Cover

Über dieses Buch:

Damit hatten die Sibunas nicht gerechnet: Außer Mara ist plötzlich auch Daniel in höchster Gefahr. Die Freunde sind verzweifelt. Was auch immer sie tun, um den beiden zu helfen, geht schief. Zum ersten Mal will Nina wirklich aufgeben, doch dann kehrt ihr schlimmster Gegner zurück: Zeno Trabas. Und er ist zu allem bereit, um die Träne der Isis vor Nina und ihren Freunden in seine Finger zu bekommen …

Die Buchreihe zur Nickelodeon-Erfolgsserie – jetzt als eBook!

In der Serie Das Haus Anubis erscheinen bei jumpbooks auch die folgenden eBooks:

Das Haus Anubis: Der geheime Club der Alten Weide

Das Haus Anubis: Das Geheimnis des Grabmals

Das Haus Anubis: Die Auserwählte

Das Haus Anubis: Das Geheimnis der Winnsbrügge-Westerlings

Das Haus Anubis: Die Träne der Isis

Das Haus Anubis: Pfad der 7 Sünden

Das Haus Anubis im Internet:

www.DasHausAnubis.de

www.DasHausAnubis-DerFilm.de

www.studio100.de

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eBook-Neuausgabe April 2016

Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer und Andrea Kluitmann, bearbeitet von Igor Hartmann und Andreas Guni

Copyright © der Originalausgabe 2012 Studio 100 Media GmbH

Text von Susanne Picard, basierend auf den Drehbüchern zur TV-Serie Het Huis Anubis von Hans Bourlon, Gert Verhulst und Anjali Taneja

Copyright © der eBook-Ausgabe 2012 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

Titelbildabbildung: © 2012 Studio 100 Media GmbH

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-005-3

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Das Haus Anubis

Die Träne der Isis

Das Buch zur TV-Serie

jumpbooks

1
DER ANFANG VOM ENDE

Entsetzt stand Nina vor Mara und Daniel. Die beiden lagen bewusstlos am Boden, und nichts und niemand konnte sie wecken!

»Daniel ...!«, flüsterte Nina zum wiederholten Mal. Sie kniete sich neben ihn und nahm sein Gesicht in die Hände. Doch ihr Freund wollte einfach nicht aufwachen. Er war wie tot.

Auch Mara bewegte sich kein Stück. Sie hatte die Augen geschlossen und reagierte so wenig auf Ansprache wie Daniel.

Ratlos sah Nina ihre Freundinnen Delia und Luzy an, die mit ihr zusammen ins Internat gestürmt waren. Was war nur passiert?

Auf einmal hörte Nina einen entsetzten Schrei. Rosie, die Haushälterin des Internats, war gerade aus dem Garten gekommen und stand nun fassungslos in der Eingangshalle.

»Was ist passiert?«, jammerte sie und wollte zu ihnen laufen. »Meine armen Kleinen!«

Luzy sprang auf. Das fehlte gerade noch, dass Rosie jetzt aufkreuzte!

Luzy stellte sich zwischen die Haushälterin und die Freundinnen. »Schnell, wir brauchen einen Notarzt!«, rief sie drängend.

Kreidebleich hastete Rosie die Treppe hinauf in Victors Büro.

Nina folgte ihr mit den Blicken und schaute dann zu Delia. »Mara hat den Stein angefasst! Wir müssen das Gift von ihren Händen entfernen!«, sagte sie entschieden. »Hol Spülmittel! Wenn die Sanitäter Maras rote Hände sehen, stellen sie uns bestimmt irgendwelche Fragen!«

Delia stürzte sofort in den Putzraum, um Reinigungsmittel zu holen.

Als Rosie die Treppe wieder herunterkam, verbarg Nina die Flasche mit der Scheuermilch unter ihrem weiten Mantel. Gut, dass sie immer noch ihr Kostüm vom verpatzten Weihnachtsmusical trug! Sie wechselte einen Blick mit Luzy, die sofort wieder zu Rosie ging und diese in die Küche brachte, um ihr einen Tee zu machen und sie so lange abzulenken, bis die Rettungshelfer kamen.

Nina schien es eine Ewigkeit zu dauern, dann hörte sie endlich die Sirene eines herannahenden Krankenwagens.

Es klingelte.

Delia, die die Flaschen mit den Reinigungsmitteln rechtzeitig wieder an ihren ursprünglichen Ort gebracht hatte, öffnete die Tür und ließ die Sanitäter herein. Rosie war wieder aus der Küche gekommen. Sie zitterte wie Espenlaub.

Hastig stand Nina auf und zog Delia mit sich, um dem Rettungsdienst Platz zu machen.

Vorsichtig hoben die Sanitäter zuerst Mara und danach Daniel auf eine Trage.

»Wie ist das passiert?«, wandte sich der Notarzt an Nina.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie begriff, was der Mann von ihr wollte. Sie schüttelte hilflos den Kopf. »Ich weiß es nicht. Wir haben sie so gefunden!«

Der Arzt nickte grimmig und schob Daniel mithilfe seines Kollegen zur Tür.

»Ich komme mit!«, sagte Nina plötzlich.

Erst wollte der Arzt abwehren, doch er bemerkte die Sorge in Ninas Gesicht. »Na gut«, antwortete er. »Dann komm.«

Nina folgte ihm rasch.

»Ich komme mit dem Rad nach!«, rief Delia.

Nina hörte das schon gar nicht mehr. Die Tür des Krankenwagens war bereits hinter ihr zugefallen.

Ängstlich lief Nina neben den Sanitätern her, die Daniel auf der Trage in die Ambulanz des Krankenhauses schoben. Den ganzen Weg in die Klinik hatten die Sanitäter ihren Freund untersucht, seine Lungengeräusche abgehört, seinen Puls gefühlt und seine Reflexe getestet. Sie hatten Ninas drängende Fragen nicht beantworten können. Als die Pfleger Daniel nun in den Behandlungsraum schoben, wollte Nina ihm auch dorthin folgen.

Ein Notarzt hielt sie zurück. »Tut mir leid. Bitte warte hier.«

Entsetzt blickte Nina über die Schulter des Mannes in das Zimmer, in dem Daniel nun an Schläuche und ein Atemgerät angeschlossen wurde. In diesem Moment kam auch Delia keuchend angerannt. Sie war auf ihrem Fahrrad so schnell wie möglich hinter den Sanitätern hergefahren. Bevor Nina sie jedoch begrüßen konnte, sprach der Notarzt sie noch einmal an.

