Andreas H. Schmachtl

Wunderbare Geschichten aus dem Heckenrosenweg

Inhalt

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Ein stürmischer Anfang

Der große Regen

Das Wasser steigt

Gefährliches Hochwasser

Der Alljährliche Kuchen- und Marmeladenwettbewerb

Geheimnisse

Noch mehr Geheimnisse

Das Gespenst vom Heckenrosenweg

Die große Entscheidung

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Was man eben so braucht

Der allerschlimmste Schnupfen der Welt

Die hübsche Kammer

Winterschlaf

Handarbeitskränzchen in Hochform

Ein eiskalter Wind

Ruperts erster Schnee

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Frühjahrsputz – und alles muss raus!

Mädchensachen, Jungensachen

Ruperts geheime Pläne

Noch mehr Lärm!

Musikunterricht

Das erste Picknick des Jahres

Verlaufen!

Zeitvertreib für trübe Tage

Eine kugelrunde Sache

Die Expedition

Ein Sommernachtstraum

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Eine unheimliche Warnung

Der wunderbare Schatz

Wieder zu Hause

Großer Bahnhof

Das Leben genießen

Ein Picknick wird zum Sommerfest

Die Tage werden wieder kürzer

Ein stürmischer Anfang

Bereits die ganze Nacht hindurch war ein ungestümer Wind von der Küste herangefegt und hatte die dunklen Silhouetten der Büsche und Bäume vor dem noch dunkleren Himmel bedrohlich wanken lassen.

Die Dachpfannen klapperten, und dürre Äste pochten unablässig gegen die Fensterscheiben.

Tilda Apfelkern konnte kein Auge zubekommen. Immer wieder hatte sie in das nächtliche Getöse hinausgeblickt und sich gefragt, ob ihre Freunde den Sturm wohl schadlos überstehen würden. Ein oder zwei Male hatte sie sogar überlegt, ob sie zur alten Eiche hinüberschlüpfen sollte, unter deren knorrigen Wurzeln Igel Rupert und in deren Zweigen Familie Eichhorn wohnten. Aber das wäre wohl mehr als dumm gewesen. Denn so, wie Tilda diese Herrschaften kannte, hatten sie ihre Kissen und Decken ganz einfach bis über die Ohren gezogen und bekamen von dem, was draußen vor sich ging, überhaupt nichts mit. Und so blieb der armen Tilda nichts anderes übrig, als mehr oder weniger ruhig abzuwarten, bis endlich der Morgen anbrach.

Oh, entschuldigt bitte, liebe Leser. Da erzähle ich einfach so vor mich hin, und dabei könnte es doch sein, dass ihr Tilda Apfelkern womöglich noch gar nicht kennt! Nun, das sollte nicht sein, und darum will ich sie, bevor die Geschichte richtig beginnt, schleunigst vorstellen. Tilda Apfelkern ist eine Maus. Holunderblütenweiß ist sie, Kirchen maus außerdem, und darum wohnt sie in ihrem kleinen Häuschen gleich am Fuße der Kirchenmauer.

Wenn ihr mal in das kleine Dorf irgendwo zwischen den Hügeln kommt, haltet nach dem mächtigen Kirchturm Ausschau. Ihr könnt ihn gar nicht übersehen.

Jeder im Dorf kennt Tilda, und wer sie kennt, hat sie ausgesprochen gern. Etwas anderes könnte man sich auch nur sehr schwer vorstellen. Und warum das so ist? Nun, lest selbst.

Als die Vögel am Morgen nach dem Sturm zu singen begannen und die Sonne durch die dichten Wolken blinzelte, stieg Tilda erleichtert aus dem Bett. „Es ist wirklich scheußlich, die ganze Nacht so wach zu liegen“, sagte sie zu sich. „Dafür kann einen nur ein ordentliches Frühstück entschädigen. Ach, was sage ich? Exzellent sollte es sein!“ Nun gehört zu einem exzellenten Frühstück natürlich frischer Toast mit Orangenmarmelade. Selbst gemacht, wenn möglich.

Erleichtert, die Nacht endlich hinter sich zu haben, setzte Tilda den Teekessel auf, musste dann aber feststellen, dass kein einziges Krümelchen Toast mehr im Hause war.

Außerdem war auch ihre ganz ausgezeichnete, selbst gemachte Orangenmarmelade alle. Nur noch ein kläglicher Rest klebte auf dem Boden des Glases, was eigentlich nicht schlimm war, denn Tilda musste ja nur ein neues Glas aus der Vorratskammer holen, die sich an ihre behagliche Küche anschloss. Das dachte sie jedenfalls.

