Epub cover

Impressum

Copyright © 2016 by Andreas Gruber
Copyright Deutsche Erstausgabe © 2016 LUZIFER Verlag
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert

ISBN E-Book: 978-3-95835-134-9

Sie lesen gern spannende Bücher? Dann folgen Sie dem LUZIFER Verlag auf

Facebook  Twitter  Google+  Pinterest

Sollte es trotz sorgfältiger Erstellung bei diesem E-Book ein technisches Problem auf Ihrem Lesegerät geben, so freuen wir uns, wenn Sie uns dies per Mail an info@luzifer-verlag.de melden und das Problem kurz schildern. Wir kümmern uns selbstverständlich umgehend um Ihr Anliegen und senden Ihnen kostenlos einen korrigierten Titel.

Der LUZIFER Verlag verzichtet auf hartes DRM. Wir arbeiten mit einer modernen Wasserzeichen-Markierung in unseren digitalen Produkten, welche Ihnen keine technischen Hürden aufbürdet und ein bestmögliches Leseerlebnis erlaubt. Das illegale Kopieren dieses E-Books ist nicht erlaubt. Zuwiderhandlungen werden mithilfe der digitalen Signatur strafrechtlich verfolgt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Wenn der Himmel gefriert


Die meisten Science-Fiction-Fans, mit denen ich bisher gesprochen habe, finden den ersten Terminator-Film am besten. Nichts gegen den ersten, aber ich persönlich finde den zweiten noch besser. Einmal weil Arnold Schwarzenegger einen guten Terminator spielt, weil sein Gegenspieler, der silbrig liquide Cop, fantastisch böse und unzerstörbar ist, weil sich Linda Hamilton in der Irrenanstalt zu einer harten und cleveren Kämpferin trainiert hat, um ihren Sohn zu retten, weil es coolere Sprüche, originelle Gags und bessere Zeitlupensequenzen gibt, weil die Story rasanter und die Filmmusik ganz einfach besser ist … tamm-ta-ta-ta-tamm!
  Schon allein den Satz »Wenn du überleben willst, komm mit mir!«, finde ich großartig.
  Sie merken also schon, ich bin ein Terminator-Fan. Aus dieser Liebe heraus ist Wenn der Himmel gefriert entstanden. Ich hoffe, Sie unterhalten sich gut mit dieser Hommage an James Cameron.


