Andreas H. Schmachtl

Frühling, Sommer,

Herbst und Winter

Ein schönes Jahr im Heckenrosenweg

Inhalt

Vorfreude

Pfeilschnell

Zusammenrücken

Wohnungssuche

Alles wie neu

Nestwärme

Hinaus in die Welt

Uralte Pläne

Leuchtturm ahoi

Ausgeheult

Geheimnistuerei

Tief hinab

Eins, zwei, drei und vier

Beerentraum

Held mit Häuschen

Das hält

Waldeslust

Wimpel, ho!

Total benebelt

Zu spät?

Einfach still

Bestrickend

Flughörnchen

Gern geschehen

Vorfreude

Der Wind strich sanft über die Hügel und scheuchte watteweiche Schäfchenwolken vor sich her. Die ECHTEN Schafe auf den Hügeln dagegen ließen sich kein bisschen scheuchen. Jedenfalls, solange sie nur genug saftiges Gras und Klee zu fressen hatten.

Hier und dort summten Insekten, die Vögel sangen, und die Luft duftete aprilfrisch. Kurz: Es war ein herrlicher Morgen.

Aber das konnte Tilda Apfelkern bisher nur ahnen. Die holunderblütenweiße Kirchenmaus war nämlich mit Bügeln beschäftigt. Das gehörte eigentlich nicht zu ihren Lieblingsbeschäftigungen, war aber ihres Wissens die einzige Möglichkeit, zu faltenfreien Tischdecken zu kommen.

Die Küchenfenster des kleinen Mäusehauses standen sperrangelweit offen. Und wenn dann eine frische Brise hereinwehte, um sich mit dem Lavendelduft der Bügelwäsche zu vermischen, tanzten Tilda die allerherrlichsten Bilder von Sommerwiesen, Ausflügen an den Fluss und frischem Erdbeerkuchen im Kopf herum. „Du liebe Güte“, seufzte Tilda. „Es wird allerhöchste Zeit für ein Picknick!“

Schnecki wandte den Kopf zu Tilda. Er machte ja nicht viele Worte. Aber er sah so aus, als würde er Tilda aus vollem Herzen zustimmen. Der Winter hatte sich in diesem Jahr wirklich furchtbar lange gehalten. Noch zu Ostern lag Schnee. Und so hatten die Freunde aus dem Heckenrosenweg doch tatsächlich noch kein einziges Picknick veranstaltet. Und das, obwohl sie ihre gemeinsamen Picknicks über alles liebten!

Tilda dachte gerade darüber nach, was Igel Rupert, die Eichhorns, Postmaus Molly und Robin Rotkehlchen zu ihren Picknickplänen sagen würden, als Rupert durch das offene Fenster lugte.

„Guten Morgen, meine Liebe“, begrüßte er Tilda. Rupert nannte Tilda immer „meine Liebe“. Und zwar bestimmt nicht, weil der knurrige Igel immer so ausgesprochen höflich war. Aber die holunderblütenweiße Kirchenmaus musste einfach jeder gern haben.

Jedenfalls bat Tilda ihren besten Freund Rupie auf der Stelle herein, setzte ihm einen Becher Tee vor und berichtete gleich von ihrer Idee. „Du wirst es nicht glauben“, antwortete Rupert zwischen zwei Schlucken, „aber als mir heute Morgen der Sonnenschein ins Gesicht blinzelte, habe ich genau das Gleiche gedacht.“

„Oh Rupie“, jubilierte Tilda. „Dann sollten wir besser keine Zeit verlieren. Die Wäsche kann warten. Die ist später sicher noch genauso knittrig. Und du, Rupie, sagst den anderen Bescheid. Vergiss Molly nicht, hörst du?“

Rupert schlürfte schnell seinen Tee und machte sich dann auf den Weg. Edna Eichhorn und ihre Jungs Billy und Benny wohnten direkt über Rupert in der mächtigen Eiche. Sie waren schnell informiert.

Robin Rotkehlchen bekam sowieso immer alles mit, um den musste Rupert sich praktisch gar nicht kümmern.

Nur Molly wohnte nicht im Heckenrosenweg. Ihre Wohnung befand sich direkt unter dem Postschalter im Dorfladen. Und der wiederum lag eben … mitten im Dorf. Tilda hätte vermutlich kurzerhand bei Molly angerufen. Aber derlei moderner Firlefanz kam für Rupert nur infrage, wenn es sich absolut nicht umgehen ließ. Er schlüpfte lieber unter dem Gartentor hindurch und schlenderte in aller Ruhe den gewundenen Heckenrosenweg entlang und über die alte Brücke ins Dorf hinunter.

Natürlich war Molly schlichtweg begeistert von der Aussicht, schon heute ein ganz und gar unerwartetes Picknick zu veranstalten.

