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Über dieses Buch:

Zwei antike Ringe, ein einsames Waldstück und ein verschwiegenes Treffen mit seiner großen Liebe Nina – Daniel hatte es sich so romantisch vorgestellt. Doch mit den Ringen löst er unbeabsichtigt einen uralten Zauber aus: Der bösartige Ritter Roman erscheint durch ein magisches Tor und entführt Nina. Es beginnt ein Wettrennen um den Beweis der wahren Liebe. Können Daniel und seine Freunde Nina aus den Fängen Romans retten? Wer wird die Prüfungen auf dem Pfad der 7 Sünden bestehen? – Der Roman zum großen Das-Haus-Anubis-Film!

In der Serie Das Haus Anubis erscheinen bei jumpbooks auch die folgenden eBooks:
Das Haus Anubis: Der geheime Club der Alten Weide
Das Haus Anubis: Das Geheimnis des Grabmals
Das Haus Anubis: Der geheimnisvolle Fluch
Das Haus Anubis: Die Auserwählte
Das Haus Anubis: Das Geheimnis der Winnsbrügge-Weslings
Das Haus Anubis: Die Träne der Isis

Das Haus Anubis im Internet:

www.DasHausAnubis.de

www.DasHausAnubis-DerFilm.de

www.studio100.de

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eBook-Neuausgabe April 2016

Copyright © der Originalausgabe 2012 Studio 100 Media GmbH

Text von Claudia Weber, basierend auf dem Drehbuch zum Kinofilm Pfad der 7 Sünden von Gert Verhulst, Hans Bourlon und Elke Degezelle

Copyright © der eBook-Ausgabe 2012 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

Titelbildabbildung: © 2012 Studio 100 Media GmbH

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-006-0

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Das Haus Anubis

Pfad der sieben Sünden

Der Roman zum Film

jumpbooks

Prolog
Vor langer, langer Zeit …

Es war einer der ersten kühlen Herbsttage des Jahres 1484. Hier und da malte heruntergefallenes Laub rötlich braune Farbkleckse auf den Waldboden. Außer dem Rauschen des Windes in den Blättern und ein paar Vogelstimmen war kaum ein Laut zu hören. Eine feierliche Stille lag über dem ganzen Land. Es war, als ob alle Untertanen den Atem anhielten – in festlicher Vorfreude auf das, was heute geschehen sollte. In der kleinen Kapelle auf der Waldlichtung hatten sich die edelsten Familien des Landes eingefunden. Die schweren Brokatstoffe ihrer Festtagsgewänder raschelten leise, während sie darauf warteten, dass die Zeremonie begann.

Vorne am Altar stand Ritter Roman. Ungeduldig trat er von einem Bein auf das andere. Nur noch wenige Augenblicke, dann war sie für immer sein. Ihr Herz hatte sie ihm bereits geschenkt, und nun sollte sie vor Gott und der Welt mit ihm verbunden werden.

Ritter Roman drehte sich um und blickte zur Tür. Nichts. Noch nichts. Mit einer energischen Bewegung warf er seinen dunkelroten Umhang nach hinten und wandte sich wieder dem Altar zu. Seine Hand tastete nach der Schatulle, die auf dem bestickten Altartuch stand. Vorsichtig hob er den Deckel, auf dem sein Wappen prangte, und schaute hinein. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er die beiden Ringe sah. Das flackernde Licht der Kerzen spiegelte sich im blank polierten Metall und ließ es golden aufleuchten.

Roman nahm den kleineren Ring und hielt ihn hoch. Bald würde er ihn seiner geliebten Rosalinde über den Finger streifen. Als Zeichen ihrer immerwährenden Verbundenheit. Auf ewig.