Die Sonne hing als blutroter Ball über den Baumwipfeln. Rasch versank sie hinter dem Wald, und bald gloste nur noch ein orangefarbener Streifen am Horizont.
  Über den Feldweg raste ein Jeep. Naluk jagte den Wagen in den ausgefahrenen Furchen durch die Pfützen. Der Schlamm spritzte bis zu den Seitenfenstern hoch, und die Wischblätter verschmierten die Windschutzscheibe immer mehr. Wenn sie nicht demnächst den Wasserbehälter nachfüllte, würden die Blätter nur noch trocken über die Scheibe rattern, bis sie nichts mehr sah. Dann konnte sie die Scheibe mit Spucke säubern oder das Glas aus dem Rahmen treten.
  Naluk riss das Lenkrad herum. Der Geländewagen schlitterte in die Kurve. Hinter ihr lagen die Wälder des Yellowstone Nationalparks, knapp fünfhundert Meilen weiter oben die kanadische Grenze, von wo sie herkam. Sie sah sich nicht um, sondern starrte geradewegs durch die Scheibe, nach Süden. Der Süden! Ihre einzige Hoffnung.
  Vor ihr breitete sich das weite, hügelige Land von Dayton Creek aus. In der Dämmerung sah sie eine Holzhütte. Die muss reichen! Naluk steuerte darauf zu. Neben der Hütte bemerkte sie einen gemauerten Brunnen und den Lattenzaun einer Pferdekoppel. Wie alle anderen Orte, durch die sie während der letzten Tage gefahren war, würde auch diese Hütte leerstehen – das war klar! So weit oben im Norden war es noch zu kalt für Überlebende.
  Hoffentlich war die Tür unverschlossen. Würde es für eine weitere Nacht reichen? Es musste!
  Naluk brachte den Jeep direkt vor dem Eingang der Hütte zum Stehen. Sie löste den Sicherheitsgurt und öffnete die Tür. Augenblicklich roch sie das feuchte Gras und den Dung der Pferde. Bis vor Kurzem mussten hier noch Gäule in der Koppel getrabt sein. Sie sprang aus dem Wagen. Trotz der Kälte waren die Jeans von der langen Fahrt durchgeschwitzt und klebten an ihrem Körper. Sie griff sich an die Gesäßtaschen und streckte das Kreuz durch. Die letzte Rast, bei der sie den Tank und die Benzinkanister gefüllt hatte, lag acht Stunden zurück und nun knurrte ihr Magen. Hoffentlich würde sie in der Hütte etwas Essbares finden. Sie band sich die Haarmähne mit einer abgerissenen Schnur zu einem Pferdschwanz. Wie die meisten Inuit-Mischlinge hatte sie rabenschwarzes Haar. Das schmale, kantige Gesicht und die schwarzen Augenbrauen hatte sie von ihrer Mutter geerbt, einer waschechten Inuit aus Alaska, die leider nicht mehr lebte – und all das, was gerade passierte, Gott sei Dank nicht mehr mitbekam.
  Die Temperatur lag knapp über dem Gefrierpunkt, Naluk fröstelte. Vom Beifahrersitz nahm sie den Parka und schlüpfte hinein. In Turnschuhen lief sie durch die erdigen Lachen, um den Wagen herum. Sie griff sich die Segeltuchtasche von der Ladefläche des Pick-ups und rannte zum Haus.
  Die Tür war zum Glück nicht versperrt. Naluk trat ein und eilte durch die drei Räume der Hütte: Zimmer, Küche und Bad. Die Einrichtung war karg, und die Küche wies auf eine rasche Flucht der Bewohner hin. Essbesteck lag herum, Trinkgläser und eine halb volle Salatschüssel standen auf dem Tisch. Vermutlich war die Familie vor etwa fünf Tagen abgehauen.
  Naluk brauchte unbedingt Benzin, aber draußen hatte sie weder einen Wagen noch ein Motorrad oder einen Traktor gesehen. Weit waren die ehemaligen Bewohner sicher nicht gekommen. Konnten sie gar nicht! Wahrscheinlich lagen sie hinter dem Hügel tot auf dem Feld. Es sei denn, sie hatten herausgefunden, wie man in der Nacht überlebte. Naluk wusste es. Vor einer Woche war sie dahinter gekommen, seitdem machte sie sich dieses Wissen zunutze. Bisher hatte sie Glück gehabt. Ob es auch diese Nacht funktionieren würde, musste sie noch herausfinden. Wenn sie am Morgengrauen noch am Leben war, würde sie weiter nach Süden fahren. Vielleicht stieß sie in Logan oder Ogden auf die ersten Überlebenden. Falls nicht, musste sie es weiter unten versuchen, in Salt Lake City.
  Naluk kramte eine Lampe aus der Tasche. Die Batterie ging noch, aber das Licht war schwach. Naluk lief hinaus zum Wagen. Draußen war es bereits finster. Sie blickte zum Himmel, sog die eisige Abendluft ein. Zu rasch war es frostig geworden, schon bald würde das Knistern der Biomaschinen am Himmel zu hören sein. Ein Kaninchen hoppelte ums Haus. Wie hatte es bisher überleben können? Naluk riss sich von dem Anblick los. Sie zerrte die elektrische Heizdecke von der Ladefläche des Geländewagens, rollte sie zusammen und klemmte sie sich unter den Arm. Das Verlängerungskabel schloss sie an die Batterie des Wagens. Zwar lief der Motor nicht, doch die Batterie war aufgeladen – sie würde für einige Stunden reichen. Mehr brauchte Naluk nicht. So hatte sie überlebt, in den Wäldern des Yellowstones, am Ufer des Missouri, in den Cypress Hills und in den anderen Nächten davor.
  Naluk verlegte das Kabel bis zur Eingangstür des Hauses. Es reichte gerade bis ins Wohnzimmer, wo sie die Heizdecke neben der Segeltuchtasche ausbreitete. Dann schloss sie die Tür, legte den Riegel vor und zog die Fensterläden zu. Viel würde es nicht nützen, doch gab es ihr zumindest die Illusion von Sicherheit – auch wenn sie sich damit etwas vormachte. Aber manche Menschen brauchten einen Strohhalm, an den sie sich klammern konnten, besonders in Zeiten wie diesen.
  Die Taschenlampe rollte über den Boden, der Schein erhellte den Raum nur mäßig. An der Wand stand eine ausziehbare Couch, in der Mitte des Zimmers ein Tisch mit Stühlen. Darüber hingen Bücherregale, daneben Fotos und Gemälde. Viel Zeit blieb ihr nicht. Wie in den Nächten davor würde es verdammt rasch gehen. Bevor die Biomaschinen auftauchten, würde sie es noch einmal versuchen. Grob schob sie die Möbelstücke zur Seite, um den Inhalt der Tasche auf dem Boden auszubreiten.
  Die beiden Baugruppen des Funkgeräts lagen vor ihr: der Transceiver und der Empfänger. Dazwischen ein verworrener Kabelsalat, den sie selbst zusammengeklemmt hatte. Das Gehäuse war abgesplittert und verloren gegangen. Die PTT-Taste lag frei, ebenso das Mikrofon und der Anschluss zur Antenne. Ihr Vater hatte ihr früher, als sie noch ein Kind gewesen war, nicht nur Fliegenfischen und Floßbauen, sondern auch das Amateurfunken beigebracht. Mittlerweile waren zwanzig Jahre vergangen, dennoch konnte sie sich an einiges erinnern. Eilig steckte sie die Bauelemente zusammen, die Transistoren, Röhren und Operationsverstärker für die Steuerspannung. Sie musste sparsam damit umgehen. Die tragbare Batterie würde nur noch für wenige Minuten reichen. Mit dem Regler durchsuchte sie die Hochfrequenzen.
  »Hier spricht Naluk Tenn. Überlebende seit sieben Tagen. Ich befinde mich im Hochland von Dayton Creek, vierzig Meilen nördlich von Ogden. Ich fahre Richtung Süden. Hört mich jemand? Ende.«
  Sie verstummte, ging auf Empfang und wartete. Das Funkgerät rauschte.
  »Hier spricht Naluk Tenn …«, begann sie von Neuem, während sie die Antenne justierte. Ihr Vater hatte ihr eingebläut, die Antenne an die Betriebsfrequenz des Geräts anzupassen, um damit effektiv zu arbeiten. Aber das war ihr nicht möglich. Verflucht! Ihre Hände zitterten.
  »Hier spricht Naluk Tenn …«, wiederholte sie monoton und leierte ihren Spruch herunter. Das Empfangsteil blieb stumm.
  Nach zwei weiteren Versuchen schloss Naluk die Augen. Sie nahm den Finger von der Taste. Es hatte nichts gebracht. Morgen Abend würde sie es noch einmal probieren. Spätestens in Salt Lake City musste sie einen Empfang bekommen. Irgendwo musste doch jemand sein! Falls die Batterie so lange hält.
  Sie fuhr hoch. Draußen knisterte es! Sie rannte zum Fenster und starrte durch die Ritzen der Holzläden. Sie konnte nichts erkennen, doch hörte sie das unheimliche Knirschen und Knacken der durch die Luft schwirrenden Bioteilchen. Soeben musste die Außentemperatur auf minus drei Grad gesunken sein. Wie immer war das der Beginn. Je weiter südlich sie sich bewegte, desto später setzte das Ereignis ein. Für einige Stunden dieser Nacht würde die Temperatur anhalten und erst bei Sonnenaufgang wieder steigen. Solange musste sie durchhalten.