Das ganze Jahr über hatten die Maus und ihre Freunde alles gesammelt, was die Natur nur hergab, sie hatte Obst zu Marmeladen und Kompott eingekocht, hatte Gemüse in Gläser eingemacht, Kartoffeln eingelagert und so weiter und so fort. Tja, und nun bogen sich die Regalböden unter ihrer kostbaren Last. Als Tilda nun aber vor dem Fach mit den Marmeladen stand, entdeckte sie alle nur denkbaren Sorten: Erdbeere zum Beispiel oder Erdbeere-Rhabarber, außerdem Himbeere, Brombeere, rote und schwarze Kirsche, Aprikose, Pflaumen- und Feigenmus. Nur von ihrer ganz ausgezeichneten, selbst gemachten Orangenmarmelade war kein einziges Glas mehr da. Sie hatte schlicht und ergreifend vergessen, rechtzeitig für Nachschub zu sorgen.

„Wirklich sehr nachlässig von dir, Tilda Apfelkern“, schimpfte die kleine Maus ärgerlich mit sich selbst. „Wirklich ausgesprochen nachlässig.“ Aber da half alles Schimpfen nichts. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als den Teekessel wieder vom Herd zu nehmen, sich einen Schal umzubinden und ins Dorf zu gehen, um einzukaufen.

Der Sturmwind der Nacht war inzwischen zwar zu einem lauen Lüftchen verkümmert, aber Tilda musste noch immer ihren Schal festhalten, damit er nicht fortwehte.

Rupert schlief wohl noch, dachte sie. Jedenfalls waren seine Vorhänge fest zugezogen. Jaja, das kannte sie schon. Immer wenn sich das Jahr dem Ende näherte, wurde der Igel ausgesprochen schläfrig. Tilda erinnerte sich schmunzelnd, dass er sogar einmal beim Tee eingeschlafen war. Ganz einfach so! Und die Tasse hatte er noch in der Hand!

Als sie nun unter dem Tor hindurch auf den Heckenrosenweg hinaustrat, weiteten sich ihre Augen vor Staunen: Weit über die Dächer des Dorfes hinweg konnte sie ins Land hinausschauen. Sonne und Wolken jagten breite Lichtbänder über das sanfte Auf und Ab der Hügel.

Auf goldwogenden Feldern brachten die Bauern ihre Ernte ein, und in den dichten Hecken ringsum prangten Unmengen reifer Nüsse und Beeren. Aus den Baumkronen weit, weit über ihr segelten Tilda die ersten bunten Blätter entgegen. Wunderhübsche Sterne in Leuchtendrot und Goldgelb.

Und da war Tilda Apfelkern plötzlich klar, was all das nächtliche Getöse zu bedeuten gehabt hatte: Der Herbst war da!

Der große Regen

Von der Kirche über den Marktplatz des kleinen Dorfes war es kein weiter Weg bis zu den Gassen, in denen sich die hübschen Häuser mit ihren bunten Fassaden dicht an dicht nebeneinanderdrängten.

Und trotzdem hatte Tilda es geschafft, ein paar dicke Regentropfen abzubekommen. Es hatte ganz plötzlich zu regnen begonnen. Auf der anderen Seite des Kirchturms hatte sogar noch die Sonne geschienen. Aber dann war es plötzlich immer düsterer geworden, und jetzt regnete es doch tatsächlich in langen Bindfäden vor sich hin.

Ausgerechnet heute hatte Tilda natürlich keinen Schirm dabei! Handtasche, Hut und Schirm, das sollte eine Dame immer bei sich haben, pflegte ihre Urgroßtante Emily zu sagen, und eigentlich hielt Tilda sich auch daran. Eigentlich!

Pudelnass kam sie nun beim Laden an. Er war fast leer, wie sie schon durch die Schaufenster mit den hübschen Butzenscheiben gesehen hatte. Nur zwei Frauen standen zusammen und plauschten mit dem Kaufmann.

Tilda grüßte freundlich, als sie den Laden betrat, erhielt jedoch keine Antwort. Bestimmt hatten die anderen sie gar nicht gehört. Sehr große Leute können sehr kleine Leute schnell mal überhören. Das hatte die weiße Maus schon oft feststellen müssen.

„Die Orangen können warten“, beschloss Tilda Apfelkern, während sie kleine unschöne Pfützen aus Regenwasser auf den Bodendielen hinterließ. Denn wie üblich wollte sie zuerst bei ihrer lieben Freundin Molly vorbeischauen.

