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Über den Autor
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Rafik Schami wurde 1946 in Damaskus geboren. Von 1966 bis 1969 war er Herausgeber und Mitautor einer Wandzeitung im alten Viertel von Damaskus. 1971 siedelte er in die Bundesrepublik Deutschland über. Studium mit anschließender Promotion in Chemie, Arbeit in der Industrie. Seit 1982 ist er freischaffender Schriftsteller und lebt in Kirchheimbolanden. Er ist Mitbegründer der Literaturgruppe »Südwind« und des Literatur- und Kunstvereins »PoliKunst«. Für sein literarisches Werk erhielt er viele wichtige Auszeichnungen, u.a. den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis für sein Gesamtwerk und den Thaddäus-Troll-Preis. Bei Beltz & Gelberg erschienen von Rafik Schami auch Erzähler der Nacht, Der Wunderkasten und Der ehrliche Lügner, ausgezeichnet mit dem Hermann-Hesse-Preis.
Impressum
Ebenfalls lieferbar:
»Eine Hand voller Sterne« im Unterricht – in der Reihe
Lesen – Verstehen – Lernen
ISBN 978-3-407-62797-1
Beltz Medien-Service, Postfach 10 05 65, 69445 Weinheim
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(ISBN 978-3-407-78701-9)
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© 1987, 2016 Beltz & Gelberg
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten
Neue Rechtschreibung
Einbandgestaltung: Cornelia Niere mit
Roland Werner, München
Einbandbild: Salvatore Cante, München
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74786-0
Marie und Therese,
meinen Schwestern

12.1.

»Schade, dass ich nicht schreiben kann. Ich habe viel erlebt und es war wichtig. Heute weiß ich nicht mehr, was mich vor Jahren nächtelang nicht schlafen ließ.«
»Du weißt doch eine Menge, Onkel«, tröstete ich Onkel Salim.
»Nein, mein Freund«, sagte er. »Von der Landschaft bleiben nur die Berge und später nur noch die Gipfel sichtbar und das Ganze taucht im Nebel unter. Hätte ich schreiben gelernt, könnte ich nicht nur die Berge, Felder und Täler sehen, sondern jeden Stachel einer Rose wieder erkennen. Was für großartige Menschen sind doch diese Chinesen!«
Ich wunderte mich, dass Onkel Salim auf einmal bei den Chinesen gelandet war. Als ich ihn deswegen fragte, erklärte er mir: »Die Chinesen haben es mit der Erfindung des Papiers möglich gemacht, dass die Kunst des Lesens und Schreibens für jedermann zugänglich wurde. Sie brachten die Schrift von den Tempeln der Gelehrten und den Palästen der Könige auf die Straße. Sie sind großartig.«
Also beschloss ich nach dem Tee bei Onkel Salim, ein Tagebuch zu führen. Ich vergesse viel. Ich weiß nicht einmal mehr den Namen der Mutter meiner ersten Freundin Samira. Mein Kopf ist wie ein Sieb.
Jeden Tag will ich schreiben!

21.1.

Heute habe ich meinem Vater in der Bäckerei geholfen. Zwei Arbeiter fehlten. So musste er allein den Teig kneten und formen und dann noch hinter dem Ofen stehen. Ich machte die Kasse. Die Kunden bringen in der Regel ihre Einkaufstaschen mit. Wer sie vergisst, bekommt das Brot in eine Zeitung eingewickelt. Am frühen Nachmittag hatte ich Ruhe. Ich nahm eine Zeitung und las etwas, obwohl mein Vater immer wieder herumnörgelte, dass ich lieber die Brote ordnen solle. Aber ich bin an sein Gejammer gewöhnt und weiß inzwischen, wann es eine ernst zu nehmende Aufforderung oder nur so ein Jammeranfall ist. Ich las weiter und da sah ich den kleinen Artikel über das Tagebuchschreiben.
»Ein Tagebuch ist ein Rückspiegel.« Dieser Satz hat mich lange beschäftigt. Irgendwie stimmt er mit dem überein, was Onkel Salim gesagt hat. Zu meiner Schande stelle ich fest, dass ich außer einer Seite am Anfang nichts geschrieben habe, bloß Sprüche geklopft. In dem Artikel, der sehr lustig gehalten war, stand auch, dass nur wenige Menschen ein ehrliches Tagebuch schreiben. Die anderen lügen, aber auch der schlimmste Lügner unter ihnen hat später einen Spiegel. Es ist dann ein verzerrender Spiegel wie auf dem Jahrmarkt und man kann darüber lachen. Ich lüge nie ohne Grund. Meistens nur, weil die Erwachsenen mich nicht verstehen.
Ich bin vierzehn Jahre alt und schwöre, dass ich immer wieder schreiben will. Ein sicheres Versteck für das Tagebuch habe ich gefunden. Kein Teufel kommt darauf. Deshalb kann ich mich freischreiben.

