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In Muriels Elternhaus lebt mittlerweile Colin Sydney mit seiner Familie, einer der alten Nachbarn von ihr und ihrer Mutter Evelyn. Vor allem ihn und die Sozialarbeiterin Isabel Field macht Muriel für die Geschehnisse von vor zehn Jahren verantwortlich. Der verheiratete Colin und Isabel waren einst ein Liebespaar. Beide sind aus den Auseinandersetzungen mit Muriel und Evelyn nicht unbeschadet hervorgegangen. Isabel gab damals nicht nur Colin, sondern auch ihren Beruf auf, während Colin in seine trostlose Ehe zurückkehrte. Mittlerweile haben sie angesichts pflegebedürftiger Eltern, renitenter Teenager, schwangerer Töchter und fremdgehender Ehemänner längst resigniert. Dagegen ist Muriels Energie ungebrochen. Auch wenn sie sich selbst als verrückt und dumm bezeichnet, legt sie eine bemerkenswerte Kreativität an den Tag, um Rache zu üben. Bei den Sydneys schleicht sie sich als grell geschminkte Putzfrau Lizzie ein; bei Isabel pflegt sie deren Vater im Altenheim als selbstlose, arme alte Mrs Wilmot. Ihre Rollen spielt Muriel so gut, dass keiner sie erkennt – vielleicht auch deshalb, weil jeder die Ereignisse von damals vergessen will. Erschöpft vom alltäglichen Wahnsinn, ahnen sie nicht, dass sie längst nicht mehr allein über ihr Leben bestimmen.

autor

© Els Zweerink

Hilary Mantel wurde 1952 in Glossop, England, geboren. Nach dem Jura-Studium in London war sie als Sozialarbeiterin tätig. Sie lebte in Botswana und in Saudi-Arabien. Für den Roman ›Wölfe‹ (DuMont 2010) wurde sie 2009 mit dem Booker-Preis, dem wichtigsten britischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Mit ›Falken‹, dem zweiten Band der Tudor-Trilogie, gewann Hilary Mantel 2012 den Booker erneut. Bei DuMont erschienen zuletzt ihre Autobiografie ›Von Geist und Geistern‹ (2015) und der Roman ›Jeder Tag ist Muttertag‹ (2016).

 

Werner Löcher-Lawrence, geboren 1956, ist als literarischer Agent und Übersetzer tätig. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören u. a. John Boyne, Ethan Canin, Patricia Duncker, Hisham Matar, Louis Sachar, Jane Urquhart und Nathan Englander.

Hilary Mantel

IM VOLLBESITZ
DES EIGENEN WAHNS

Roman

Aus dem Englischen
von Werner Löcher-Lawrence

 

 

Für Gerald

 

 

»… und so geht es, man wird nicht besser, aber anders und älter, und das ist immer ein Vergnügen.«

Gertrude Stein

 

»Werden wohl sich diese Gebeine wieder beleben?«

Ezechiel 37:3

 

Zehn Uhr abends, es regnete und war sehr dunkel. Ein Mann ging die Straße hinunter und pfiff Santa Lucia.

Muriel Axon stand allein am Fenster ihres Zimmers, eine gedrungene, wenig ansehnliche Frau von vierundvierzig Jahren. Sie war in eine Bettdecke gehüllt und hielt ein gekochtes Ei in der Hand, ihr Abendessen. Die Schieferdächer schimmerten nass im Licht der Laternen, der lang gezogene Bogen der Autobahn wand sich hell erleuchtet um die Stadt, und im Schatten der Mauer gegenüber sträubte eine Katze ihr Fell. In der Ferne erhoben sich schwarze Bergrücken.

Muriel grub ihre Fingernägel in die warme Eierschale. Essmanieren interessierten sie nicht, sie waren reine Zeitverschwendung. Sie begann das Ei zu pellen und verzog dabei leicht das Gesicht, steckte die Zunge in die gesalzene, kalte Höhlung und probierte gemächlich. Das Zimmer hinter ihr war dunkel und erfüllt von dem leisen Schaleknacken. Sie saugte und überlegte. Muriels Gedanken unterschieden sich ziemlich stark von denen anderer Leute.

Sie hörte, wie sich unten die Haustür öffnete. Ein schwacher Lichtschein fiel auf den Weg zur Straße, und schon erschien ihr Vermieter, Mr Kowalski, und schlurfte die paar Schritte zum Tor. Er blickte die Straße hinauf und hinunter. Da war niemand. Eine Weile stand er so da, den runden Kopf zwischen die Schultern gezogen, drehte sich, grunzte und kam zurück. Sie hörte die Tür zuschlagen. Es war Viertel nach zehn. Mr Kowalski schloss die Riegel, drehte den Schlüssel zweimal um und legte die Kette vor.

KAPITEL 1

»Ich frage mich, wer der neue Hofdichter wird«, sagte Colin Sidney, als er zum Frühstück hinunterging. Von seinen Mitbewohnern in Haus Nummer 2 an der Buckingham Avenue kam keine Antwort. Auf halber Treppe hielt er kurz inne und sah aus dem kleinen Fenster auf das Dach seiner Garage und den Garten des Nachbargrundstücks hinaus. »Also wer?«, murmelte er. Sonst gab es nichts zu sehen, nur ein paar am morgendlichen Acht-Uhr-Himmel dahinjagende Wolken, die vielleicht etwas Sonnenschein versprachen, darunter dicht gedrängt grüne, tropfende Bäume. Mittsommer. Colin ging weiter und zupfte an seiner Krawatte.

Hinter ihm bereiteten sich die drei jüngeren Kinder auf ihren Tag vor. Er hörte Schreien und Fluchen, Türen wurden zugetreten. Das Radio plärrte, und gleichzeitig lief eine Platte. Acid Raine and the Oncogenes ließen die Wände mit ihrer aktuellen Hitsingle erbeben. »Ted Hughes?«, fragte er. »Larkin?«

Es gab vielleicht noch eine Gnadenfrist von zehn Minuten, bis die Kinder die Treppe heruntergestürmt kamen, über ihr Frühstück herfielen, den täglichen Kampf gegeneinander fortführten und ihre Eltern beleidigten. Colin betrachtete sich im Dielenspiegel. Er wünschte, Sylvia würde das Ding umhängen, damit nicht jeder Tag mit dieser Konfrontation begann. Vielleicht sollte er sie darum bitten. Ihn von sich aus umzuhängen kam nicht infrage. Er hatte seine Zuständigkeitsbereiche, Einrichtungsfragen gehörten nicht dazu.

Er sah einen Mann von dreiundvierzig Jahren mit hellblauen Augen und lichtem Haar, dessen gutes Aussehen, wie er sich sagte, mit den Jahren etwas verblichen war. Aber nein, die Schönheit von Kurtisanen verblich, Lehrer verschlissen höchstens. Er sah eine gewisse Hilflosigkeit, in der Familie wie draußen im Alltag, einen Mangel an Stärke, moralisch wie körperlich. Angesichts des Krachs oben im Haus tröstete er sich mit einem Zitat: »Sie verhunzen dich, deine Mum und dein Dad/Vielleicht wollen sie es nicht, aber sie tun’s.«

Sylvia war bereits in der Küche. Er glaubte, ihre spezielle Müslimischung wie einen Steinschlag in eine Schüssel stürzen zu hören. Doch stattdessen stand sie mitten im Raum, den Kopf in den Nacken gelegt, und sah nach oben, als er hereinkam.