Die graue Maus wohnte direkt unter dem Postschalter. Das war ungeheuer praktisch, denn auf diese Weise konnte sie aushelfen, wenn einmal besonders viel zu tun war. Und ganz nebenbei erfuhr Molly immer als Erste, was es Neues im Dorf gab.

Tilda klopfte an Mollys Tür. Dreimal kurz und einmal lang, das war ihr verabredetes Zeichen. Sie hörte, wie Molly aufgeregt durch den Flur trippelte und sich der Schlüssel im Schloss drehte.

„Tilda, dem Himmel sei Dank, dass dir nichts passiert ist!“, rief Molly erleichtert und schloss Tilda in die Arme. Sie machte sich immerzu Gedanken um dieses und jenes, sorgte sich um wirklich alles – von Lirum bis Larum und Löffelstiel. Tilda kannte sie eigentlich gar nicht anders und hielt es für ziemlich wahrscheinlich, dass die gute Molly überhaupt nur deswegen so mausgrau aussah.

„Du bist ja völlig durchweicht!“, sagte die Postmaus, während sie Tilda die Tasche abnahm und ihren Schal vor dem Ofen aufhängte. „So ein entsetzlicher Sturm, nicht wahr?“

„Na, das kann ich dir aber sagen“, bestätigte Tilda. „Kein Auge habe ich heute Nacht zubekommen. Ich habe sogar darüber nachgedacht, ob ich bei Rupert und den Hörnchen nach dem Rechten schauen soll.“ Molly wurde ganz blass um die Nase. „Tilda, du bist doch wohl nicht im Dunkeln vor die Tür gegangen?“

„Aber Liebes, keine Angst. Ich bin ja im Bett geblieben. Und ganz nebenbei bemerkt haben die anderen wohl auch alles gut überstanden. Jedenfalls schliefen sie noch, als ich eben an der alten Eiche vorbeikam.“

„Schön“, nickte Molly, brachte Tilda eine wärmende Decke, die herrlich nach Lavendel duftete, und stellte ihr außerdem einen Becher dampfend heißen Kakao vor die Nase.

Tilda kannte ihre Molly recht genau und sah ihr förmlich an, dass sie irgendwelche Neuigkeiten erfahren hatte und kaum abwarten konnte, sie zu erzählen. Also eröffnete Tilda ihren Plausch genau so, wie sie es immer tat. „Gibt es irgendetwas Neues, hm?!“

Und Molly antwortete, wie sie es immer tat. „Na, und ob! Hör zu.“ Ja, und dann berichtete Molly, was sie im Laden gehört hatte. „Stell dir vor“, erzählte sie, „der Regen heute Nacht ist so schlimm gewesen, dass die Schafe in den Bergen beinahe weggespült worden wären. Und WIR hätten keinen Schafskäse mehr bekommen!“

„Oh, Liebes, das ist ja grauenhaft“, seufzte Tilda.

Molly nippte ungemein bedeutungsvoll an ihrem Tee. Sie war sehr zufrieden mit ihrem Bericht und vor allem mit Tildas Reaktion darauf. Zum Glück ahnten die beiden Mäuse noch nicht, dass der Käse in diesem Herbst nicht ihr größtes Problem sein würde.

Das ganz große Abenteuer sollte nämlich erst noch beginnen.

Tilda hatte noch eine Weile bei Molly gesessen, dann Orangen und Zucker erworben und wollte sich eigentlich auf den Heimweg machen. Doch der verflixte Regen wollte keinen Moment lang nachlassen!

Natürlich bot Molly an, Tilda einen ihrer Schirme zu leihen. Aber mit all den Einkaufstüten hätte Tilda ja gar keine Hand mehr frei, um einen zu halten. Also faltete Molly im Handumdrehen einen Hut aus der Zeitung von heute und stülpte ihn über Tildas große Ohren. Für die paar Meter würde das sicher ausreichen.

Tilda trug ihre Tüten gerade über die alte Steinbrücke, als sie eine Schar Enten am Flussufer entdeckte. Ihnen schien das Regenwetter nicht das Geringste auszumachen. Sie patschten mit ihren großen Füßen in den Pfützen herum, ließen die Regentropfen von ihren ausgebreiteten Flügeln perlen und schnatterten vor lauter Vergnügen. Tilda rief ein „Guten Morgen!“ zu ihnen hinüber.

Immerhin war ja eines dieser Entchen in ihrem Hause aus einem Ei geschlüpft, nachdem Tilda es liebevoll umsorgt hatte. Natürlich war aus dem flauschigen gelben Küken von damals längst eine große stattliche Ente geworden, die fast so weiß war wie Tilda selbst. Trotzdem freute sich die Ente jedes Mal, Tilda zu sehen, und kam gleich zu ihr herübergepaddelt.

