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Über dieses Buch:

Ein finsterer Mann mit einer Rabenmaske bedroht die Bewohner des Hauses Anubis. Mit dem mysteriösen Gral und Ninas Medaillon will er das Grab der ägyptischen Prinzessin Amneris ausfindig machen. Doch um die Schätze des Grabes zu rauben, fehlt ihm noch eine wichtige Person: die Auserwählte! Der Club der Alten Weide versucht, sie vor ihm zu finden, um mit ihrer Hilfe den Fluch zu brechen, der auf Ninas Oma liegt. Die Zeit verrinnt unaufhaltsam, und der Mann mit der Rabenmaske ist den Sibunas stets einen Schritt voraus …

Die Buchreihe zur Nickelodeon-Erfolgsserie – jetzt als eBook!

In der Serie Das Haus Anubis erscheinen bei jumpbooks auch die folgenden eBooks:

Das Haus Anubis: Der geheime Club der Alten Weide

Das Haus Anubis: Das Geheimnis des Grabmals

Das Haus Anubis: Der geheimnisvolle Fluch

Das Haus Anubis: Das Geheimnis der Winnsbrügge-Westerlings

Das Haus Anubis: Die Träne der Isis

Das Haus Anubis: Pfad der 7 Sünden

Das Haus Anubis im Internet:

www.DasHausAnubis.de

www.DasHausAnubis-DerFilm.de

www.studio100.de

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eBook-Neuausgabe April 2016

Copyright © der Originalausgabe 2011 Studio 100 Media GmbH

Text von Claudia Weber und Peter Bondy, basierend auf den Drehbüchern zur TV-Serie Het Huis Anubis von Hans Bourlon, Gert Verhulst und Anjali Taneja

Copyright © der Neuausgabe 2012 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

Titelbildabbildung: © 2012 Studio 100 Media GmbH E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-001-5

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DAS HAUS ANUBIS

Die Auserwählte

Das Buch zur TV-Serie

jumpbooks

1
NINA IN HÖCHSTER GEFAHR

Nina schlug die Augen auf.

Ihr Zimmer sah auf einmal so anders aus, so merkwürdig.

Ihr Schädel brummte, und sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Der Geruch von altem Moder und Weihrauch drang in ihre Nase.

Nur langsam erkannte sie, dass sie sich nicht im Haus Anubis befand, sondern in einem halbdunklen, hohen, unheimlichen Raum. Einem Raum, wie es ihn nur in Kirchen gab. In Burgen oder in Schlössern.

Sie wollte ihre unbequeme Stellung verändern, sich umdrehen, einen Fluchtweg suchen, da begriff sie zu ihrem Entsetzen, dass sie mit Händen und Füßen an einen mächtigen Pfeiler gefesselt war.

Sie wollte laut schreien, doch auch das ging nicht, denn irgendjemand hatte ihr mit einem breiten Klebestreifen den Mund verschlossen.

Was war das denn für ein Albtraum?

Nina kam er viel zu echt vor, obwohl sie von ganzem Herzen hoffte, jetzt, auf der Stelle, in der nächsten Sekunde daraus zu erwachen.

Nur langsam kehrten ihre Erinnerungen zurück. Sie war mit dem Club und den anderen auf einem WochenendCamping-Trip ins Hirschbachtal gewesen, den Luzy, Charlotte und Fotograf Max bei einem Wettbewerb für Schülerzeitungen gewonnen hatten. Sie war ein Stück hinter der Gruppe zurückgeblieben und an einem Abhang stehen geblieben, von wo aus man einen tollen Ausblick auf ein mächtiges, unheimliches Schloss hatte.

Dann musste sie das Gleichgewicht verloren haben. Jedenfalls endete an dieser Stelle ihre Erinnerung.

Wo bin ich hier?, fragte sie sich. War sie im Innern des Schlosses? Und wenn ja, wer hatte sie hergebracht?

Angst schnürte ihr die Kehle zu, und ihr war eiskalt. Gänsehaut lief über ihren Körper wie Tausende kleiner Käfer. Kein Wunder, denn man hatte ihr nur ein dünnes Hemd übergeworfen. War das ein Opfergewand?

Sie hätte so gern geschrien, nur durch den Klebestreifen drang kein einziger verständlicher Ton!

Plötzlich quietschte eine Tür. Sie schaute sich um, doch ein Vorhang verdeckte ihr die Sicht.

»Mmpf!«, stieß sie hervor und hätte gern mit dem Fuß aufgestampft, um auf sich aufmerksam zu machen.

Die Schritte kamen näher, und noch einmal quietschte die Tür. Nina hörte eine Stimme. War das Victor?

Wie wild zerrte Nina an ihren Fesseln.

Da wurde der Vorhang zur Seite gerissen, und vor ihr standen Victor und ein ganz in Schwarz gekleideter Mann mit einer unheimlichen Rabenmaske.

Nina verdrehte nur noch die Augen und sank mit einem Seufzer in Ohnmacht.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf einer Art Altar. Sie war noch immer in dem unheimlichen Raum. Nur hatte man sie auf golden schimmernde Tücher gebettet und ihr die Hände vor dem Bauch gefesselt.

Der Duft nach Weihrauch war noch intensiver geworden, und es brannten sogar einige Kerzen. Sollte sie in diesem seltsamen Raum etwa geopfert werden?

Nina versuchte sich zu wehren, als der Mann mit der Rabenmaske ihr Sarahs Medaillon um den Hals legte, doch sie hatte keine Chance.

Dann riss ihr dieser Fiesling mit der Rabenmaske mit einem Ruck den Klebestreifen von den zarten Lippen.

»Hilfe!«, brüllte Nina aus Leibeskräften. Vor Schmerz, vor Angst, vor Wut. »Hilfe!!!« Ihre Haut brannte wie die Hölle.

Der Mann mit der Rabenmaske lachte. »Schrei nur«, sagte er spöttisch. »Hier auf dem Schloss hört dich niemand.« Er beugte sich vor und rückte Sarahs Medaillon noch einmal zurecht.

Nina verstummte. Wo hatte der Mann das Medaillon her?

Erst jetzt bemerkte Nina, dass jemand hinter ihr stand und ihr die Schultern mit eisernem Griff in die schimmernden Tücher drückte.

Victor!

Der Verwalter steckte also doch hinter der Geschichte. Er musste ihr das Medaillon gestohlen haben. Und auch den Gral. Aber wer war der andere Mann?

Mit einem Mal durchfuhr Nina ein eisiger Schreck der Erkenntnis.

Sie war die Auserwählte!

Sie trug das Medaillon. Und wenn die beiden Männer jetzt auch noch den Gral hatten, würden sie das Ritual vollziehen können, um die magische Wand vor dem Liebesgrab von Amneris und Tutanchamun zu öffnen, das der Legende nach randvoll mit Gold und Edelsteinen war. Ohne Zweifel wollten die beiden es ausrauben. Das durfte Nina auf keinen Fall zulassen.

»Hier ... festhalten!«, befahl der Mann mit der Rabenmaske und riss Nina damit aus ihren verzweifelten Gedanken. Er hielt tatsächlich den Gral in der Hand.

»Nein!« Nina dachte gar nicht daran.

»Tu es!«, drängte ihr Entführer.

»Niemals!« Störrisch verschränkte Nina die Finger ihrer gefesselten Hände.