»Ich möchte, dass du genau überlegst, was passiert sein könnte. Auch das kleinste Detail kann lebenswichtig sein.«

Nina warf Delia, die hinter dem Arzt stand, einen fragenden Blick zu, bevor sie zögernd antwortete. Als Delia das sah, begann sie wilde Grimassen zu schneiden. Nina konnte erraten, was sie dachte. Sie durfte den Club nicht verraten – aber die Ärzte mussten doch wissen, wie Daniel und Mara zu behandeln waren!

»Ich ... ich glaube, dass … dass Mara vielleicht vergiftet wurde«, stammelte sie und warf der entsetzten Delia einen entschuldigenden Blick zu.

Der Arzt runzelte die Stirn. »Gift? Wie kommst du darauf? Was für ein Gift?«

Nina schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Mehr weiß ich nicht.«

Das reichte dem Arzt nicht, allerdings fragte er auch nicht weiter. »Danke trotzdem«, sagte er und verschwand im Behandlungsraum.

Nina schluckte. Nun hieß es warten.

Nina wusste nicht, wie oft sie bereits auf die geschlossene Tür des Behandlungsraums gesehen hatte, ohne zu hören oder zu erfahren, was dahinter vor sich ging. Auch Delias Gegenwart und die Versuche, ihrer Freundin, sie mit Keksen aus dem Automaten abzulenken, waren vergeblich.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als auf einmal Luzy und Magnus den Flur der Notaufnahme entlanggelaufen kamen.

»Wisst ihr schon was?«, rief Luzy ihnen entgegen.

Nina schüttelte bedrückt den Kopf. »Nein. Sie wollten uns nichts sagen. Wir sollen Geduld haben!«

Das Fünkchen Hoffnung schwand aus Luzys Gesicht.

Auch Magnus war mittlerweile dazugekommen. »Ihr erzählt mir jetzt sofort, was hier los ist!«, schrie er wütend. »Ich habe die Schnauze voll von euren Spielchen! Was ist mit Mara?«, fragte er drohend, und Nina wich unwillkürlich einen Schritt zurück.

Doch Magnus gab nicht nach. »Und sagt nur nicht, dass ihr nicht wisst, worum es geht!«, fügte er hinzu, als er erkannte, wie Delia und Nina sich Hilfe suchend anschauten.

»Wir haben wirklich keine Ahnung!«, sagte Delia schließlich kleinlaut.

Magnus glaubte ihr kein Wort. »Ihr sagt mir sofort die Wahrheit oder ich kann für nichts mehr garantieren!«

Am liebsten wäre Nina auf der Stelle in einem Erdloch verschwunden. Sie schämte sich, ohne genau zu wissen, wofür. Sie konnte verstehen, wie Magnus sich fühlte, durfte ihm aber nichts sagen! In diesem Moment sah sie erleichtert, wie sich die Tür des Behandlungsraums öffnete und der Arzt, der die beiden untersucht hatte, heraustrat.

Sofort stürzte Magnus auf ihn zu. »Liegt Mara hier? Mara Minkmar? Was hat sie?«

Geduldig wandte der Doktor sich ihm zu. »Sie hat eine schwere Gehirnerschütterung und wird eine Weile hierbleiben müssen, aber sonst scheint alles in Ordnung zu sein.«

Magnus seufzte und legte kurz die Hände vors Gesicht.

Auch Nina atmete auf. Mara war nichts Schlimmes passiert! Vielleicht wurde alles gut.

Sie trat einen Schritt vor. »Wissen Sie auch schon, was mit Daniel ist?«

Der Notarzt, der beim Anblick von Magnus’ Erleichterung ein wenig hatte lächeln müssen, wurde ernst. »Da habe ich leider keine guten Neuigkeiten«, antwortete er. »Wir haben alles versucht, es ist uns jedoch noch nicht gelungen, ihn wieder zu Bewusstsein zu bringen. Daniel liegt im Koma … Es tut mir leid«, fügte er hinzu, als er bemerkte, wie blass Nina geworden war.

Nina spürte, wie eine kalte Hand nach ihrem Herzen griff. »Können Sie denn gar nichts für ihn tun?«, fragte sie mit erstickter Stimme.

»Wir können leider nichts machen, außer seinen Zustand zu beobachten. Aber ihr könnt helfen«, sagte er mit einem aufmunternden Lächeln. »Indem ihr ihn besucht und mit ihm sprecht. Vielleicht wacht er dann wieder auf.«

Nina konnte nur nicken. Der Kloß in ihrem Hals saß zu fest. Keinen Laut hätte sie herausgebracht.

Sie sah gar nicht, dass Magnus sich jetzt auf Mara stürzte, die aus dem Zimmer geschoben wurde, oder dass Rosie angelaufen kam und Luzy nach Hause abholte.

Sie wusste nur, sie würde so lange in Daniels Nähe bleiben, wie es nötig war.

Erbost stieß Victor Emanuel Rodemer, Hausverwalter des Internats »Haus Anubis«, die Tür zu seinem Kellerlabor auf. Konnte es wirklich wahr sein, was Luzy und Rosie ihm gerade erzählt hatten, als sie zur Tür hereingekommen waren? Hatte sein Vater all die Drohungen wahr gemacht, die er den Kindern – der Schlangenbrut, wie er sie auch nannte – gegenüber ausgestoßen hatte?

»Vater?«

Er rannte auf den großen Wandspiegel zu und blieb mit geballten Fäusten davor stehen.

»Vater, was ist mit den Kindern passiert? Vater?«

Nichts rührte sich. Erst als Victor noch einen Schritt auf den Spiegel zuging, flackerte schwach eine Gestalt hinter dem halb blinden Glas auf.

»Du ... du hast ... gar nichts verstanden!«, grollte eine Stimme, die tiefer und drohender klang als die des Hausverwalters. »Ich komme hier nicht weg ohne das kleine Haus.«

Victor ging nicht auf diesen Hinweis ein. »Was hast du mit Mara und Daniel gemacht?«

»Das war nicht ich, du Einfaltspinsel!«, keuchte die Gestalt hinter dem Spiegel, die fast so aussah wie Victor selbst. »Aber ich habe jemanden gesehen«, fuhr er fort und wurde wieder blasser. »Er hat Mara getragen!«

»Wen?«, flüsterte Victor erschrocken. Waren er und die Kinder nicht die Einzigen, die hinter der Träne der Isis her waren?

»Das weiß ich nicht!«, antwortete sein Vater wütend. »Ein Mann ... mit Kapuze!« Er rang nach Luft.

»Vater, was ist denn los?«, wollte Victor wissen.

»Du musst das Miniaturhaus finden! Schnell! Meine Kräfte schwinden ...!«

»Aber wo soll ich denn suchen?«, fragte Victor verwirrt.