  Sie spähte durch die Ritzen. Am Himmel zuckten die ersten Blitze. In Windeseile steckten sich die Elektronen zu Atomen, Molekülen und einem endlosen Verband von Ionengittern zusammen. Wie eine Gewitterwolke, die sich zusammenbraute, formierten sich die Biomaschinen zu immer größer werdenden Kolossen. Bald waren die ersten Giganten kampfbereit und sanken durch die Wolkendecke.
  Naluk war Forscherin geworden, wie ihr Vater. Allerdings keine brillante Wissenschaftlerin im Staatsdienst, wie der Physiker Norman Tenn, sondern eine gewöhnliche Laborantin. Aber vielleicht wäre sie das einmal geworden, wenn nicht vorher alles den Bach hinunter gegangen wäre. Von ihrem Vater wusste sie, dass die Gelehrten in den Militärlabors vor Jahren gasförmiges Silizium entwickelt hatten, das bei einer Temperatur von minus drei Grad zu leiten begann. Oberhalb dieser Temperatur lief die Reaktion nicht selbstständig ab, erst darunter entfaltete sich der in der künstlichen Intelligenz abgespeicherte Bauplan. Dieser Plan, von der Rüstungsindustrie in Auftrag gegeben, hatte es in sich: Die Schaltkreise der biokybernetischen Maschinen imitierten das menschliche Nervensystem. Ein Set von getrennten Programmen, die ihr Vater konditionierende Module genannt hatte, verbesserte die zuletzt durchgeführte Aktion. Durch Versuch und Irrtum in Simulationen, die rascher als in Echtzeit abliefen, lernten die Maschinen schneller als gewöhnlich. Noch dazu waren sie imstande, diese Informationen auszutauschen, Ziele neu zu definieren und sie in detaillierte Programme zu kompilieren, die verschiedene Teilaufgaben erfüllten. Ein modernes Job-Sharing. Die siebte Testreihe in den Labors Alaskas entwickelte einen selbstständigen Willen. Durch einen unvorhergesehenen Evolutionssprung erachtete eines der Programme den Menschen plötzlich als Feind. Einige Laboranten starben, und das Projekt geriet außer Kontrolle. Die Regierung konnte es nicht länger geheim halten. Tage später machten sich die Biomaschinen selbstständig, und die Menschen wurden mit Thermoscannern gejagt, darunter auch Naluks Eltern. Alaska und Kanada waren bereits gesäubert und menschenleer. Der Rest würde noch folgen.
  Naluk starrte in den Himmel. Die Bestien entwickelten sich ständig weiter. So viel sie erkennen konnte, hatte sie es im Moment mit der vierten Maschinengeneration zu tun. Am Horizont bewegte sich etwas. Sie stürzte zur Heizdecke. Mit dem Regler drosselte sie die Temperatur auf neun Grad über Null. Das würde reichen, um die Maschinen zu überlisten. Sie eilte zum Fenster. Im Mondschein lief das Kaninchen über den Erdboden und schnupperte an den Grasbüscheln.
  »Hau ab!« Naluk hielt den Atem an.
  Da senkte sich die erste Biomaschine durch die Wolkenfetzen, schob sich vor den Mond und tauchte die Landschaft in einen gewaltigen Schatten. Die Maschine schwebte über den Hügel. Der Antrieb dröhnte. Ein Blitz zuckte vom Himmel. Naluk fuhr zusammen. Sie umklammerte das Fensterbrett. Im Umkreis von einem Meter versengte der Strahl des Kalten Feuers die Stelle, an der das Kaninchen gerade noch gesessen hatte. Die Maschine wusste nicht, dass es nur ein Tier gewesen war. Die Bestien konnten nicht zwischen menschlichen und anderen Lebewesen unterscheiden. Außerdem war es ihnen gleichgültig.
  So viel Naluk von ihrem Vater wusste, arbeiteten die Infrarotsensoren ähnlich wie Kameras. Sie zeichneten Bilder der Wärmestrahlung auf und berechneten die Messwerte der Umgebung. Mit den Scannern würden sie alle Geschöpfe aufspüren, deren Körpertemperatur über zehn Grad lag, und mit einem Bombardement des Kalten Feuers zuschlagen. So hatte es eines der neuen Masterprogramme festgeschrieben, und damit hatten sie sich selbst programmiert. Die Weiterentwicklung der Kriegsmaschinerie hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Sie waren die perfekteste Waffe, die je von Menschen erdacht worden war, wie geschaffen für den Einsatz in den Krisengebieten Grönlands und Sibiriens. Doch die Kreaturen waren zu perfekt, als dass sie sich länger von Menschen befehlen ließen. Naluks Vater hatte seine Auftraggeber davor gewarnt und mit Kündigung gedroht, aber was konnte ein Einzelner gegen die Milliarden Dollar schweren Projekte der Regierung schon ausrichten?
  Die Messsonden schwärmten aus und jagten auf das Haus zu. Verdammt, viel zu schnell! Naluk zog den Parka aus und knöpfte ihr Hemd auf. Sie schlüpfte aus Turnschuhen und Jeans. Nur mit einem Top und einem Slip bekleidet kroch sie in die Heizdecke, die wie ein eng anliegender, dicker Schlafsack aussah. Das Innere der Decke hatte neun Grad erreicht. Eine Gänsehaut jagte ihr über die Schenkel, ihre Zähne schlugen aufeinander. Sie wusste, das alleine würde nicht ausreichen, die biokybernetischen Teufel zu überlisten. Die Maschinen waren nicht dumm, ihre Thermoscanner kein Schrott. Doch die Elektronengehirne der Maschinen ahnten nicht, dass Naluk das Innere der Heizdecke mit einer kühlenden Effusionsfolie verkleidet hatte. Was für eine simple Idee! Ihr Vater wäre stolz auf sie gewesen, hätte er das noch erleben können. Durch die hauchdünnen Wände strömte Kühlgas. In der Folie bildete sich ein Film, der ihre Körperwärme absorbierte. Die Folie würde ihre Temperatur isolieren, die Infrarotsensoren der Thermoscanner sie nicht entdecken. Bisher hatte es geklappt – und sofern die Maschinen nicht dazugelernt hatten, würde es auch diesmal klappen.
  Naluk zog sich die Folie über den Kopf. Bibbernd umschlang sie den Körper. Die Biomaschine kam näher und patrouillierte dröhnend über der Hütte. Naluk hielt den Atem an. Wenn der Koloss sie entdeckte, würde es rasch vorbei sein. Falls nicht, würde er über die Hütte fliegen. Sie lauschte. Hau ab! Die Biomaschine blieb unmittelbar über dem Dach schweben. Das Dröhnen wurde lauter. Die Maschine senkte sich. O nein! War sie misstrauisch geworden? Aber das Monstrum konnte sie nicht entdeckt haben. Unmöglich! Bisher hatte der Trick mit der Decke immer … Der Wagen! Naluk biss sich auf die Lippen. Der verdammte Wagen! Die Maschine registrierte die Restwärme des Motors. Heute war sie länger als sonst unterwegs gewesen, bevor sie …
  Aus dem Augenwinkel sah sie, wie es am Himmel aufblitzte und für einen Moment der Raum durch die Fenster erhellt wurde. Das Kalte Feuer! Naluk zuckte zusammen. Die Pfütze im Benzintank explodierte mit einem dumpfen Wuff, und einige Blechteile des Jeeps knallten gegen die Hütte. Naluk zuckte zusammen. Draußen hörte sie das Feuer prasseln. Vermutlich stand der Stoffbezug von Sitzen und Rückbank in Flammen, und das Plastik schmolz. Das Dröhnen schwoll an. Die Maschine hing direkt über der Hütte. Naluk hörte das schrille Zirkulieren der Module und Bauelemente. Klick, Klick, Klick! Der Boden vibrierte. Das Funkgerät hüpfte auf und ab, die Bücher rumpelten vom Regal und fielen der Reihe nach zu Boden. Suchte das Monstrum nach Überlebenden? Hau endlich ab!
  Sie war ohne Auto, schoss es ihr durch den Kopf. Verdammt! Zu Fuß würde sie am nächsten Morgen nicht weit kommen. Fieberhaft dachte sie nach. Sie würde vierzig Meilen am Tag schaffen. Höchstens! Doch das war bloß Theorie, die Wahrheit sah anders aus. Mit der Segeltuchtasche auf dem Rücken und der Heizdecke im Arm würde sie bald erschöpft sein. Außerdem lag bis Ogden hügeliges Land vor ihr. Was Luftlinie etwa vierzig Meilen bedeutete, betrug tatsächlich das Doppelte. So würde sie nicht rasch genug in den Süden gelangen. Zum Überleben brauchte sie aber eine wärmere Gegend.
  Sie lugte aus der Folie hervor. Vor ihr schlängelte sich das Kabel der Heizdecke über den Boden und verschwand unter der Eingangstür nach draußen. Schlagartig kam ihr ein neuerlicher schrecklicher Gedanke. Die Batterie des Wagens! Sie war gerade zu einem Klumpen aus Kunststoff und Metall geschmolzen. Ohne Batterie war die Heizdecke nutzlos. Naluk konnte sie getrost hier lassen und musste sie gar nicht mitschleppen.
  Aber das war längst nicht alles! Ihr Herz begann zu rasen. Ohne funktionierende Batterie wurde die Decke nutzlos, dann war Naluk ein offenes Ziel für die Biomaschinen. Wie lange würde die Folie ihre Körperwärme noch isolieren?
  Eine Minute?
  Vielleicht sogar zwei?
  