Draußen waren Schritte zu hören, die Roman aus seinen Gedanken rissen. Das musste sie sein. Rasch legte er den Ring zurück in die Schatulle und schloss den Deckel. Dann drehte er sich erwartungsvoll um. Doch es waren nur die beiden Brautjungfern – zwei kleine Mädchen in seidenen Gewändern. Eines der beiden hielt einen Strauß weißer Rosen in der Hand, das andere überreichte ihm eine einzelne Rose. Weiß wie die Unschuld. Makellos wie seine tugendhafte Rosalinde. Der Ritter nahm die edle Blume entgegen und nickte zum Dank. Während die beiden Brautjungfern zu ihrem Platz an der Seite gingen, nahm er den betörenden Duft der Rose wahr. Sanft, aber unwiderstehlich. Roman steckte sich die weiße Rose an den Umhang, als ein Schatten über den Eingang fiel. Das musste sie sein. Seine Braut. Die Frau, die er mehr liebte als alles auf der Welt. Sehnsüchtig blickte Roman auf den steinernen Torbogen der Kapelle. Rosalinde war nicht zu sehen. Stattdessen eilte eine Zofe herein und tuschelte aufgeregt mit Magister Marduk.

Was hatte das zu bedeuten?

Ritter Roman schaute den ihm treu ergebenen Zauberer fragend an. Aber Marduk schüttelte nur unmerklich den Kopf. In seinen Händen ruhte der mannshohe Zauberstab. Rosalinde würde nicht kommen. Auch wenn Roman noch so lange auf sie wartete.

Das Lächeln auf dem Gesicht des Ritters verschwand. Seine Miene erstarrte. Einen Moment lang versuchte er zu begreifen, was geschehen war. Doch es war nichts geschehen. Und das war unbegreiflich. Die Frau, die er liebte, ließ ihn allein vor dem Altar stehen. Die Frau, die behauptet hatte, ihn für immer zu lieben, hatte ihn ohne Erklärung verlassen.

Roman drehte sich auf dem Absatz um und riss den Deckel der Schatulle auf. Ungestüm griff er nach den beiden goldenen Ringen, umklammerte sie mit eiserner Faust und stürmte wortlos aus der Kapelle.

Magister Marduk folgte seinem Herrn auf dem Fuß. Am Hügel hinter der Kapelle holte er ihn ein. Der Ritter drehte ihm den Rücken zu und blickte über die Wipfel der Eichen und Fichten. Seine Augen folgten einem Bussard, der das bleierne Grau des Himmels unterbrach und in einer Baumkrone landete.

»Es tut mir sehr leid, mein Herr«, sagte Marduk und beugte ehrerbietig sein Haupt. »Ich fürchte, sie kommt nicht mehr.«

Ritter Roman schwankte. Der Gedanke an Rosalinde zerriss ihm fast das Herz. Wie konnte sie ihm das antun? Seine Hand hielt die beiden Ringe so fest, dass es schmerzte. Er öffnete die Faust und betrachtete die goldenen Fingerreife. Die Symbole niemals endender Liebe. Dann holte er weit aus, stieß einen markerschütternden Schrei aus, der sein ganzes Leid zum Ausdruck brachte, und warf die Ringe in hohem Bogen ins Dickicht des Waldes. Jetzt waren sie wertlos. Geblieben war nur das falsche Gefühl, das ihm die Kehle zuschnürte – die Heuchelei, die er als Liebe missgedeutet hatte.

Oder hatte er sich doch nicht getäuscht? Sein Herz sagte ihm, dass Rosalinde ihn wirklich und wahrhaftig liebte. Aber sein Verstand konnte nicht begreifen, warum sie heute, am Tage ihrer Vermählung, nicht gekommen war.