25.1.

Ich will kurz festhalten, wie unser Viertel hier aussieht. Dreimal sind meine Eltern seit meiner Geburt in Damaskus umgezogen, und ich weiß nicht mehr genau, wie die früheren Häuser aussahen. Unsere Straße ist ziemlich schmal. Sie liegt im Ostteil der Stadt Damaskus. In der Nähe meines Hauses ist die Paulus-Kirche. Viele Touristen besuchen die Stelle, von wo aus Paulus abgehauen und nach Europa gegangen ist.
Die Häuser sind aus Lehm gebaut. In jedem leben mehrere Familien, und jedes Haus hat einen Innenhof, der allen Nachbarn gehört, sie zusammenbringt und streiten lässt. Das Leben der Erwachsenen findet in den Innenhöfen statt. Die Straße gehört uns Kindern, den Bettlern und fliegenden Händlern. Die Dächer sind flach und fast gleich hoch (alle Häuser haben zwei Stockwerke), so kann man ohne Mühe von einem Dach zum anderen wandern. Ich erinnere mich noch, wie wir eines Tages beim Frühstück auf der Terrasse saßen, als plötzlich ein junger Mann vom Dach herunterschaute. Er wollte wissen, wo die Haustür sei. Meine Mutter zeigte sie ihm. Er sprang auf die Terrasse, von da aus rannte er zur Treppe und auf die Gasse hinaus. Meine Mutter holte gerade die Teekanne aus der Küche, als plötzlich zwei Polizisten auftauchten.
»Hast du einen jungen Palästinenser gesehen?«, fragte der eine.
»Einen Palästinenser? Nein! Schämt ihr euch nicht, einfach in die Häuser einzudringen! Hier sind Frauen und Kinder!«, rief sie wütend.
Der Polizist entschuldigte sich und beide machten kehrt. Ich staunte über meine Mutter, die weiter frühstückte, als sei nichts passiert.
Am Nachmittag konnte ich meine Frage nicht mehr unterdrücken. »Warum hast du gelogen?«
»Der junge Mann sah sehr ängstlich aus. Er hat eine Mutter, und sie wird euch auch nicht anzeigen, wenn ihr vor der Polizei wegrennt!«, sagte sie.
»Und woher willst du das wissen? Bist du sicher?«
»Ja, ich bin sicher. Ich bin eine Mutter.« Sie lächelte und küsste mich auf die Stirn.

10.2.