»Denk an deine Oma«, drohte der Mann mit der Rabenmaske ungeduldig. »Du willst doch auch, dass sie wieder aufwacht, oder?«

Nina schluckte, und ihr brach der Schweiß aus. Der Fluch des Pharaos war schuld daran, dass ihre Großmutter im Koma lag. Und sie selbst hatte ihn wahrscheinlich ausgelöst, als sie den Gral geöffnet hatte. Die Lösung, wie der Fluch aufgehoben werden konnte, befand sich im Liebesgrab. Das hoffte sie zumindest. Doch wenn Victor und sein Komplize das Grab plünderten, würden Tutanchamun und seine Geliebte Amneris niemals in Liebe vereint sein können. Was sollte sie tun? Sie sah ihre Großmutter vor sich, die stumm und gefangen in ihrem eigenen Körper im Krankenbett lag und aus eigener Kraft an der ganzen Situation überhaupt nichts ändern konnte.

Zögernd umfasste Nina den Fuß des Grals.

Der Mann mit der Rabenmaske zwang sie, ihre gefesselten Arme auszustrecken und den Gral, so weit sie konnte, in die Höhe zu halten.

»Endlich«, krächzte der unheimliche Fremde. »Es ist so weit. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.«

Theatralisch breitete er die Arme aus, als wolle er empfangen, was immer sich ihnen nun aus einer anderen Welt zeigen würde.

Ängstlich sah Nina sich um. Ihre Gedanken rasten. Was sollte sie nur tun? Sie musste unbedingt einen Weg finden, um die beiden Männer daran zu hindern, das Liebesgrab auszurauben.

Die Sekunden verrannen, aber es geschah nichts!

Kein Knall, kein gleißendes Licht, keine Rauchschwaden, die durch den Raum waberten, und es erschien schon gar keine magische Wand, die sich wie von Zauberhand teilte und den Blick auf die unermesslichen Schätze des Liebesgrabs freigab.

Alles blieb, wie es war.

Der Mann mit der Rabenmaske wurde sichtlich nervös. »Und jetzt?«, fragte er wütend. »Ich verstehe das nicht. Es ist doch alles richtig so.«

»Stimmt etwas nicht?«, erkundigte sich Victor unsicher.

»Irgendetwas passt nicht«, schimpfte der unheimliche Fremde. »Wir haben die Auserwählte, wir haben den Gral und das Medaillon! Jetzt muss uns doch eigentlich mitgeteilt werden, wo dieses verdammte Grab ist!«

Nina spürte, dass ihre letzte Chance gekommen war. Sie wusste nicht, was die Männer mit ihr machen würden, wenn sie sich als nutzlos erwies. Immerhin hatte sie Victor erkannt. Würde er sie einfach wieder laufen lassen?

»Hilfe!«, schrie sie erneut aus Leibeskräften. »Hilfe! Hilfe!!!«

Und diesmal wurde sie offenbar gehört. Von draußen trommelten Fäuste gegen die Tür, die in den geheimen Raum des Schlosses führte.

»Nina!«, rief jemand. Es war Luzy.

Dann hörte sie Daniels Stimme. »Nina!«

Noch nie in ihrem Leben war Nina so erleichtert gewesen. Ihre Freunde hatten sie gefunden.

Aber so einfach gab der Mann mit der Rabenmaske nicht auf. Blitzschnell presste er Nina die Hand auf den Mund. Sie bekam keinen Ton mehr heraus.

»Schnell!«, rief der unheimliche Fremde Victor zu. »Die Tür!«

Hektisch schaute Victor sich um. Dann griff er nach einem Stuhl, um ihn unter die Klinke zu schieben. Doch die Lehne war einfach zu hoch.

Von draußen wurde immer noch gegen die Tür getrommelt.

»Nein, den Kerzenständer, Idiot!«, schnauzte der Mann mit der Rabenmaske und eilte Victor zu Hilfe. Er musste unbedingt verhindern, dass jemand die Tür öffnete und ihn auf frischer Tat ertappte. Das wäre das Ende all seiner Pläne gewesen.

Nina reagierte unterdessen blitzschnell. Sie drehte sich zur Seite und schob den Gral mit ihren gefesselten Händen unter die schimmernden Tücher, die den Altar bedeckten.

»Los! Ich brauche Wasser!«, rief der Mann mit der Rabenmaske, während er Victor den Kerzenständer entriss und ihn eigenhändig unter die Klinke rammte. »Und ein Glas! Zack, zack!«

Nina hörte, wie ihre Freunde sich draußen an der Tür zu schaffen machten. Sie versuchten bestimmt, mit allen Mitteln zu ihr zu kommen.

Gleich würde sie in Sicherheit sein.

Victor kam mit einem Glas Wasser zurück. »Was ist das?«, fragte er nervös, als der Mann mit der Rabenmaske aus einem Hohlraum in seinem Ring ein weißes Pulver hineinschüttete.

»Etwas, was ihr Gedächtnis ausschaltet«, erwiderte der unheimliche Fremde.

Nina wollte das Wasser nicht trinken. Doch Victor packte ihren Kopf, und der Mann mit der Rabenmaske hielt ihr die Nase zu, bis sie den Mund öffnen musste, um Luft zu holen. Dann flößte er ihr Schluck für Schluck das Wasser mit dem aufgelösten Pulver ein.

Draußen waren jetzt wuchtige Schläge zu hören. Irgendjemand hatte sich offenbar einen massiven Gegenstand besorgt, um die Tür aufzusprengen.

Ich muss durchhalten, dachte Nina verzweifelt. Gleich sind die anderen bei mir.

Doch sie spürte bereits, wie das seltsame Pulver seine Wirkung tat.

Die Schläge gegen die Tür wurden in ihrem Kopf zu einem Dröhnen. Die beiden Männer schienen sich plötzlich wie in Zeitlupe zu bewegen, ihre Stimmen klangen, als kämen sie von einem zu langsam laufen Tonband. Der Altar unter ihr begann zu schwanken.

Ich darf jetzt auf keinen Fall ohnmächtig werden, dachte Nina.

Es war ihr letzter Gedanke.

Dann versank alles um sie herum in tiefer Schwärze.

Draußen hämmerte Daniel immer noch wie wild gegen die Tür. »Nina!«, rief er. »Nina!«

Doch die massive Tür hielt stand. Auch Felix und Luzy hatten versucht, mit ein paar schweren Gegenständen das dicke Holz einzuschlagen, hinter dem ihre Freundin Nina offensichtlich gefangen gehalten wurde.

Aber es schien aussichtslos. Was sollten die drei nur tun?

Im selben Moment näherten sich hinter ihnen Schritte.

Daniel fuhr herum. »Herr Radus!«, rief er überrascht und zugleich erfreut, den Lehrer zu sehen.

»Was ist los?«, fragte der Lehrer und trat zu der Gruppe. »Wo ist Nina?«

»Herr Radus, bitte helfen Sie uns!«, schrie Luzy hysterisch. Sie war völlig aufgelöst. »Nina ist da drin. Die Tür ist zu. Wir können nicht rein!«

»Ganz ruhig, Luzy. Ganz ruhig. Ich versteh kein Wort«, erwiderte der Lehrer ruhig.