„Ach Rupert“, seufzte die graue Maus. „Jetzt geht es endlich wieder los.“

„Stimmt“, nickte Rupert. „Und zwar pünktlich um zwölf Uhr.“

Molly versprach, sich nicht zu verspäten – was sie ohnehin niemals tat. Dafür war sie viel zu gewissenhaft. Und sie versprach überdies, Gurkensalat und Käsebällchen mitzubringen.

Das sollte Rupert wiederum Tilda sagen, hatte es aber schon auf der alten Brücke vergessen.

Nun, unterdessen flitzte Tilda wie ein holunderblütenweißer Blitz durch ihre Küche. Regelmäßig verschwand sie in ihrer schier unergründlichen Vorratskammer, hatte bereits einen Rhabarberkuchen im Ofen und den Kartoffelsalat, hart gekochte Eier, Weintrauben, köstliche Gemüsepastetchen und Sandwiches in vier Sorten vorbereitet.

Natürlich hatte sie auch für Rupert ein paar Aufgaben.

„Nun, ich wollte eigentlich …“, stammelte Rupert, der sich gerne noch ein Stündchen in Ruhe auf die kleine Bank vor seinem Haus gesetzt hätte.

„Das kannst du doch später noch tun“, entschied Tilda. „Der Picknickkorb muss abgestaubt werden. Und die große Decke sollte auch noch ausgeklopft werden – nach dem langen Winter!“

Immerhin wäre nichts peinlicher gewesen, als wenn den Freunden ein paar verschlafene Motten aus der Decke entgegengetaumelt wären, oder?

Rupert erledigte also brummelnd, aber brav alle Aufgaben. Er dachte sogar daran, den Handwagen aus seinem vollgestopften Schuppen hervorzuwühlen.

Tilda war mit den Vorbereitungen auf den Punkt genau fertig, und als die Eichhorns den Nachtisch (eine Schüssel mit Vanillegries und eine mit Wackelpudding. In Grün!) und Molly ihren Gurkensalat dazustellten, war das ein ganz und gar köstlicher Anblick.

Jetzt mussten sie nur noch Decke, Korb und Schnecki im Handwagen verstauen, und dann konnten die Freunde endlich zum ersten Picknick des Jahres aufbrechen.

Doch als dann die Turmuhr zwölf schlug, zogen wie aus dem Nichts bleischwere und dunkelgraue Wolken herauf. Und zwar nicht nur eine. Der Himmel war von einer Sekunde auf die nächste kohlrabenschwarz. Dann fegte noch eine heftige Böe heran, und schon schüttete es wie aus Kübeln!

„SO können wir doch kein Picknick veranstalten!“, jammerte Molly, und Billy und Benny machten: „Oooch!“ Die Hörnchenzwillinge hatten sich so auf einen abenteuerlichen Nachmittag am Fluss gefreut und schon all ihre Sommerspielzeuge eingepackt.

Rupert warf Tilda einen Blick zu. Hoffentlich war sie nicht zu enttäuscht.

Aber Tilda sah ganz und gar nicht enttäuscht aus. Sie kramte kurzerhand die Decke und sämtliche Köstlichkeiten aus dem Handwagen hervor und zauberte mitten in ihrem Wohnzimmer, vor dem Kamin, ein herrliches Drinnen-Picknick.

„Dann haben wir einfach noch mehr Zeit, uns auf das erste Draußen-Picknick zu freuen“, strahlte Tilda. „Ist das nicht toll?“

Und ob es das war. Es war sogar so toll, dass die Freunde ihr Drinnen-Picknick gleich am nächsten Tag wiederholten.

Pfeilschnell

Als Zwillinge machten Billy und Benny Eichhorn die allermeisten Dinge gemeinsam, wie zum Beispiel basteln. Oder aufräumen.

Und sie teilten sich den besten Freund. Das war der kleine Karl Maulwurf.

So oft es nur ging, spielten die drei Jungen zusammen. Außer im Winter. Denn wenn der Boden hart gefroren und mit einer dicken Schneeschicht bedeckt war, konnten die Maulwürfe ihre unterirdische Wohnung manchmal gar nicht verlassen.

Aber diese Zeiten waren für dieses Frühjahr zum Glück vorbei, und heute wollten die drei endlich wieder miteinander spielen.

„Kommt Karl hierher?“, wollte Edna Eichhorn beim Frühstück wissen. Für jemanden, der sonst tief unter der Erde lebte, war ein Besuch hoch über der Erde immer ein großes Abenteuer.

Aber Billy schüttelte aufgeregt den Kopf. „Wir treffen uns an der Brücke.“

Benny strahlte ebenfalls. Die Jungen hatten den ganzen langen Winter hindurch an ihren kleinen Segelbooten herumgebastelt. Immer wieder hatten sie Verbesserungen am Rumpf oder den Segeln vorgenommen, um die Boote noch schneller zu machen.