Mit schmerzerfülltem Gesicht wandte sich der Ritter seinem Zauberer zu. »Ich gebe ihr eine letzte Möglichkeit, ihre Liebe zu beweisen«, sagte er und warf dem Magier einen eindringlichen Blick zu. »Magister Marduk, erschaffe einen magischen Pfad zu meiner Burg. Er soll so schwierig sein, dass ihn nur ein wahrer Liebender bewältigen kann. Wenn Rosalinde das gelingt, wird sie mich zurückgewinnen.«

Der Zauberer sah seinen Gebieter schweigend an. Die schwarzen Federn, die sein Gewand säumten, flatterten lautlos im Herbstwind. Marduk nickte. Er breitete die Arme aus. In der linken Hand hielt er das Zeichen seiner Macht – den mächtigen Zauberstab, aus dessen oberem Ende zwei eigenartige Zacken herausragten. Sie sahen aus wie die Klauen eines Greifvogels. Dann senkte der Zauberer den Kopf auf die Brust und versetzte sich in Trance. »Limes peccatorum mortiferum septem«, murmelte er mit monotoner Stimme, die Wort für Wort lauter wurde. Er hob den Kopf, umschloss den Zauberstab mit beiden Händen und hielt ihn hoch. »Solum vincere amore motus!«

Am oberen Ende des Zauberstabs begann es zwischen den beiden Greifenklauen zu leuchten. Kalt und weiß. Wie das Licht des Vollmonds. Der Himmel verdüsterte sich, und schwarze Wolken zogen über die Kapelle hinweg. Marduk schaute beschwörend nach oben, während das Donnergrollen zu ohrenbetäubendem Lärm anschwoll. Schließlich zuckten Blitze vom Himmel, und der Magier rammte den mannshohen Stab mit übermenschlichen Kräften in den laubbedeckten Boden.

Der Bann war gesprochen. Und fortan sollte er seine Wirkung entfalten. Auf dem Pfad der sieben Sünden …

1. Fahrt ins Grüne

Der Reisebus fuhr über die einsame Landstraße. Sein schwarzer Lack war frisch poliert und glänzte mit den funkelnden Chromleisten um die Wette. Dafür hatte Victor gesorgt. Wenn er schon das Haus Anubis verlassen musste – den Mittelpunkt seines Lebens und Wirkens –, dann sollte auch alles stimmen. Widerwillig war er der Anordnung von Schulleiter Altrichter gefolgt, ihn und die Schüler auf einer Klassenfahrt zu begleiten.

Victor Rodemer verließ das Herrenhaus, dessen Verwalter er war, nur ungern. Am liebsten hätte er es mitgenommen – wie eine Weinbergschnecke ihr Schneckenhaus. Aber das ging nicht. Selbst seinen geliebten Corvuz hatte er zurücklassen müssen. Andererseits – wer wusste, wozu es gut war? So konnte der ausgestopfte Rabe ein Auge auf das verlassene Haus Anubis werfen. Jedenfalls stellte sich Victor das so vor.

Viel zu sehen würde es dort allerdings nicht geben, denn das Haus war leer. Seine Bewohner saßen alle im Reisebus: Nina und Daniel, Charlotte und Kaya, Mara und Magnus, Luzy, Delia und Felix. Der machte seinem Ruf als Klassenkasper mal wieder alle Ehre und sorgte für Unterhaltung. Und zwar mit einem selbst gedichteten Lied.

»Der Einzige, den Vicke-di-Vic mag, das ist ein Vogel, der nichts sagt«, sang er und gab mit dem Fotoapparat in seiner Hand den Takt an. Damit zog er sich umgehend den strafenden Blick des kahlköpfigen Verwalters zu. Aber das störte Felix nicht im Geringsten. Victor saß viel zu weit weg, als dass er Felix hätte gefährlich werden können. So trällerte er munter weiter. »Doch wer ist heute nicht im Bus? Der Co-hor-vuz!«

»Ruhe jetzt!«, zischte Delia und hielt Felix den Mund zu. Sie hatte den Platz neben Nina verlassen, weil Daniel sich wieder zu seiner Freundin setzen wollte.

Daniel nahm auf der Rückbank Platz und legte den Arm um Nina.