»Das musst du schon selbst herausfinden, wenn du deinen toten Vogel wiedersehen willst!«, röchelte Victor Senior. Mit diesen Worten verschwand er ganz in die Dunkelheit hinter dem Glas.

Victor starrte den leeren Spiegel an, in dem er sich selbst nur noch verschwommen erkennen konnte.

»Ein Mann mit Kapuze«, dachte er laut.

Immerhin ein kleiner Hinweis ...

Morten Vierstein konnte nicht anders. Überaus selbstzufrieden schlug er die Kapuze seines grauen Sweatshirts, das er wie immer unter seiner Lederjacke trug, zurück und zog eine winzige Phiole mit einer klaren Flüssigkeit aus der Tasche.

Sein Auftraggeber, der Ägyptologe Zeno Trabas, hob seinen Blick von der Miniaturversion des Internats Haus Anubis zu seinem Freund und Helfer. Der Dank und die Vorfreude in seinen Augen waren Vierstein eine Genugtuung. Die Mühen hatten sich gelohnt. »Endlich, jetzt gehört die Träne der Isis mir!«

»Luzy sagt, man muss die Flüssigkeit in diesen Schornstein gießen«, sagte Vierstein und wies mit dem Finger auf den Schornstein über der Dachkammer.

Feierlich nahm Trabas das Fläschchen aus Viersteins Hand.

»So lange haben wir gewartet«, murmelte er leise. »Und nun ... ist der Augenblick gekommen.«

Mit diesen Worten entstöpselte er die Phiole und schüttete die Flüssigkeit darin so vorsichtig, wie er es mit seinen zitternden Fingern zuwege brachte, in den Schornstein des Miniaturhauses.

Gespannt schauten er und Vierstein zu, wie sich nach einigen Sekunden ein wenig Rauch aus dem Schornstein zu kräuseln begann. Dann sirrte und klackte es geheimnisvoll im Innern des Hauses. Eine Feder, die das Dach auf den Wänden gehalten hatte, sprang auf.

Langsam klappte Trabas das Dach zurück und spähte hinein. Aber, was er erwartet hatte, war nicht da.

»Was ist das?«, keuchte Trabas verwirrt und holte etwas aus dem Häuschen.

Vierstein kam näher heran. Er war neugierig. Wie die Träne der Isis wohl aussah?

Doch Trabas hielt keinen Edelstein in der Hand. Nur eine winzige Truhe, deren Deckel man aufklappen konnte. Und die Truhe war leer!

Keine Träne? Vierstein war verwirrt.

»Nein!«, schrie Trabas auf, als habe man ihn tödlich verwundet. »Nein, nein!« Seine Rufe gingen in schweres Husten über. Er bekam keine Luft!

Schnell griff Vierstein nach der Atemmaske des alten Mannes und streifte sie ihm über Mund und Nase. Schon nach wenigen Sekunden wurde Trabas’ Atem ruhiger.

Die Verwirrung allerdings blieb.

Wenn die Träne der Isis nicht in diesem Häuschen war – wo war sie dann?

»Wir ... wir müssen weitermachen«, sagte Trabas erschöpft, als sein Atem sich wieder beruhigt hatte.

»Aber wie?« Vierstein war ratlos.

»Ich habe ... nicht mehr viel Zeit«, keuchte Trabas. »Wenn wir die Träne der Isis nicht bald finden, bin ich in ein paar Wochen ...«

Schon die wenigen Worte waren für den Kranken zu viel gewesen. Ein Hustenanfall schüttelte seinen geschwächten Körper. Vierstein zog es das Herz zusammen. Es fiel ihm nicht leicht, seinen Auftraggeber so leiden zu sehen.

»Was soll ich tun?«, fragte er leise und erhöhte die Sauerstoffzufuhr, damit Zeno Trabas besser atmen konnte.

»Luzy«, hauchte dieser und drückte Vierstein die kleine Holzkiste in die Hand, die er aus dem Miniaturhaus genommen hatte. »Sie muss uns weiterhelfen!«

2
DIAGNOSE: KOMA

Müde setzte sich Nina auf einen der unbequemen Plastikstühle, auf denen sie mit Delia bereits die ganze Nacht zugebracht hatte. Er war, wie alle anderen, nicht einmal gepolstert. Dass Wartezimmer in Krankenhäusern aber auch immer so ungemütlich sein mussten! Die Zeitschriften auf dem Tischchen zwischen ihrer Freundin und sich selbst hatte sie schon hundertmal angefasst und wieder fortgelegt, sogar Delia konnten die neuesten Schlagzeilen über die It-Girls und die Hollywoodberühmtheiten nicht mehr ablenken. Ninas Freundin hatte zwischendurch geweint, das war an den schwarzen Mascaraspuren in ihrem blassen Gesicht deutlich zu sehen.

Nina seufzte niedergeschlagen. Noch immer gab es keine Neuigkeiten von Daniel, auch der Arzt hatte sich seit gestern Abend nicht mehr blicken lassen. Tränen stiegen in Nina auf, als sie an all die Erlebnisse dachte, die Daniel und sie geteilt hatten und die so wunderschön gewesen waren. Der Augenblick, als sie sich das erste Mal gestanden hatten, wie toll sie einander fanden – und der Kuss danach! Der Augenblick, als Nina wegen ihrer kranken Oma so traurig gewesen war und sie sich so einsam gefühlt hatte – und Daniel ihr versprochen hatte, dass er sie nie allein lassen würde. Und der Augenblick, als Daniel ihr gestanden hatte, er würde ihr alles verzeihen, sogar eine vermasselte Teilnahme am Physikwettbewerb ...

Verzweifelt versuchte Nina, an etwas anderes zu denken, trotzdem kehrten ihre Gedanken immer wieder an ihre gemeinsamen Momente mit Daniel zurück. Glücklicherweise kam in diesem Moment Luzy den Gang entlanggelaufen. Ihre Absätze klapperten so laut auf dem Linoleumboden, dass Nina aus ihren schmerzvollen und dennoch so schönen Gedanken aufschreckte.

»Gibt’s schon was Neues?«, fragte Luzy ängstlich.

Traurig schüttelte Nina den Kopf und versank erneut in ihren Gedanken.

Doch nicht für lange, denn plötzlich schrie ihr jemand ins Ohr: »Buh!«

Sie fiel fast vom Stuhl, so sehr zuckte sie zusammen. Und nicht nur sie, auch Delia erwachte auf einmal aus ihrer Lethargie.