»Nina ... wir haben sie schreien hören.« Daniel war sehr aufgeregt. »Aber die Tür ist abgeschlossen.«

Herr Radus trat einen Schritt vor und klopfte kräftig gegen das schwere Holz der Tür. »Victor!«

Verblüfft sahen die anderen drei ihren Lehrer an. Woher wusste er, dass Victor sich in dem Raum befand?

Radus schlug nun etwas heftiger gegen die Tür. »Victor! Machen Sie auf!«

»Victor ist da drin?«, fragte Luzy verblüfft.

»Ist der Typ taub?«, meinte Felix. »Wir klopfen hier schon die ganze Zeit.«

»Er hat mich angerufen«, erklärte Herr Radus fast entschuldigend. Noch einmal schlug er gegen die Tür. »Victor!«

Und dann, endlich, wurde die Tür geöffnet. Vor ihnen stand tatsächlich Victor.

Sofort strömten alle an ihm vorbei und beugten sich über Nina, die mit einer groben Wolldecke zugedeckt war.

»Nina!«, rief Daniel besorgt.

Auch Luzy konnte nicht fassen, was sie da sah. »Nina«, flüsterte sie eindringlich und rüttelte ihre Freundin an der Schulter. Doch die rührte sich nicht.

»Warum haben Sie denn nicht aufgemacht?«, wandte sich Daniel ärgerlich an Victor.

»Wir haben die ganze Zeit gegen die Tür gehämmert«, schimpfte Felix.

»Ja, ich ...«, stotterte Victor, »... ich habe eine Decke gesucht.«

Luzy musterte den Verwalter misstrauisch. »Sie müssen uns doch gehört haben!«

»Vielleicht zu dicke Wände«, versuchte Victor sich herauszureden.

»Wie lange ist sie schon bewusstlos?«, wollte Radus wissen.

»Eigentlich schon die ganze Zeit«, erwiderte Victor.

»Aber sie hat doch gerade eben noch geschrien«, wandte Luzy ein.

Victor wand sich wie ein Aal. »Ja, sie ist ganz kurz zu sich gekommen.«

»Und wie geht es ihr nun?«, erkundigte sich Daniel besorgt.

»Ich fürchte ... nicht so gut ...«, meinte Herr Radus düster.

»Rufen wir die 112«, entschied Luzy.

Man sah, wie Victor das Herz buchstäblich in die Hose rutschte. »Einen Krankenwagen?«, fragte er entsetzt.

»Ja, klar«, stimmte Herr Radus zu.

Nina lag immer noch vollkommen reglos vor ihnen.

»Warum haben Sie nicht aufgemacht?«, beharrte Daniel, dem die ganze Situation ausgesprochen missfiel.

»Daniel! Schluss jetzt«, unterbrach ihn der Lehrer. »Victor hat mich doch angerufen.«

»Sie können mir nicht erzählen, dass ...«, holte Luzy erneut aus.

Doch Radus unterbrach sie. »Ende der Diskussion.« Er griff nach seinem Handy. »Ihr geht jetzt lieber zu Herrn Altrichter.« Dann wandte er sich ab und rief einen Krankenwagen.

»Nina!«, flehte Luzy. »Bitte wach auf!«

»Daniel, du musst sie küssen«, schlug Felix allen Ernstes vor. »Dann kommt sie wieder zu sich.«

»Felix«, antwortete Daniel genervt. »Das hier ist kein blödes Märchen.«

»Probier’s doch wenigstens mal«, beharrte Felix.

In diesem Moment trat Radus wieder zu den Schülern. »So, der Krankenwagen kommt. Und ihr geht jetzt zu Herrn Altrichter.«

»Ich bleibe hier!«, entschied Daniel.

»Ich verstehe ja, dass du dir Sorgen machst«, versuchte Herr Radus Daniel zu beruhigen, »aber das hat jetzt keinen Sinn. Also komm ...«, sagte er noch einmal und schob die drei mit sanfter Gewalt aus dem Raum. »Ich kümmere mich um sie. Versprochen.«

Nach einem letzten Blick auf Nina, die wie aufgebahrt und völlig regungslos auf dem Altar lag, verließen Luzy und Felix widerstrebend den Raum.

Daniel drehte sich noch einmal zu Nina um. Wäre es nicht seine Pflicht, bei ihr zu bleiben?

Doch auch ihn beförderte Herr Radus hinaus. »Ich kümmere mich um sie«, versprach er erneut.

Es dauerte nicht lange, bis die drei Herrn Altrichter und die anderen im würzig duftenden Wald gefunden hatten. Sofort bestürmten sie den Direktor mit ihren Erlebnissen.

»... und dann haben wir sogar ein Schwert genommen, um die Tür einzuschlagen«, berichtete Felix aufgewühlt. »Die war jedoch aus so dickem Holz ...«

»Und Nina war laut Victor die ganze Zeit bewusstlos«, fiel Luzy ihm ins Wort. »Aber wir haben sie doch schreien hören ...«

Beschwörend hob Herr Altrichter die Hände, denn er verstand kein einziges Wort mehr. »Otium cum digitale!«, sagte er. »Einer nach dem anderen – und bitte ruhig!«

Plötzlich meldete sich ein Handy mit einem ziemlich altmodischen Klingeln.

»Hat hier jemand Empfang?«, fragte Herr Altrichter überrascht.

»Ja ... Sie!«, meinte Felix trocken.

»Ich?« Sofort begann Herr Altrichter in den vielen Taschen seiner Outdoorweste zu wühlen und förderte schließlich ein ziemlich großes und aus der Mode gekommenes Mobiltelefon zutage.

»Klar! Ist ja typisch. Er hat natürlich Empfang – mit seinem Handy aus der Steinzeit«, meinte Felix genervt zu Daniel und Luzy.

»Altrichter«, meldete er sich schließlich, nachdem er den Knopf zum Einschalten gefunden hatte. »Altrichter hier! Hallo?« Niemand schien sich zu melden. Aber dann kam doch noch eine Verbindung zustande. »Ah!«, seufzte der Lehrer erleichtert. »Altrichter, ja.«

Unterdessen hatten sich die Mitglieder vom Club der Alten Weide zusammengefunden und steckten die Köpfe zusammen.

»Was ist denn los?«, wollte Delia wissen. »Wie geht’s Nina?«

»Wir wissen es nicht«, erwiderte Luzy besorgt. Sie wandte sich an Daniel, der auf einem Feldstein saß und dumpf vor sich hin starrte. »Daniel? Alles okay bei dir?«

»Ja, ja«, wehrte der genervt ab. »Lass mich einfach mal einen Moment in Ruhe.«

»Sie ist also bewusstlos«, stellte Delia fest.

Luzy nickte. »Ja ... es ist alles so merkwürdig. Sie ist bewusstlos, aber sie hat nichts! Und Victor war auch total komisch.«

»Victor war da?«, fragte Delia verblüfft.

»Ja ... und er hat uns angeblich nicht gehört«, meinte Felix. »Diese Geschichte stimmt hinten und vorn nicht.«

»Denkt ihr ... der Fluch?«, fragte Delia nach einem Moment des Schweigens.

Doch bevor die anderen antworten konnten, ertönte die Stimme von Herrn Altrichter durch den Wald: »Silentium! Silentium!«, rief er, um sich Gehör zu verschaffen. »Das war Herr Radus. Nina wird ins Krankenhaus gebracht, und wir fahren alle mit dem Bus zurück. Unser Zeltlager ist leider beendet!«

»Aber ...«, begann Daniel.