Sie hielt den Atem an. Wenn sie jetzt starb, würde sie ihr Wissen mit ins Grab nehmen. War die Vermutung, die sie sich in den letzten Tagen zusammengereimt hatte, umsonst gewesen? Dabei war die Lösung so einfach! Die Bestien jagten im Dunkeln, sie waren lichtempfindlich. Ein Netz aus Hochspannungsleitungen würde die Luftmoleküle in Schwingung versetzen, erwärmen und die biokybernetischen Konstrukte zerfallen lassen. Licht und Wärme waren ihre Feinde. War noch jemand anderes auf diese Idee gekommen? Offensichtlich nicht! Sonst würde sie hier nicht liegen und auf Rettung hoffen. Doch allein konnte sie das unmöglich schaffen. Sie musste nach Überlebenden suchen, Helfer finden, Techniker und Ingenieure, die sie von ihrer Idee überzeugen konnte.
  Naluk ballte die Hände zu Fäusten. Noch immer dröhnten die Motoren der Maschine über dem Dach. Sirrend umschwirrten die Messsonden das Haus. Naluk spürte, wie die Kälte der Heizdecke nachließ. Gott, sie begann zu schwitzen.
  »Hau ab, du Bestie!«, zischte sie hinter zusammengebissenen Zähnen. Da knackte das Funkgerät. Im Rauschen hörte sie einige Wortfetzen.
  »Hier spricht Nick aus Ogden.« Die Stimme klang nach einem zwanzigjährigen Jungen. »Wir haben Ihre Nachricht erhalten, konnten jedoch erst jetzt antworten, weil …« Der Rest ging im Rauschen unter.
  Überlebende! Naluk blinzelte unter der Folie hindurch zum Funkgerät. Verdammt! Es war zu weit entfernt. Sie konnte es nicht erreichen. Wenn sie mit der Hand aus der Decke schlüpfte, würde das Kalte Feuer sie erfassen.
  »… Naluk Tenn? Können Sie mich hören? Ende.«
  »Ja«, flüsterte Naluk. »Scheiße!«
  Bewegungslos lag sie in der Decke. Draußen prasselte und knackte das ausgebrannte Wrack des Wagens. Über ihr dröhnte die Maschine. Wahrscheinlich würde sie erst dann verschwinden, wenn das Feuer erloschen war. In der Zwischenzeit erwärmte sich die Heizdecke.
  »Hier spricht Nick aus Ogden. Antworten Sie bitte, falls Sie mich hören. Wir haben den unterirdischen Bunker der Stadt besiedelt. Im Moment sind wir nur eine Handvoll Flüchtlinge. Seit Tagen suchen wir nach weiteren Überlebenden. Bis jetzt ist noch niemand zu uns gestoßen. Ende.«
  »Das kann ich mir denken«, seufzte Naluk. Die Überlebenden der nördlichen Hemisphäre konnten an den Fingern weniger Hände abgezählt werden.
  »Hier spricht Nick aus Ogden …«
  Mit einem Mal wurde das Dröhnen über ihr leiser. Die Maschine schwang sich in den Himmel. Dort verharrte sie, dann zog sie ab.
  Naluk strampelte sich aus Folie und Decke, kroch zum Funkgerät und drückte die Taste.
  »Hallo Nick! Hier spricht Naluk! Verstehen Sie mich? Ende!«
  »Laut und deutlich. Ende.«
  Erleichtert atmete sie auf. »Ist in Ogden das Netz der Hochspannungsleitungen noch intakt? Ende.«
  Schweigen. Er musste sie für verrückt halten.
  »Wie bitte? Ende.«
  Naluk wiederholte die Frage.
  »Ja. Warum? Ende.«
  Gott sei Dank! »Damit können wir die Flugmaschinen zerstören. Die Details erkläre ich Ihnen, wenn wir uns treffen. Ende.«
  »Auch die in der Er…?« Ein Knistern verschluckte den Rest des Satzes.
  »Bitte wiederholen! Ende.«
  »… in d… Erde?«
  In der Erde? Wovon sprach er? »Darüber sprechen wir später. Sind Sie mobil? Ende.«
  »Ja, sind Sie noch immer … Hochland von Dayton Creek? Ende.«
  »Ja, aber mein Wagen ist defekt. Ende.«
  »Wir schicken ein Auto rauf, das … abholt.«
  »Nein!«, unterbrach sie ihn. »Nicht vor Morgengrauen.«
  Wieder Schweigen. Sie hatte keine Zeit, ihm alles zu erklären. Nicht jetzt! Die Maschine könnte jeden Augenblick zurückkommen oder die tragbare Batterie des Funkgeräts den Geist aufgeben.
  »Schicken Sie Ihre Leute erst bei Sonnenaufgang raus! Bis dahin werde ich mich hier verstecken. Ende und Aus!«
  »Verstanden! Ende und Aus!«
  Erschöpft ließ Naluk die Schultern sinken. Jetzt musste sie nur noch die Nacht überstehen. Sie schlüpfte in die Kleider und verließ die Hütte. Draußen war es finster und kalt. Der Mond hing hinter einer Wolkendecke. Am Horizont blitzten die Maschinen. Die biokybernetischen Bestien hatten diese Gegend gescannt, die Koordinaten gespeichert und als gesichert katalogisiert. Es war nur eine Vermutung, aber wenn sie sich in der Nähe des ausgebrannten Wracks aufhielt, konnte sie die Restwärme des Brandes als Tarnung nutzen. Durch die Linse des Thermoscanners würde sie mit den Teilen des Wagens zu einem Gebilde verschmelzen.
  Sie kauerte sich in die Nähe der geschmolzenen Reifen des Jeeps, zog die Beine an und massierte sich die Schläfen. Es würde die längste Nacht ihres Lebens werden. Ihr Magen knurrte, aber sie lächelte. Sie hatte ihre Helfer gefunden. Zwar nur eine Handvoll Menschen im Bunker von Ogden, doch immerhin … es war ein Anfang. Sie schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Im Morgengrauen würde sie nach Nick und seinem Wagen Ausschau halten. Mit etwas Glück sah er genauso süß aus, wie seine Stimme klang.
  Sie döste ein und hörte nicht, wie sich wenige Meter hinter ihr eine spitze Sonde aus der Erde grub, ihre Körperwärme scannte und ein Funksignal nach oben schickte.
  Neuer Angriff erbeten …