»Was für eine Schweinerei«, sagte sie. Die Decke und das obere Drittel der Wände waren nach dem Feuer gestern mit einer schmierigen, schwarzen Schicht überzogen. Lizzie, die Putzhilfe, war aus der Diele hereingekommen, und da hing er, stinkender, wabernder Rauch. Zum Glück hatte sie Geistesgegenwart bewiesen, sonst wäre es noch weit schlimmer gekommen.

»Ich verstehe nicht, warum der Ruß so fettig ist«, sagte Sylvia. »Wir braten doch nie etwas.« Sie zog die Hose ihres Trainingsanzugs ein Stück höher. »Die Küche muss ganz neu gestrichen werden, und die Diele wahrscheinlich auch.«

»Ja, schon gut«, sagte Colin und ging zum Tisch. Er war es leid, über das Feuer zu reden. »Kann ich ein Ei haben?«

»Das geht auf deine Kappe«, sagte Sylvia. »Du hattest diese Woche schon zwei, und du weißt, was der Arzt sagt.«

»Ich denke, ich bin ausnahmsweise mal leichtsinnig.« Colin öffnete den Kühlschrank. »War Sohn Alistair eigentlich zu Hause, als es brannte?«

»Wenn ja, gibt er es nicht zu.«

»Er ist der Grund für die meisten Katastrophen im Haus, oder? Und ich sage dir …« Er unterbrach sich. »Wo ist ein Topf für dieses Ei?«

»Wo er immer ist, Colin.«

»Ich sage dir, dass ich die Anstreicherei diesmal nicht übernehme.« Er drehte den Wasserhahn auf. »Entweder macht Alistair das, gegen Bezahlung, wenn nötig, oder wir holen jemanden.«

Sylvia nahm eine Orange aus dem Bastkorb auf der Arbeitsfläche. »Ich verstehe nicht, warum du es nicht machst.« Sie warf die Orange von der rechten in die linke Hand. »Du hast doch bald Ferien.«

»Richtig. Ich habe einen Tag Sommerferien, dann geht es mit dem Stundenplan fürs nächste Jahr los.«

Sylvias Blick folgte ihm durch die Küche. »Willst du Brot?«, fragte sie.

So, wie sie in ihrem hellblauen Trainingsanzug durch die Küche lief, war Sylvia kaum für die Mutter von vier Kindern zu halten. Suzanne, die Älteste, war jetzt achtzehn, und ihre Mutter hoffte auf den Tag, da sie jemand für Schwestern hielt. Die Sache mit Sylvias Alter, sie war unerklärlich. Mit zwanzig hatte sie wie vierzig ausgesehen, als alle Mädchen in der Straße wie ihre Mütter hatten sein wollen. Der Jugendkult war an ihr vorübergegangen. Mit dreißig hatte sie immer noch wie vierzig ausgesehen, füllig und mit schweren Brüsten, das Haar gebleicht und mit Haarlack aufgeplustert wie am Tag ihrer Hochzeit.

Doch dann, Colin konnte nicht genau sagen, wann, hatte sie aufgehört, älter zu werden, hatte die Kontrolle übernommen, sich einen Gymnastikanzug gekauft und war schüchtern in einen Aerobic-Kurs im Gemeindesaal gegangen. Sie hatte sich an den Rand gestellt, zugesehen und verlegen versucht, die dicken Schenkel unter den Händen zu verbergen. In der darauffolgenden Woche hatte sie sich eine Kassette mit Discomusik gekauft und zu tanzen angefangen, war über die Teppichböden getrapst und hatte die Glasböden im von ihrer Mutter geerbten Porzellanschrank zum Klingeln gebracht. Der Porzellanschrank war rausgeflogen und durch einen mit Holzböden ersetzt worden.

Nun trug sie das braune Haar in kurzen, dauergewellten Locken, die, wie Shane, ihr Friseur, dachte, das Feste, eher Harte in ihren Zügen abfingen, war hager und hielt diszipliniert und eigenwillig Diät. Was das Geistige anging, hatte sie einen Kurs an der Open University belegt. Und nachdem sie so viel Gewicht verloren hatte, kaufte sie ständig neue Kleider, winzige T-Shirts und knallige Baumwollröcke, billig und leger. Ihr Denken folgte dem gleichen Muster. Colin schien es, dass sie sich von den gängigen Vorstellungen und Ideen vor allem die zu eigen machte, die seine Selbstachtung untergruben und ihn sich höchst unbehaglich fühlen ließen.

Wie schön wäre es, wenn sie eine Arbeit hätte, dachte Colin. Er war stellvertretender Rektor, und sie schlugen sich so durch. Es gab sogar ein paar Dinge, die sie sich leisteten, wie ihre Putzhilfe Lizzie Blank zum Beispiel (dienstags und donnerstags). Aber die Kinder aßen und aßen, ließen das Licht brennen, das Wasser laufen, mussten eingekleidet und verhätschelt werden, brauchten Geld fürs Schulessen und den Bus und verlangten immer mehr, für Neonfarben und Handschellen und all den anderen Kram, den man auf einem Acid-Raine-Konzert nun mal trug, wollten ihre eigenen Spezialdiäten, Unkostenbeiträge für Schulausflüge und ein Zelt, damit sie im Sommer im Garten schlafen konnten. Sie wollten ekelhafte Videos und Claire, das war beruhigend, nahm er an, eine neue Pfadfinderuniform. Jede Marotte kostete Geld. Vielleicht hingen sie sogar an der Nadel. Mehr kosten konnte es auch nicht. Wenn er die Kontoauszüge überprüfte, hatte er jedes Mal das Gefühl, aufgefressen zu werden, Monat für Monat, von innen heraus.

Aber dummerweise gab es keine Jobs. Nicht für jeden, und sicher nicht für Sylvia. Sie besaß keinerlei berufliche Qualifikation, hatte nach der Schule nichts weiter gelernt, und zudem schien die alte Sylvia noch zu oft durch. Sie wurde hitzig, wenn sie verschiedener Meinung waren, und fiel unter Druck auf die Weisheiten der Wurstfabrik zurück, in der sie vor ihrer Heirat gearbeitet hatte.

Colin nahm sich einen Teller und stellte ihn auf den Tisch. »Und?«, sagte er. »Was hast du heute vor?«

»Das Bürgerbüro, von zehn bis zwölf.« Sylvia schälte ihre Orange. »Später trifft sich das Komitee. Wir überlegen, ob wir ein Frauenhaus gründen wollen.«

Da brodelte etwas Unterdrücktes in Sylvia, das sich nur dadurch befriedigen ließ, dass sie sich in die Angelegenheiten anderer Leute einmischte. Vor der Geburt ihrer Jüngsten, Claire, hatten sie in einer großen Siedlung mit reichlich Tratsch gewohnt, einiges davon ziellos, anderes intrigant. Der Umzug in die Buckingham Avenue hatte dem ein Ende gesetzt. Hier gab es diese Art Klatsch nicht, die meist älteren Leute führten zurückgezogene, ruhige Existenzen. Hohe, intakte Zäune sorgen für gute Nachbarn, hatte er gesagt, als sie vor neun Jahren eingezogen waren. Sylvia sah das nicht so, und in ihrem vierzigsten Lebensjahr entdeckte sie die Sozialarbeit mit Gemeindeaktionen, Gemeindeprotesten und Organisationskomitees für sich. Falls Alistairs aufblühende Vergehensbilanz ihr nicht die Chancen verdarb, würde sie wohl noch Friedensrichterin werden. Das war eine große Veränderung, aber durchaus erklärlich. Die Kinder brauchten sie nicht länger, und ihre Ehe war keine anhaltende Aufmerksamkeit wert, ging einfach immer weiter und passte auf sich selbst auf. Nach zwanzig Jahren kann man keine Leidenschaft mehr erwarten. Da reicht es, mehr oder weniger gut miteinander umzugehen.