Nina verschränkte ihre Finger zwischen seinen. »Wir sind heute genau sechs Monate zusammen«, sagte sie und lächelte ihn verliebt an. »Wahnsinn …«

Daniel lächelte nicht weniger verliebt zurück. »Ja, wer hätte gedacht, dass du es so lange mit mir aushältst.« Dann runzelte er die Stirn und fügte gespielt besorgt hinzu: »Du hältst es doch noch ein bisschen aus, oder?«

Nina ließ sich auf das Spiel ein. »Ja«, antwortete sie. Ihr Kopf ruhte entspannt an seiner Schulter. »So sieben, vielleicht acht …«

»Sieben, vielleicht acht«, wiederholte Daniel, »Monate? Wochen? Tage?«

Nina lächelte ihn verschmitzt an. »Jahrzehnte! Mindestens!« Dann streichelte sie zärtlich sein Gesicht und wollte ihn küssen, als ein schmerzhaft hoher Ton der romantischen Stimmung ein Ende bereitete.

Herr Altrichter hatte sich vom Sitz des Reiseleiters erhoben und klopfte auf das Mikrofon. Mit Technik kannte er sich nicht so gut aus. Dafür mit Latein. Er hatte für jede Lebenslage den passenden Spruch parat. Nur diesmal machte er seine Ansage auf Deutsch. Damit ihn auch jeder verstand.

»So, meine Damen und Herren, bitte alle mal herhören«, sprach er ins Mikrofon, das immer noch knackte und schrille Störgeräusche durch die Lautsprecher schickte. »Heute Abend zelten wir in der Nähe eines kleinen Dorfes.« Noch waren alle Augen auf den Schulleiter gerichtet. »Und Sie dürfen sich schon auf ein erstes Highlight unserer Reise freuen: den Ritter-Roman-Kuchen.« Die ersten Zuhörer drifteten ab und blickten abwesend aus dem Fenster. »Er wurde vor Kurzem von verschiedenen Meisterköchen zum besten Dessert weltweit gekürt.« Andere gähnten oder verdrehten gelangweilt die Augen. Wieder andere schauten sich verliebt an, während Herr Altrichter unbeeindruckt weiterredete. »Sein Name entspringt einer alten Legende, die mit diesem Dorf verbunden ist.« Spätestens jetzt hörte ihm keiner der Schüler mehr zu. Nur Victor lauschte aufmerksam. »Vor langer Zeit wohnte hier ein Ritter namens Roman, der seine große Liebe Rosalinde heiraten wollte«, erzählte Herr Altrichter. »Aber am Hochzeitstag wartete der Arme vergeblich auf seine Braut. Roman entsagte der Liebe und zog sich verbittert auf seine Burg zurück. Danach hat niemand mehr etwas von ihm gehört.«

Delia waren Roman und Rosalinde egal. Ihr stellte sich eher die Frage: Rosa oder Weiß? Sie hatte zwei Sonnenbrillen aus ihrer Tasche gezogen und konnte sich nun nicht entscheiden. Darum fragte sie Felix, was besser zu ihrer weißen Jeansjacke und dem pinkfarbenen T-Shirt passte. »Ich weiß, die stehen mir beide unglaublich gut«, flötete sie. Bestimmt hatte sie noch siebenunddreißig weitere dabei – für jedes Outfit die passende Farbe …

Klick! Felix drückte auf den Auslöser seiner Kamera und blitzte Delia mitten ins Gesicht, sodass sie zusammenzuckte. »Ich glaube, dein helles Köpfchen braucht ’ne dunklere Brille«, scherzte er und nahm der verdutzten Delia das Designer­stück von der Nase.

»Hey!«, rief Delia und wollte sich ihre teure Sonnenbrille wieder zurückholen.

Doch Felix stand auf und rannte den Gang entlang nach vorn – vorbei an Mara und Magnus. Danach machte er kehrt, aber Delia versperrte ihm den Weg. Als Felix sich ungestüm umdrehte, rempelte er Charlotte an.

»Au!«, rief Charlotte und verzog das Gesicht.

Kaya ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen. »Soll ich pusten?«, fragte er, als hätte er ein Kleinkind vor sich. Er spitzte die Lippen und beugte sich vor, um das Aua wegzublasen. Charlotte musste lachen.