Parkers letzter Auftrag


Ich liebe die Wissenschafts-Thriller von Douglas Preston & Lincoln Child, und ich bewundere Autoren wie Michael Crichton oder Tom Clancy – beide leider schon verstorben –, die moderne Technik in spannende Geschichten verpacken konnten.
  Als ich die Einladung von Helmuth Mommers bekam, einen Beitrag für eine deutschsprachige SF-Anthologie zu schreiben, verfasste ich Parkers letzter Auftrag. Die Idee dazu spukte mir schon seit langem durch den Kopf – und ich hoffte, dass es mir gelingen würde, den wissenschaftlichen Ansatz dieser Geschichte in einen spannenden Plot zu verpacken.
  Bilden Sie sich Ihre eigene Meinung dazu …


Winston Parker lag wie eine Laborratte auf der elektronischen Pritsche. Er trug lediglich ein weißes Nachthemd. Steckplätze für Dioden befanden sich in seinem Körper, Kabel hingen aus den Schläfenkontakten und Dutzende von Fiberglasnadeln steckten in seinen kräftigen Oberarmen. Röhrchen mit stecknadelkopfgroßen Kameras führten in seine kahl rasierte Brust. Winston keuchte. Schließlich hob er den Kopf und blinzelte.
  »Nicht bewegen!«
  Winston erstarrte. Die Maschinen, die im Halbkreis um ihn herum aufgebaut waren, begannen surrend zu arbeiten. Mit einem metallenen Schnappen schlossen sich die chromfarbenen Hand- und Fußschellen um Winstons Gelenke. Der Rand der Metallklammern schnitt ihm ins Fleisch.
  Seine Kehle war staubtrocken. »Ist das notwendig?«
  Der Mann im weißen Kittel trug einen orangefarbenen Augenschutz. Er blickte vom Laptop auf und wandte sich Winston zu. »Das ist zu Ihrer eigenen Sicherheit, Mister Parker. Glauben Sie mir!«
  »Wird es wehtun?«
  »Darauf können Sie Gift nehmen!« Der Wissenschaftler lächelte, streifte sich Handschuhe über und nahm eine Kanüle aus dem vor Kälte dampfenden Tiefkühltresor. Im kalten Licht des Labors betrachtete er die blaue Flüssigkeit.
  »Aber bis jetzt hat es noch jeder überlebt.« Er klickte die Kanüle in ein platinfarbenes Gerät, das einer Handfeuerwaffe glich, und ließ die Injektionsnadel ausfahren. In der zwölf Zentimeter langen Nadel spiegelte sich die Deckenbeleuchtung.
  Winstons Augen wurden groß. »Da sind die Computer drin?«
  Der Mann lächelte. »Nein, Sir! Keine Computer.« Amüsiert schüttelte er den Kopf. »Wir bevorzugen den Begriff Nanomaschinen! Die Chiptechnologie ist vor Jahren an ihre Grenzen gestoßen, Halbleiter lassen sich nicht beliebig verkleinern. Wir mussten andere Wege gehen.«
  Winston nickte. Was auch immer es war, das sie ihm in den Körper jagten − für ihn waren und blieben es Computer.
  Mit einer nach Alkohol riechenden Lauge rieb der Mann Winstons Armbeuge ein. Er stach ihm die Injektionsnadel in die Vene und ließ sich auch nicht stören, als Winston zusammenzuckte.
  »Das wird jetzt kalt werden. Beißen Sie die Zähne zusammen!« Der Mann drückte den Kolben des platinfarbenen Geräts bis zum Anschlag durch. Die blaue Flüssigkeit schoss in Winstons Blutbahnen. Augenblicklich riss er die Augen auf und stemmte sich gegen die Fesseln.
  »Es kommt noch schlimmer«, versicherte ihm der Mann.
  »Schlimmer?«, presste Winston hervor. »Das haben Sie mir vorher nicht gesagt.«
  Der Mann lächelte. »Wenn ich Ihnen das vorher gesagt hätte, lägen Sie jetzt nicht hier und Nano-Components hätte einen Kunden weniger.«
  »Reizend.«
  »Wie geht es Ihnen?«
  »Beschissen, danke!«
  »Gut.« Der Mann kontrollierte die Displays auf den Armaturen. »Das wär’s. In etwa einer Stunde patrouillieren die Robots in Ihren Blutbahnen und beginnen damit, Organe und Zellen zu reparieren.«
  »Und wenn dabei etwas schief geht?«
  Der Mann nickte nachdenklich. »Sie meinen, wenn sich zum Beispiel Ihr Blut auf vierzig Grad erhitzt oder die Nanomaschinen von innen ein Loch durch Ihren Körper brennen?«
  Winston schluckte.
  »War nur ein Scherz! Keine Sorge.« Der Mann grinste. »Die Maschinen wissen, was zu tun ist. Die zwei Millionen Assembler machen nichts anderes, als die Moleküle in Ihrem Körper auf- und abzubauen; sie reinigen die Arterien, entfernen per Laser die Ablagerungen, schneiden an den Zellen herum, kopieren Ihre DNS und stellen damit neue Proteine her.«
  Winston entspannte sich. »Großartig!«
  Während der Mann um die Pritsche herumging, starrte er auf die Injektionsnadel in seiner Hand. »Dreißigtausend Nanoröhrchen, eintausend DNS-Motoren, vierhundert Molekülschalter, zehn Nanoboards und acht Rastertunnelmikroskope − all das war in dieser Lösung.« Er hob den Blick. »Ihr Inhalt war teurer als das Haus, in dem meine Ex-Frau wohnt.« Er zuckte mit den Achseln und warf die leere Kanüle in den Mülleimer.
  Da gingen vierhundertfünfzigtausend Dollar dahin! Diese einmalige Zahlung für die Grundausstattung hatte Parker keineswegs locker aus dem Ärmel geschüttelt – dafür hatte ein Makler sein Haus in Chicago verkaufen müssen.
  Der Wissenschaftler blickte auf die Uhr, dann zu den Anzeigen. »Jetzt müsste es eigentlich losgehen.«
  »Was denn?«
  »Die Nanomaschinen entpacken sich jeden Augenblick.«
  Plötzlich ging ein Ruck durch Winstons Körper. Er bäumte sich auf, spannte die Muskeln an und riss den Mund zu einem Schrei auf. Die Metallklammern schnitten in seine Gelenke und ihm traten Adern und Sehnen wie Kabel aus den Unterarmen. Ohne die Fesseln hätte er in dem Labor wie ein Berserker gewütet.
  »Schreien Sie nur«, sagte der Mann gelassen. »Ich erlebe diese Anfälle täglich. Es ist bald vorüber.«
  Doch Winston hörte ihn nicht. Er stemmte sich in die Handschellen, verdrehte die Augen und begann zu brüllen.

Stunden später trug Winston Parker einen glänzenden, cremefarbenen Morgenmantel. Der Gürtel war eng um seine Taille geschnürt. Deutlich war der muskulöse Rücken unter dem dünnen Stoff zu erkennen. Die nackten Füße steckten in Sandalen. Zwei Labormitarbeiter stützten Winston und führten ihn durch einen trostlosen Gang mit surrender Deckenbeleuchtung. Seine beiden Begleiter trugen die blauen Overalls von Nano-Components. Funkgeräte hingen an ihren Gürteln. Oder waren es Waffen? Winstons Blick verschwamm. Noch stand ihm der kalte Schweiß auf der Stirn. Manche Körper vertrugen die Infiltration gut, andere reagierten abwehrend darauf. Sein Körper schien sich noch nicht entschieden zu haben, ob er sich die Seele bald aus dem Leib kotzen sollte oder nicht.
  Die Männer blieben vor einem Zimmer stehen. Service- und Kundendienstbereich stand auf der Tür. Eine Frau im weißen Kittel, mit blonden, hochgesteckten Haaren und einer schmalen Lesebrille empfing ihn.
  »Ah, Sie haben es also überlebt!«, stellte sie trocken fest und musterte Winston über den Brillenrand.
  Winston warf ihr einen bissigen Blick zu.
  »War nur ein Scherz!«, sagte die Kundendienst-Technikerin.
  Ha, ha! Hier versuchte jeder, lustig zu sein. Winston hätte sich totlachen können. Seine beiden Begleiter verschwanden. Winston blieb mit der witzigen Service-Tante allein zurück. Er betrachtete sie neugierig. Eigentlich war die Technikerin gar nicht so alt, wie sie mit der Brille und den hochgesteckten Haaren wirkte. Sie erinnerte Winston sogar ein wenig an Cara. Er schätzte sie auf Anfang dreißig. Ihre Waden waren schlank, ihr Po und die Oberschenkel zeichneten sich durch den engen Kittel ab. Alles an ihr wirkte stramm, als trainierte sie regelmäßig.
  »Wie fühlen Sie sich?«
  »Mein Gaumen ist trocken, ich habe Durst.« Winston versuchte zu schlucken.
  »Das ist normal. Aber Sie dürfen erst in einer Stunde etwas trinken … das System wird sonst instabil, verstehen Sie?«
  Winston verstand nicht, aber die nächste Stunde würde er ohne Wasser auch noch überleben.
  »Das überleben Sie!«, fügte die Technikerin hinzu.
  Ha, ha, witzig!
  
