen Millimeter. Er rüttelte so stark, dass der Griff abbrach. Scheißding! Klara würde ausrasten! Sogar die Verriegelung der Seitentür klemme! Der kaputte Griff machte Michael wütend und nervös war er ohnehin, hatte keine Lust, noch irgendetwas mit Samthandschuhen anzufassen. Mit der Faust hämmerte er auf die Tür ein, bis sich der Schlüssel schließlich doch zur Seite drehen ließ. Aber die Tür sprang nicht auf.

Aus dem Inneren des Sekretärs hörte er die bekannte, rostige Stimme: „Hör auf, so einen Lärm zu machen! So komm ich nicht raus!“

„Und ob du so raus kommst, du Blödmann!“

Michael wurde langsam richtig sauer. „Was hast Du in meiner Wohnung und diesem verdammten Schrank zu suchen? Komm raus!“

„Du musst reiben“ lautete die Antwort.

„Ich muss was?“

Michael schäumte vor Wut.

„An dem Sekretär reiben. So wir eben. So wie Aladin an der Lampe.“

„Du bist doch völlig bescheuert!“

„Ach so? Rate doch mal, warum ich das erste Mal rausgekommen bin?“

„Na warte, das werden wir ja sehen!“

Michael kochte regelrecht, sein Kopf war hochrot, er griff nach dem Putzlappen und rieb damit am Sekretär und dem Rest des Bierfleckes herum.

„So, wie du willst, ich reibe, aber komm jetzt raus!“

Eine Wolke süßlichen Rauches breitete sich erneut aus und der Typ war wieder da und sagte freundlich: „Sie haben mich gerufen, Meister? Zwei Wünsche sind noch frei.“

Das kann doch alles nicht wahr sein, dachte Michael, diesen Spinner würde er sofort auf die Probe stellen. Oder war irgendwo die Kamera versteckt, und die ganze Nation samt Klara amüsierten sich in ein paar Tagen im Fernsehen über ihn? Hatte sie sich das ausgedacht, um sich an ihm zu rächen, ihn lächerlich zu machen?

„Na gut“, begann er und hatte eine Idee. „Das werden wir ja sehen, ob du tatsächlich Wünsche erfüllen kannst! Na los, komm schon, los!“

Ruhelos zerrte er am blauen Mantel des Typen.

„Da, der abgebrochene Griff am Sekretär“ rief er triumphierend aus, wohl wissend, dass der nicht so einfach zu reparieren war. Ein Stück lackiertes Furnier war aus der Klappe herausgebrochen und das verzierte Metall des Griffes war in der Mitte entzwei. „Mach das heil, bevor Klara ausrastet, wenn sie das sieht!“

„Wie du wünscht, Meister, so sei es!“

Jetzt rauchte es nicht um den vermeintlichen Geist, sondern der Sekretär hüllte sich in Nebel und als der sich verzogen hatte, war der Griff des Sekretärs wieder unversehrt. Für einen Moment war Michael sprachlos, dann fragte er: „Wie hast du das gemacht? Wo ist hier die versteckte Kamera?“

„Du hast es gewünscht Meister, also ist es geschehen“, antwortete der Geist.

„Ich werd verrückt...“

Michael verlangte es danach, sich zu setzen.

„Einen Wunsch habe ich also noch, nicht wahr?“

„So ist es, Meister.“

„Dann wünsche ich mir, dass Klara wieder nach Hause zurück kommt und mir verzeiht.“

Aber da zog der Geist ein trauriges Gesicht.

„Tut mir leid, Meister. In meiner Ausbildung war ich nicht gerade Klassenbester. Das Fach Wünsche erfüllen habe ich nur im Grundkurs belegt und nur mit Ach und Krach geschafft – ich kann nur einfache Wünsche, ich kann nur technische oder kulinarische Wünsche erfüllen.“

Ja, dabei sah er wirklich sehr traurig aus.

„So“, besänftigte Michael, „das ist nicht schlimm. Ich muss sie allein zurückgewinnen – wäre also auch ein verschenkter Wunsch gewesen.“

Was wünschte Klara sich eigentlich, fragte Michael sich in diesem Moment. Was hatte sie immer gewollt? Wovon träumte sie? Was begehrte sie? Wie wenig er darüber doch wusste – so selten hatte er ihr also zugehört. Er schämte sich ein wenig und dachte an die Geschichten, die sie immer schrieb, und er nie gelesen hatte...