„Du liebe Güte“, staunte Tilda. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass der Fluss so hoch steht. Wo kommt denn nur all dieses Wasser her?“

„Ich habe keine Ahnung“, gestand die Ente. „Aber es ist wirklich herrlich, so viel Wasser unter dem Bauch zu haben. Guck mal, was ich machen kann.“ Mit einem Schwups tauchte sie kopfüber unter die Oberfläche, dass nur noch der breite weiße Entenpo und die orangefarbenen Paddelfüße herausragten.

Tilda schnappte vor Überraschung hörbar nach Luft. „Das ist ja FABEL-HAFT!“, quiekte sie stolz, nachdem die Ente wieder aufgetaucht war. Vielleicht, ach, ganz bestimmt hätte Tilda sogar applaudiert, wenn sie nur nicht die Einkaufstüten getragen hätte. Die im Regen übrigens immer matschiger wurden. Und da Tilda nicht sicher war, ob sie noch lange halten würden, machte sie sich lieber schnell auf den Heimweg, bevor ihre Orangen noch über den ganzen Heckenrosenweg kullerten.

Gerade als vom Kirchturm neun Schläge herüberdrangen, lief Tilda wieder an Ruperts Fenstern vorbei. Die Vorhänge waren noch immer zugezogen! Tilda fand es ja nicht schlimm, wenn Rupert lange schlief. Manchmal tat er das bis weit in den Vormittag hinein, und Schlafen ist alles in allem ja eine feine Sache. Aber Tilda konnte es nicht ausstehen, wenn sie dem Igel etwas zu erzählen hatte, es aber nicht konnte … weil er ja schlief!

„Wenn ich bis zehn Uhr noch immer nichts von ihm gehört habe“, beschloss sie, als sie ihre Haustür öffnete, „werde ich ihn anrufen und das Telefon so lange klingeln lassen, bis er wach ist. Ich MUSS schließlich wissen, ob er die Sturmnacht wirklich gut überstanden hat.“

Oh, war das schön, wieder im Trockenen zu sein! Tilda nahm den nassen Papierhut ab. Sie spürte, dass ihr die Kälte von der Schwanzspitze durch den Körper gekrochen war, und wusste, dass das böse enden konnte. Eine Erkältung konnte sie nun wirklich nicht gebrauchen.

Schließlich hatte sie Großes vor. Nun würdet ihr sicher gerne wissen, wie Tilda üblicherweise ihre ganz ausgezeichnete, selbst gemachte Orangenmarmelade kochte. Aber genauso sicher würde Tilda das Rezept nur ausgesprochen ungern verraten. Immerhin handelte es sich um ein altes Familienrezept, und sie hatte es selbst nur unter größten Mühen Urgroßtante Emily entlocken können.

Also schauen wir einfach ein paar Minuten lang nicht so genau hin und machen mit unserer Geschichte an dem Punkt weiter, als der große Topf mit der kochenden Marmelade nach geheimem Rezept bereits auf dem Herd stand und vor sich hin blubberte.

Bevor sie die herrlich duftende Marmelade aber in die blitzblank gewaschenen Gläser einfüllen konnte, musste sie noch ein paar Schilder mit Namen und Datum beschriften, damit sie später auch wusste, welche Marmelade in welchen Gläsern war.

Und wie Tilda so vor sich hin kritzelte, immer und immer das Gleiche, beobachtete sie, wie die Regentropfen einander die Fensterscheiben hinabscheuchten. Dabei summte sie leise vor sich hin. Zunächst einfach irgendwelche Töne, dann eine Melodie. Diese Melodie gefiel Tilda so gut, dass sie beschloss, sich jeden Ton zu merken und sie zu ihrem Regenlied zu machen. Einen Text hatte es natürlich auch. Und der ging so:

Im Regenlied, im Regenlied,

da spielt ’ne Menge Regen mit.

Das muss auch hochnotdringlich sein,

sonst ging es ja um Sonnenschein.

Tilda sang ihr Lied gleich noch einmal und sogar ein drittes und viertes Mal, weil ihr die Arbeit plötzlich viel mehr Spaß machte.

Und ehe sie sich’s versah, stand eine lange Reihe sorgfältig beschrifteter Gläser ihrer ganz ausgezeichneten, selbst gemachten Orangenmarmelade zum Abkühlen auf der Fensterbank. Nun musste sie nur noch kleine Stücke aus kariertem Stoff über die Deckel spannen.