Colin stand am Herd und betrachtete sein Ei, das benommen im schaumig auslaufenden Weiß tanzte. Wie lebendig hüpfte es zum Rand des Topfes und schlug dagegen. Er nahm einen Teelöffel, versuchte es zu beruhigen und verbrühte sich die Finger im aufsteigenden Dampf. Er spürte, wie Sylvia ihn beobachtete. Ihrer Meinung nach fehlte ihm der gesunde Menschenverstand, aber er hatte auch nie etwas anderes behauptet. Trotzdem, er war clever und hatte seine Fähigkeiten. Auf seinem Gesicht lag der gewohnte Ausdruck angespannter Verträglichkeit, Gutwilligkeit und Nervosität, gebettet in leichtes Unbehagen.

»Wir sind immer noch beim Benoten der Prüfungen«, sagte er und versuchte das Ei mit einem zufällig in der Schublade gefundenen Teesieb aus dem Wasser zu fischen. »Ich muss dreihundert Zeugnisse unterschreiben, und heute Morgen kommen die Leute von der Gewerkschaft. Man sollte denken, sie lassen die Sache bis nach den Ferien ruhen, aber nein.«

»Gibt es einen Streik?«

»Nun, sie reden darüber.«

»Meine Sympathien haben sie.«

»Meine auch, ich will auch mehr verdienen, aber es macht die Leitung einer Schule verdammt schwierig.« Er seufzte und kümmerte sich wieder um sein Ei.

»Was machst du da eigentlich?«, sagte Sylvia. »Warum stellst du das Ei nicht in einen Eierbecher und setzt dich damit an den Tisch? Willst du damit die Lauderdale Road hinunterrennen?«

Colin setzte sich, stellte seine Ei-Ruine vor sich hin und griff nach der Zeitung. Draußen hatte es aufgeklart, und die Morgensonne schien angenehm durch die doppelt verglasten Fenster. »Ich muss immer an Gullivers Reisen denken, wenn ich ein Ei esse«, erklärte er seiner Frau. »Weißt du …« Er brach ab, machte große Augen und griff nach der Zeitung. »Großer Gott, Sylvia. Das Yorker Münster ist abgebrannt. Sieh dir das an.« Er hielt ihr die erste Seite der Zeitung hin. Unter der Schlagzeile Nachthimmel im Schein lodernder gotischer Pracht prangte da ein vier Spalten breites Foto, das südliche Querschiff des Münsters in Rauch und Flammen.

»Da regnet’s nie, sondern es schüttet immer gleich«, bemerkte Sylvia und warf einen Blick zur Zimmerdecke. Sie hielt ihren Joghurtbecher schräg und leerte ihn sorgfältig mit ihrem Teelöffel. »Wie witzig. Lizzie hat gestern einen Tagesausflug nach York gemacht. Ich frage mich, ob sie es mitbekommen hat.«

»Das passierte um halb zwei nachts.«

»Schade. Sie verpasst nicht gerne was.«

»Großer Gott, das war keine Touristenattraktion«, sagte Colin. »Das ist eine nationale Tragödie. Der Schaden beläuft sich auf vier Millionen Pfund.« Er ächzte.

»Nimm’s nicht persönlich.«

»›Es dauerte fast drei Stunden, den Brand unter Kontrolle zu bekommen‹«, las Colin vor. »›Zwar konnte verhindert werden, dass die Flammen auf den Turm übergriffen und die berühmten Buntglasfenster des Münsters ernsthaft beschädigten, die alten Deckenbalken des Querschiffs und die Putzgewölbe sind jedoch nur noch ein schwelender Haufen auf dem Boden der Kathedrale.‹«

»Dein Ei wird kalt«, sagte Sylvia. »Ich hätte gedacht, du würdest es essen, nachdem du dir so viel Arbeit damit gemacht hast.«

»Ich hab den Appetit verloren. Du scheinst nicht zu begreifen, was für ein Verlust das für unser kulturelles Erbe ist.«

»Nicht für deine Arterien.« Sylvia warf den Joghurtbecher in den Abfalleimer, öffnete einen der Schränke und holte alles für das Frühstück der Kinder heraus. Inmitten seiner selbstlosen Trauer spürte Colin, wie sich Groll in ihm regte. Sie tut immer noch alles Mögliche für sie, aber nichts mehr für mich. »Wie hat es angefangen?«, wollte sie wissen.

»Ein Blitzschlag, denken sie. Sie zitieren einen Priester, der sagt, es sei ein Fingerzeig Gottes.«

»Warum das?«

»Wegen des Bischofs von Durham. Er wurde letzten Freitag im Münster geweiht. Du weißt schon, seine kontroversen Ansichten zur Wiederauferstehung. Ich dachte, du wärst auf dem Laufenden, wo du doch neuerdings mit unserem Pfarrer auf so freundlichem Fuß stehst.«

»Francis redet nicht viel über die Kirche, mehr über Gemeindeprojekte.« Sylvia wühlte in der Besteckschublade. »Wenn Gott den Bischof von Durham nicht mag, warum hat er ihn dann nicht selbst erwischt, und das gleich am Samstagmorgen?«

»Da würde ich dir zustimmen«, sagte Colin. »Das kann es eigentlich nicht sein.« Er drehte die Zeitung um, auf die letzte Seite, wo es mehr über den Brand zu lesen gab. »›Im Kampf gegen die Flammen war Gott auf unserer Seite‹«, las er. »Wie geht’s übrigens dem Sohn des Pfarrers? Ist er aus dem Jugendknast raus?«

»Er war nicht im Gefängnis. Er ist in einer Erziehungsmaßnahme und leistet Sozialarbeit.« Sylvia griff nach einer Scheibe Toast und ihrem Messer. »Weißt du, was Francis sagt?«

»Pass auf, das ist Butter, was du da nimmst«, sagte Colin.

»Oh, genau!« Nachdenklich legte sie den Toast auf ihren Teller. »Er sagt, Austins Spritztouren mit geklauten Autos gehen auf den tiefen Drang zurück, sein wirkliches Ich zu ergründen, indem er verschiedene Motoren sammelt und ausprobiert.«

»Du meinst, es ist der Fehler des Pfarrers, weil er ihn nach einem Auto benannt hat?«

»In gewisser Weise schon, jedenfalls denkt Francis, dass Austin das so sieht. Indem er die Autos zu Schrott fährt, versucht er die mechanistischen Fantasien loszuwerden, die ihn in Besitz genommen haben, und so sein Überleben als menschliches Wesen zu sichern. Es ist eine Art von Ausleben. Francis’ wirkliche Sorge ist allerdings, dass Austin selbstmörderische Neigungen haben könnte, weil er die Autos doch derartig zurichtet.«

»Lieber Himmel«, sagte Colin. »Ich wusste nicht, dass man sich umbringen kann, indem man Klebstoff schnüffelt.«

»Es kann dein Gehirn beschädigen.«

»Woher will man das wissen?«

»Francis macht sich große Sorgen. Mit Hermione kann er nicht darüber reden. Sie denkt, das ist alles so, weil sie ihn nicht in ein Internat geschickt haben.«

»Ich zweifle nicht daran, dass der Junge bald schon von zu Hause wegkommt, und zwar auf Kosten des Steuerzahlers. Wie er da diesmal wieder rauskommen konnte, ist mir ein Rätsel.«

»Er ist nicht ›rausgekommen‹. Sozialarbeit ist eine angemessene Option.«

»Mir wäre lieber, er wäre weggesperrt. Weg von unseren Kindern. Wie kann ein Pfarrerssohn nur solch ein Halunke werden?«

Es war keine Zeit, das weiter zu erörtern, weil die Kinder hereingestürmt kamen, Karen und Claire in ihren Schuluniformen und der Junge in einer Art Strampelanzug aus ausgebeultem Baumwollstoff, in den hier und da Löcher geschnitten waren, durch die seine Haut zu sehen war. Die Mädchen ließen sich auf ihre Stühle fallen.