Na also, dachte Kaya. Geht doch! Dann drückte er seiner Freundin einen dicken Schmatz auf die Lippen. Als Trostpflaster, sozusagen.

In diesem Moment verpasste ihm Luzy mit ihrer Zeitschrift einen Klaps auf den Kopf. »Hab ich nicht gesagt: Küssen verboten?«, rief sie und fügte mit Schmollmund hinzu: »Sonst fehlt mir Max nur noch mehr …«

Inzwischen hatte Delia den Sonnenbrillendieb erwischt und packte ihn am Schlafittchen.

Doch Felix wand sich aus ihrer Umklammerung und stürmte an Victor vorbei nach vorn. Als er bei Herrn Altrichter ankam, war Endstation. Es gab kein Entkommen. Jetzt half nur noch eins: eine Pinkelpause. Und die hatte er auch dringend nötig.

2. Sechs Monate – Das müssen wir doch feiern!

Magnus war erleichtert, als der Bus zum Stehen kam. Sein Kopf summte bereits von Maras Geschnatter. Er liebte seine Freundin über alles – doch im Moment machte ihm ihre Energie ein wenig Angst. Mara hatte bereits ihre gesamte Freizeit verplant. Und seine auch. Mit Bootsfahrten, Badeausflügen, Eisdielen und romantischen Cafés. Warum konnte sie nicht einfach mal gar nichts tun? Zum Beispiel auf einer Picknickdecke liegen und auf einem Grashalm herumkauen. Oder mit dem Kopfhörer im Ohr Musik hören und dabei den Wolken zuschauen. Aber Fehlanzeige! Mara hatte immer einen Plan. Und den hakte sie ab – Punkt für Punkt.

Magnus blickte aus dem Fenster. Wo waren sie hier überhaupt? Er sah einen gepflasterten Dorfplatz, der von alten Steinhäusern gesäumt wurde. Am Ende des Platzes stand eine Kirche, vor der ein paar Marktstände ihr bunt gemischtes Sortiment anboten. Obst und Gemüse, Gewürze, Süßes und Salziges, Klamotten, Tücher und andere Textilien.

Magnus beobachtete, wie Felix aus der vorderen Bustür stürmte – mit einer weißen Sonnenbrille über dem schwarzen Brillengestell. Typisch! Magnus war froh, mal ein paar Tage Abstand von seinem chaotischen Zimmer­genossen zu haben. Dem gekrümmten Gang und dem verkniffenen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte Felix es sehr eilig, eine Toilette zu finden.

Herr Altrichter stieg direkt danach aus. »Aber Sie kommen sofort zurück!«, rief er Felix hinterher. »Stante pede!«

Unterdessen kletterte Delia durch die Hintertür nach draußen. »Oh, wie süß!«, rief sie, als sie die Verkaufsstände sah, dann trippelte sie aufgeregt über den Platz. Vermutlich hatte sie bereits ihre Kreditkarte gezückt.

»Keiner verlässt den Bus!« Herr Altrichter lief wie ein Hüte­hund zwischen den beiden Bustüren hin und her. Schließlich sah er ein, dass seine Schäfchen ein wenig Auslauf brauchten, und stieg seufzend wieder ein, während Luzy, Charlotte und Kaya hinten aus dem Bus sprangen.

»Ich kauf was Schönes für Max!«, meinte Luzy und ging ebenfalls auf die Verkaufsbuden zu.

»Und ich such mir was aus, was du für mich kaufen kannst«, sagte Charlotte, packte ihren Freund am Ärmel und zog ihn hinter sich her. Kayas entschuldigendes Ich-hab-doch-kein-Geld-dabei erstickte sie mit einem Kuss mitten auf seinen Mund.

»Komm schon, Magnus«, rief Mara beim Aussteigen.

»Ich bin direkt hinter dir«, beeilte er sich zu sagen. Aber Mara war schon weg.