»Kommen Sie! Stellen Sie sich auf das Podest, und ziehen Sie sich aus!«
  »Den Mantel?«
  »Klar den Mantel, oder haben Sie noch etwas anderes an?« Die Frau spitzte die Lippen und wartete. »Kommen Sie schon! Ich habe nicht ewig Zeit. Glauben Sie, ich habe noch nie einen nackten Mann gesehen?«
  Winston streifte den Morgenmantel über die Schultern und überkreuzte die Hände vor seinen Lenden. Die Frau zog die Augenbrauen hoch.
  »Mit dem Körper brauchen Sie sich nun wirklich nicht zu verstecken«, stellte sie fest. »Nicht schlecht für Ihr Alter.«
  »Oh, danke«, gab Winston bissig zurück, während er sich auf das Podest stellte.
  »Das meine ich ernst«, schleimte sie sich bei Winston ein. »Nicht viele Fünfzigjährige achten darauf, dass sie …«
  »Ich bin sechsundvierzig!«
  »Oh!« Sie schluckte. »Woher haben Sie eigentlich diese Narben?«
  »Von meinem Job.«
  »Was sind Sie? Dobermann-Trainer? Mein alter Dad sagte immer, lass dich nie mit einem Mann ein, der …«
  »Ich dachte, Sie hätten nicht viel Zeit«, fiel Winston ihr ins Wort.
  Sie verstummte. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, klapperte sie weiter auf der Tastatur herum. War sie beleidigt? Winston war das egal. Sein alter Dad hatte immer gesagt: Wer austeilen wollte, musste auch einstecken können.
  Eine Röhre senkte sich aus der Decke über Winstons Körper und scannte ihn.
  »Woher kommen Sie?«, fragte ihn die Frau.
  »Chicago.«
  »Was hat Sie nach New York verschlagen?«
  »Mein Job.«
  »Ich dachte, in New York gibt es keine Dobermann-Trainer?« Sie lachte.
  Winston schwieg.
  »Ich komme aus Detroit, aber meine Brüder leben in New York. Haben Sie auch Verwandte hier?«
  »Hier? Nein! Ich hatte mal Verwandte in Chicago, aber das ist lange her.« Er musste an Cara denken.
  »Warum haben Sie sich für Nano-Components entschieden? Sind Sie krank?«
  Winston ging die Fragerei auf die Nerven. Er schüttelte den Kopf. Dann bemerkte er, dass sie ihn in der Röhre gar nicht sehen konnte.
  »Nein«, brummte er. »Nur zur Vorsorge.«
  »Gute Wahl!«
  Der Scanner heulte auf und drehte sich wie eine Turbine um Winstons Körper. Er war nicht krank, im Gegenteil, er war kerngesund. Für seinen Job hielt er seinen Körper fit, trainierte regelmäßig im Dojo, rauchte nicht, trank keinen Alkohol und ernährte sich fettarm, vitaminreich und ohne Zucker. Aber vielleicht würde er eines Tages krank werden. Wer konnte das schon sagen? Mittlerweile gab es mehr Krebsarten als Müslisorten, und dann war es gut, wenn er diese kleinen Computerteufel in seinem Körper mit sich herumtrug. Aber den wahren Grund, weshalb er sich für Nano-Components entschieden hatte, würde er ihr nicht auf die Nase binden. Noch nicht! Den würde sie noch früh genug erfahren. Andernfalls hätte er sie schon jetzt töten müssen.
  Der Scanner kam zum Stillstand. Durch einen Augenschlitz blickte Winston aus der Röhre. Auf dem Röntgenschirm an der Wand war die Abbildung seines Körpers zu sehen. Die Projektion bestand lediglich aus einem Skelett und Dutzenden von Blutbahnen. Mit offenem Mund sah er Tausende rote Punkte, die in seinen Adern und Venen zirkulierten. Wie Ameisen krochen, schwammen und rutschten die blinkenden Punkte durch seinen Körper, verbanden sich miteinander oder stießen sich gegenseitig ab. Er sah aus wie das Reklameschild eines elektronischen Menschen.
  »Sind die Computer in Ordnung?«
  »Sie meinen die Nanomaschinen!«, korrigierte sie ihn. »Warum fragen Sie?«
  »Es gab in letzter Zeit angeblich Schwierigkeiten nach der Infiltration. Nicht jeder …«
  »Das sind Gerüchte!«, unterbrach sie ihn. Wahrscheinlich hörte sie diese Frage andauernd und ahnte bereits, worauf er hinaus wollte. Die Röhre hörte auf zu brummen, verschwand in der Decke und gab Winston frei. Er stand nackt auf dem Podest, die Hände immer noch vor den Lenden gekreuzt.
  »Unsere Konkurrenten bezeichnen uns als eine Firma, die aus einer Garage zu rasch groß geworden ist. Mittlerweile beschäftigen wir neunzig Mitarbeiter und machen – allein mit den Honoraren unserer Klienten – eine halbe Milliarde Dollar Umsatz pro Jahr, die man uns anscheinend nicht gönnt. Es ist die reinste Schlammschlacht!« Sie verdrehte die Augen unter dem Visier ihrer elektronischen Brille. »Kleingeistiges Geschwätz – für uns ist das nichts Neues! Darüber hinaus sei unsere Technologie angeblich unausgegoren. Unsinn, wenn Sie mich fragen. Die Konkurrenz will uns nur fertigmachen, um selbst ins große Geschäft einzusteigen. Da hat sie aber schlechte Karten. Mit unseren Patenten decken wir den größten Marktanteil ab.«
  Die Servicetechnikerin beobachtete die roten Punkte auf dem Röntgenschirm. Sie klappte das Visier nach oben und fixierte Winstons Augen. »Die Agenten der Nano-Intelligence-Agency sitzen uns im Nacken, die Behörden überwachen uns, Studenten demonstrieren in der Empfangshalle des Bürogebäudes, Terroristen verüben Anschläge auf unsere Labors, sogar der eigene Aufsichtsrat lässt uns bespitzeln … ziehen Sie den Mantel wieder an … aber ich kann Ihnen versichern, dass alles in Ordnung ist und Sie nichts zu befürchten haben, außer ein Nanoboard brennt sich durch Ihren Körper.« Sie lächelte. »War nur ein Scherz!«
  »Den habe ich heute schon einmal gehört.« Winston schlüpfte in den Mantel.
  Sie machte zwei Bluttests mit ihm, entnahm eine Haarwurzel aus seiner Augenbraue und machte einen Mundhöhlenabstrich für eine DNS-Probe.
  »Wofür ist das gut?«
  »Für unser Security-Team, falls die Jungs mal einen Einsatz haben. Ach ja, habe ich Ihnen schon unsere Security-Card gegeben?«, fragte sie wie beiläufig.
  Winston schüttelte den Kopf. »Wozu?«
  Sie zuckte mit den Achseln. »Für eventuelle Zwischenfälle … was haben Sie?«
  »Gar nichts.« Er räusperte sich. »Welche Zwischenfälle?«
  »Ich hoffe für Sie, dass Sie das nie herausfinden müssen.«
  »Ist das wieder einer Ihrer Scherze?«
  Sie schüttelte den Kopf und drückte Winston eine goldglänzende Karte in die Hand. »Tragen Sie die immer bei sich, Mister Parker. Wenn es Probleme gibt oder Sie sich nicht wohlfühlen, schieben Sie die Karte in den Datenschlitz Ihres Laptops. Dann sind Sie sofort mit unserer Zentrale online. Unser Team macht Ihren Standort ausfindig – egal, wo Sie sich gerade befinden – und ist innerhalb von fünf Minuten dort. Sie haben doch einen Laptop, oder?«
  Winston nickte. »Ich dachte, es ist alles in Ordnung und ich habe nichts zu befürchten? Wozu diese Karte?«
  »Nur zur Vorsorge.« Sie lächelte.
  »Und was macht Ihr Team, wenn ich mich auf einer Safari mitten im Dschungel von Chile befinde?«
  »Wir haben eine Kooperation mit Space Ltd., die in Nord- und Südamerika über nahezu vierhundert Space-Jet-Stützpunkte verfügen«, antwortete sie prompt. »Außerdem gibt es in Chile keinen Dschungel. Nur Wald und Steppe.« Sie lächelte Winston an.
  Klugscheißer! Misstrauisch starrte Winston auf die glänzende Karte in seiner Hand.