Doch Herr Altrichter ließ sich nicht beirren. »Bitte in Zweierreihen aufstellen. Wir fahren zusammen nach Hause. Kommen Sie. Etwas Bewegung bitte.«

Wenig später saßen alle in dem alten Bus des Internats und winkten Victor zu, der verzweifelt versuchte, sie noch einzuholen. Aber jeder gönnte es der alten Übelkrähe, dass sie nach Hause hüpfen musste. Und keiner kam auf den Gedanken, Herrn Altrichter oder den Fahrer darauf aufmerksam zu machen, dass draußen jemand völlig außer Atem und wild mit den Armen fuchtelnd hinter ihnen herkeuchte. Wer zu spät kam, den bestrafte das Leben.

Daniel bekam von all dem nicht viel mit. Noch einmal las er die letzten Zeilen, die Nina ihm in ihrem Brief geschrieben hatte.

... Ich hoffe, dass du mir vergeben kannst. Daniel ... Du warst immer der Einzige für mich ...

Betrübt faltete Daniel den Brief zusammen.

Charlotte entging Daniels miese Stimmung nicht, und sie setzte sich auf die andere Seite des Ganges neben ihn. »Hey«, meinte sie mit einem mitfühlenden Lächeln.

»Hi.« Daniel rang sich ein kurzes Lächeln ab.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Charlotte nach.

»Geht so.« Daniel ließ ziemlich den Kopf hängen.

»Und jetzt habt ihr euch gerade erst wieder versöhnt.« Charlotte seufzte.

»Ich weiß.«

Dann schwiegen die beiden. Es gab einfach nichts mehr zu sagen, und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, während der Bus sie zurück zum Haus Anubis fuhr.

Dort wurden sie gleich von der besorgten Rosie empfangen. »Ach du liebe Zeit, Kindchen«, sagte sie und umarmte Delia. »Ist alles in Ordnung bei euch? Herr Radus hat es mir gerade erzählt.«

»Wissen Sie etwas Neues?«, wandte sich Daniel an den Lehrer, der offensichtlich schon vor ihnen zurückgekehrt war.

Herr Radus nickte. »Nina liegt im Krankenhaus. Und dort wird sie wahrscheinlich auch eine Weile bleiben müssen.«

»Ist sie ... ist sie wieder bei Bewusstsein?«, wollte Daniel wissen.

Herr Radus schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Die Ärzte wissen auch nichts Genaues. Wir werden einfach abwarten müssen. Tut mir sehr leid. Ich hätte gern bessere Neuigkeiten für euch.«

Alle schauten ziemlich betreten vor sich hin, als plötzlich die Tür aufging und Victor hereingetaumelt kam.

Verblüfft starrte Rosie ihn an. »Victor? Wie siehst du denn aus?«

Der Verwalter sah wirklich aus, als habe er versucht, in einem Misthaufen sein Schwimmabzeichen zu machen.

»Ihr Satansbraten!«, fluchte er. »Ich wollte doch mit in den Bus!«

»Echt?«, gab sich Delia unschuldig. »Wir dachten, dass Sie uns hinterherwinken.«

»Natürlich nicht!«, schnauzte Victor.

Auch Herr Radus konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Wie sind Sie dann hierhergekommen?«

»Per Anhalter«, knurrte Victor. »Mit einem Schweinebauern.«

»Was für ein Tag«, bemerkte Herr Altrichter, und auch um seine Mundwinkel zuckte es verräterisch. »Was für ein Tag. Na zum Glück haben Sie Nina gefunden. Wo lag sie denn überhaupt?«

»Unten in der Schlucht«, erwiderte Victor gereizt.

»Da haben wir sie nicht gesehen«, stellte Daniel fest.

»Da lag sie aber!«, beharrte Victor.

Delia schüttelte entschieden den Kopf. »Das kann nicht sein!«

»Ich geh mich dann mal waschen«, murmelte Victor und wollte möglichst schnell verschwinden, um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, hielt ihn Herr Altrichter an der Schulter zurück. »Sie scheinen ziemlich durcheinander zu sein.«

Doch Victor riss sich los. »Mir geht es ausgezeichnet!«, erklärte er und stapfte wütend davon.

Die Nacht hatte sich über das Haus Anubis gesenkt. Draußen heulte der Wind. Daniel saß auf Ninas Bett und las wieder und wieder den Brief, den sie ihm geschrieben hatte: Du warst immer der Einzige für mich, Daniel. Deine Nina

Die anderen hatten sich im Sibuna-Kreis auf den Boden gesetzt.

»Daniel?«, erkundigte sich Luzy. »Kommst du?«

Daniel zögerte.

Luzy stand auf und setzte sich neben ihn auf Ninas Bett. »Na, komm schon. Wir wollen das nicht ohne dich machen.«

Daniel schüttelte den Kopf. »Wir können das nicht ohne Nina machen.«

»Gerade für Nina musst du dabei sein«, erklärte Luzy entschieden und erhob sich. »Los, komm!«

Daniel folgte ihr zu den anderen in den Kreis.

»Sie wacht wieder auf«, sagte Delia. »Ganz sicher!«

»Aber wir müssen zusammenhalten«, erklärte Luzy und sah Daniel fest in die Augen. »Okay?«

»Schön!«, meinte Felix zufrieden. »Willkommen zurück.«

»Pssst!«, fiel Delia ihm ins Wort.

Erschrocken lauschten alle ins Halbdunkel des Zimmers. Doch nirgendwo im Haus war auch nur das geringste Geräusch zu vernehmen.

»Ich dachte, ich hätte was gehört«, entschuldigte sich Delia. »Wir müssen zu Nina.«

»Und dann?«, fragte Luzy.

Daniel nickte. »Delia hat recht, wir müssen ins Krankenhaus.«

»Ja, sag ich doch«, erklärte Delia.

»Einfach mal nachsehen«, fügte Daniel hinzu. »Vielleicht ist sie ja schon wach. Oder es steht etwas auf der Karte an ihrem Bett. Wir müssen unbedingt etwas tun. So schnell wie möglich.«

»Wir kommen hier doch nicht weg«, gab Felix zu bedenken.

»Nicht alle«, meinte Daniel, »aber zu zweit müsste es hinhauen.«

»Und wer soll gehen?«, fragte Delia.

»Wir knobeln es aus«, schlug Felix vor und hatte auch schon ein paar verschieden lange Strohhalme in der Hand.

Luzy und Delia zogen die längsten.

Ohne zu zögern drückte Luzy Daniel ihren Strohhalm in die Hand. »Du musst gehen.«

Daniel lächelte dankbar.

»Ins Krankenhaus?« Delia machte ein ziemlich entsetztes Gesicht. Das war ein Ort, an den man sie eigentlich nur im betäubten Zustand schaffen konnte. Klar war ihr die Sache plötzlich überhaupt nicht mehr geheuer. »Und was ist, wenn sie doch nicht mehr aufwacht?«

»Dann ist es der Fluch«, meinte Luzy düster.