Drei Freunde habe ich: Onkel Salim ist fünfundsiebzig Jahre alt, Mahmud ist fünfzehn, und Josef ist genauso alt wie ich. Onkel Salim ist lange Zeit seines Lebens Kutscher gewesen und erzählt die besten Geschichten von Räubern, Königen und Feen. Er hat viel gesehen und mehrere berühmte Räuber und Könige, ja, vielleicht auch Feen überlebt. Onkel Salim, Mahmud und ich wohnen im selben Haus. Josefs Haus liegt genau gegenüber.
Mahmud und Josef waren nie im Ausland. Ich wohl. Zwei Jahre habe ich in einem Kloster im Libanon verbracht. Mein Vater wollte aus mir einen Pfarrer machen. Jede arme Familie versucht so ihr Glück mit einem Sohn, denn ein Pfarrer ist sehr angesehen und verhilft der Familie zu einem besseren Ruf. Nach zwei Jahren habe ich es aufgegeben.
Die Schüler kamen aus verschiedenen arabischen Ländern, und wir wurden gezwungen, Französisch zu sprechen. Jeder Neuling musste einen Schnellkurs machen und dann durfte er nach zwei Monaten kein arabisches Wort mehr reden. Wenn er es aber tat, bekam er ein rundes Holzstückchen mit dem Buchstaben »S« darauf (für Signal). Er musste es heimlich in die Tasche stecken und auf ein anderes Opfer lauern, dem er es unterschieben konnte. Wenn er sich verriet, wussten die anderen, dass er das Signal hatte, und mieden ihn wie ein Stinktier. Nein, leise musste er es nehmen und herumschleichen, bis irgendjemand ahnungslos in seiner Anwesenheit Arabisch sprach. So wurden wir alle zu kleinen Spionen ausgebildet. Wer zuletzt die Holzscheibe besaß, musste sein Abendbrot kniend einnehmen.
Ein merkwürdiges Gefühl war es, das Signal zu haben. Ich werde es nie vergessen. Es fühlte sich in der Tasche sehr warm an und gab seinem Träger Macht über die anderen. Vor allem, wenn man es früh genug am Tag bekam, hatte man einen großen Spielraum. Ich ließ Gnade walten, wenn jemand mir sympathisch war, und drückte es genussvoll in die Hand eines Arschkriechers. Nach einer Weile bildeten sich geheime Banden. Ich gehörte zu einer aus fünf Schülern, und wir schworen hoch und heilig, uns gegenseitig zu helfen. Es war verboten, einem aus der Bande das Holz zuzustecken, und so sonnten sich die anderen vier in Sicherheit und nützten es weidlich aus, Arabisch zu sprechen.
Ein Pfarrer hatte von dem System gehört und hielt eine Rede gegen das Signal, das die Schüler gegeneinander aufhetzt, aber er wurde vom Lehrerkollegium ausgelacht, und der Krieg der Banden ging weiter. Es bildeten sich sogar Kommandos aus mutigen Schülern, die das Signal auf eigenes Risiko nahmen, wenn es in die Hand eines ängstlichen Mitglieds der Bande fiel. Sie machten sich dann auf die Suche nach einem Opfer. Das Abendessen war um sechs, und es galt als Heldentat, eine Stunde vorher das Ding zu nehmen. Einer dieser Kamikaze hatte es einem Lehrer in die Hand gedrückt, als dieser Viertel vor sechs auf Arabisch sagte, er habe einen Mordshunger. Die Lehrer schauten ganz dumm drein. Sie sagten aber, sie seien nicht im Wettbewerb eingeschlossen. An diesem Abend musste also der kleine Ägypter kniend essen. Es war das erste Mal, dass die Schüler einem Knienden Respekt zollten. Wir drückten im Vorbeigehen seine Schulter.

26.2

Onkel Salim erzählt oft Geschichten von Feen. Er sagte heute, dass sie seit langem in Syrien leben. Er habe schon oft mit ihnen gesprochen. Sie hielten sich unter der Erde, in Wasserquellen und Berghöhlen auf und seien nur dann sichtbar, wenn sie sprechen.
»Und warum habe ich dann noch keine Fee gesehen?«, unterbrach ihn unsere Nachbarin Afifa, die immer alles besser weiß.
Weil du niemanden zu Wort kommen lässt, hätte ich beinahe gesagt, aber Onkel Salim war nicht einmal sauer. Er schaute Afifa nachdenklich an. »Du hast Recht. Ich habe seit vierzig Jahren auch keine mehr gesehen. Die Letzte sagte mir, dass sie die Autos nicht ertragen können, denn Feen sprechen sehr leise.«
Die Behauptungen von Onkel Salim sind merkwürdig. Er sagt, die Feen haben nicht nur die Pyramiden, sondern alle Schluchten in die Felsen hineingezaubert. Auch die warmen Wasserquellen im Süden baut Onkel Salim in seine Geschichten ein. Sie seien die Bäder der Feen unter der Erde.

10.3.

Heute haben wir einen Autofahrer bestraft, der nicht verstehen wollte, dass wir es nicht mögen, wenn ein Auto durch unsere enge Gasse rast. Josef lauerte ihm auf seinem Dach auf, und als der Angeber am Ende der Gasse umdrehte und hupend zurückbrauste, schleuderte Josef einen Stein hinunter und traf das Autodach. Der Autofahrer stieg wütend aus, aber die Straße war wie leer gefegt. Er fluchte, als er die Beule sah, und fuhr ganz langsam aus der Gasse.

20.3.