»Oh Mann, Felix!«, maulte die Blondine. »Das ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt zum Erschrecken!«

»Wollte ich ja gar nicht!«, klang es dumpf neben Nina. »Ich komm einfach nicht mehr raus!«

Nina sah auf. Neben ihr stand eine Gestalt, die von Kopf bis Fuß in weiße Mullbinden eingewickelt war. Nur ein Augenschlitz war freigelassen, und die große schwarze Brille, die auf der eingepackten Nase saß, verriet, wer sich unter den Bandagen befand: Felix Gaber.

Umständlich ließ er einen Rucksack und zwei Flaschen Apfelsaft in Ninas Schoß plumpsen. »Proviant«, verkündete er durch die Verbände hindurch, die sogar seinen Mund bedeckten.

Trotz ihrer trüben Stimmung musste Nina grinsen.

»Für alle, die bisher Zweifel hatten: Es gibt nur eine Person, die so eine bescheuerte Aktion bringt!«, sagte Luzy und wies grinsend auf die Mumie. Auch sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Das ist ganz schön unpraktisch, Felix!«, schmunzelte Nina und spähte in den Rucksack, den Felix ihr gegeben hatte. Mehrere Erdnussbutter- und Käsebrote waren darin sowie ein paar Stücke von Rosies Marmorkuchen. »Danke!«

Selbst unter den Verbänden war zu sehen, dass Felix grinste, als er die Daumen hochstreckte.

»Hast du gefragt, ob du die Verbände einfach so nehmen darfst?«, fragte Luzy.

»Na ja ...« Felix zögerte mit der Antwort.

»Hab ich mir fast gedacht«, sagte Luzy und wies auf eine grün gekleidete Gestalt, die in diesem Moment am Ende des Flurs auftauchte. Felix wandte sich um, so gut es ging, und flüchtete sofort.

Der Pfleger rannte hinterher.

Typisch Felix!, dachte Nina. Sie schaute erneut in den Rucksack. Eigentlich hatte sie keinen Appetit, aber der Kuchen sah sehr verlockend aus. Sie wollte sich gerade ein Stück nehmen, als sie ein Türenklappen direkt vor sich hörte. Der Notarzt, Dr. Brink, hatte Daniels Zimmer verlassen.

Sie vergaß den Proviant und sprang gleichzeitig mit Delia auf.

»Und? Wissen Sie schon mehr?«

Dr. Brink seufzte. »Das Positive ist, sein Zustand hat sich nicht verschlechtert.«

»Und das Negative?«, entgegnete Delia mit großen Augen. »Was ist das Negative?«

Der Arzt machte ein besorgtes Gesicht. »Wir wissen nicht, wo wir suchen sollen. Daniel zeigt keine Reaktion auf jegliche Reize.«

Nina musste schlucken. Sie konnte nicht sprechen. Felix’ Rucksack hatte sie an sich gedrückt, als wolle sie sich schützen.

»Reize?«, fragte Delia. »Was denn für Reize? Piksen und Kneifen?«

»Wir beobachten ihn sehr aufmerksam. Sobald er irgendeine Reaktion zeigt, werde ich euch sicher informieren.«

»Können wir vielleicht zu ihm?«, fragte Nina.

Dr. Brink nickte und öffnete die Tür. Er ging als Erster ins Krankenzimmer und blieb neben Daniels Bett stehen.

Nina, Delia und Luzy folgten ihm, blieben allerdings in respektvoller Entfernung zurück. Daniel lag in einem weiß bezogenen Bett. Er hatte eine Atemmaske auf der Nase, Schläuche und Drähte aller Art verbanden seinen Körper mit Maschinen, die seinen Herzschlag, seinen Blutdruck und seine Hirnströme errechneten. Ein Monitor piepte regelmäßig. Immerhin ein Zeichen, dass er tatsächlich noch am Leben war!

»Kommt ruhig näher«, sagte Dr. Brink. »Ihr braucht keine Angst zu haben, ihr stört ihn nicht.« Er lächelte Nina an und verließ leise das Zimmer.

Durch die Regelmäßigkeit der Pieptöne ein wenig beruhigt, trat Nina ans Bett heran.

»Er sieht so aus, als würde er einfach schlafen«, bemerkte sie beinahe staunend. »Und jeden Moment aufwachen.«

Delia war nicht überzeugt. »Und was ist, wenn er nicht mehr aufwacht?«

»Sag so was nicht!«, fuhr Luzy sie an. »Sonst passiert es wirklich!«

»So etwas darfst du nicht denken!«, meinte auch Nina. »Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben, sonst ...« Aber sie wagte nicht, den Satz zu Ende zu sprechen.

»Vielleicht ist es auch ein Fluch, wie bei deiner Oma!«, gab Delia zu bedenken.

»Das bringt doch nichts«, sagte Nina. »Egal, was es ist, wir können ihm helfen, ihn besuchen und mit ihm sprechen und bei ihm sein. Vielleicht wacht er dann wieder auf.«

»Nina hat recht. Wir müssen stark sein«, bestätigte Luzy, musste allerdings bei diesen Worten schlucken.

»Ist es okay, wenn ich kurz allein mit ihm sein will?«, fragte Nina nach einer Pause.

Luzy stimmte zu und zog die widerstrebende Delia mit sich.

Nina sah auf Daniels blasses Gesicht hinunter und strich langsam über seinen Unterarm, der auf der dünnen Decke lag.

»Eigentlich bist du immer derjenige, der mich rettet«, murmelte sie. »Wer soll das denn jetzt machen? Du musst ganz schnell zurückkommen! Der Club kann nicht ohne dich ... und ich auch nicht«, fügte sie noch leiser hinzu. Sie musste erneut schlucken, aber der Frosch in ihrem Hals wollte nicht verschwinden. »Kannst du dich an die Zeit erinnern, als meine Oma krank war? Da hast du mir gesagt, dass ich niemals aufgeben darf. Dass alles gut wird.«

Sie atmete durch.

»Und es wird auch alles gut. Ich werd alles dafür tun, damit du bald wieder bei uns bist. Das verspreche ich dir, Daniel«, sagte sie.

Sie hob die linke Hand ans Auge. »Sibuna!«

Danach wandte sie sich um und verließ leise das Zimmer.

Sie war so in Gedanken, dass sie den fremden Jungen kaum bemerkte, der ihr im letzten Moment auswich. Beinahe wäre sie mit ihm zusammengestoßen, als er aus Maras Zimmer kam. Sie registrierte auch nicht, wie sehr
er erschrak. Fast, als sei er bei etwas Verbotenem ertappt worden.