Aber Daniel winkte ab. »Es gibt keine Flüche«, erklärte er. »Und wenn, dann müssen wir die Rätsel lösen ... für Nina!«

»Für Nina!«, sagten die anderen im Chor und hielten sich dem Schwur gemäß das linke Auge zu. »Sibuna!«

Es war dunkel auf den Fluren des Krankenhauses, und Daniels Turnschuhe quietschten unangenehm laut auf dem Linoleumfußboden, als er sich dem Schwesternzimmer näherte.

Delia hatte sich hinter einer Ecke versteckt und beobachtete ihn erst einmal aus sicherer Entfernung. Es roch wie in allen Krankenhäusern, und sie mochte diese merkwürdige Luft überhaupt nicht.

»Guten Abend«, wandte sich Daniel höflich an die diensthabende Nachtschwester. »Können Sie mir bitte sagen, wo Nina Martens liegt?«

Die Schwester lachte, und es klang nicht unbedingt freundlich. »Die Besuchszeit ist seit ungefähr ...«, sie nahm eine Uhr aus der Kitteltasche und warf einen beinahe ungläubigen Blick darauf, »... acht Stunden vorbei.«

»Ich ... ich will sie ja auch gar nicht besuchen«, stammelte Daniel. »Ich will nur wissen, wo sie liegt.«

Die Schwester musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Bist du mit ihr verwandt?«

Daniel kam immer mehr in Bedrängnis. »Nein«, gestand er. »Sie ist meine Freundin.«

Die Schwester seufzte. »Es tut mir leid. Solche Informationen dürfen wir nur direkten Familienmitgliedern geben.« Sie hielt kurz inne. Dann sagte sie: »Komm doch bitte morgen ... äh ... heute Vormittag noch einmal vorbei.«

»Aber ...«, begann Daniel, doch der Blick der Schwester ließ ihn verstummen. Er seufzte. »Ja, schon gut. Danke. Schönen Abend noch.«

Damit schlich er davon, während die Schwester ihm mit einem milden Lächeln hinterherblickte.

Als er Delias Versteck erreichte, sah die ihm sofort an, dass etwas schiefgegangen war. »Sie will mir nicht sagen, wo Nina liegt«, berichtete er niedergeschlagen.

»Das steht doch garantiert in ihren Akten«, meinte Delia leise.

»Bestimmt.« Daniel nickte. »Aber die geht da im Leben nicht weg.«

Delia kniff die Augen zusammen und presste fest die Fingerspitzen auf ihre Schläfen.

»Was machst du?«, wollte Daniel verblüfft wissen.

»Pssst!«, erwiderte Delia. »Ich denke nach ... und ich hab auch schon eine Idee!«

Daniel verstand kein Wort, aber er ließ sich von Delia packen und den Gang hinunterziehen. Irgendetwas musste ihr eingefallen sein.

Und so war es auch.

Wenige Minuten später kam ein seltsames Paar den Krankenhausflur entlang. Die junge Frau – die übrigens eine verblüffende Ähnlichkeit mit Delia hatte, von der auch der schwarz-weiß gepunktete Hut und das grüne Kleid nicht ablenken konnten – saß in einem Rollstuhl, den ein junger Mann in einem Trenchcoat schob. Er hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen.

»Hilfe!«, keuchte die junge Frau, als die beiden abrupt vor dem Schwesternzimmer bremsten. »Helfen Sie mir!«

»Bekommen Sie Ihr Kind?«, fragte die Nachtschwester völlig überrumpelt.

»Nein«, erwiderte Delia, und es klang klar und deutlich, »ich habe eine Wassermelone verschluckt! Und zwar ohne zu kauen!« Sie verdrehte die Augen. »Meine Güte, natürlich bekomme ich mein Kind. Holen Sie einen Arzt!«

»Haben Sie Wehen?«, erkundigte sich die Schwester.

»Ja, ganz regelmäßig«, erwiderte Daniel mit verstellter Stimme.

Misstrauisch blickte die Schwester auf. »Sie kommen mir bekannt vor.«

»Ganz unmöglich«, entgegnete Daniel und verstellte seine Stimme noch mehr.

»Wenn Sie nicht sofort einen Arzt holen«, mischte sich Delia wieder in die Diskussion ein, und ihre Stimme klang überzeugend hysterisch, kriege ich mein Kind noch hier!«

Nun wurde der Schwester die Sache allmählich doch zu heiß. »Ich gehe ja schon«, murmelte sie und eilte davon.

Kaum waren sie allein, blätterte Daniel in den Unterlagen, die auf einem Schreibtisch lagen. »Nina Martens ...! Fünfte Etage, Zimmer 506, Neurologie.«

»Da liegt ihre Oma auch, auf der Neurologie«, meinte Delia.

»Komm!«, drängte Daniel.

Mit Leichtigkeit sprang die angeblich hochschwangere Delia aus dem Rollstuhl auf und folgte Daniel den Krankenhausflur entlang zum Treppenhaus.

Als die Nachtschwester mit dem diensthabenden Arzt um die Ecke bog, waren die beiden längst verschwunden.

Sie hatten mittlerweile sogar die Neurologie erreicht und standen bereits vor Ninas Zimmer. Leise öffneten sie die Tür und traten auf Zehenspitzen in den Raum.

Da lag sie.

»Nina!«, flüsterte Delia und musste die Tränen zurückhalten. Schnell streifte sie sich Hut und Jacke ab, während Daniel zart nach der Hand seiner Freundin griff.

Ninas Augenlider fingen an zu flattern. Sie schien darauf zu reagieren.

»Ja«, wisperte Delia. »Ja!«

Nina öffnete die spröden, ausgetrockneten Lippen, als wolle sie ihnen etwas sagen.

Doch da ertönte hinter ihnen eine scharfe Stimme: »Was macht ihr denn hier?«

Erschrocken fuhren Delia und Daniel herum.

In der Tür stand Herr Radus

2
AUSGELÖSCHT

Nina hatte keine Ahnung, wo sie sich befand.

Alles um sie herum war so weiß, so steril – und so völlig fremd. Sie hatte keine Ahnung, wie sie hierhergekommen war.

Das einzig Vertraute waren die Gesichter von Delia, Daniel und Herrn Radus.

»Wo bin ich?«, fragte Nina. Ihre Stimme war nur ein leises Krächzen.

»Du liegst im Krankenhaus«, erklärte Daniel.

»Was ... was ist passiert?« Nina merkte, dass sie sich an absolut nichts erinnern konnte.

»Du bist in eine Schlucht gefallen«, erklärte Herr Radus. Er trat näher und schob Delia und Daniel zur Seite. »Leute, bedrängt sie nicht so«, sagte er. »Sie ist gerade erst aus dem Koma aufgewacht.«

»Victor ...«, stammelte Nina, die kaum die Augen offen halten konnte.

»Was ist mit Victor?«, hakte Delia sofort nach.

»Leute, sie braucht Ruhe!«, mischte Herr Radus sich eindringlich ein. Es schien ihm überhaupt nicht recht zu sein, dass Delia und Daniel so viele Fragen stellten.

Doch Daniel ließ sich davon nicht abschrecken. »Was war mit Victor? Was hat er gemacht?«

»Geburtstag ...« Nina konnte sich nur an einzelne Bilder erinnern.

»Victors Geburtstag?«, fragte Delia erstaunt.

