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Gotthardfantasien - Eine Blütenlese aus Wissenschaft und Literatur - Boris Previšić (Hg.) - Hier und Jetzt

Inhaltsverzeichnis

Warum Gotthardfantasien?
Eine Einführung

Boris Previšić

INFRASTRUKTUR, NATUR

Gefährdete Gotthardpost Literarische Abschweifungen in die schweizerische Katastrophenkultur

Peter Utz

Door to Door

Nora Gomringer

Unterwegs mit der Gotthardbahn um 1900. Die Kirche von Wassen und die Inszenierung von Landschaft

Daniel Speich Chassé

Ab nach Paradiso – Ein Reisebericht

Michael van Orsouw

Die neuen Postillione Erzählpassagen am Gotthard

Alexander Honold

Warum der Gotthard so wichtig ist. Der Einklang von Ursprung und Fortschritt als nationaler Traum

Peter von Matt

Heidelbeeren und der heilige Antonius

Verena Stössinger

Bahntechnik Gotthard-Basistunnel. Vision und Verwirklichung eines Grossprojekts

Lars Dietrich

Die Polyfräse

Peter Weber

KONTRAPUNKTE

Der Gotthard im russischen kulturellen Gedächtnis. Die Alpenüberquerung Suvorovs (1799) als Erinnerungsort

Frithjof Benjamin Schenk

Hannibals Manöver in den Wolgasteppen. Brodsky tunnelt Suvorov

Jens Herlth

denkmal / im sandkasten

Katharina Lanfranconi

Ein Gotthard auf dem Balkan? Wie sich die Schweiz von der südslawischen Romantik inspirieren lassen kann

Anna Hodel

Sasoun. Mythos eines armenischen Bergréduits

Elke Hartmann

Über den Gotthard

Arno Camenisch

Vom «Felsenthron Europas» zum neuen Kanton Tessin. Gotthard-Reisen von 1770 bis 1800

Thomas Fries

«Kennst du das Land?» Goethes transalpine Rätsel

Daniel Müller Nielaba

Auf der Gotthardstrasse. Vom Dach Europas zum Zentrum der Erde

Luigi Lorenzetti

Brüllt der Stier oder der Ochs?

Iso Camartin

BILANZEN, SZENARIEN

Der Schatten des Passheiligen, das letzte Wort des heiligen Gotthard und was daraus wurde. Eine historische Miniatur

Pirmin Meier

Der San Gottardo, Leid und Freude des Tessins. Ein Transitweg zwischen Hoffnungen und Enttäuschungen

Marco Marcacci

Das Wunder von Ambrì. Ein Dorf, ein Hockey-Team und ihr unvermuteter Beitrag zur Integration von Inländern

Nenad Stojanović

Die Gotthard-Region – schwarzes Loch oder globaler Exportschlager? Zur divergierenden Wahrnehmung der Berge in der Schweiz nach 1970

Jon Mathieu

hoher berg

Katharina Lanfranconi

Wege zum Gotthard-Mythos

Guy P. Marchal

Gotthard-Mythen und Geschichtspolitik. Kontinuitäten und Gegennarrative

Damir Skenderovic

Berg unter, oder wie der Gotthard auf die Malediven kam. Ein Prozess

Walter Leimgruber

Fragmente aus Gotthard Super Express

Matteo Terzaghi

Klaus Schädelin, Yoko Tawada, Hermann Burger. Literarische Gegenkonstruktionen am Gotthard

Boris Previšić

Autorenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Warum Gotthardfantasien?

Eine Einführung

Boris Previšić

2015 wurde die Geschwindigkeit der Versuchszüge im Gotthard-Basistunnel Stufe um Stufe erhöht. Die konstante Beschleunigung im Tunnelinnern konkretisiert den abstrakteren Vorgang der Modernisierung, der Automatisierung, der Vernetzung, des unbeschränkten Waren- und Personenverkehrs in einem Ausmass, wie es die Menschheit von Beginn der Industrialisierung bis in unsere Tage noch nie gekannt hat. Der Gotthard-Basistunnel ist zugleich Motor wie Symptom unserer Zeit. Er bricht mit seinen 153,3 Kilometern ausgebrochenen Tunnels unzählige Rekorde.1 Der Alpenbogen, das grösste geologische, topografische und meteorologische Hindernis, das Wasserschloss, aber auch die Kulturgrenze zwischen Norden und Süden Europas, wird erstmals ohne Höhenüberwindung technisch untergangen. Dennoch stehen wir vor einem Dilemma: Es hat sich noch nicht eine «Geschichte im Sinn eines etablierten Narrativs und eines in unseren Köpfen lebenden Geschichtsbildes» entwickelt.2 Wie kann das Abstrakte, vielleicht auch das unheimlich Unfassbare dieses Riesenbauwerks, dessen Ausbruchmaterial einen Güterzug von der Strecke von Luzern nach New York füllt, überhaupt erzählt werden? Gerade heute sind wir dazu angehalten, Sinnangebote zu konstruieren und anzubieten. Die Erzählung muss für ihre Sinnhaftigkeit perspektiviert werden – im Unterschied zum Mythos, der wie schon der Sirenengesang dem Odysseus uns vielleicht am verlockendsten erscheint.