Zerstreut betrachtete Nina Maras Zimmertür. Sollte sie die Freundin besuchen? Sie erinnerte sich an die Vision. Noch schien Mara nicht außer Gefahr. Dann sagte sie sich allerdings, dass Magnus seine Freundin sicher nicht aus den Augen lassen würde.

Nina wandte sich zum Gehen, ohne auf den Fremden zu achten, der ihr beinahe furchtsam hinterherblickte. Er seufzte erleichtert, als sie sich um seine Gegenwart nicht weiter kümmerte, doch auch das sah sie nicht.

Nina konnte nur an Daniel denken. Jetzt, wo sie ihn gesehen hatte, war sie ein wenig getröstet. Er war nicht allein, denn sie würde auf ihn achtgeben wie Magnus auf Mara.

Daniel würde sich auf sie und den Club verlassen können.

3
DIE VERRÄTERIN

Eine Verräterin.

Luzy Schoppa war sicher, sie war genau das. Niedergeschlagen trottete sie die große Schultreppe hinunter und ging in Richtung ihres Fahrrades. Warum nur hatte sie beim Frühstück nichts gesagt! Ninas trauriges Gesicht hätte einen Stein erweichen können. Luzy war sich so schäbig vorgekommen wie nie zuvor. Sie war diejenige gewesen, die Zeno Trabas und seinem Helfer Morten Vierstein ermöglicht hatte, überhaupt so weit zu kommen. Nur wegen ihr hatten die beiden Mara entführen können – und nur deshalb hatte Daniel sie retten wollen!

Und nun lag er wegen Luzys Machenschaften im Koma.

Luzy konnte an nichts anderes denken. Sie merkte gar nicht, wie sich hinter ihr jemand an sie heranschlich. Plötzlich wurde sie gepackt und in einen kleinen Transportbus geschubst. Mit einem Knall schloss sich hinter ihr die Schiebetür. Luzy war so erschrocken, dass sie nicht sicher war: Hatte da jemand hämisch gelacht? Sie hielt kurz die Luft an.

Wer konnte so hinterhältig und gemein sein, sie am helllichten Tag zu entführen – direkt vor der Schule? Der Bus ruckte und fuhr mit quietschenden Reifen davon.

Luzy fiel nur einer ein, der das wagen konnte: Morten Vierstein.

Wütend nahm sie sich fest vor, zu kratzen, zu beißen und zu treten, sobald er die Tür aufmachte. Sie würde sich das nicht von ihm gefallen lassen!

Doch als die Autotür sich öffnete, war sie vom plötzlich einfallenden Licht so geblendet, dass sie sich kaum wehren konnte. Vierstein packte sie an den Handgelenken und fesselte sie. Er riss sie mit, in ein Schloss, durch einen langen Gang, hinein in ein düsteres Zimmer mit dunklen Holzpaneelen an der Wand und dunkelroten Gardinen. Ihre unsanfte Reise endete auf einem Stuhl am Fuß eines Bettes.

»Schön, dich wiederzusehen«, krächzte eine Stimme aus einer Ecke des Zimmers. Es war Zeno Trabas, der aufrecht, aber sehr schwach in seinem breiten Bett saß. Morten Vierstein stand bösartig grinsend neben ihm.

»Wo bin ich?«, wollte Luzy wissen und versuchte, die Fesseln um ihre Handgelenke zu lösen. »Machen Sie mich los!« Am liebsten hätte sie geschrien vor Wut, als sie feststellte, dass die Kabelbinder zu fest saßen.

»Ganz ruhig, junge Dame«, sagte Trabas beinahe freundlich. »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.«

»Vergnügen? Das ist doch ...« Luzy schnappte nach Luft. »Soll erst jemand sterben? Ist es das, was Sie wollen, Sie Irrer?«

»Was soll das?«, fragte Vierstein ungeduldig. »Wir wollen nur die Träne der Isis!«

»Ja klar!«, stieß Luzy hervor. »Und deshalb liegt Daniel im Koma?«

»Daniel? Der Arme!«, höhnte Vierstein, als Trabas ihn am Arm packte und ihn unterbrach.

»Was glaubst du, was wir mit ihm gemacht haben?«, wollte er von Luzy wissen.

»Sie waren im Keller!«, entgegnete Luzy. »Und dann haben Sie Daniel natürlich dabei überrascht, wie er Mara retten wollte! Sie haben ihn kaltblütig niedergeschlagen!«

»Dafür gibt’s überhaupt keine Beweise!«, gab Vierstein pampig zurück.

»Ach nein?« Luzy war jetzt so richtig in Fahrt. Sie hatte gar keine Angst mehr. »Geben Sie’s doch zu! Einen wehrlosen Jungen! Eiskalt haben Sie ihn umgehauen! Das ist versuchter Totschlag!«

»Morten!« Zeno Trabas fuhr auf. »Was hast du da unten gemacht?« Er rang nach Luft.

»Ja, das wüsste ich auch gern!«, rief Luzy angriffslustig.

»Aber so war das gar nicht!«, stieß Morten Vierstein hervor. Mehr konnte er nicht sagen, denn Trabas fiel atemlos vor Aufregung zurück in sein Bett. Er hustete und bekam kaum Luft, Vierstein musste sich um ihn kümmern. Er streifte dem Kranken die Atemmaske über, danach packte er Luzy am Arm und zog sie auf den Gang hinaus.

Vorsichtig schloss er die Tür, bevor er Luzys Handgelenke ergriff und die Fesseln durchschnitt. »Wag nur nicht, ihn noch einmal so aufzuregen!«, zischte er.

Luzy biss sich auf die Lippen und sagte nichts. Sie traute sich nur, Vierstein böse anzusehen. Am Ende fesselte er sie erneut! Das Risiko wollte sie nicht eingehen. Sie wandte sich um und wollte schon gehen, als er sie zurückhielt. »Nicht so schnell! Hier.«

Er hielt ihr einen kleinen Gegenstand entgegen, den er aus der Innentasche seiner Lederjacke gezogen hatte.

»Was ist das?«, fragte Luzy misstrauisch. Der Gegenstand sah aus wie eine kleine Kiste.

»Ein neues Möbelstück aus dem kleinen Haus. Für die nächste Aufgabe.«

Luzy machte keine Anstalten, die kleine Kiste zu nehmen. »Wie lange soll das eigentlich so weitergehen?«, wollte sie wissen. »Ich hab das Ding noch nie gesehen!«

»Nimm es!«, meinte Vierstein drohend. »Oder willst du die Träne der Isis gar nicht mehr finden? Für Daniel?«

»Als ob Daniel Ihnen irgendetwas bedeuten würde!«, stieß Luzy empört hervor.