Im Zimmer nebenan zog sich Winston T-Shirt, Jeans und Lederschuhe an und schnappte sich seine Jacke vom Kleiderständer. Eine junge Dame führte ihn anschließend zu einem Büro mit glänzendem Türschild. Joseph Goodle, Finanzen. Dort reichte er die Security-Card einem Mann mit schütterem Haar, weißem Spitzbart, grauem Anzug, Hornbrille und einer altmodischen Krawatte. Mister Goodle sah aus wie ein pensionierter Buchhalter und wirkte inmitten des modern eingerichteten Büros ziemlich deplatziert.
  Der Alte zog die Karte durch den Schlitz einer Maschine und gab sie Winston zurück. Einige Lampen blinkten, und über die Monitore der Anlage huschte eine Reihe von Daten.
  »So, das war’s«, murmelte Mister Goodle.
  »Was war’s?«
  »Die Bezahlung«, erklärte der Alte wie selbstverständlich. »Wir haben Ihre Adresse und die Bankverbindung für den Einziehungsauftrag. Das genügt, den Rest erledigt das System.« Er klopfte auf die Tastatur.
  Winston blickte ihn fragend an.
  »Sie haben sich für Account Dreizehn entschieden«, half ihm der Alte auf die Sprünge. »Die Prämie, die Sie zahlen, beträgt täglich neunhundert Dollar, und das bis zu Ihrem Tod.« Goodle grinste. »Oder haben Sie es sich anders überlegt?« Er kniff die Augen zusammen.
  »Aha.« Winston erinnerte sich. Bei seinem zweiten Gespräch mit einem Berater von Nano-Components hatte er einige Vertragspapiere unterzeichnet. Dabei war es auch um das tägliche Honorar gegangen. Und bei diesem Treffen hatte Winston gefälschte Gehaltsnachweise und Kontoauszüge vorgelegt. Anders hätte es nicht funktioniert.
  »Bis zu meinem Tod?«, wiederholte Winston.
  »So ist es«, versicherte ihm der Alte. »Es sei denn, Sie sterben vorher.« Er kicherte.
  »War vermutlich ein Scherz«, knurrte Winston.
  »Genau.«
  Hier arbeiteten nur Witzbolde. Winston versuchte erst gar nicht zu lächeln.
  »Wir sind fertig«, stellte Goodle fest und sah Winston auffordernd an.
  Winston blieb auf dem Stuhl sitzen. »Und jetzt?«
  »Was, und jetzt?«, wiederholte der Alte. »Wir sind fertig! Gehen Sie in das Zimmer am Ende des Korridors und nehmen Sie auf einem der Besucherstühle Platz. Mister Dean wird Sie jeden Augenblick empfangen.«
  »Mister Dean höchstpersönlich?«
  Goodle nickte. »Unser Direktor nimmt sich bei jedem neuen Kunden einige Minuten Zeit für ein Abschlussgespräch.«
  Wie nett! Winston nickte.
  »Wir alle schätzen Mister Dean«, schwafelte der Alte. »Es ist eine große Ehre für Sie, ihn kennenzulernen.«
  Jede Wette! Winston stand auf und ging.