Magnus atmete tief durch. Die frische Luft tat ihm gut. Die Ruhe auch. Er reckte seine Glieder ein wenig und trat einen Schritt beiseite, um Nina und Daniel Platz zu machen. Dabei wurde er rein zufällig Zeuge ihrer Unterhaltung.

»Ich habe eine Überraschung für dich«, sagte Nina und umfasste Daniels Hände. »Heute Abend.«

Daniel blickte seine Freundin mit großen Augen an.

»Sechs Monate«, fügte sie erklärend hinzu. »Das müssen wir doch feiern!«

Daniel lächelte nervös – dankbar, dass Delia in diesem Moment zurückkam.

»Hier gibt es soooo hübsche Sachen«, schnatterte sie und zog Nina mit sich fort. Delia steuerte zielstrebig auf einen Stand mit Klamotten zu. »Sieh mal«, rief sie und hielt Nina ein T-Shirt hin. »Ist das nicht schön? Mit dem Dorfwappen …?«

Nina betrachtete das T-Shirt. »Ja … ganz schön«, gab sie zögerlich zurück. Blassrosa war nicht ihr Ding. Aber zu Delia passte die Farbe perfekt. Und dieses eigenartige Wappen. Es zeigte zwei Schwerter und drei Rosen. Krieg und Frieden?, überlegte Nina. Liebe und Leid? Hoffnung und Schmerz? Oder vielleicht Mann und Frau?

Wie auch immer – Nina interessierte sich mehr für die Postkarten, die neben dem Stand mit den Kleidern ausgestellt waren. Es waren historische Ansichtskarten – viele total verblasst, manche auch vergilbt. Das machte sie allerdings umso interessanter. Bilder vom Dorfplatz, von der alten Kirche, von einer kleinen Kapelle, von einer Parkanlage. Nina nahm eine Karte aus dem Ständer, auf der eine halb verfallene Burgruine zu sehen war. Schön, dachte sie und drehte die Karte um. Burg Rosenstein, stand darauf geschrieben. Stammburg des Geschlechts der Ritter von Rosenstein. Daneben war das Wappen mit den drei Rosen und den zwei Schwertern abgebildet. Ob die Ruine hier in der Nähe war? Auch auf den meisten anderen Ansichtskarten war das Wappen zu sehen. Nina schaute es etwas genauer an. Es zeigte zwei gekreuzte Schwerter – die Griffe nach oben, die Spitzen nach unten gerichtet. Und in der Mitte, wo die Waffen sich kreuzten, waren die drei Rosen zu sehen. Wahrscheinlich hat Delia recht und es ist tatsächlich das Ortswappen, vermutete Nina.

Plötzlich fiel ihr Blick auf eine Ansichtskarte mit einem steinernen Torbogen, der mitten im Wald zu stehen schien. Fasziniert begutachtete sie das Bild. Sie nahm die Postkarte aus der Halterung, um sie näher betrachten zu können.

Was für ein romantischer Ort, dachte sie. Der ideale Platz für heute Abend …

Nina drehte die Postkarte um. Das Eingangstor zu Ritter Romans legendärem Reich, war auf der Rückseite zu lesen.

Wenn ich nur wüsste, wo das ist. Nina beschloss, die Karte zu kaufen und die Verkäuferin nach dem Tor zu fragen.

Und dann brauche ich noch Kerzen, überlegte Nina. Oder Teelichter. Oder Fackeln. Irgendetwas in der Art …

3. Ein ganz besonderes Geschenk

Daniel atmete erleichtert auf. Da hatte er gerade noch mal Glück gehabt. Im Geiste dankte er Delia dafür, dass sie ihn in letzter Sekunde gerettet hatte. Aber wo sollte er auf die Schnelle ein Geschenk für Nina finden? Unsicher blickte er sich um. Vielleicht hatte ja Magnus eine Idee. Der hielt ihm allerdings nur eine Stange Lauch von einem der Gemüsestände vor die Nase.