»Heute Abend sind die Pfadfinder«, sagte Claire, ein pummeliges Mädchen, das die Hände nach allem Essbaren ausstreckte, »und ich habe meine neue Uniform noch nicht, Mum.«

»Okay, ich kümmere mich darum.« Sie wusste, die Pfadfinderuniform hatte was Konformistisches, Pseudo-Maskulines, wenn nicht sogar Paramilitärisches, aber sie vermutete, dass das im Vergleich zu vielen anderen Dingen, die ihre Kinder unternahmen, ziemlich harmlos war.

»Du solltest sie mal sehen«, sagte Karen. »Sie sollte nicht so viel wachsen, das ist ordinär. Der Rock reicht ihr noch grade mal über den Hintern. Das ist Kinderpornografie.«

»Schluss jetzt«, sagte Colin.

Claire stopfte sich ein Stück Toast in den Mund. »Bald fangen die zwei Wochen Pfadfinder-Tee an. Da muss ich Familie und Freunden mindestens fünfzig Tassen Tee kochen. Und für jede Tasse gibt es eine Note.«

»Wenn du mir einen schimmligen Tee machst«, sagte Alistair, »kipp ich ihn in den Ausguss.«

»Ich habe Benotungsbögen«, fuhr Claire fort. »Darauf müsst ihr ankreuzen, wie mein Tee ist, ausgezeichnet, sehr gut oder gut.«

»Was, wenn’s Hexenpisse ist?«, wollte Alistair wissen.

»Ich wünschte, du würdest den Tisch verlassen, Alistair, wenn du so redest.«

»Ich sitz doch gar nicht am Tisch, oder? Ich steh hier und kuck zu, wie ihr euer Zeugs wie die Schweine in euch reinstopft.«

»Soll er doch verhungern«, sagte Karen. »Der ist doch komplett unterentwickelt, rachitisch oder so was.«

»Alistair hat ganz gewiss keine Rachitis«, sagte Sylvia.

»Er ist so’n Winzling, und deswegen ist er auch so’n übles kleines Großmaul. Das hatten wir in Psychologie.«

»Vielleicht ist er ein Pygmäe«, sagte Claire, »und kann nicht anders.«

Alistair riss ein Stück Küchenpapier ab und putzte sich heftig die Nase, zerknüllte das Papier und warf es nach Karen. Es landete vor ihr auf den Korkfliesen.

»Passt bloß auf«, sagte Sylvia, »Lizzie verschwendet ihre Zeit und mein Geld nicht damit, hinter euch herzuräumen.«

»Ich will nicht, dass sie hinter mir herräumt«, sagte Alistair. »Sorg dafür, dass sie nicht in mein Zimmer geht.«

»Sie kann da gar nicht rein. Du hast doch deine Tür immer abgeschlossen.«

»Was machst du eigentlich da drin?«, fragte Colin.

»Schwarze Magie«, sagte Karen. »Er und Austin. Austin klaut Gewänder und Zeugs von seinem Dad, und dann feiern sie Schwarze Messen.«

»Ich würde dich mit einem Fluch belegen, dass du noch mehr Pickel kriegst«, sagte Alistair, »nur ist da leider kein Platz mehr.«

»Das sind also deine Pläne für heute, dich einschließen und eine Schwarze Messe feiern?«

»Yeah«, sagte Alistair. »Und all die schöne Sonne verpassen.« Er schlurfte aus der Küche. Sylvia sah ihm hinterher.

»Ich mach mir Sorgen«, sagte sie.

Colin blätterte eine Zeitungsseite um. »Das ist immer noch besser, als wenn er zu den Jungen Konservativen ginge«, sagte er.

»Du nimmst nie was ernst.«

»Oh, doch.« Er sah von den Nachrichten über das Inferno auf. »Ich habe nur ständig mit Kindern zu tun, da erschreckt mich das nicht.«

»Ja, aber Alistair ist dein eigener Junge.«

»Richtig, und das erschreckt mich schon. Manchmal.« Aber er kannte Hunderte Kinder, die Alistair in nichts nachstanden, Hunderte, die weit schlimmer waren, asoziale Schulschwänzer aus kaputten Familien. Ihre Familie war noch intakt und knirschte nur ein bisschen unter der Belastung. Die Kinder, mit denen er tagtäglich zu tun hatte, wurden in aller Regel nach einer kurzen Rebellion zu lebenslangen Jasagern. Sie hatten komische Frisuren und darunter dumpfe, konformistische kleine Hirne.

»Ich wünschte, du behieltest sie bis zum Ende des Schuljahrs in der Schule«, sagte Sylvia. »Ich wünschte, er ginge nicht.«

»Was würde passieren, wenn er bliebe? Würde er Oxford und Cambridge im Sturm erobern? Mit seinen Noten?«

»Hör schon auf«, sagte Sylvia und rührte in ihrem Müsli. Sie trainierte sich darin, langsam zu essen, und legte den Löffel sogar zwischendurch ab, was ihren Worten etwas Unechtes verlieh. »Hör auf mit deinem kleingeistigen Schulmeister-Sarkasmus.«

»Macht er dich wütend?«

»Er langweilt mich.«

»Er ist unser einziger Selbstschutz, jetzt, wo sie die Prügelstrafe abgeschafft haben.«

»Ich glaube nicht, dass du deinen Job wirklich wertschätzt, Colin. Du hast ihn über.«

»Ich hab genug«, gab er zu.

»Alistair war so ein heller Kopf.«

»Das sagen alle Eltern.«

Sylvia stand auf und trug das Geschirr zur Spüle. Ihre Orangenschale lag verlassen auf dem Tisch, ein langes, von den Händen einer geübten Diäthalterin produziertes, geringeltes Stück. Colin betrachtete es interessiert. Mit so was kann man wahrsagen, dachte er. Für alle, die neugierig genug waren, lag die Zukunft in einfachen häuslichen Dingen versteckt, in Schlüsseln und Teeblättern. In einer Orangenschale finden sich Buchstaben, die dir sagen, was wichtig ist in deinem Leben. Er konnte ganz deutlich ein großes I erkennen.