»Wir waren auf einem Schulausflug«, versuchte Daniel seiner Freundin zu helfen, die Erinnerung zurückzuholen. »Du bist plötzlich verschwunden, aber ...«

»Schulausflug?«, fragte Nina verwundert, doch schon im nächsten Moment war sie wieder eingeschlafen.

»Nina!«, drängte Daniel leise.

Aber Nina hörte ihn nicht mehr.

»Was ist denn hier los?«, ertönte plötzlich eine ärgerliche Stimme von der Tür her. Es war die Nachtschwester.

Die drei fuhren herum.

»Wir wollten nur kurz nach ihr schauen«, versuchte Delia zu erklären. Damit konnte sie die Schwester allerdings nicht besänftigen.

»Dafür gibt es Besuchszeiten«, lautete die scharfe Antwort. »Die Patientin braucht Ruhe.«

»Die zwei gehören zu mir«, meldete sich in diesem Moment Herr Radus zu Wort. »Das sind Ninas beste Freunde.«

»Okay, ausnahmsweise«, sagte die Nachtschwester etwas freundlicher. »Beim nächsten Mal bitte anmelden, ja?«

»Die beiden versprechen, dass es nicht noch einmal passiert«, stellte sich der Lehrer vor seine Schüler. »Okay?«

Delia und Daniel nickten eifrig.

So ganz schien ihnen die Schwester nicht zu glauben, aber sie verließ trotzdem das Krankenzimmer.

»Und jetzt ab nach Hause mit euch«, flüsterte Herr Radus verschwörerisch, »bevor Victor dahinterkommt.« Er lächelte den beiden aufmunternd zu.

Das ließen sich Delia und Daniel nicht zweimal sagen. Sie ahnten ja nicht, in wessen Händen sie ihre Freundin Nina zurückließen.

Wenig später schlich Daniel in das Zimmer, das er mit Kaya und Benny teilte. Er wollte die beiden nicht wecken.

Doch während er vorsichtig aus Hemd und Hose schlüpfte, richtete sich Kaya in seinem Bett auf.

»Pssst, Daniel«, wisperte er. »Wo kommst du her?«

»Ich war bei Nina.«

»Im Krankenhaus?«, wollte Kaya wissen.

Daniel nickte.

»Und?«

Daniel warf einen Blick hinüber zu Bennys Bett, um ganz sicher zu sein, dass er bereits schlief. »Sie ist gerade zu sich gekommen«, flüsterte er dann. »Aber sie hat anscheinend alles vergessen.«

»Wie meinst du das?«

»Sie dachte, heute wäre Victors Geburtstag«, erklärte Daniel leise.

Keinem der beiden Jungen fiel auf, dass auch Benny in der Zwischenzeit aufgewacht war und aufmerksam ihrem Gespräch folgte.

»Victors Geburtstag?«, meinte Kaya verblüfft. »Der ist doch schon fast eine Woche her.«

»Ich weiß«, erwiderte Daniel, »aber sie hat anscheinend alles vergessen.«

Dann zog er sich schnell zu Ende aus und schlüpfte ins Bett.

Benny schloss die Augen. Ein zufriedenes Lächeln spielte um seine Lippen.

Er hatte einen Plan.

»Nina!«

Nina schrie aus Leibeskräften und schlug wild um sich.

»Nina, du träumst!«, sagte Benny. »Wach auf. Es ist alles gut. Ich bin bei dir, mein Liebling.«

Keuchend riss Nina die Augen auf. Vor ihr stand Benny, der sie liebevoll anlächelte.

Ihr Benny.

Schweißgebadet klammerte sie sich an ihn und musste erst einmal wieder zu Atem kommen.

»Ganz ruhig, mein Schatz«, sagte Benny und strich ihr über das verschwitzte Haar. »Du bist in Sicherheit. Es war nur ein böser Traum. Ich bin bei dir.«

Benny drehte sich um und nahm einen Blumenstrauß von einem kleinen Beistelltisch. »Den habe ich dir mitgebracht«, sagte er selbstzufrieden.

»Wie lieb von dir«, erwiderte Nina, die sich langsam beruhigte und ihn zärtlich küsste. »Es war so schrecklich … Da war Victor. Er hat seine Hände nach mir ausgestreckt.«

Benny lachte. »Hier gibt es keinen Victor. Und sollte er es wagen, tatsächlich aufzutauchen, werde ich ihn persönlich hinauswerfen.«

Verliebt sah Nina zu Benny auf. »Wahrscheinlich habe ich nur von ihm geträumt, weil er heute Geburtstag hat.«

»Wahrscheinlich«, stimmte Benny ihr zu und nickte ernst.

Als Daniel mit einem Blumenstrauß in der Hand den Krankenhausflur entlangkam, wurde er gleich von der Schwester abgefangen, die ihn sofort erkannte.

»Kann ich dir helfen?«, erkundigte sie sich.

»Ich wollte nur kurz nach Nina sehen«, erklärte er.

»Dann musst du schon bis zur Besuchszeit warten«, belehrte ihn die Schwester.

»Aber dann bin ich in der Schule«, entgegnete Daniel.

»Es tut mir leid.« Die Frau lachte gekünstelt. »Das sind die Regeln. Außerhalb der Besuchszeiten dürfen nur Familienangehörige vorbeikommen.«

»Ich bin ihr Freund«, ließ Daniel nicht locker.

Wieder lachte die Schwester leicht überheblich. »Netter Versuch«, entgegnete sie. »Aber ihr Freund ist schon da.«

»Wie bitte?« Ungläubig drängte Daniel sich an der Krankenschwester vorbei, um einen Blick in Ninas Zimmer zu werfen.

Entsetzt trat er zurück.

Dort auf dem Bett, ganz nah bei Nina, saß ... Benny!

Und noch viel schlimmer war der verliebte Blick, mit dem Nina ihn ansah. Seine Nina!

Er wollte auf ihr Bett losstürzen, doch die Krankenschwester hielt ihn zurück.

»Nein, du kannst nicht zu ihr!«, erklärte sie entschieden und stellte sich ihm in den Weg.

»Was machst du hier?«, zischte Daniel wütend.

Benny legte den Finger auf die Lippen, denn Nina war gerade dabei, wieder ein wenig einzuschlafen.

Leise kam er auf Daniel zu.

Die Krankenschwester rührte sich vorsichtshalber nicht von der Stelle. Sie hatte das Gefühl, dass es besser war zu bleiben, um unter Umständen zwei Streithähne trennen zu können.

»Was machst du hier?«, fragte Daniel noch einmal.

»Das siehst du doch«, erwiderte Benny lässig. »Ich bin bei meiner Freundin.«

»Bei deiner Freundin?« Daniel konnte es nicht fassen.

»Ich finde es echt nett von dir, dass du kurz vorbeigekommen bist, Daniel, aber ... es ist wohl besser, wenn du jetzt gehst«, erklärte Benny. »Denn Nina braucht wirklich Ruhe.«

»Aber ich ...«, begann Daniel.

»Komm doch morgen wieder«, schlug Benny vor. »Wenn sie geschlafen hat, darf sie sicher mehr Besuch bekommen, nicht wahr, Schwester?«

Die Schwester nickte, und Benny ging zurück zu Ninas Bett.

Was sollte Daniel tun?