»Mädels stehen doch auf gesundes Zeug«, meinte Magnus und lachte schadenfroh. Dann zeigte er auf einen Antiquitätenladen. »Hast du Geld dabei?«

Daniel zog sein Portemonnaie aus der Tasche.

»Wahre Liebe hat ihren Preis«, murmelte Magnus, als er mit Daniel den Laden betrat.

Vor ihnen breitete sich ein Sammelsurium unterschiedlichster Sachen aus. Kunst und Krimskrams, Kitsch und Krempel. Ein Kronleuchter erhellte den Raum und tauchte alles in warmes Licht. Es roch nach Lavendel und Rosenseife.

»Hallo«, begrüßte sie ein Mädchen, das etwa in ihrem Alter war. »Opa, Kundschaft!«, rief es und fügte erklärend hinzu: »Er ist noch oben.«

Daniel bedankte sich für die Auskunft, während Magnus ein wenig herumstöberte und auf eine Maske stieß.

»Hmm«, schmunzelte Magnus. »Da wird Felix sich aber freuen …«

»Kann ich behilflich sein?«, fragte der alte Antiquitätenhändler, der gerade den Verkaufsraum betreten hatte.

»Äh, ich suche ein Geschenk«, stammelte Daniel. »Für meine Freundin. Etwas Besonderes.«

»Etwas Besonderes«, echote der Antiquitätenhändler und holte ein wunderschönes Armband unter seinem Ladentisch hervor. »Hundertzwanzig Euro«, sagte er und breitete das Schmuckstück vor Daniel aus.

Daniel schluckte.

»Ich hab’s dir ja gesagt«, mischte sich Magnus ein. »Wahre Liebe hat ihren Preis.«

»Wahre Liebe?«, wiederholte der Alte, und seine Stimme bekam einen sehnsüchtigen Schmelz. »Da habe ich was Besonderes für dich.« Er durchquerte den Laden und hielt mitten in der Bewegung inne. »Was redest du da, du alter Narr«, sagte er. Daniel wusste nicht, ob der Mann zu sich selbst sprach oder zu einer unsichtbaren Person. »Vergiss, was ich gesagt habe«, meinte er zu Daniel und machte eine bedauernde Handbewegung.

»Warten Sie«, sagte Daniel. »Nina ist meine große Liebe – ich würde alles tun, um ihr das zu zeigen.«

»Alles?« Der Antiquitätenhändler sah Daniel forschend an. Er drehte sich um und murmelte wieder wild gestikulierend vor sich hin. Als ob er mit einem Geist reden würde. Es war irgendwie unheimlich. Daniel konnte nicht verstehen, was er sagte, glaubte aber, etwas wie »Nein, nein, viel zu gefährlich« gehört zu haben.

Daniel beschloss, nicht locker zu lassen. »Was wollten Sie mir zeigen?«

Der alte Mann schaute Daniel noch einmal eindringlich an. Plötzlich schien er es sich anders zu überlegen und holte ein kleines, achteckiges Kästchen aus einer Schublade. Er nahm den Deckel ab, sodass Daniel einen Blick in die Schatulle werfen konnte. Darin lagen zwei Ringe. Sie schienen sehr alt zu sein.

Wie magisch angezogen nahm Daniel eines der beiden Schmuckstücke heraus und betrachtete es.

»Die Ringe der wahren Liebe«, sagte der Antiquitätenhändler, während Daniel den Ring zwischen seinen Fingern hin- und herdrehte. »Der Legende nach hat Ritter Roman sie weggeworfen, als seine Geliebte ihn im Stich gelassen hat.« Dann senkte der Mann seine Stimme. »Seitdem ruht ein Fluch auf ihnen …«

Daniel legte den Ring in das Kästchen zurück und nahm ein ledergebundenes Büchlein in die Hand, das der Antiquitätenhändler ihm reichte.

»Dieses Buch stammt ebenfalls aus Ritter Romans Nachlass. Kein Mensch weiß, was es bedeutet«, sagte er.