»Das mit Daniel war nicht geplant!«, verteidigte sich Vierstein. »Aber du willst mit Sicherheit nicht, dass deinen anderen Freunden etwas passiert, oder?«

Luzy zauderte, nahm dann allerdings die Kiste, die Vierstein ihr hinhielt. Sie sagte nichts, sondern funkelte ihn nur böse an. Schließlich wandte sie sich endgültig von ihm ab.

»Und ruf mich an, wenn du was weißt, sonst wirst du’s bereuen!«, rief er ihr hinterher. Eine Tür schlug zu. Als Luzy sich am Treppenabsatz umdrehte, war Vierstein wieder in Trabas’ Zimmer verschwunden.

Aufgebracht zog Morten Vierstein die Tür hinter sich zu.

»Luzy gehorcht mir!«, antwortete er auf den vorwurfsvollen Blick seines Auftraggebers. »Ein bisschen Druck bewirkt Wunder! Ich habe die Kleine im Griff.«

»Das ist gut so!«, erklärte Zeno Trabas. »Dann ist das also ganz anders als die Sache im Keller?«

Vierstein senkte schuldbewusst den Blick.

»Die Träne allein genügt nicht«, fuhr Trabas fort. »Das weißt du. Der letzte Nachfahre von Tutanchamun und Amneris muss ein Ende finden. Die Blutlinie – sie muss unterbrochen werden.«

»Mara!«, sagte Vierstein eifrig. Er wollte Trabas erkennen lassen, dass er alles verstanden hatte.

Trabas nickte. »Jetzt wäre der geeignete Zeitpunkt, die Wahrheit darüber zu sagen, was im Keller passiert ist.«

»Mara hatte ihre Hand bereits auf dem Stein. Die Prüfung lief nach Plan!«

»Und das Gift?«

»Dann kam Daniel herein und hat sie weggezogen. Und das Gift ...« Vierstein unterbrach sich beschämt und schwieg.

»Was ist passiert?«, drängte Trabas.

Vierstein holte tief Luft, bevor er seinem Auftraggeber das Wesentliche beichtete. »Daniel ist auf die Spritze gefallen«, stieß er hervor. »Das Gift für Mara – es ist in Daniel!«

»Hey! Was machst du da?« Delia versuchte, ihren Finger aus Felix’ festem Griff zu befreien.

Er war gekleidet wie ein Chemielaborant, was irgendwie passte – immerhin hatten sie gerade Chemie gehabt und standen noch im Chemielabor der Schule. Felix hatte Delias rechten Zeigefinger gepackt und tauchte ihn in ein Gläschen mit dickflüssiger, fester Farbe, das vor ihm auf dem gekachelten Tisch stand. Luzy und Nina sahen gespannt zu.

»Fingerabdrücke nehmen!«, meinte Felix ganz selbstverständlich auf ihre Frage.

»Igitt!« Angeekelt wischte Delia den schmutzigen Finger an dem weißen Kittel ab, den Felix trug.

»Spinnst du? Das vermasselt doch alles!«, antwortete Felix unwirsch, nahm Delias Finger und drückte ihn fest auf ein Blatt Papier, das auf dem Tisch vor ihm lag.

»Na und? Was soll das?«, wollte Delia wissen. »Bin ich jetzt verdächtig, oder was?«

»Ich habe Felix darum gebeten, das zu machen«, unterbrach Nina das Gezänk der beiden. »Wir müssen einfach rausfinden, was bei der Prüfung der Nephthys passiert ist. Wir vergleichen unsere Fingerabdrücke mit denen, die wir dort finden. Dann sehen wir, wer alles da war. Wer auch immer Daniel das angetan hat, er kann sich auf was gefasst machen.« Den letzten Satz sprach sie leise, aber sehr entschlossen. »Kann ich mich auf euch verlassen? Ich glaub, ich schaff das nicht allein.«

Nina blickte in die Runde. Felix nickte eifrig. Wie sie erwartet hatte, war er froh, den CSI-Detective geben zu dürfen. Delia dagegen sah immer noch beleidigt aus. Und Luzy ... ihre Reaktion war die seltsamste, fand Nina. Ihr Gesichtsausdruck war steinern und kaum zu deuten.

»Super-Felix ist für dich da!«, trompetete Felix und wandte sich seinem CSI-Koffer zu.

»Ich auch«, schloss Delia sich an. »Das weißt du ja!«

Nina lächelte. Ja, das wusste sie! Delia war die beste Freundin, die man sich vorstellen konnte.

»Klar«, sagte nun auch Luzy. Es klang seltsam verhalten. »Wir sind alle bei dir«, bekräftigte sie plötzlich.

Nina schaute zu Felix und sah zu, wie er weiterhin Proben nahm.

Luzy schien das trotz ihres Versprechens unangenehm zu sein. »Ist das denn echt alles notwendig?«

»Wir brauchen alle Daten, die wir kriegen können«, erklärte Nina. »Oder hast du eine bessere Idee?«

Luzy wandte sich ab. »Nein«, flüsterte sie kaum hörbar.

»Wir werden herausfinden, wer Daniel das angetan hat«, wiederholte Nina fest und zuckte nicht mit der Wimper, als Felix ihr ein Haar ausrupfte.

Sie war entschlossen wie nie.

4
DER ONKEL AUS DER SCHWEIZ

Vorsichtig klopfte Rosie mit der Gartenschaufel die Erde um die zarten Wurzeln der Blumenstaude fest. Sonst floss die gute Erde bereits beim Gießen davon! Sie strich liebevoll über eines der grünen Blätter.

»So, wer von euch hat am meisten Durst?«, fragte sie ihre Lieblinge und stand auf. »Keine Sorge, ihr bekommt alle etwas!«

Sie ging in die Küche, um ihre Gießkanne zu füllen, doch als sie wieder zurückkam und um den Zaun vor ihrem Beet bog, blieb sie wie angewurzelt stehen. Die Blumen! Wo die kleinen, mit viel Liebe gepflanzten Stauden bunte Blütenköpfe gehabt hatten, waren jetzt nur noch grüne Blätter zu sehen.

»Bä-ä-äh!«

Suchend schaute Rosie sich um. Dieses Meckern hatte sie gerade schon in der Küche gehört!

»Bä-ää-ääh!«

Rosie ging ein Licht auf. Das Meckern war also keineswegs ein Geist, wie sie zuerst vermutet hatte!

»Wer um alles in der Welt hat denn eine Ziege mit in den Garten gebracht?«, überlegte sie laut und ging dem Geräusch nach.

Sie stürmte so entschlossen vorwärts, dass sie beinahe mit jemandem zusammengestoßen wäre.