Ein toller Lehrer ist dieser Herr Katib. Bei seinem Vorgänger lernten wir die Angst und den Respekt vor der Sprache kennen, bei Herrn Katib lernen wir sie lieben. Früher sagte man uns, dass die Phantasie nur im Übertreiben zu finden sei, und Herr Katib lehrt uns, dass Märchen in den einfachen Dingen unseres Alltags passieren. Der frühere Lehrer ließ uns nie den Duft der Blüten und den Flug der Schwalben beschreiben. Er wollte immer märchenhafte Feste, Geburtstage und Erlebnisse haben. Von uns hat doch noch nie jemand einen besonderen Geburtstag oder ein großes Fest erlebt.
Ich werde den Schüler nie vergessen, der meiner Meinung nach den besten Aufsatz geschrieben hat. Wir sollten ein festliches Mahl beschreiben. Wenn Gäste kommen – und sie erscheinen oft plötzlich –, teilt meine Mutter alles unter den Anwesenden auf. Ich habe das Gefühl, dass meine Mutter immer so viel kocht, als erwarte sie Besuch. Wenn also Gäste da sind, essen wir mit ihnen, und mein Vater trinkt aus Liebe zum Besucher einen zweiten Arrak, damit der Gast auch etwas trinkt.
Wenn ich das ehrlich geschrieben hätte, wäre nicht einmal eine Vier dabei rausgekommen. Ich rannte also zu Onkel Salim, denn er hat mit seiner Kutsche viele feine Gäste zu Feiern und Festen gebracht. Dort ist er oft in die Küche geschlichen und hat mit den Köchen und dem Hauspersonal gegessen. Er konnte mir genau beschreiben, was und wie alles serviert wurde, was die Leute trinken und worüber sie reden. Onkel Salim ließ einige Paschas und Prinzen aufmarschieren, die es in Syrien nicht mehr gibt, aber die habe ich durch den Polizeivorsteher und sogar durch einen Richter ersetzt (kein Richter hat unsere Wohnung je gesehen!). Meine Mutter hat ihnen angeblich eine gebratene Gazelle, gefüllt mit Mandeln, Reis und Rosinen, serviert. Ich vergaß auch nicht, die lobenden Worte des Richters über die Küche und den Arrak meiner Eltern zu erwähnen. Es war komisch, ein trockenes Brot für die Pause im Schulranzen zu haben und von gebratenen Gazellen zu sprechen. Keiner meiner Mitschüler lachte, sie schauten mich eher mit offenem Mund an. Ich bekam eine Zwei und hörte genauso verblödet den Geschichten über die Feiern der anderen zu, wo auf einmal Bischöfe, Generäle, Dichter und Händler sich die Hände in unseren ärmlichen Buden reichten.
Nur Chalil spielte nicht mit. Als er an die Reihe kam, erzählte er, was passiert war, als er seine Eltern gefragt hatte, was ein Festessen sei. Seine Mutter war gleich ins Schwärmen geraten und dabei gleich auf ihr Pech zu sprechen gekommen, so einen armen Mann geheiratet zu haben, obwohl sie als junges Mädchen von vielen reicheren umworben worden sei. Der Vater hatte zornig und verletzt reagiert und gesagt, dass er schon längst ein reicher Mann wäre, wenn er nicht dauernd ihre gefräßige Familie (zwölf Geschwister, Vater, Mutter und den Großvater) durchfüttern müsste. Sein Kollege habe eine gute Frau und mit demselben Gehalt haben sie inzwischen zwei Häuser gebaut. Die Mutter hat den Vater angeschrien, dass ihre Eltern immer viel mitbringen, wenn sie kommen, und dass er sich lieber keinen Arrak kaufen solle. Dann hätte er schon längst die Groschen zusammenkratzen und sich ein Haus kaufen können. Sie haben lange gestritten und jeder von uns sah seine Familie wie in einem Spiegel.
Chalil schloss seinen Bericht mit dem Satz: »Ich habe geschworen, dass ich meine Eltern nie mehr nach einem Festessen fragen werde, damit sie sich nicht scheiden lassen!«
Der Lehrer gab ihm eine Sechs, »Thema verfehlt«. Chalil kam am nächsten Tag nicht mehr. Er ist jetzt bei einem Automechaniker.

30.3.

Onkel Salim hört sich jeden Tag die Nachrichten an, und wenn er mit gespanntem Gesicht vor seinem alten Radiokasten hockt, dürfen seine Besucher nicht einmal husten. Er weiß besser als unsere Lehrer Bescheid über alles, was in der Welt passiert.
Heute war er in fröhlicher Stimmung, als ich zu ihm kam. Ein englischer Journalist hatte nach jahrelanger Arbeit einen Mord aufgeklärt. Zwei Minister und ein Bankdirektor waren in den Fall verwickelt, der am Anfang als Selbstmord gegolten hatte. Der Ermordete wusste zu viel. Eine grausige Geschichte. Schlimmer als ein amerikanischer Krimi.
»Bei uns«, sagte Onkel Salim, »bei uns wäre der Journalist schon lange tot.«
»Was ist eigentlich ein Journalist?«, fragte ich, da ich nur wusste, dass diese Leute irgendwie eine Zeitung machen.
»Oh, ein Journalist«, stöhnte Onkel Salim. »Das ist ein kluger und mutiger Mensch. Er hat nur ein Stück Papier und einen Bleistift und damit macht er einer Regierung mit ihrer Armee und der Polizei Angst.«
»Mit Bleistift und Papier?«, staunte ich, denn jeder Schüler besitzt das, und wir schinden damit nicht einmal beim Pförtner in der Schule Eindruck.
»Ja, er macht der Regierung Angst, weil er immer auf der Suche nach der Wahrheit ist, und alle Regierungen bemühen sich, sie zu verstecken. Er ist ein freier Mensch wie ein Kutscher und lebt genau wie dieser in Gefahr.«
Das wäre schön, wenn ich Journalist werden könnte!