Billy glaubte natürlich, dass sein Boot das schnellste war. Benny wettete auf seins. Und der kleine Karl hatte am Telefon behauptet, dass kein Segler im Dorf seinen schlagen könnte. Und jetzt konnten sie es endlich ausprobieren!

Punkt zehn trafen die drei sich an der alten Brücke. Sie wussten das deswegen so genau, weil die Schulglocke gerade läutete. Nach dem nächsten Sommer würden sie auch zur Schule gehen. Aber bis dahin … gab es noch so viel Wichtiges zu erledigen!

„Donnerwetter“, staunte Billy, als Karl seinen Segler auspackte. Er hatte ihn hellgrün bepinselt. Mit einem weißen Rand!

Billys Boot war hörnchenrot und Bennys nautischblau.

Alle drei Segler sahen ungeheuer schnittig aus. Voller Spannung blinzelten die Jungen einander an.

Dann kletterten sie vorsichtig an der Brücke vorbei, zum Ufer hinunter und ließen die Boote ins Wasser.

Karl hielt sie mit einer langen Weidenrute in Position. Billy wollte das Startsignal geben, und Benny überwachte von der Brücke aus das korrekte Vorgehen.

„Ihr habt doch keine Motoren eingebaut, oder?“, fragte Karl noch einmal.

Die Hörnchen schüttelten entsetzt die Köpfe.

Segler durften nur von Wind und Wasser angetrieben und

nicht geschoben oder gezogen werden, sobald sie im Wasser lagen, das wusste doch jeder! Und eingreifen durfte der Besitzer überhaupt nur, wenn sich das Boot im Schilf verfing.

Dann – drei, zwei, eins – ging es los! Die Boote schossen mit der Strömung den Fluss hinunter. Sie lagen hoch im Wasser und hielten sich immer schön in der Flussmitte, wo die Strömung am stärksten war.

Billy, Benny und Karl standen auf der Brücke und jubelten und pfiffen vor Vergnügen.

Die Boote erreichten nun die große Flussbiegung, wurden kleiner und kleiner … und verschwanden.

„Ähm“, sagte Karl.

„Das haben wir uns wohl nicht richtig überlegt“, murmelte Benny.

Und Billy schimpfte: „So ein Mist!“

Tja, die kleinen Bastler hatten wirklich an alles gedacht, um ihre Boote schneller zu machen. Nur den langen Faden, um sie wieder zurückzuholen, hatten sie vergessen.

Um am Ufer entlang hinter den Booten herzulaufen, waren diese inzwischen zu weit weg. Aber wie sollten sie nun erfahren, welches das schnellste war?

Benny schnippte ein altes Blatt ins Wasser. Sofort lag auch das in der Strömung und schoss mit dem Fluss dahin. Da hatten die Jungen eine Idee.

Nun müsst ihr euch vorstellen, wie die Schafe am Flussufer staunten, als zwei Eichhörnchen und ein Maulwurf in rasender Fahrt auf einer alten Zaunlatte an ihnen vorübersurften! Immer auf der Strömung.

Billy und Benny konnten mit ihren buschigen Schwänzen prima das Gleichgewicht halten. Und Karl kam als Gewicht ganz nach vorn. Himmel, waren die Jungen fix! Sie berührten die Wasseroberfläche kaum, und nur die Libellen waren noch schneller als sie.

Ihre Mütter durften von dieser Sache natürlich nichts erfahren, und ich muss euch ausdrücklich darum bitten, derlei Dinge niemals nachzumachen!

Bald erreichten die drei die große Flussbiegung, und dahinter kamen auch ihre Segelboote wieder in Sicht. Die fuhren jetzt deutlich langsamer, denn durch das dichte Schilf am Ufer und den gewundenen Verlauf des Flusses nahm die Strömung hier deutlich ab.

Auch die Jungen wurden langsamer und mussten schließlich sogar mit den Händen paddeln.

„Mein Boot führt“, rief Karl hocherfreut.

„Aber meins überholt deins gerade“, sagte Billy. Und Benny überlegte, dass das ja stundenlang so weitergehen konnte. Stundenlang durften sie dem Fluss aber nicht folgen. Denn sie mussten ja irgendwann mal wieder nach Hause. Darum verkündete er:

„Wir segeln noch bis zu den großen Steinen. Wer als Erster dort ankommt, hat gewonnen. Karl … äh … klar?“

Seine Freunde nickten.

Bis zu den Steinen waren es nur noch ein paar Meter. Aber diese letzten Meter waren die aufregendsten. Denn die Strömung verlangsamte sich noch mehr, und die Boote dümpelten nur noch gemütlich vor sich hin. Wieder riefen, jubelten und pfiffen die Jungen, bis, ja, bis endlich Bennys blauer Segler ganz gemächlich an den anderen vorbeizog und an den Stein tippte.

„Gewonnen“, grinste Benny und freute sich schon darauf, das kleine rote Siegerfähnchen an seinen Segler zu heften. Jedenfalls … bis zum nächsten spannenden Rennen!