Sofort erfüllte ihn ein Gedanke, den er kurz hin- und herwendete und für unwillkommen erklärte. Er wollte sich nicht näher damit beschäftigen und vertrieb ihn. Sein Puls stieg leicht an, er senkte den Blick und stellte die Kaffeetasse ab. Der Gedanke kam zurück, ohne große Eile, und umschloss sein Denken wie ein Band. Er war Sylvia ein paar Monate in seiner langen Ehe untreu gewesen. Seine Affäre mit Isabel Field lag Jahre zurück, und er hatte sie auch seit Jahren nicht mehr gesehen, doch der Körper trägt seine eigenen Erinnerungen mit sich und abergläubische Gedanken nagen an einem. Auf dem Tisch wird ein Buchstabe sichtbar, Horoskope werden konsultiert. Der Blick einer Fremden auf einem Bahnsteig lässt das Herz kurz aussetzen.

Doch dieser Teil seines Lebens war vorüber. Isabel war jung, die Beziehung zu ihr aufwühlend gewesen und hatte ihn zu verschlingen gedroht. Sie war Sozialarbeiterin gewesen, voller durchdachter Gefühle, immer auf der Suche nach der tieferen Bedeutung in allem. Quälend. In der Erinnerung sah er ihre Trübnis, ihre Skrupel und die Probleme, die sie mit ihren Klienten hatte. Spürte den Schock ihrer Berührung, Haut auf Haut, Mund auf Mund, ihren schneller werdenden Atem in der Dunkelheit des geparkten Autos. Er hatte ihr nichts zu bieten gehabt, nur das, was sie auch von einem anderen Mann bekommen konnte, und zwar auf angenehmere Weise. Sylvia hatte nie etwas davon erfahren. Sie hatte nicht bemerkt, was für einen inneren Kampf er da mit sich auszufechten gehabt hatte, dachte er.

Es war schon richtig so, und am Ende hatte ihr unwissender Körper die Schlacht entschieden. Am ersten Weihnachtstag 1974 hatte Sylvia ihm eröffnet, dass sie wieder schwanger sei, und er hatte auf Isabel verzichtet, damit Claire geboren, drall und dreist werden und ihre Pfadfinderabzeichen ergattern konnte.

Es war ein schlechtes Jahr gewesen. Die Schuldgefühle, die Unehrlichkeit, die hoffnungslosen Monate nach dem Bruch. In letzter Zeit dachte er unwillentlich wieder öfter an Isabel. Es lag etwas in der Luft, etwas Drohendes, Störendes, ohne dass er hätte sagen können, woher es kam oder was es war.

»Du bist ja völlig woanders«, sagte Sylvia und klapperte mit dem Geschirr in der Spüle. Sie kam zum Tisch, nahm die Orangenschale und warf sie in den Abfall. »Du kommst zu spät, wenn du noch länger so da hockst.«

Colin sah auf die Uhr. »Großer Gott, zwanzig nach acht.« Er warf die Zeitung auf den Tisch. »Sieh dir das an, über das Münster. Es ist fürchterlich.« Er griff nach seiner Jacke und lief zur Tür. »Kommt, Kinder. Bis dann, ich bin gegen sechs wieder da.«

Ich sollte, dachte Isabel, ja, ich sollte tatsächlich anfangen, es aufzuschreiben. Alles, was mir in Bezug auf mein Leben vor zehn Jahren im Magen liegt. Ich sollte es aufschreiben, nur habe ich keinen Stift.

Isabels Gedanken bewegten sich dieser Tage langsam voran. Sie war jetzt vierunddreißig, das Nachdenken sollte ihr nicht solche Mühe bereiten, und sie sollte nicht so schrecklich aussehen. Vielleicht machte ihr eine finstere Vorahnung zu schaffen. Das musste es sein.

Selbst wenn sie ein Stück Papier zur Hand gehabt hätte, ihr fehlte der Stift. Als Sozialarbeiterin hatte sie immer einen Stift dabeigehabt und war, bis zu einem gewissen Grad, organisiert gewesen.

Im Moment war sie nicht organisiert. Sie waren gerade umgezogen und hatten noch nicht ausgepackt. Da bin ich wieder, sagte sie sich, wo ich aufgewachsen bin und mein Berufsleben begonnen habe. Wo ich meine erste Liebesaffäre hatte. Wenn man das denn so nennen konnte.

Es ist nicht fair, dachte sie. Ich wollte nie hierher zurück. Ich könnte Colin im Supermarkt treffen, seine Schwester Florence. Vielleicht auch Sylvia. Ich habe Sylvia zwar nie gesehen, habe aber das Gefühl, dass ich gleich wissen würde: Sie ist es. Aus Instinkt, wenn du so willst. Frauen, die sich einmal ein und denselben Mann geteilt haben, können sich wahrscheinlich wittern.

Was ist mit diesem Einkaufszettel? Sie drehte ihn um. Die Rückseite war frei, also warum nicht? Die Hauptsache war, anzufangen, um sich von den Gedanken zu lösen, die ihr unablässig durch den Kopf gingen. Sie durchsuchte ihre Handtasche und fand tatsächlich einen Kugelschreiber, setzte sich an den Küchentisch und atmete tief durch. Ja, ich könnte den Sidneys en famille begegnen, dachte sie. Aber auch auf meine alte Klientin Muriel Axon könnte ich treffen. Das wäre schlimmer.

»Vor zehn Jahren wohnte ich in dieser Stadt, arbeitete für das Sozialamt und war mit Colin zusammen. Ich wohnte zu Hause bei meinem Vater, mehr gab es in meinem Leben nicht. Aber ich hatte diesen Fall, und über den möchte ich schreiben. Muriel Axon, Nr. III/73/0059. Alles an diesem Fall plagte mich – und tut es noch heute.

Muriel Axon und ihre alte Mutter Evelyn wohnten in der Buckingham Avenue 2, in dem Teil der Stadt, wo die Leute große Gärten haben und für sich bleiben. Gleich nebenan, aber ums Eck in der Lauderdale Road, wohnte Colins Schwester, Florence Sidney. Bis ganz zum Ende haben wir diese Verbindung nicht gesehen. Warum sollten wir auch? Als ich Colin kennenlernte (wir schlichen uns heimlich in einen Pub, wo uns, wie wir hofften, keiner kannte), redeten wir nicht über seine Schwester und darüber, wo sie wohnte, und auch nicht über meine Klienten und wo die nun wieder wohnten. Aber hätte ich es gewusst, hätte ich Florence Sidney nach ihren Nachbarinnen fragen können. Und eine Art … Aufklärung bekommen können.

Aber dann weiß ich wieder nicht, ob ich tatsächlich eine Aufklärung gewollt hätte. Ich hatte Angst vor dem, was im Haus der Axons vorging. Später, als es vorbei war, als Muriels Mutter unter der Erde lag und Muriel selbst in einer geschlossenen Abteilung war, stand das Haus zum Verkauf, und Colin schlug zu. Er wollte etwas Größeres und neben seiner Schwester wohnen. Er hat es billig bekommen.

Ich habe ihn davor gewarnt. Bei der gerichtlichen Untersuchung habe ich ihn getroffen und gesagt, ich würde da nicht wohnen wollen. Ich habe ihm klarzumachen versucht, dass in dem Haus schreckliche Dinge passiert waren. Er wollte nichts davon wissen, und mehr als das alles andeuten konnte ich nicht. Ich konnte ihm nicht darlegen, was ich mir vorstellte. Es hätte abergläubisch und verrückt geklungen, und er dachte bereits, dass ich nicht richtig tickte. Zu dem Zeitpunkt war es mit uns schon vorbei.

Und letztlich war es nur ein Haus und eine leere Hülle, als keiner mehr dort wohnte.