Donnerstag Nachmittag

Mahmud hat einen Cousin, der viele Journalisten kennt. Er arbeitet in einer Kneipe in der Nähe der Zeitung und muss ihnen eimerweise Kaffee in ihre verrauchte Bude bringen. Das ist nicht schlecht. Ich trinke gerne Kaffee (oft heimlich, weil meine Mutter das nicht gern sieht).

5.4.

Bäckerkinder haben meistens O-Beine und zerzaustes Haar. Die O-Beine kommen vom schweren Tragen im Kindesalter und das Haar ist immer voller Mehl. Die Kinder des Fleischers sind fett, die der Schlosser haben kräftige, vernarbte Hände, die der Automechaniker ewig schwarze Nägel und so weiter. Ich brauche nicht lange hinzuschauen, um zu wissen, was die Väter arbeiten.
Nur bei den reichen Kindern komme ich ins Schleudern. Sie haben alle samtenes Haar und weiche Hände, gerade Beine und von nichts eine Ahnung. Als Josef vor ein paar Tagen einem dieser Gören gesagt hat, dass nicht Engel ihn auf die Welt gebracht haben, sondern seine Mutter, weil sie mit seinem Vater geschlafen hat, fing das Kind an zu weinen, dass seine Mutter so etwas nie tun würde. Aber Josef ließ nicht locker. Er hat mich in der großen Pause geholt und gefragt, wie das mit der Schwangerschaft passiert, und ich habe geantwortet. Das Kind musste alle die Zeugen anhören, die Josef herholte. Zu Hause angekommen, wollte der reiche Dummkopf sein Essen nicht anfassen, und am Abend wollte er zwischen seiner Mutter und seinem Vater schlafen. Beide waren wahrscheinlich scharf aufeinander und dementsprechend verärgert. Deshalb kitzelten sie den Grund heraus, weshalb ihr Söhnchen auf einmal so merkwürdig war, und der Dummkopf erzählte von Josef. Heute kam der Vater in die Schule und beschwerte sich über Josef, und der arme Kerl hat eine dicke Strafe bekommen, weil er den Charakter des Kindes angeblich verdorben hat.
Ich finde den Vater zum Kotzen. Er schläft mit der Mutter, schämt sich dafür und schiebt es einem Engel in die Schuhe. Mein Vater schreit – viel zu oft –, dass er mich gezeugt hat.

27.4.

Das Küken, das mir und meiner Schwester Leila gehörte, wuchs zu einem prächtigen Hahn heran. Er war sehr stark und hackte den Nachbarinnen in die Beine, wenn sie ihre Wäsche auf der Terrasse aufhängen wollten. Später griff er sogar meine Mutter und meinen Alten an. Nur mich und meine Schwester ließ er in Ruhe. Vorgestern hat er meinen Vater in den Hinterkopf gepickt und verletzt. Fluchend hat mein Vater sein großes Messer genommen und dem Hahn den Kopf abgeschlagen. Leila war ganz blass geworden und mir wurde auch schlecht. Meine Mutter sagt, sein Fleisch sei das Beste, was sie je gekostet habe, aber seit zwei Tagen essen Leila und ich nur Käse und Oliven, Marmelade und Butter. Keinen Bissen nehmen wir von dem Hahn.
»Ich kann doch nicht den eigenen Freund fressen«, sagt Leila und sie hat Recht.

2.5.