Beginnt ihr einen Streit aus Neid, wird er zu eurem eig’nen Leid. So sehr ihr auch den Sieg begehrt, so schnell ihr diesen Streit verliert, las Daniel.

Der alte Mann nahm ihm das Büchlein aus der Hand. Hatte er es sich anders überlegt? Wollte er die Sachen nun doch nicht verkaufen? Oder hielt ihn gar jemand davon ab? Ein Geist? Eine unsichtbare Macht?

»Ach Opi, jetzt fängt das schon wieder an«, sagte seine Enkelin. »Er ist verrückt nach Sagen und Märchen – er glaubt einfach alles«, erklärte sie und lächelte Daniel zu.

»Ich nehme beides. Die Ringe und das Buch.« Daniel war sich sicher, dass er das richtige Geschenk für Nina gefunden hatte.

»Vielleicht ist es ja wirklich nur ein Märchen«, murmelte der Antiquitätenhändler.

»Also kann ich sie haben?«, fragte Daniel hoffnungsvoll.

Magnus verdrehte die Augen. Wie lange sollte das denn noch gehen? Was war der Alte für ein Geschäftsmann, wenn er nicht verkaufen wollte?

»Na gut.« Endlich willigte der Antiquitätenhändler ein. »Aber sag später bloß nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

Daniel zog sein Portemonnaie aus der Tasche, doch der Mann hob abwehrend die Hände.

»Nein«, murmelte er und schüttelte bekräftigend den Kopf. »Geh jetzt, bevor ich es mir anders überlege.«

»Cool«, sagte Magnus.

Daniel bedankte sich und verabschiedete sich von dem Antiquitätenhändler und seiner Enkelin. Danach verließ er mit Magnus den Laden.

4. Der Zeltplatz am Waldrand

»Es ist physikalisch erwiesen, dass ein Zelt stabiler steht, wenn man die Heringe in einem Winkel von fünfundvierzig Grad in den Boden steckt«, sagte Charlotte, während sie mit Kaya zusammen eines der Zelte aufbaute.

»Gilt das auch für Sardinen?«, frotzelte Kaya und klopfte den Zeltpflock in den Untergrund. Im vorgeschriebenen Fünfundvierzig-Grad-Winkel, versteht sich.

Luzy brachte unterdessen einen Teil des Gepäcks aus dem Bus. »Hier, Lotte«, sagte sie und stellte ein kirschrotes Köfferchen mit weißen Punkten im Gras neben Charlotte ab.

»Danke«, rief Charlotte und brachte ihr Gepäck in das große Zelt, in dem die Mädchen schliefen.

»Felix, würdest du dich bitte ein bisschen beeilen«, zeterte Delia und stöckelte über das Gras. Sie trug nur ihre Sonnenbrille in der Hand, während Felix hinter ihr her wackelte und einen regelrechten Stapel von Gepäck balancierte. Es waren Delias Sachen. Natürlich nur das Nötigste. Viel mehr konnte man in einem Hartschalenkoffer, einem Trolley, einem Beautycase und einer Reisetasche schließlich auch nicht unterbringen. Dazu kamen noch eine Rolle mit Isomatten und ein Nylonsack, in dem der Schlafsack und die Luftmatratze verstaut waren.

»Ja doch«, maulte Felix.

»Das kommt davon, wenn man anderen Leuten ihre Designersonnenbrillen von der Nase klaut«, gab Delia ungerührt zurück.

»Daniel«, rief Magnus und versuchte, seinen Freund einzuholen. Hinter seinem Rücken versteckte er ein Bündel, das in braunes Packpapier gewickelt und gut verschnürt war. Er hielt das Päckchen so, dass Daniel es nicht sehen konnte. »Sag mal, woher weißt du eigentlich, dass Nina die Richtige ist?«, fragte er mit gesenkter Stimme, als er Daniel eingeholt hatte.

Daniel zuckte beinahe unmerklich mit den Achseln. Was sollte er auf diese Frage antworten? »Ich weiß es einfach«, sagte er. »Ich fühle es.«