Ich nehme an, ich werde schon erfahren, wie es Colin geht. Es ist eine kleine Stadt. Sie sind überall, denke ich, die alten Kollegen, die alten Klienten, die alten Liebhaber. Natürlich bestand immer das Risiko, da Jim immer seiner Karriere hinterherzieht. Wer im Bankgeschäft ist und schon relativ jung in eine Führungsposition will, der muss mobil sein. Ich wäre lieber in Manchester geblieben.

Aber ich konnte keinen triftigen Grund benennen, warum wir nicht zurückkommen sollten. Keinen, der Jim überzeugt hätte. Er gibt sowieso nicht viel auf meine Meinung. Was verständlich ist. Ich heule ständig, breche in Tränen aus, falle um und verliere alles Mögliche. Als wir heirateten, habe ich auch in der Bank gearbeitet. Ich dachte, es wäre ruhig und unkompliziert. Heute sitze ich nur zu Hause herum.

Ich tauge zu nichts, sagt Jim. Er fragt sich, was mit mir los ist. Ich grüble den ganzen Tag.

Also habe ich mir gedacht, ich könnte ein Buch schreiben, verstehst du, über den Fall Axon und so weiter, und das könnte ich an die Sonntagszeitungen schicken, damit alle kapieren, wie Sozialarbeit funktioniert und warum da so viel böse danebengeht. Wie du Fälle kriegst, mit denen du nicht zurechtkommst, wie sich Klienten gegen dich verschwören und die äußeren Umstände offenbar auch. Wie es dir dein Privatleben kaputtmacht und wie du hinterher dastehst, wenn es zur Katastrophe gekommen ist.«

Das sollte als Vorwort reichen, dachte sie. Ich kann das Ganze Bekenntnisse einer Sozialarbeiterin nennen. Sie war lange über die Einkaufsliste hinausgeraten und hatte das Papier benutzt, in das die Teekanne eingewickelt gewesen war. Der Ausguss war abgebrochen, aber das machte nichts, Tee wurde bei ihnen sowieso kaum getrunken. Ich kaufe mir später eine richtige Kladde, dachte sie, auf dem Weg zum Wein- und Spirituosenladen.

Es war halb ein Uhr mittags, als Sylvia vom Bürgerbüro nach Hause kam. In der Diele rief sie: »Hallo, Lizzie, alles in Ordnung bei Ihnen?« Das laute Geklappere aus der Küche bedeutete, dass ihre Putzhilfe kräftig bei der Arbeit war. Was für ein Luxus, wenn sich jemand um die Putzerei kümmerte. Sie sagte sich, dass sie die Hausarbeit hasse, obwohl sie doch während des Großteils ihres Ehelebens ihr Stolz, ihre Freude und ihre Zuflucht gewesen war.

Auf dem Weg nach oben wurden ihr die Füße in den gestreiften Turnschuhen schwer, und sie gestand sich ein, dass sie müde war. Erst die Zankerei am Frühstückstisch, die immer so eine Strapaze war, und jetzt schwirrte ihr der Kopf von Sozialversicherungsvorschriften und unbeantworteten Fragen zum Rechtshilfesystem. Es war ruhig im Haus. Sie ging ins Schlafzimmer, trat sich die Schuhe von den Füßen und legte sich aufs Bett. Mit geschlossenen Augen döste sie fünf Minuten dahin, eingehüllt in die Mittagshitze, dann plötzlich riss sie ein schrilles Klingeln aus dem Schlaf und ließ sie hochfahren. Der verdammte Herd, die Uhr, dachte sie, ist mal wieder von selbst losgegangen. Warum stellt Lizzie den Lärm nicht ab? Mit klopfendem Herzen tappte sie zur Tür. Öffnete sie, das Klingeln brach ab. Sie seufzte. Ich mache mich besser an die Schubladen, dachte sie. Lass das Essen ausfallen. Bei diesem Wetter brauche ich nichts.

Sie wusste, wenn sie mit der untersten Schublade anfing, würde sie die Fotoalben finden, sich damit aufs Bett setzen und sie durchblättern. Seit Ewigkeiten hatte sie das nicht mehr getan. Sie hatte nicht genug Zeit für sich. Lizzie war ein Segen, wenn sie auch etwas komisch war. Aber man stellte eine Putzfrau ja nicht wegen ihres Aussehens oder Modebewusstseins ein, oder weil man sich gut mit ihr unterhalten konnte. Eine Putzfrau musste ehrlich sein, selbstständig und anpacken können. Lizzie erinnerte sie daran, wie sie selbst in dieser Welt hochgekommen war, und entfernt auch an jemanden, den sie vor ihrer Heirat gekannt hatte, eines der Mädchen aus der Schweineschulter-Truppe.

Sie lehnte sich in die Kissen. Hochzeitsbilder, Babybilder. Eine grinsende Suzanne im Kinderwagen in dem briefmarkengroßen Garten ihres ersten Hauses. Suzanne wohnte nicht mehr bei ihnen, sie studierte in Manchester Geografie. Dann Alistair, im selben Kinderwagen, wie er düster unter seiner Wollmütze hervorguckt. Er hatte immer noch die gleiche finstere Miene, allerdings mit mehr Zähnen. Karen, zwei Jahre alt, mit einer Schaufel im Garten. Da noch einmal, etwas älter, mit herabhängendem Mund schwingt sie auf dem wackligen Gartentor hin und her. An und im alten Haus hatte alles gewackelt, getropft und nicht viel getaugt. Es war eine echte Bruchbude gewesen. Kein Wunder, dass sie hierher in die Buckingham Avenue gewollt hatten, auch wenn das Haus zu Anfang in einem vernachlässigten und deprimierenden Zustand gewesen war.

Der Umzug war ein Glücksfall gewesen. Claire war unterwegs gewesen, und sie hatten mehr Platz gebraucht. Aber wie konnten sie sich mehr leisten? Normalerweise hätte sie nie an die Gegend um die Lauderdale Road gedacht, all die großen, allein stehenden Häuser, viel zu düster waren sie und zu teuer. Colin war hier aufgewachsen, und seine Schwester Florence, die nie geheiratet hatte, wohnte noch im Haus der Familie. Der Vater war tot, und Florence hatte die Mutter in ein Heim gegeben. Eines Tages dann hatte sie angerufen und gesagt: »Das Haus von den Axons ist zu verkaufen, gleich um die Ecke, das mit dem Garten, der an unseren grenzt. Ihr solltet da mal nachfragen.«

»Was?«, hatte Sylvia geantwortet. »Das Haus, in dem diese beiden sonderbaren Frauen gewohnt haben? Das bricht doch zusammen.«

»Es wird billig zu haben sein«, hatte Florence gesagt. »Erschwinglich, und ihr könntet es aufmöbeln.«

Natürlich hatte sie über Florence’ Motive geargwöhnt. Sie war besitzergreifend und wollte ihren Bruder im Haus nebenan haben, gleichsam in Rufweite, wenn eine Sicherung auszutauschen oder ein Abfluss verstopft war. Trotzdem … schon aus Neugier hatte Sylvia den Makler angerufen.