Wir waren eine Woche bei meinem Onkel in Beirut. Eine wunderschöne Stadt. Ich liebe das Meer. Meine Mutter hat fürchterliche Angst davor. Sie verbot mir, ans Wasser zu gehen, aber das Haus meines Onkels war so nahe, und das Meer ist eine einzige Verlockung.
Als ich das erste Mal vom Strand zurückkam, schrie mich meine Mutter an, weil ich sie angeflunkert hatte, ich sei im Park gewesen. Mein sonnenverbranntes Gesicht hatte mich verraten und so gab es keinen Nachtisch für mich. Am nächsten Tag zog es mich wieder zum Meer, aber ich blieb im Schatten. Als ich zurückkam und fröhlich vom Park erzählte, befahl meine Mutter: »Zieh deine Schuhe aus«, und sie klopfte den Sand heraus. Ich verlor meinen zweiten Nachtisch. In der Nacht beschloss ich, nicht mehr zum Meer zu gehen, aber als ich am nächsten Morgen aufwachte, hörte ich das Rauschen der Wellen und eilte wieder hinaus. Diesmal beschloss ich, meine Mutter zu überlisten. Ich spielte im Wasser und rannte immer wieder in den Schatten. Bevor ich das Haus meines Onkels betrat, klopfte ich meine Schuhe so lange, bis kein Körnchen Sand mehr drin war, und ging mit einem Lächeln hinein.
»Was für ein schöner Park«, rief ich meiner Mutter herausfordernd zu. Sie schaute mich prüfend an und ich schwärmte noch mehr von der Schönheit des Gartens. Ich lachte innerlich, als sie meine Schuhe ausklopfte. Da sagte sie: »Komm her!« Sie nahm meinen Arm und leckte daran. »Du warst am Meer. Nur Meersalz schmeckt so!« Aber merkwürdigerweise gab sie mir an jenem Tag eine doppelte Portion Vanilleeis.

15.5.

Vorhin habe ich diesen großen, hageren Mann mit dem Spatzen gesehen, der seit Jahren durch die Straßen von Damaskus läuft. Ein merkwürdiger Verrückter ist das! Und der kleine Vogel folgt ihm wie ein Hund. Manchmal flattert er um ihn herum, dann setzt er sich auf seine Schulter. Sobald er sich in den Himmel erhebt, lockt ihn der Mann so lange, bis der Vogel wieder zurückkommt. Manchmal macht er mit ihm auch Späße. Er lässt ihn auf dem Stock sitzen, den er immer bei sich trägt, und balanciert ihn auf der Nase. Der Verrückte bettelt nie um Essen, aber sobald er an einer Tür steht, bringen ihm die Leute aus dem Haus einen Teller mit Gemüse oder Reis. Er ist sehr stolz. Er nimmt nie etwas mit. Wenn er satt ist, geht er. Meine Mutter sagte, er sei wahrscheinlich ein Heiliger, denn sie hat noch nie gehört, dass jemand außer Salomon, dem Weisen, mit Vögeln reden konnte.
Onkel Salim bestätigte das, was meine Mutter über Salomon erzählte: »Eines Tages rief Salomon nach den Vögeln, und alle kamen, außer dem Spatz. Salomon rief mehrmals, doch erst beim dritten Mal kam der freche Vogel. Der weise König fragte ihn, weshalb er nicht beim ersten Ruf gekommen sei, und der vorwitzige Spatz antwortete, er habe keine Lust gehabt. Da verfluchte ihn der weise Salomon: ›Ab heute wirst du nicht mehr wie alle Vögel gehen, sondern nur noch springen!‹ Und seitdem hüpft der Spatz.«

18.5.

Onkel Salim erzählt mir immer wieder von einem Journalisten, mit dem er lange befreundet gewesen war. Später wurde der Mann berühmt, aber in seiner Anfangszeit war er sehr lange arm, und Onkel Salim half ihm, wo er nur konnte. Aus Dankbarkeit schrieb der Journalist einen langen Artikel über ihn. Da Onkel Salim nicht lesen kann, gab er die Zeitung einem Nachbarn, der ihm das Lob über seine Weisheit und Großzügigkeit vorlas.
Bei Onkel Salim kann man nicht unterscheiden, was Märchen und was Leben ist. Alles ist so verwoben, dass man nicht weiß, wo das eine anfängt und das andere aufhört. Heute aber war es eine tolle Überraschung für mich, als Onkel Salim, während er erzählte, im Regal nach einer Schatulle suchte, sie herausnahm und öffnete. Und was war darin? Der ausgeschnittene Artikel über ihn! Der Journalist hieß Kahale. Das Papier ist vergilbt, aber der Artikel ist phantastisch. Ich erfüllte gerne den Wunsch meines alten Freundes und las das Geschriebene langsam und genüsslich vor. Ein Prachtartikel über einen Menschen, der seiner Zeit vorauslebt. Onkel Salims Augen waren voller Tränen, nachdem ich zu Ende gelesen hatte.

Samstag, den 1.6.