Das war zwar nicht unbedingt nötig, sah aber ohne jeden Zweifel viel, viel netter aus.

Tilda stellte gerade zwei Gläser für Rupert zur Seite, als es an ihrer Haustür klopfte. Ganz so, als hätte der Igel es geahnt, dass Tilda gerade an ihn dachte.

„So ein Wetter!“, schnaubte er, als Tilda die Tür öffnete. „Da überlegt man sich wirklich, ob man nicht einfach im Bett bleiben sollte, nicht wahr? Wirklich, meine Liebe, du solltest mal vor die Tür gehen.“

„Oh, da bin ich schon gewesen“, erklärte Tilda und reichte Rupert eine Tasse Tee. „Ich war sogar schon im Dorf.“ Und dann berichtete sie, was sie alles von Molly erfahren hatte. „Und wenn es so weiterregnet“, beendete sie, „bekommen wir den ganzen Winter hindurch keinen Schafskäse mehr. Ist das nicht furchtbar?“

„Eine Katastrophe“, stimmte Rupert zu. „Aber was mich viel mehr beunruhigt, ist der Fluss. Das Wasser reicht schon bis zur Brücke hinauf, sagst du?“

„Ach, aber schon lange“, nickte Tilda. „Meinst du, das könnte gefährlich werden, Rupie?“

Der Igel schlürfte lautstark von seinem Tee. Was man überhaupt nur tun darf, wenn etwas sehr heiß ist. „Das könnte schon sein. Ich kann mich erinnern, als meine Geschwister und ich noch ganz kleine Igel waren – kleine Nagelbürsten, wie meine Mutter immer zu sagen pflegte –, da gab es auch einmal einen so furchtbaren Regen. Wir hörten es die ganze Nacht hindurch regnen und regnen und regnen, als wollte es niemals wieder aufhören. Meine Familie wohnte damals schon dort.“ Er deutete über die Schulter zu seinem Häuschen tief unter den knorrigen Eichenwurzeln hinüber. „Wir Kinder haben uns ziemlich gefürchtet. Erwähnte ich, dass ich damals noch recht klein war?“

„Ja!“ Tilda nickte. Inzwischen lauschte sie Rupert mit großen Augen.

„Und wie ging es weiter?“

„Oh, das will ich dir sagen. Als wir am nächsten Morgen aufstanden, schien zunächst alles zu sein wie immer. Gut, es war im Haus ein bisschen dusterer als gewöhnlich. Aber wenn es draußen wolkig ist, ist das ja nicht weiter bemerkenswert.

Als meine Mama dann aber durch das Küchenfenster hinausblickte, fiel sie beinahe um vor Schreck. Und was ich dir jetzt erzähle, glaubst du mir nie.“ Rupert senkte die Stimme und rückte verschwörerisch ein Stück näher. „Der Fluss war über die Ufer getreten und hatte das ganze Dorf überschwemmt. Bis hier hinauf zur Eiche. Nur der Kirchturm ragte noch aus dem Wasser.“

Tilda lupfte skeptisch ihre linke Augenbraue. Es stimmte schon – der Fluss verließ manchmal sein Bett. Vor allem im Frühjahr, wenn der Schnee schmolz und das Wasser nicht wusste, wohin. Aber bis zur Eiche war es, soviel sie wusste, noch nie hinaufgekommen.

„Rupie, ich glaube, das denkst du dir aus“, vermutete Tilda.

Rupert schüttelte bestimmt den Kopf. „Aber nie und nimmer! Jedes Wort ist wahr. Ich schwöre es bei den Stacheln auf meinem Kopf. Die Fische sind direkt vor unseren Fenstern vorbeigeschwommen! Und die Enten konnten wir natürlich nur von unten sehen. Tilda? Glaubst du mir etwa immer noch nicht?“

„Nun ja, ich muss wohl, wenn du dir so sicher bist. Aber ist denn das Wasser gar nicht in eure Wohnung hineingekommen?“

„Ein bisschen schon. Zum Glück hatten wir alle Ritzen und Schlitze, jede Lücke und jeden Spalt mit alten Lumpen ausgestopft. Nasse Füße haben wir natürlich trotzdem bekommen. Aber andere Familien mussten ihre Häuser ganz neu aufbauen, nachdem das Wasser wieder abgezogen war. Oh, Tilda, lass uns bloß hoffen, dass es nicht wieder dazu kommt!“

„Klarer Fall. Wir dürfen den Fluss keine Minute aus den Augen lassen!“, stimmte die Maus ihrem stacheligen Freund wild entschlossen zu.