»Grüezi!«, schmetterte ihr der Unbekannte entgegen. »Mein Name ist Ursli!«

Er trug eine Schirmmütze und einen rosafarbenen Schal. Mit seinem freundlichen Großvaterbart und dem netten Lächeln sah er eigentlich alles andere als Furcht einflößend aus, dennoch wich Rosie erschrocken ein paar Schritte zurück. »Gehen Sie weg, Sie Blumenmörder!«, schimpfte sie empört und wies auf die kleine weiße Gestalt, die in diesem Moment kauend um die Ecke der Hecke trabte.

Der Herr mit dem seltsamen Namen wandte sich schuldbewusst um. »Gnädige Frau, das ist Delphi. Und Delphi hört nichts, wenn sie Hunger hat.«

Rosie winkte ab. »Ich möchte Sie bitten, augenblicklich den Garten zu verlassen!«, verlangte sie energisch.

Entschuldigend breitete der Herr die Hände aus, die in fingerlosen Handschuhen steckten. »Das geht leider nicht.« Er lächelte Rosie gewinnend an. »Wir möchten Felix besuchen. Ist er da?«

Der Herr – Ursli hieß er wohl, wie Rosie sich erinnerte –, war so ausnehmend höflich, dass sie schon gar nicht mehr so zornig war. Nur, die abgefressenen Blumen verzieh sie ihm noch nicht!

»Was wollen Sie denn von Felix?«, fragte sie misstrauisch.

»Ich bin sein Onkel!«, erklärte Ursli.

»Aber Felix ist doch in der Schweiz!«, entgegnete Rosie verblüfft.

»Liebes Fräulein«, sagte Ursli traurig. Rosie hätte beinahe Mitleid bekommen. »Jetzt bin ich so lange gereist! Soll das denn alles umsonst gewesen sein?«

Rosie wusste nicht, was sie entgegnen sollte. Einerseits tat ihr dieser freundliche Mann nun wirklich ein bisschen leid, andererseits hatte seine Ziege gerade ihre Blumenlieblinge gefressen!

Auf einmal strahlte Urslis freundliches Gesicht hell auf. »Wissen Sie was, gnädige Frau? Delphi und ich bleiben hier im Garten und warten auf ihn. Denn in der Schweiz ist Felix nicht, da bin ich ganz, ganz, ganz sicher.«

Rosie kam nicht dazu, zu antworten, denn neben ihr ertönte eine erboste Stimme. »Was ist denn das für ein Geschrei? Kann es hier nie einfach mal ruhig sein?«

»Victor!« Rosie wandte sich dem überraschend aufgetauchten Hausverwalter zu und hörte sich zu ihrem eigenen Erstaunen erklären, wer der fremde Herr war und dass dieser ein wenig bleiben würde.

Erst wollte Victor protestieren. Doch er gab knurrend nach, als er Rosies Gesichtsausdruck bemerkte. Wenn sie ihn so ansah, dann war sein Nachmittagskaffee in Gefahr. Und außerdem hatte er Besseres zu tun.

Er nickte Rosie und dem Fremden ungnädig zu, aber er wartete nicht mehr ab, dass sie diesen Mann mit sich fortzog, sondern huschte sofort wieder ins Haus. Am Fuß der Treppe in die oberen Stockwerke nahm er seinen Werkzeugkasten und eilte die Stufen zur Dachkammer hinauf. Glücklicherweise traf er auf niemanden, denn die Kinder waren in der Schule.

Als er die Tür zu Delias Zimmer öffnete, verzog er angewidert das Gesicht. Dieses schreckliche Rosa hier überall! Schnell packte er sich den Stuhl, der vor ihrem Schreibtisch stand, drehte ihn um und begann ihn zu verdrahten. Schon bald hatte er es geschafft. Beinahe unsichtbar hatte er ein Mikrofon unter dem Sitz des barocken Sessels angebracht. Er schaltete es an und klopfte gegen den Draht, der die Membran umgab. Im Gegenstück, das in seinem Ohr saß, ploppte es leise.

»Victor! Wo ist das kleine Haus?«, erklang eine Stimme im Raum.

Victor schreckte auf und schaute zum Spiegelschrank hinüber. Dort stand sein Vater, hinter dem Glas, und hielt Corvuz, Victors ausgestopften Raben, fest an sich gedrückt.

»Ich habe nicht mehr viel Zeit! Und Corvuz auch nicht! Warum suchst du nicht das kleine Haus?« Mit diesen Worten zupfte er dem Raben eine kleine Feder aus.

Victor wimmerte, riss sich allerdings zusammen. »Diese Schlangenbrut hier weiß viel, aber bald weiß ich es auch!« Er wies auf das Mikrofon unter dem Stuhl. »Und dann finde ich das kleine Haus! Wirklich!«

»Beeil dich!«, stöhnte Victor Senior – und verschwand.

Victor seufzte. Er konnte nur hoffen, dass sein Plan gelang!

Die Gänge schienen endlos zu sein. Überall roch es nach Desinfektionsmittel, es wirkte steril und nicht so, als sei dieses Krankenhaus ein Ort, an dem Menschen gesund werden konnten. Ninas und Luzys Schritte hallten von den Wänden wider, als gingen sie einen düsteren Flur in einem Albtraum entlang.

Nina schauderte. »Langsam bekomme ich eine echte Abneigung gegen Krankenhäuser«, sagte sie eigentlich nur, um ihre Stimme zu hören. »Dass man Daniel kaum besuchen darf und nie jemanden erreicht! Das sind schlechte Zeichen, oder?«

Beinahe Hilfe suchend wandte sie sich zu Luzy.

Eine Unterstützung war die nicht gerade. Sie zuckte nur mit den Achseln. »Ich weiß nicht. Vielleicht ist das ja in Krankenhäusern auch einfach so.«

Das klang nicht sehr beruhigend!

Plötzlich fiel Ninas Blick auf zwei Ärzte, die vor ihr im Gang standen. Direkt vor der Tür zu Daniels Zimmer! Erkennbar waren sie an den weißen Kitteln und den Stethoskopen, die sie um den Hals trugen. Der Arzt, der sein Gesicht den beiden Mädchen zugewandt hatte und eine Brille trug, hatte die Stirn in sorgenvolle Falten gelegt und nickte ernst, während der andere sprach. Nina erkannte seine Stimme sofort, es war Dr. Brink, Daniels behandelnder Arzt.

»... hatte sich natürlich schon einige Zeit angekündigt«, sagte er gerade. »Aber wir haben einfach nichts mehr für ihn tun können! Wenigstens hat er nicht leiden müssen«, fügte er etwas leiser hinzu.