»Es muss tatsächlich grundlegend renoviert werden«, hatte ihr der Mann bestätigt, »aber die Substanz ist ausgezeichnet. Und natürlich liegt es hervorragend. Fußläufig zu Geschäften und Schulen …«

»Ich kenne die Gegend. Warum ist es so billig?«

Der Mann hatte die Stimme gesenkt und war vertraulich geworden. »Zu viel kann ich dazu nicht sagen, es ist eine etwas traurige Geschichte. Die alte Frau ist gestorben, und ihre Tochter, sie ist nicht ganz richtig … Verstehen Sie, was ich meine? Sie ist im Krankenhaus.«

»Sie meinen, man hat sie in Verwahrung genommen?«

»Die alte Mutter ist plötzlich verstorben, es hat eine Untersuchung gegeben. Es stand in der Zeitung, im Reporter

Sie hatte nicht gesagt: Mein Mann war da, als es passiert ist. Das war nicht von Bedeutung. Aber sie hatten sich gefragt, was mit der jungen Axon geschehen war. Nicht, dass sie die beiden Frauen wirklich gekannt hätten. Die Axons hatten zu der Art Nachbarn gehört, die man mitunter ein Jahr lang nicht sah. »In welchem Krankenhaus ist sie?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Verstehen Sie, Madam, die beiden lebten ganz für sich und mochten keine anderen Leute um sich. Deshalb haben sie kaum was instand gehalten. Na ja, zwei Ladys, das war zu erwarten. Aber es ist ein entzückender Besitz.«

»Also gut. Wann können wir es uns ansehen?«

Sie hatten es gemeinsam besichtigt. Florence hatte vorn am Tor auf sie gewartet. »Und?« Sie war ängstlich darauf bedacht gewesen, dass Colins Entscheidung nicht von der unangenehmen Geschichte beeinflusst wurde, die sich ein paar Wochen zuvor im Haus abgespielt hatte. Colin hatte Florence eines späten Nachmittags besucht, glücklicherweise, wie sich herausstellen sollte. Als er auf ihre Bitte hin durch ihren im Dämmerlicht liegenden Garten gestapft war, um nach einem lockeren Stück Dachrinne zu sehen, war etwas sehr Merkwürdiges geschehen. Aus einem Fenster im oberen Stock der Axons hatte eine junge Frau gewunken und um Hilfe gerufen. Sehr seltsam, aber Colin hatte nicht gezögert. Florence hatte staunend zugesehen, wie er durchs Gebüsch gebrochen war und gegen die Hintertür gehämmert hatte, bereit, sie einzutreten. Kaum hatte er es ins Haus geschafft, war er nach oben gelaufen, um die Frau zu befreien. Mrs Axon hatte ihm nachgesetzt, doch dabei war ihr etwas zugestoßen. Wie sich später herausgestellt hatte, war es eine Herzattacke gewesen. Sie war gestürzt. Colin hatte noch versucht, sie künstlich zu beatmen, ohne Erfolg. Und die junge Frau? Es war eine Sozialarbeiterin gewesen, die einen Hausbesuch gemacht hatte. Die alte Dame hatte sie ins Gästezimmer gelockt und eingeschlossen. Gott allein wusste, was da sonst noch in der Buckingham Avenue 2 vorgegangen war. Würde Colin das Haus wollen?

»Nun«, hatte er vorsichtig gesagt, »es ist billig und verlangt einige Arbeit.« Er hatte geglaubt, dass er möglicherweise von den letzten Bewohnern hinterlassene Schatten würde vertreiben können. »Wir könnten ein paar von den Bäumen fällen und mehr Licht hereinlassen.«

»Ja«, hatte Sylvia gesagt, »dann könnte Florence in unseren Garten sehen, oder?« Sie hatte nicht unbedingt begeistert geklungen. Aber die Bäume mussten weg, genau wie der ganze Müll der Axons und das kleine Glashaus mit den schmierigen, gesprungenen Scheiben und den dahinfaulenden feuchten Zeitungen und Kartons, das der Makler einen »Wintergarten« genannt hatte. Was da alles gemacht werden muss! Aber denk an die Möglichkeiten …

Also hatten sie eine Anzahlung gemacht, Colin hatte den Anwalt angerufen, und ein paar Wochen später waren die Verträge unterzeichnet worden. Ihre Ehe war eine einzige Abfolge von Turbulenzen, der Hauskauf das Einzige, was glattgelaufen war.

Sylvia wandte sich wieder ihren Alben zu.

Wie sich die Fotografien verbessert hatten. Anstelle der eselsohrigen, mit zunehmendem Alter braun anlaufenden Bilder von früher gab es heute schöne randlose, seidenmatte Abzüge. Da stand sie vor der Tür ihres neuen Hauses, den Arm bei ihrem Mann eingehakt. Florence musste das Foto gemacht haben. Das Haus hinter ihnen sah aus wie der Set für einen Horrorfilm. Wie hässlich das Buntglas in der Haustür war, und dazu die großen Büsche, die alles verdunkelten. Das Gebälk verrottete, die Fallrohre der Dachrinne waren in beklagenswertem Zustand, und die beiden Gestalten, die da vor dem Haus standen, sahen kaum besser aus. Colin muss über neunzig Kilo gewogen haben, dachte sie. Sieh dir nur den Bauch an, wie er ihm über den Gürtel hängt. Und dieser dämliche Ausdruck auf seinem Gesicht.

Ihr eigener Anblick war auch nicht direkt tröstend. Der enge Rock (so kurz, das kann doch nicht modisch gewesen sein?) betonte ihre breiten Hüften und die stämmigen Beine. Ihr Körper hatte sich noch nicht von der Schwangerschaft erholt. Sie hielt Claire auf dem Arm und linste künstlich lächelnd über das dick eingewickelte Baby in die Kamera. Ihr Haar war zu einer strohgleichen Masse verblichen. Hatte sie nicht gewusst, dass die Toupiererei und der Haarlack es ruinierten? Aber schlimmer noch: War ihr nicht aufgefallen, dass das schon seit Jahren sonst niemand mehr machte?

Zweifellos, dachte sie, waren wir in der Fabrik hinter der Zeit zurück. Wir wussten es nicht besser. Sie gewährte ihrem früheren, jüngeren Selbst ein nachsichtiges Lächeln, wie es sich für das Ausgehen am Freitagabend zurechtmachte und sich die helle Haut schrubbte, bis auch noch der letzte Geruchsfetzen von tierischem Fett, Natriumphosphat und Fließbandschweiß verschwunden war. In eine Wolke aus Yardley-Parfüm und das Herz zum Hüpfen bringende Erwartungen gehüllt, ging es zum wöchentlichen Tanz. Sylvia, die tolle große, schöne Babypuppe. Im Sieben-Uhr-Zug hatte sie Colin kennengelernt.

Es war ein fürchterliches Foto, warum nur hatte sie es behalten? Sylvia zog es aus den Fotoecken und legte es auf den Nachttisch. Jetzt klaffte da eine freie Stelle im Album, ein Zeugnis ihrer Eitelkeit. Und da war sie wieder, ebenfalls vor dem Haus Nummer 2, die Arme vor der Brust verschränkt. Der Garten war komplett umgegraben, und das Holz am Haus hinter ihr glänzte leuchtend weiß. Ein ganzes Jahr lang hatte sie sich daran abgearbeitet. Es war eine zermürbende Plackerei gewesen, mit schweren Eimern die Leiter hinauf und wieder hinunter, ein Knochenjob, aber es war ein großes Haus. Und das Grundstück bot Platz genug für den Anbau, um den sie es am Ende noch ergänzten, was ihnen ein viertes Schlafzimmer und eine weit geräumigere Küche verschaffte. Das war der große Vorteil des Hauses: dass es so viele Möglichkeiten bot. Doch um wie viel leichter wäre das alles gewesen, wäre ihr Umzug nicht ausgerechnet mit Colins Krise zusammengefallen. Natürlich hatte es da eine Freundin gegeben, wobei Colin annahm, dass sie nichts davon wusste. Er hatte sich so komisch verhalten, war so abgelenkt gewesen, dass es selbst für ihn nicht mehr normal gewesen war. Zu viel getrunken hatte er, wann immer sich die Gelegenheit geboten hatte. Zu Hause hatten sie kaum Alkohol, dazu reichte das Geld nicht. Die Benzinrechnungen hatten atemberaubende Höhen erklommen. Wohin war er gefahren? Am Ende hatte er in ein Röhrchen pusten müssen und den Führerschein verloren. Seine kleine Affäre hatte sich in Nichts aufgelöst. Das war offensichtlich, oder? Er war schließlich immer noch da. Sie war immer noch da. Alle beide waren sie noch da.