Gegen neun Uhr trat der Schulleiter in unsere Klasse. Jedes Jahr übergibt er uns persönlich die Abschlusszeugnisse. Ich wusste schon, dass ich gute Noten haben würde, aber nie hätte ich gedacht, dass ich der Klassenbeste sein würde. Der Schulleiter lobte mich über den grünen Klee und betonte, dass ich am Anfang noch ziemlich mittelmäßig gewesen sei und jetzt ein Vorbild für die ganze Klasse sein könnte. Die aus meiner Klasse hörten ihm wie jedes Jahr ungeduldig zu, sie wollten nach Hause, die Schultaschen in die Ecke knallen und raus zum Spielen. Schließlich war ja Ferienanfang. Aber ich, ich konnte nicht genug von seiner sonst so langweiligen Rede hören. Ich, der Sohn des Bäckers, bin Klassenbester! Die ganze Welt könnte ich umarmen!!! Als ich jubelnd in unseren Hof stürmte, wäre ich fast über Mutters Freundinnen gestolpert, die mit ihr im Schatten des Baumes Kaffee tranken. Meine Mutter küsste mich stolz und nahm zufrieden die Glückwünsche ihrer Nachbarinnen entgegen.
Ich konnte es kaum erwarten, meinem Vater mein tolles Zeugnis zu zeigen. Denn ich dachte, jetzt könnte ich ihm beweisen, dass es richtig ist, weiter zur Schule zu gehen.
In der Bäckerei schlängelte ich mich zwischen den Leuten hindurch und rief meinem Vater über alle Köpfe hinweg die Neuigkeit zu. Aber er achtete nicht auf mich, so sehr ich auch versuchte, mich bemerkbar zu machen. Er kümmerte sich nur um die Kunden und sein Geld und dann fauchte er mich auch noch an: »Was stehst du da rum? Hilf doch diesem blöden Mustafa! Die Brote türmen sich vor ihm auf, und er schleift seine Füße über den Boden wie eine fußkranke Schildkröte, dabei ist das Regal leer.«
Ich weiß genau, er wollte mir nicht zuhören. Er mag die Schule nicht. Wütend schnappte ich einige Brote und knallte sie ins Regal. Nach ein paar Stunden in dieser Hitze klebten mir meine verstaubten Kleider am Leib.
Erst auf dem Weg nach Hause, kurz vor unserer Haustür, meinte er: »Du bist der Erste? Das ist gut, aber die Bäckerei ist eine Goldgrube.«
Er schwafelte wieder lang und breit von den Kunden, die ihn um Brot bitten, obwohl er keine so großartige Schule hinter sich hat. Warum habe ich ihm nicht ins Gesicht geschrien, dass ich seine Bäckerei hasse?
Meine Mutter bemerkte natürlich gleich meine schlechte Laune, und während des ganzen Abendessens erzählte sie von den Nachbarn, die ihr gratuliert haben.
Mein Vater wollte aber wie immer das letzte Wort haben: »Was verstehen diese blöden Beamten vom Leben? Er wird Bäcker, und damit Schluss!«
Ich hielt das nicht mehr aus. Ohne noch gute Nacht zu sagen, rannte ich in mein Zimmer. Ich will kein Bäcker werden! Ich will nicht lebendig in einer Bäckerei begraben sein! Ich will reisen und schreiben! Journalist will ich werden, jawohl, jetzt weiß ich es, das ist mein Beruf! Ich schwöre bei Gott, jetzt um 21 Uhr, Samstag, den 1. Juni, dass ich niemals Bäcker werde. Nie!!!

Sonntag

Sonntags darf ich ungestört tun, was ich will, aber es ist eine lästige Pflicht, vorher immer in die Kirche gehen zu müssen. Mein Vater weiß, dass ich da nicht gerne hingehe. Wenn wir Schule haben, müssen wir jeden Sonntag zum Appell antreten, und der Religionslehrer ruft jeden mit Namen auf und kontrolliert, ob auch keiner fehlt. Aber jetzt sind doch Ferien, und trotzdem will mein Vater, dass ich in die Messe gehe! Er gibt mir sonst kein Taschengeld. Josefs Mutter ist genauso. Wir haben aber eine gute Idee. Unser Plan ist, dass Josef einen Sonntag in die Kirche geht und den nächsten ich. Wir können uns dann erzählen, was für ein Abschnitt im Evangelium gelesen worden ist und was der Pfarrer in der Sonntagspredigt erzählt hat. Denn das wollen mein Vater und Josefs Mutter wissen.
Ich bin als Erster dran, blödsinnigerweise habe ich das kurze Streichholz gezogen. Ich habe auch immer Pech! Heute hielt der Pfarrer eine langweilige Predigt über den Verfall der Moral in Syrien.
Ich finde Jesus sehr mutig, wie er die Händler aus dem Tempel hinausgeschmissen hat. Aber eines verstehe ich nicht. Warum sind die Juden schuld, wenn die Römer ihn umgebracht haben?