„Ich weiß meinen dritten Wunsch“, sagte Michael dann, „Klara kommt gleich, es ist nicht mehr viel Zeit. Wie wärs, wenn du ihr und mir einen schönen Tisch zurechtmachst? Ein weißes Tischtuch, ein Strauß Blumen, ein guter Wein und ihr Lieblingsessen – leckerer Fisch und gesundes Gemüse? Und die Wohnung könntest du auch mal richtig sauber machen?“

„Nur einen Wunsch“, mahnte der Geist.

„Gut, dann nur der Tisch, ich putze allein.“

Wie Ihr es wünscht, Meister. So sei es!

Eine Nebelwolke baute sich in der Küche und über dem Tisch auf, hüllte alles ein, und als sie sich wieder verzog, war der Tisch wunderbar gedeckt und die Küche aufgeräumt. Ungläubig schüttelte Michael den Kopf.

„Das ist ja irre. Allmählich glaub ich dir, dass du so ein richtiger Wunderlampengeist bist.“

Der Geist schaute geschmeichelt und gleichzeitig traurig drein.

„Ach nein, da ist ja das Problem. Ein richtiger Wunderlampengeist? Das bin ich eben nicht. Das muss ich erst noch werden. Immer dann, wenn ich drei Wünsche erfüllt habe, kann ich in eine nächst kleinere Behausung umziehen, so lange, bis ich dann in einer Lampe bin. Erst wenn ich die drei Wünsche aus einer Lampe heraus erfüllt habe, bin ich endlich frei.“

„Wie? Heißt das, du bleibst nicht in diesem Sekretär?“

Der Geist schüttelte energisch den Kopf.

„Nein! Natürlich nicht! Drei Wünsche habe ich erfüllt, jetzt ziehe ich um! Und zwar schnell, denn mir ist kalt! Ich komme aus dem heißen Wüstensand des Orients, bin in einem Seecontainer hierhergekommen. Von da zog ich in einen LKW um, dann in diesen Sekretär und jetzt suche ich mir, wie gesagt, was Kleineres. Vielleicht auch was Bequemeres als dieses harte, wenn auch wunderschöne Möbelstück!“

Michael wunderte sich zwar, glaubte die Geschichte aber nach allem, was er in den letzten Minuten erlebt hatte. Und da in jeder Geschichte ein Fünkchen Wahrheit steckte, war „Aladins Wunderlampe“ vielleicht auch nicht nur Fiktion aus Tausendundeiner Nacht.

„Und, weißt du schon, wohin du umziehst?“, fragte er den Geist.

Der nickte und deutete auf die Teedose, die neben dem Sekretär auf einer kleinen Kommode stand.

„Dahinein, denke ich. Aber du musst dafür sorgen, dass die Teedose nicht hier stehenbleibt, sondern mit mir auf die Reise geht. Dafür habe ich dir die Küche aufgeräumt!“

Mit diesen Worten verschwand er, zurück blieb nur ein kleines Wölkchen Nebel um die Teedose. Michael lächelte. Danke für die Reparatur des Griffes, dachte er, danke für den schön gedeckten Tisch. Du hast mir geholfen, dann helfe ich dir auch.

 

Klara ließ nicht lange auf sich warten. Sie freute sich über das Essen und die saubere Küche und ihren Mann, dessen Aufmerksamkeit sie lange nicht so erlebt hatte. Ihre Möbel würde sie bei Gelegenheit holen, aber bevor sie ging, drückte Michael ihr noch die Teedose mit dem Wunschgeist in die Hand.

„Nimm die bitte mit – ich mag doch keinen Tee. Ich wollte sie noch putzen, das Silber am Deckel ist etwas angelaufen“, murmelte er.

„Ach, das mach ich schon!“ meinte Klara und nahm Michael seit langem für einen kurzen Moment in den Arm.

 

Als sie zuhause war, dachte sie an ihn und den schönen Abend, das nette Essen. Sie holte ihre Silberpolitur und begann den Deckel der Teedose sauberzumachen und mit einem weichen Tuch darüber zu reiben...

 

 


Im Winter

 

Irfan Hodžić