Nur ein paar Meter von ihm entfernt lag Nina in ihrem Krankenhausbett, und er konnte nicht zu ihr. Schlimmer noch, sie schien sich nicht einmal daran zu erinnern, dass er ihr Freund war. Dass sie sich liebten.

Hatte sie den Brief wirklich vergessen? Wusste sie nicht mehr, was nach Victors Geburtstag geschehen war?

Und wenn sie sich nun nie wieder daran erinnern würde? Daniel ertrug den Gedanken nicht. Aber ihm war auch klar, dass er an diesem Abend dort nichts mehr würde ausrichten können.

Resigniert wandte er sich ab und verließ mit schwerem Herzen das Krankenhaus.

»Liebe Susi, ich kann ohne dich nicht mehr leben. Ich brauche irgendein Zeichen, dass du es genauso siehst«, las Luzy aus einem Leserbrief an die Schülerzeitung vor.

»Wow«, meinte Delia beeindruckt. »Wie romantisch.«

»Das ist schon der fünfte Brief, den er mir schickt«, stellte Luzy fest.

»Nicht dir, sondern der lieben Susi«, korrigierte Delia.

»Ich habe aber das Gefühl, dass er mich meint«, erwiderte Luzy.

»Oder mich«, wandte Delia ein.

»Vergiss es, Delia«, sagte Luzy, und der leichte Spott in ihrer Stimme war nicht zu überhören. »Wer so romantisch schreibt, kann gar nicht dich meinen.«

Die beiden Mädchen schwelgten so in ihren Fantasien, dass sie überhaupt nicht bemerkten, wie sich auf leisen Sohlen der Fotograf ihrer Zeitung näherte.

»Wieder der Casanova?«, erkundigte er sich.

»Was willst du, Max?«, fragte Luzy.

»Ich hab mich gefragt, ob ich nicht doch noch schnell ins Krankenhaus gehen sollte«, sagte er. »Ein paar Fotos von Nina machen, für die Unfallstory.«

»Das kannst du dir sparen«, erklärte Daniel, der gerade zur Tür hereinkam.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte Delia, als sie Daniels Gesicht sah.

Daniel ließ sich neben Luzy auf die Couch fallen. »Ich wollte gerade Nina besuchen, aber ich durfte nicht zu ihr«, berichtete er.

»Geht es ihr nicht gut?«, erkundigte sich Luzy besorgt.

»Es geht ihr gut«, schnaubte Daniel, »aber ihr Freund ist gerade bei ihr.«

»Du bist doch ihr Freund«, entgegnete Delia. Sie verstand mal wieder überhaupt nicht, worum es ging.

»Na, vor ihrem Blackout war ich es zumindest«, widersprach Daniel. »Aber daran kann sie sich nicht mehr erinnern. Jetzt ist Benny bei ihr!«

»Was?« Nun fiel auch bei Delia der Groschen.

»Oh!«, stöhnte Luzy voller Mitleid.

»Hm, du hast doch den Brief«, fiel Delia plötzlich ein.

Verwirrt sah Daniel sie an.

»Den Brief, den sie dir im Bus gegeben hat«, erklärte Delia.

»Genau«, sagte Daniel und schöpfte plötzlich wieder Hoffnung. »Wenn sie den liest, dann ... dann weiß sie, wie es wirklich ist. Ich hole ihn gleich. Danke, Delia.«

Sofort sprang Daniel auf und lief hinaus.

Der Brief war seine Rettung.

»Geht es?«, fragte Benny und stützte Nina, während sie einen Schluck trank.

»Danke«, antwortete Nina und legte sich wieder zurück in die Kissen. »Benny?«, sagte sie dann.

»Ja?« Benny setzte sich zu ihr auf die Bettkante.

»Ist Daniel böse auf mich?«, wollte Nina wissen.

Benny zögerte nur kurz. »Ich denke, dass er noch nicht so gut damit klarkommt, dass wir zusammen sind«, sagte er. »Und das ist doch eigentlich verständlich, oder?«

Nina nickte, auch wenn ihr der Gedanke nicht besonders behagte.

»Schlaf du jetzt erst mal schön, meine Süße«, versuchte er sie wieder abzulenken. »Du brauchst viel Ruhe.«

Nina lächelte. Wie liebevoll ihr Freund Benny sich doch um sie kümmerte. Außerdem war sie auch wirklich schrecklich müde.

Nur im Halbschlaf bekam sie noch mit, wie die Schwester Benny eine Tüte mit den Dingen übergab, die sie bei sich gehabt hatte, als sie ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Aber sie wusste nicht, ob sie das alles vielleicht nur träumte.

Und deswegen sah sie auch nicht, wie Benny das Amulett aus der Tüte zog und wie sich ein fieses Grinsen über sein Gesicht ausbreitete, als er begriff, was er da in seinen Händen hielt.

»Er ist weg! Ich hab ihn verloren!« Verzweifelt durchwühlte Daniel wieder und wieder alle seine Sachen.

»Wenn du mir sagst, wonach du suchst, kann ich dir vielleicht helfen«, bot Kaya an.

»Ich suche den Brief!«, erwiderte Daniel und wurde von Sekunde zu Sekunde unruhiger.

»Welchen Brief?« Kaya begriff überhaupt nicht, was Daniel meinte.

»Na, den von Nina. Ich meine den Brief, in dem sie sich bei mir entschuldigt«, erklärte Daniel. »Sie hatte ihn mir im Bus gegeben. Ich muss ihn finden.«

»Und warum?«

»Weil er beweist, dass sie Benny abserviert hat«, sagte Daniel.

»Dann würde ich mal sehr gut suchen«, ertönte plötzlich Bennys Stimme von der offenen Tür her.

Ungläubig drehten sich Daniel und Kaya zu ihm um.

»Nina und ich sind nämlich noch zusammen«, behauptete Benny mit süffisantem Grinsen, »und wir beide sind ja so glücklich.«

Daniel schluckte. Dann verließ er wortlos das Zimmer.

Kaya folgte ihm, doch als er vor Benny stand, warf er ihm einen abschätzigen Blick zu. »Du bist und bleibst eine miese Ratte!« Dann ging auch er.

Kaum hatten seine beiden Mitbewohner das Zimmer verlassen, zog Benny den kleinen Tresor unter seinem Bett hervor, in dem er alle Dinge aufbewahrte, die ihm wichtig waren.

Er schloss ihn auf und verstaute als Erstes das Medaillon, das ihm die Schwester im Krankenhaus gegeben hatte. Niemand sollte es in die Hände bekommen.

Danach holte er einen Umschlag aus dem kleinen Metallkasten. Es war der Brief, den Daniel eben noch so verzweifelt gesucht hatte.

Er faltete ihn auseinander und las spöttisch und mit mädchenhafter Stimme den Anfang: Lieber Daniel ...

Böse grinsend schüttelte Benny den Kopf. »Daniel, Daniel, ganz schön leichtsinnig von dir, dass du diesen Brief nicht ordentlich versteckt hast.«

In seiner Selbstzufriedenheit bemerkte er nicht, dass Luzy an der Tür stand und jedes einzelne Wort mithörte, das er gerade von sich gab.

3
EIN KOSTBARER BRIEF

»Hey, was macht ihr denn hier?«, fragte Charlotte überrascht, als sie zusammen mit Luzy schmutzige Wäsche in den Waschraum brachte und Daniel und Kaya dabei erwischte, wie sie die Körbe mit der Wäsche durchwühlten.