Sylvia sah auf die Uhr. Zehn nach eins. Sie ließ die Alben aufs Bett gleiten, gähnte, reckte sich, stieg aus ihrem Trainingsanzug und warf ihn in den Wäschekorb. Sie ging ins Bad, wusch sich und putzte sich heftig die Zähne. Zurück im Schlafzimmer, wandte sie den Blick ab, um ihr halbnacktes Ich nicht im Spiegel des Frisiertischs sehen zu müssen. Ihre Schenkel, ihr Bauch, aber was konnte man nach vier Schwangerschaften erwarten? Wenn sie damals gewusst hätte, was sie heute wusste … Sie zog ihre weite Baumwollhose an und holte ein T-Shirt aus der Kommode, auf dem in schwarzen Buchstaben »Kindergärten sind unser Recht« stand. Mit einer Hand fuhr sie sich durchs Haar und ging nach unten.

Lizzie Blank, die Putzfrau (ein deutscher Name, nahm Sylvia an), stand an der Spüle und wrang schmutziges Wasser aus einem Lappen. »Alles in Ordnung, Lizzie?«, fragte Sylvia.

»Alles Ordnung, Mrs S?«

Sylvia ging zum Kühlschrank, holte ein Salatblatt heraus und knabberte daran, während sie ihre Haushaltshilfe betrachtete. Der Anblick von Lizzie Blank musste alle Frauen trösten, die sich davor fürchteten, ihr gutes Aussehen zu verlieren. Bizarr, das war der einzig treffende Ausdruck für sie.

Lizzie Blanks Alter war nur schwer zu schätzen. Ihr Kloßkörper besaß keinerlei Taille und wurde von pflockförmigen Beinen getragen. Das platinblonde, verfilzte Haar erreichte eine Höhe, wie es Sylvias selbst zu ihren besten Zeiten nicht getan hatte. Zwei kleine Schnörkel in Form eines Fleischerhakens ragten steif an jedem Ohr nach außen, und ihr großes, ziemlich ausdrucksloses Gesicht war so mit Make-up überzogen, dass sich kaum erkennen ließ, wie es in natura aussah. Die schwarz umrandeten Augenlider hatte sie leuchtend türkis ausgemalt, und wie viele falsche Wimpern sie trug, konnte Sylvia nicht sagen. Die violetten Lippen standen in keinem Verhältnis zu Lizzies tatsächlichem Mund, die fettig glänzende Farbe reichte weit über seinen Rand hinaus, sodass es bei der kleinsten Zuckung ihrer Wangenmuskeln schon aussah, als lächelte oder schmollte sie. Die Lippen waren unablässig in Bewegung, die Augen blieben mehr oder minder tot.

»Wie war die Reise?«, fragte Sylvia.

»Okay. Eine dachte, es gäbe Esel. Wir hatten mal welche auf einer Tagesfahrt.«

»Ich glaube, die gibt es nur am Meer.«

»Ich verstehe nicht, warum. Ich meine, sie schwimmen doch nicht.«

Sylvia war verblüfft. »Sagen Sie, Lizzie, tragen Sie eigentlich eine Perücke?«

Lizzie lächelte nur. Sylvia begriff, dass die Frage vielleicht zu persönlich war. Wobei, dachte sie, wenn es wirklich eine ist, müsste sie eigentlich von Zeit zu Zeit auf ihrem Kopf etwas verrutschen. Ich muss sie nur genau genug beobachten.

Sylvia öffnete den Kühlschrank ein zweites Mal, holte eine halbe Salatgurke heraus und schnitt sich eine daumendicke Scheibe ab. Sie hob sie an die Lippen. »Übrigens, Sie haben nicht versucht, Alistairs Zimmer zu putzen, oder? Ich wollte es Ihnen sagen. Ich nehme an, er hat die Tür abgeschlossen.«

»Das Gästezimmer?« Lizzie sah sie an, vielleicht erstaunt, aber ihr Gesicht wich so sehr von jeder Norm ab, dass es schwer war, darin zu lesen.

»Es ist Alistairs Zimmer, kein Gästezimmer. Seit wir eingezogen sind, ist es das.«

»Ich nenne es das Gästezimmer.«

»Vielleicht war es das früher, vor uns. Auf jeden Fall brauchen Sie sich nicht darum zu kümmern. Sein Vater wird ihn selbst sauber machen lassen, wenn die Ferien anfangen.«

»Einige Zimmer taugen nicht zum Saubermachen. Einige Zimmer werden nie sauber.« Ihre Stimme klang womöglich übertrieben verhängnisvoll. Sylvia schob es darauf, dass sie ihrer Kunst mit Hingabe nachging, und das war eigentlich ein gutes Zeichen.

»Ich habe mich gefragt, ob Sie noch anderswo putzen würden.«

Lizzie säuberte gerade die Spüle mit Bleiche und schüttelte den Kopf, ohne innezuhalten.

»Es ist nur, weil die Frau des Pfarrers jemanden für ein paar Stunden sucht.«

»Haben Sie gesagt, Sie könnten mich empfehlen?« Lizzie wandte ihrer Arbeitgeberin ihr breites, flaches Gesicht zu. Die rougebedeckten Wangen glühten tiefrosa durch ein Übermaß an kreideweißem Puder.

»Ich habe Ihren Namen erwähnt, ohne etwas zu versprechen.«

»Bin nicht interessiert, Mrs S.«

»Ich habe ihr gesagt, dass ich nicht weiß, für wie viele Leute Sie schon arbeiten.« Sie biss in ihre Gurkenscheibe. »Sie sind ein bisschen ein Mysterium, Lizzie.«

»Ich kann nicht noch einen Job annehmen.« Lizzie schloss die Flasche Bleichmittel wieder. »Ich arbeite nachts.«

Sie beugte sich vor, um die Flasche unter die Spüle zu stellen, und präsentierte Sylvia ihr ausladendes Hinterteil.

»Tja, ich dachte, ich könnte zumindest fragen. Ich fahre jetzt besser zu meinem Komiteetreffen. Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen?«

Lizzie nahm die große Plastikschürze ab und hängte sie hinter die Küchentür. »Das ist zu nett von Ihnen, Mrs S. Sie sind eine gute Frau. Ein Engel, sollte ich sagen.«

Mit einem verdutzten Lächeln ging Sylvia ihr Portemonnaie holen. Bizarr, genau. Wobei Lizzie Blank als Einzige auf die Anzeige im Reporter geantwortet hatte. Die dunkelviolette, genaue, ausländisch aussehende Schrift hatte Sylvia auf eine