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Karin Kaiser

Das verhexte Einhorn

Schwarze Magie im Einhornwald





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Prolog

Die Luft war eiskalt und feucht, der Schnee der letzten Tage war inzwischen ganz verschwunden. Nebelschwaden zogen durch den Wald, legten sich wie ein schützender Schal um die Bäume und die Statue eines Einhorns, die mitten im Wald stand. Niemand wusste, wie sie hierhergekommen war, ob sie das Werk eines verrückten Künstlers war oder warum sie ausgerechnet hier im Wald aufgestellt war. Aber das Einhorn war meisterhaft gearbeitet, der melancholische Ausdruck in seinen Augen, das gedrehte Horn auf seiner Stirn, sogar jedes einzelne Haar seiner vollen, langen Mähne war fein herausgearbeitet, sein Körper war edel und kraftvoll und dies alles ließ es sehr lebensecht wirken. Viele Wanderer, die sich an diese Stelle des Waldes verirrten, blieben stehen und bewunderten das herrliche Tier, Menschen mit kleinen Kindern setzten diese sogar auf seinen Rücken und machten Fotos. Doch als die Menschen wieder den Wald verließen, kam ein tiefes Seufzen aus der Kehle des Einhorns und nur die kleinen Tiere des Waldes hörten das Seufzen, manchmal hörten sie auch ein verzweifeltes Weinen, doch auch sie verweilten nur kurz, staunend über das seltsame Geräusch, das aus der Steinfigur erklang. Denn dieses Einhorn war nur äußerlich eine Statue. Unter der Steinschicht schlug ein Herz, das noch viel schwerer war als diese elende staubige Last aus Stein auf seinem Körper. Einst hatte dieses Tier auch einen Namen gehabt, Obsidian. So hatte man ihn genannt, als er weder ein Einhorn noch eine Steinstatue gewesen war. Einst war er ein Junge gewesen, mit bernsteinfarbenen Augen und Haaren, die so schwarz waren wie Obsidian, dem liebsten Edelstein seiner Mutter. Wieder schlich sich ein tiefes Seufzen aus der mächtigen Brust des Einhorns. Wie groß seine Sehnsucht war, sich endlich bewegen zu können, endlich wieder ein Mensch zu sein! So viele Menschen hatte er versucht zu rufen, damit sie ihm halfen, aber niemand hörte sein Flehen, bis jetzt war noch kein Mensch vorbeigekommen, der empfindsam genug war, um ein steinernes Einhorn zu hören. Dabei war er auf ein Menschenkind angewiesen, denn nur die Tränen eines Menschen mit einem reinen Herzen konnten diese Steinschicht wegsprengen. Seine Gedanken schweiften zurück zum Einhornwald, in dem so viele magische Wesen unter dem Schutz von Charis lebten. Charis war ein schlohweißes Einhorn, mit einem kunstvoll gedrehten, diamantenen Horn auf der Stirn, das in der Sonne bläulich schimmerte, ihre Augen waren von einem wunderbaren, tiefen Blau und voller Liebe und Güte, ihr Körper war fein und zierlich, aber dennoch wohnte so viel Kraft in ihr. Doch ihr Land war in Gefahr, denn Amalfina, eine Hexe mit einem mächtigen Zauberschwert, machte Charis die Macht streitig. Heiß schoss der Zorn in Obsidians Herz. Er kannte Amalfina, denn sie war seine Schwester gewesen. Und seine Gedanken drangen vor in frühere Erinnerungen. Ja, Amalfina war seine Schwester gewesen, ein hübsches Mädchen mit blondem Haar, wunderschönen hellen Augen und einem freundlichen Wesen. Einst hatten sie sich nach dem Tod ihrer Eltern auf den Weg in die nächste Stadt gemacht, um dort zu entfernten Verwandten zu gehen und diese zu bitten, sie aufzunehmen. Was für eine elend lange Wanderung das gewesen war! Und dann hatten sie sich in diesem Wald verirrt, wo Charis sie dann gefunden hatte. Sie hatte die weinenden Kinder getröstet und hatte sie in ihr Reich geführt. Dort kannte sie ein kinderloses Elfenpaar, das sich Obsidians und Amalfinas annahm und den beiden Kindern eine Heimat und Geborgenheit gab. Während Obsidian sich schnell an das Leben in dieser Welt gewöhnte, in der es immerzu Frühling war, blieb Amalfina sehr empfindsam und in sich gekehrt, es fiel ihr sehr schwer, sich umzugewöhnen. Viel zu sehr vermisste sie die geliebten Eltern. Ja, und dann hatten sie diesen verhängnisvollen Ausflug gemacht. Sie waren weit in den Wald vorgedrungen, bis zu einer großen Höhle. Die Pflegeeltern hatten sie gewarnt, nicht dorthin zu gehen und auf keinen Fall die Höhle zu betreten, denn diese sei das Tor zum Totenreich. Obsidian hatte vergeblich versucht, Amalfina abzuhalten, diese Höhle zu betreten. Viel zu besessen war sie von der Idee gewesen, dort die Eltern wieder zu sehen. Als seine Schwester hatte sie die Höhle betreten und als eine kaltherzige Hexe war sie wieder heraus gekommen, ein riesiges Schwert aus Stein in ihrer Hand haltend. Und mit diesem Schwert hatte ein böser Zauber von ihr Besitz ergriffen. Als er Amalfina das Schwert hatte entreißen wollen, hatte sie ihn in ein schwarzes Einhorn verzaubert. Und dann hatte eine Schreckensherrschaft begonnen. Amalfina hatte sich mit dem Schwert im Düsterwald verschanzt und dort ihre Macht ausgebaut. Und jeden, der ihr nicht folgen wollte, hatte sie in Stein verwandelt. Obsidian war so verzweifelt gewesen, dass er sogar in der Menschenwelt jemanden gesucht hatte, der Amalfina von diesem Schwert befreien konnte. Der einzige Vertraute, den Obsidian in der Menschenwelt hatte, war David, ein junger Maler, den er an der Grenze zum Menschenreich kennengelernt hatte. Er war der erste Mensch gewesen, der ihn als Einhorn erkannt hatte. Ihm hatte er so weit vertraut, dass er ihn sogar mit in Charis Reich genommen hatte und auch mit Charis hatte David sich angefreundet. Und seit seinem ersten Besuch war David ein gern gesehener Gast in der Anderswelt. Doch David wurde älter, er fand eine Frau, die er liebte und sie bekamen ein kleines Mädchen. Von da an wurden Davids Besuche seltener. Aber dennoch hatte er versucht, Obsidian zu helfen. Doch sie hatten Amalfina nicht austricksen können. Sie sprach einen Fluch über sie aus und Obsidian versteinerte. Was mit David geschah, wusste er nicht. Hatte sie ihn getötet? Und was war aus dem Einhornwald geworden? Gab es ihn noch? So oft beschäftigten ihn diese Fragen nun, aber es war müßig, sich Gedanken darüber zu machen, er war hier festgewachsen und konnte sich nicht rühren. Wann endlich kam jemand, der ihn aus dieser Bewegungslosigkeit erlöste?