Etwas verlegen drehte Kaya sich um. »Wir suchen einen Brief«, erklärte er.

»Den Brief, der beweist, dass Nina Benny abserviert hat«, fügte Daniel hinzu, der sich nun auch umgedreht hatte, die Hände immer noch tief in einem Korb mit Schmutzwäsche. Um den Brief zu finden, würde er alles tun.

»Aber ... den Brief hat Benny«, meinte Luzy.

»Woher weißt du das?«, fragte Daniel entgeistert.

»Ich bin an eurem Zimmer vorbeigegangen, und da hab ich gehört, wie er ihn vorgelesen hat«, berichtete Luzy. »Er ist in einer Kiste unter seinem Bett.«

Kaya schritt auf Luzy zu und drückte ihr einen dicken Kuss auf den Mund. »Du bist großartig!«, rief er, ohne Charlotte zu bemerken, die dieser Kuss mitten ins Herz getroffen hatte. Wie gern hätte sie ihn selbst auf ihren Lippen gespürt.

»Aber wie kommen wir an den Brief ran?«, bremste Daniel die allgemeine Begeisterung.

Daran hatte bisher noch keiner gedacht. Betreten sahen sie einander an. Sie brauchten unbedingt eine Idee, und zwar schnell.

»Ich hau ihm einfach eine runter«, meinte Kaya schließlich. »Das wollte ich sowieso schon die ganze Zeit ...«

»Nein, so wird das nichts«, widersprach Daniel. »Vor allem, wenn er mitkriegt, dass wir von dem Brief wissen.«

»Ich weiß was!«, meldete sich Luzy plötzlich zu Wort. »Ich rufe einen Fotografen an.«

Die anderen verstanden zwar nur Bahnhof, aber Kaya meinte grinsend: »Also, wenn du das auf die Reihe kriegst, dann bist du echt die coolste Frau der Welt.«

Luzy strahlte übers ganze Gesicht. »Los geht’s, Lotte! Die Wäsche kann warten.«

Grinsend folgten die beiden Jungs den Mädchen aus dem Waschraum.

Tatsächlich gelang es Luzy und Charlotte, den eitlen Benny zu einem »total professionellen« Shooting für das Cover der nächsten Ausgabe der Schülerzeitung zu überreden. Schließlich sei er ja so etwas wie der neue Hausmeister, und auf diesem Wege könnten ihn dann alle in der Schule gleich besser kennenlernen.

Und während Benny sich von Max in den verschiedensten Posen ablichten ließ – er stieg sogar in ein Superman-Kostüm und nahm irgendwelche dämlichen Flugpositionen ein –, durchsuchte Luzy die Jacke ihres Opfers … und wurde tatsächlich fündig.

Im Zimmer der Jungen warteten Daniel und Kaya schon außer sich vor Ungeduld, als endlich die Tür aufsprang und Luzy hereinkam.

»Hast du den Schlüssel?«, drängte Daniel.

Mit einem zufriedenen Quieken hielt Luzy ihm das Objekt der Begierde entgegen.

»Und wo ist die Kiste?«, fragte Kaya.

»Unter seinem Bett«, antwortete Luzy. »Da muss er drin sein.«

»Los«, forderte Kaya seinen Freund auf.

Schnell kniete Daniel sich hin und tastete den Boden unter dem Bett ab. Und tatsächlich! Schon nach wenigen Sekunden bekam er die Kiste zu fassen.

Sie war sehr stabil gebaut, wie eine Art kleiner Tresor. Doch das war kein Problem, denn der Schlüssel passte, und so war das Ding schon im nächsten Moment geknackt.

Ungeduldig griff Daniel hinein und erwischte als Erstes eine Kette. Er ahnte, worum es sich handelte, und zog sie vorsichtig durch die Öffnung.

Er hatte sich nicht getäuscht. An der Kette baumelte das Medaillon.

Dann warf er Luzy einen vielsagenden Blick zu.

»Und was ist das?«, wollte Kaya wissen.

»Ninas Lieblingskette«, erwiderte Daniel.

Luzy verzog das Gesicht. »Wo hat er die denn her?«

»Keine Ahnung«, meinte Daniel. »Auf jeden Fall hat er sie jetzt nicht mehr«, fügte er hinzu und steckte das Medaillon vorsichtig ein.

Dann griff er erneut in die Kiste … und holte Ninas Brief heraus.

»Bingo!«, rief Daniel begeistert und erleichtert zugleich.

Doch in dem Moment flog die Zimmertür auf und Benny kam herein. Er hatte Lunte gerochen und fluchtartig das »professionelle Shooting« verlassen, weil er ahnte, was er jetzt vorfand.

»Diebe!«, rief er empört. »Ich hole Victor«, drohte er dann großmäulig. »Und Herr Altrichter wird auch davon erfahren.«

Während Daniel zunächst beschämt zu Boden blickte, weil er sich auf frischer Tat ertappt fühlte, ließ Luzy sich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen.

»Tu, was du nicht lassen kannst, Benny«, meinte sie schnippisch. »Herr Altrichter wird sich sicher sehr freuen, wenn er hört, dass der Hausmeister ein armes krankes Mädchen belügt.«

Bennys Gesichtsausdruck wechselte von überheblich zu unsicher.

»Hör mir genau zu«, erklärte Daniel und erhob sich drohend. »Wenn ich dich noch einmal in Ninas Nähe sehe, dann sorge ich dafür, dass Altrichter alles erfährt.«

»Und dann gibt es noch einen Ort auf der Welt, wo du dich nicht mehr sehen lassen kannst«, fügte Kaya hinzu.

Was Benny daraufhin ausstieß, konnte man nur noch als wütendes Grunzen bezeichnen. Er wusste, dass er diesmal verloren hatte.

Wütend stürmte er aus dem Zimmer.

Die drei anderen lachten.

»Genialer Plan!«, lobte Kaya und klatschte mit Luzy ab. »Und ihn auch noch in ein Superman-Outfit zu stecken!« Voller Begeisterung umarmte Kaya die strahlende Luzy, nahm ihren Kopf in die Hände und küsste sie auf den Mund. Ausgerechnet in diesem Moment kam Charlotte an der offenen Zimmertür vorbei.

Schlechtes Timing!

Wortlos drehte sie sich um und verschwand wieder in die Richtung, aus der sie gekommen war. Sollten die anderen doch feiern. Was hatte sie mit der ganzen Sache schon zu tun? Es war so gemein!

Obwohl es bereits sehr spät war, machten Delia und Daniel sich umgehend auf den Weg ins Krankenhaus. Sie wollten keine Sekunde verlieren.

Endlich konnten sie alles aufklären, und vielleicht würde der Brief Nina sogar helfen, sich daran zu erinnern, wer sie entführt und in das Schloss gebracht hatte.

Daniel war überglücklich und ungeduldig zugleich. Und auch Delia konnte es kaum erwarten, ihrer Freundin einen Beweis vorzulegen, was tatsächlich in der Zwischenzeit passiert war.

Schon kurz darauf liefen Delia und Daniel den Krankenhausflur zu Ninas Zimmer entlang, als Daniel plötzlich die überraschte Delia packte und sie hinter einen Mauervorsprung zerrte.