12.6.

Irgendetwas führt mein Vater im Schilde. Er hat zu meiner Mutter gesagt: »Der Junge wird bald vierzehn und hat noch keinen Beruf gelernt.«
Beim Abendessen brach er einen Streit vom Zaun. Ich wollte nur Spaß machen und habe meine Mutter gefragt, ob sie wisse, wie viele Synonyme das Wort Löwe im Arabischen hat. Meine Mutter wusste kein einziges. Ich erklärte ihr, dass es dreißig vom Löwen und achtzig vom Hund gibt. Sie lachte herzlich und meinte, sie habe schon immer gewusst, dass der Hund nützlicher sei als alle Löwen. Mein Alter verzog das Gesicht und schimpfte auf den Löwen, den Hund und die Schule, die uns Rotznasen nur Schwachsinn beibringe. Er denkt, ich gehe zur Schule, weil ich mich vor der Arbeit in der Bäckerei drücken will. Er meint, die Schule sei für die besseren Leute gemacht. Arme Schlucker wie wir hätten dort nichts verloren. Als ich entgegnete, dass wir schon viel lernen und dass er keine einzige Algebrarechnung machen kann, lachte er nur höhnisch. »Algebra!«, rief er. »Wozu? Was ich brauche, das muss ich im Kopf rechnen können.« Ich soll mir die Schule aus dem Kopf schlagen.

13.6.

Ich wollte heute meiner Schwester eine Gruselgeschichte erzählen. Aber sie gruselt sich nie. Mitten im Kampf zwischen dem Helden und einem fürchterlichen Drachen schlief sie ein. Ich kam mir lächerlich vor.
PS: Ich habe erst heute beim Durchblättern gemerkt, dass ich noch kein Wort über Nadia geschrieben habe. Ich liebe sie. Sie ist dreizehn und wohnt zwei Häuser weiter. Komisch, dass ich es meinem Tagebuch so lange verheimlichen konnte.

15.6.

»Wozu die Schule?«, fragte mich mein Vater. »Es gibt viel zu viele Lehrer und Rechtsanwälte.«
Ich habe ihm gesagt, dass ich Journalist werden will. Er hat mich aber ausgelacht. Das sei ein Beruf für Nichtsnutze, die den ganzen Tag im Café sitzen und nur Lügen verbreiten. Er will keinen Sohn haben, der wie ein Vagabund herumläuft und den Leuten das Wort im Munde herumdreht und unanständige Dinge über sie schreibt. Er sagt, wir seien Christen, das müsse mir in den Kopf gehen. Ich hätte nur eine Chance, wenn ich Mohammad oder Mahmud heißen würde. Als ich ihn fragte, warum, meinte er mit trauriger Stimme, dass ich das eines Tages auch noch lernen würde.
Nadia sagt, sie würde lieber einen Journalisten heiraten als einen Bäcker, aber niemals wird sie jemanden lieben, der im Geheimdienst arbeitet.

17.6.

Mensch, war das ein toller Abend bei Onkel Salim! Der alte Mann hat in seinem langen Leben so viel erlebt. Eines Tages werde ich über ihn ein Gedicht oder eine ganz lange Geschichte schreiben.
Ich habe beschlossen, meine Gedichte in ein schönes Heft einzutragen. Die Zettel verliere ich immer wieder.

19.6.

Meine Mutter sagt, Onkel Salim lügt, aber ich wünschte, die Lehrer würden auch lieber lügen und dafür so spannend erzählen wie Onkel Salim.

21.6.

Schon wieder hat Josef der Nadia schöne Augen gemacht, obwohl er genau weiß, dass sie meine Freundin ist. Ein fieser Kerl! Ich weiß, was ich machen werde. Heute kann er mir noch mal erzählen, was in der Kirche los war, aber nächsten Sonntag, wenn ich dran bin, wird er sich wundern! Ich erzähl ihm einfach das falsche Evangelium!

27.6.

So ein Mist, der Lehrling Mustafa ist abgehauen. Das habe ich geahnt. Im Sommer hält es auch kein Schwein in der Bäckerei aus. Heute musste ich also dort arbeiten, Brote von dem Vorsprung am Ofen nehmen und sie im Regal aufschichten. Mein Vater war sehr nett zu mir. Das ist er ja immer, wenn ich in der Bäckerei helfe. Aber ich kann diese Arbeit nicht ausstehen. Die dampfenden Brote verbrennen einem die Hände, bis man nach einer Weile nichts mehr spürt. Jetzt sind meine Handflächen rot und geschwollen. Und es war vielleicht langweilig!