Der Besucherstuhl war mit blauem Stoff überzogen, in den Winston tief einsank. Endlich öffnete sich die Tür und ein Mann betrat den Raum. Er war barfuß. Winston hatte den Eindruck, als schwebte er geräuschlos und erhaben über den Teppich.
  Winston stand auf. »Mister Dean?«
  Lächelnd reichte der Mann Winston die Hand. Er hatte einen kräftigen Händedruck. Im Grunde genommen sah Mister Dean eher unspektakulär aus. Winston hatte eine hoch gewachsene, mächtige Gestalt im dunklen Anzug erwartet, doch der Mann war spindeldürr und einen Kopf kleiner als er. Er trug einen weißen Stoffumhang mit weiten Ärmeln, die braun gebrannten, sehnigen Arme verschränkte er hinter dem Rücken. Seine rahmenlose Brille war blau getönt. Er hatte eine Glatze, die er sich gewiss regelmäßig rasierte und polierte. Auch die Kopfhaut war gebräunt wie eine Ofenkartoffel. Irgendwie wirkte er wie eine Möchtegern-Kopie Mahatma Gandhis. Winston schätzte ihn auf Anfang vierzig. So jung, und schon einer der reichsten Männer Nordamerikas.
  Mister Dean lächelte. Winston hatte mit einem blöden Scherz gerechnet, doch den Gefallen tat ihm der Mann nicht. »Ich beglückwünsche Sie, dass Sie sich für Nano-Components entschieden haben, Mister Parker.«
  »Es gibt nicht viele Alternativen.«
  Der Mann grinste. »Zumindest keine ernst zu nehmenden.« Er nahm Winston am Arm und führte ihn durch den Raum. »Wir leben im dritten Jahrtausend, mein Freund. Die Zukunft gehört der Technologie, und wir sind die Einzigen, die Ihnen ewiges Leben garantieren.«
  »Das klingt so, als wollten Sie Gott die Show stehlen«, entgegnete Winston, der alles andere als religiös war.
  »Wenn der Himmlische Vater tatsächlich existiert …« Mister Dean hob den Zeigefinger. »Würde er seinen Sohn heute als Hacker auf die Erde schicken, um uns die Konstruktionspläne der Nanomaschinen aus dem Tresor zu stehlen. Glauben Sie mir!« Mister Dean lachte auf. »Nano-Components hat die Genesis neu definiert, wir haben die Schöpfungsgeschichte umgeschrieben. Unser Produkt hält den Alterungsprozess auf. Unser Ziel heißt: Unsterblichkeit! Sie gehören zu einer ausgesuchten Minderheit, Mister Parker. Willkommen im Klub! Was ist das für ein Gefühl, ewig zu leben?«
  »Ich habe Durst.«
  »Ha, ha.« Mister Dean lachte und drohte mit dem Zeigefinger. »Sie haben Humor, mein Freund. Sie sind ein Mann nach meinem Geschmack.«
  Anscheinend hörte sich Mister Dean gern reden. Winston ließ ihn.
  »Ewiges Leben ist kein Geschenk Gottes, Mister Parker! Es ist ein Geschenk von uns an die Menschheit! Er, Jesus Christus heißt es im ersten Brief an Timotheus, der allein Unsterblichkeit besitzt und in unzugänglichem Lichte wohnt, den kein Mensch gesehen hat noch zu sehen vermag. Sein ist Ehre und ewige Macht!«
  Mister Dean hob den Blick und starrte Winston durchdringend an. »Ich bin der neue Messias. Ich bringe Ihnen diese ewige Macht. Kein anderer!«
  Wenn du meinst, dachte Winston. Langsam begann er zu ahnen, weshalb Mister Deans Klientel ihn wie einen Gott verehrte. »Es gibt Gerüchte, dass einige Ihrer Kunden spurlos verschwunden sind«, murmelte Winston.
  Mister Dean lächelte. »Datenschutz, mein Lieber. Wir geben keine Auskünfte über unsere Klienten. Nur so viel: Mit der Unsterblichkeit geht jeder anders um. Manche führen ihr Leben genauso weiter wie bisher. Andere wollen sich an einem geheimen Ort zur Ruhe setzen. Wir helfen ihnen dabei. Einige Agenten der Nano-Intelligence-Agency ermitteln deshalb gegen uns, wie Sie sich vielleicht vorstellen können. Dieser lächerliche Verein hat jedoch keine Chance gegen ein einflussreiches Unternehmen, wie wir es sind. An unseren Rechtsanwälten haben sich schon ganz andere die Zähne ausgebissen.« Mister Dean legte Winston die Hände auf die Schultern und musterte ihn. »Ich versichere Ihnen, mein Lieber, unseren Klienten geht es gut. Sie werden sich bald selbst davon überzeugen können.«
  Das werde ich, dachte Winston.
  Mister Dean löste sich von ihm und griff in sein weites Gewand. Er holte eine schwarze Schachtel hervor, die er aufklappte. »Kommen wir zur Einweihung.« Er hielt den Inhalt der Schachtel ins Licht. In einer Kunststoffklammer glänzten zwei daumennagelgroße Schalen.
  »Was ist das?«
  Mister Dean schmunzelte. »Hatten Sie schon mal Kontakt zu einem Eingeweihten?«
  »Nein«, log Winston.
  »Gut, gut. Sie werden staunen.« Mister Dean blickte ihm direkt in die Augen. »Eng aber ist das Tor und schmal ist der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind es, die ihn finden, heißt es im Matthäus-Evangelium«, sagte er. »An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.«
  Winston war sich nicht sicher, aber er ahnte, dass mit dieser Bibelstelle etwas nicht stimmte. Irgendwie war der Sinn verkehrt worden. Doch das war ohnehin egal, denn er hatte keine Lust, mit dem Messias von Nano-Components über Bibeltexte zu philosophieren.
  »… an ihren Früchten«, wiederholte Mister Dean, nahm eine Kontaktlinse aus der Schachtel, legte sie auf die Fingerkuppe und hielt sie ins Licht der Deckenlampe. Die Linse glänzte feucht.
  »Es ist rasch vorüber, zucken Sie nicht mit dem Lid.« Er stellte sich auf die Zehenspitzen, öffnete mit zwei Fingern Winstons Auge und stülpte ihm die Linse über die Pupille.
  »Scheiße!« Winston blinzelte. Kaum hatte er den Schmerz überwunden, hatte er auch schon die zweite Linse im anderen Auge.
  »Muss das sein?« Seine Augenlider begannen zu zucken.
  »Das ist Teil unserer Dienstleistung.« Gönnerhaft ließ Mister Dean den Schachteldeckel zuschnappen.
  »Wunderbar.« Winston rieb sich die tränenden Augen. »Wann kann ich die Dinger rausnehmen?«
  »Ha, ha! Sie sind ein Spaßvogel, mein Lieber.« Plötzlich wurde Mister Dean ernst. »Gar nicht! Die Linsen sind auf Ihre Nukleotide abgestimmt. Sie reinigen und regenerieren sich von selbst.«
  »Ist nicht wahr?«
  »Und ob! Nach einigen Stunden spüren Sie die Linsen gar nicht mehr. Jetzt sind Sie ein Eingeweihter, mein Lieber. Durch die Linsen werden Sie Dinge sehen, die anderen Menschen verborgen bleiben. Gehen Sie hinaus auf die Straße, Sie werden die Molekülschalter bald bemerken. Nur unsere Klienten sind die wahrlich Sehenden unter den Blinden!«
  »Wie viele Kunden sind es?«
  »An die siebenhundert in den Staaten, mehr als eine Handvoll in Kanada und ein paar in Europa.« Mister Dean lächelte. »Und täglich werden es mehr.«
  »Wer zum Beispiel?«
  »Unsere Klientel verkehrt in den erlauchtesten Kreisen – in der High Society, wenn Sie so wollen.«
  »Kenne ich jemanden davon?«
  »Sie sind erst dann nicht mehr neugierig, wenn Sie alles wissen, nicht wahr?« Mister Dean musterte Winston über den Brillenrand hinweg. »Aber das, mein Lieber, unterliegt dem Datenschutz. Fremden gegenüber ist unsere Kundenkartei natürlich streng geheim.«
  Winston nickte. Bei dem Preis konnte es sich nur um besonders hohe Tiere handeln.
  »Aber warten Sie es ab, mit den Linsen werden Sie die anderen bald erkennen.« Mister Dean führte seinen Gast zur Tür. Plötzlich wedelte er wie durch Zauberei mit einem Formular.
  »Ach ja, das müssen Sie noch unterschreiben.« Er drückte Winston einen Stift in die Hand.
  »Was ist das?« Winston überflog das Blatt und zeichnete es anschließend neben dem Datum ab.
  »Das ist für den Fall, dass Sie verschwinden möchten, wir für Sie Ihren Abgang aus der Öffentlichkeit organisieren sollen und Ihre Angaben unter den Datenschutz unserer Kundenkartei fallen.«
  Winston nickte und reichte Mister Dean das unterschriebene Formular. Er bekam nicht einmal eine Kopie. Mister Dean grinste breit, schob ihn zur Tür und verabschiedete sich mit einem kräftigen Händedruck. Offenbar hatte er es eilig. Wahrscheinlich hastete er gleich zum nächsten Kundengespräch, um seine Bibelstellen zu zitieren.
  In der Empfangshalle fuhren Dutzende von Menschen auf der Rolltreppe auf und ab. Eine Videowall zeigte Werbefilme. Aus den Lautsprechern dröhnte eine sonore Computerstimme: »Willkommen bei Nano-Components. Wir halten den Alterungsprozess auf. Ihr Traum von Unsterblichkeit wird wahr! Lassen Sie sich helfen, einer unserer Nano-Components-Berater …«
  Winston hörte nicht weiter zu. Er hatte das Gebäude bereits durch die Glastür verlassen.