Nina erschrak zu Tode und wurde auf der Stelle blass wie ein Leintuch. Luzy fiel nichts anderes ein, als sie am Arm zu packen und an den Ärzten vorbei zu Daniels Zimmer zu zerren. Beide Mädchen rissen gleichzeitig die Tür auf.

Doch das Zimmer, in dem Daniel mitsamt all den Apparaten, die ihn am Leben erhielten, gelegen hatte, war leer. Kein Daniel, kein Bett und nur wenige Maschinen. Ohne das Piepen der Apparate dröhnte die Stille geradezu in Ninas Ohren.

Wo war Daniel? War er ...?

Nina wagte es nicht einmal zu denken. Sie konnte nur auf den leeren Platz starren, an dem gestern noch Daniels Bett gestanden hatte.

Luzys Stimme drang an Ninas Ohr. »Glaubst du ... glaubst du, dass der Arzt Daniel meinte?«

»Das kann nicht sein!«, presste Nina mühsam hervor. Sie konnte den Blick von der Stelle, an der das Bett gestanden hatte, nicht abwenden.

»Was fällt euch denn ein?«, erklang eine entrüstete Stimme in die unheimliche Stille hinein. »Das hier ist ein Krankenhaus, da kann man nicht einfach ...«

Nina fuhr herum. Hinter ihr stand Dr. Brink.

Nina konnte nichts sagen.

»Wo ist Daniel?«, fragte Luzy stattdessen voller Furcht. »Er ist doch nicht etwa ...?«

Der Arzt schüttelte langsam den Kopf. »Daniel liegt weiterhin im Koma«, meinte er beruhigend. »Aber weil sein Zustand sonst stabil ist, haben wir ihn auf eine andere Station verlegt.«

Nina sah auf. Ein Stein fiel ihr vom Herzen! Sie seufzte und warf Luzy, die fast so erleichtert wirkte wie sie selbst, einen hoffnungsvollen Blick zu.

Dr. Brink lächelte. »Soll ich dich zu ihm bringen?«

Nina konnte nur nicken.

Der Arzt führte sie und Luzy über eine Treppe in ein anderes Stockwerk. Vor einer Tür, die eigentlich genauso wirkte wie alle anderen, blieb er stehen. »Ihr dürft ihn kurz besuchen. Aber nicht zu lange!«

Nina warf ihm einen dankbaren Blick zu und betrat das Zimmer.

Da lag er! Ohne Schläuche und auch ohne das steril wirkende Hemd, das er bisher getragen hatte. Man hatte ihm seinen eigenen Schlafanzug angezogen. Nina fand, es sah beinahe so aus, als würde er schlafen.

Langsam trat sie an Daniels Bett und strich ihm mit Tränen in den Augen über die Schulter. »Mensch, da hast du mir einen richtigen Schrecken eingejagt«, flüsterte sie zärtlich.

Luzy war in der Tür stehen geblieben und starrte auf Daniel hinunter. Als Nina sich umdrehte und sie fragend ansah, entschuldigte sie sich. »Ich lass euch beide mal allein«, sagte sie betont heiter.

Vorsichtig zog sie die Tür zu. Nein, sie konnte nicht dort hineingehen! Diesen Schrecken hatte Nina nicht verdient! Und den hatte die Freundin – wie Daniel seinen Krankenhausaufenthalt – nur Luzy und ihren Machenschaften zu verdanken.

Luzy sank entmutigt auf einen der Stühle im Gang. Wie sollte sie nur all das gutmachen, was sie angerichtet hatte!

»Was hab ich nur getan?«, schluchzte sie verzweifelt auf.

»Das, was du tun musstest!«, schnarrte eine Stimme in ihre Gedanken hinein.

Luzy fuhr herum.

Morten Vierstein!

»Nun? Ist schlimm, wie er so daliegt, nicht wahr? Bisher ist es nur Daniel, doch deine anderen Freunde könnten auch in Gefahr sein ...«

»Was meinen Sie?«

»Das weißt du genau: Tu, was ich sage!«

»Aber ich weiß nicht, wo die Kiste im Haus sein soll!«

»Dann musst du eben suchen! Bis morgen hast du den Auftrag für die neue Prüfung gefunden! Oder du kannst bald alle deine Freunde im Krankenhaus besuchen.«

Vierstein lächelte sie noch einmal böse an. Danach wandte er sich ab und ging.

Am liebsten hätte Luzy ihm ihren Hass ins Gesicht geschrien.

Doch sie schwieg.

Sie durfte einfach nicht riskieren, dass er seine Drohungen wahr machte.

5
GUTEN APPETIT

Hurra, Onkel Ursli durfte bleiben!

Auch wenn Victor ihm nicht gestattet hatte, gemeinsam mit seiner Ziege Delphi im Haus zu wohnen, freute Felix sich darauf, seinen Onkel einige Zeit in seiner Nähe zu behalten. Schnell band er die kleine Ziege des Onkels mit einem alten Schal an einen Pflock, damit sie sich nicht wieder über Rosies Blumen hermachte, und rannte zu Ursli hinüber.

Was sich nicht alles in dessen Taschen und Koffern verbarg! Warme Felle, ein Teppich, Bücher, Säckchen mit geheimnisvollem Inhalt und – Felix war fasziniert! – ein riesiger Traumfänger von den Indianern in Nordamerika.

Felix wusste, so ein Gegenstand sollte schlechte Träume einfangen. Das passt zu Onkel Ursli, dachte er. Der Traumfänger war kunstvoll mit einem Indianerkopf bestickt, der eine Wolfsmütze trug, und so weich, dass Felix am liebsten den ganzen Tag darübergestreichelt hätte.

Allerdings wollte er sich die anderen spannenden Gegenstände, die sein Onkel aus den Tiefen seines Gepäcks holte, nicht entgehen lassen. Er legte den Traumfänger auf einen bunten Teppich und schaute Ursli weiter gespannt beim Ausräumen des großen, altmodischen Koffers zu. Wenn er allerdings auf interessante Geschichten hoffte, so wurde er fürs Erste enttäuscht. Denn Ursli war ganz damit beschäftigt, sich mit Haushälterin Rosie zu unterhalten. Die war nämlich enttäuscht, dass Ursli zusammen mit seiner Ziege Delphi im Garten und nicht in ihrer Nähe, im Haus, schlafen würde.

»Wir haben genug Platz im Haus!«

Felix sah genau, wie sehr sich Onkel Ursli über das Angebot freute, obwohl er aufs Neue freundlich, aber bestimmt, ablehnte.

»Wirklich, Rosie, im Garten finde ich total zu mir selbst!«, versicherte er.