Mythos

Der Mythos bringt die kohärenteste Erzählung hervor. Spricht man von Mythos, geht es nicht um die umgangssprachliche Unterscheidung zwischen falscher und richtiger Geschichte, sondern um eine mythentheoretische Einordnung des Gotthards. Weil Mythostheorien auf viele verschiedene Gegenstandsbereiche der Ethnologie, der Altertumswissenschaften, der Gegenwarts- oder der Alltagsgeschichte abzielen, fallen sie entsprechend unterschiedlich aus.3 Folgt man der Unterscheidung von Mythos und Geschichte durch den Ethnologen Claude Lévi-Strauss, so ist die Geschichtsschreibung als offenes System zu verstehen, welches die Differenz zwischen Gegenwart und Zukunft darlegt. Die Mythologie hingegen funktioniert statisch als geschlossenes System. Ihr geht es um Kohärenzbildung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.4 Lévi-Strauss spricht in diesem Fall von narrativer Bricolage zwischen Geschichte und Mythologie, Guy P. Marchal von «Gebrauchsgeschichte». Roland Barthes unterstreicht, dass der Mythos Geschichte in Natur umformt, naturalisiert (in der französischen Doppeldeutigkeit von Naturalisierung und Nationalisierung) und somit im alltagskulturellen Kontext nicht mehr hinterfragbar macht.5

Die Anfänge einer Gotthardmythos-Genealogie sind in der Aufklärung anzusetzen – zu einem Zeitpunkt, als Mitglieder der «ersten gesamtschweizerischen Vereinigung, der Helvetischen Gesellschaft» auf der Basis einer Tugendphilosophie nach Rousseau den homo alpinus als den guten Wilden schufen. Dabei stützte man sich auf ausgewählte Literatur über die Alpen, die angesichts eines einsetzenden deistisch grundierten Erhabenheitsdiskurses ins Blickfeld der Aufklärer gelangten. Dazu sind in erster Linie Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733), Albrecht von Haller (1708–1777) und Johann Caspar Lavater (1741–1801) zu zählen.6 So fanden erst im 18. Jahrhundert die Alpen richtig Eingang ins Imaginationsarsenal der Alten Eidgenossen. Der richtige Schweizer sei nur in den Alpen zu finden. Und so hat das «Schweizeralpenland» «bis heute seine Decodierbarkeit und damit seine Wirkung behalten». Nirgends kam es «zu einer dermassen wirksamen Kombination von Geschichte und Alpen […] wie in der Schweiz».7 Umso erstaunlicher ist es, wie spät das breitenwirksame Nation Building, die «Narration of Nation»,8 einsetzt und sich in entsprechenden Denkmälern niederschlägt. Erst 1859 und somit zwölf Jahre nach dem Sonderbundkrieg kam das Rütli als Symbol des neu entstandenen Bundesstaates in den Besitz der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft; erst 1879/80 wurde die Tellskappelle, wie wir sie heute kennen, errichtet. Die Verbreitung von nationalen Standards konnte erst mit einer gewissen zeitlichen Distanz zu den innerhelvetischen Zerwürfnissen einsetzen und fiel just in jene Jahre, in denen man den Gotthard-Scheiteltunnel plante, ausbrach und in Betrieb nahm. Dass der Gotthard in einem breiteren öffentlichen Bewusstsein überhöht werden konnte, war der Koinzidenz von nationaler Symbolpolitik und technischer Errungenschaft geschuldet. Der Gotthard als Kultur- und Wasserscheide, als Ursprung von vier wichtigen Flüssen; der Gotthard als Zentrum der Schweiz, der Gotthard als Zentrum der europäischen Kulturen.

Dem Gotthard kommt exemplarische Bedeutung zu, da Staatsgründungs- und Technikerzählungen miteinander verschränkt werden. Die Kohärenz des Gotthard-Mythos kulminiert in der Geistigen Landesverteidigung, in welcher ländliche Ursprünglichkeit und technischer Fortschritt eine einzigartige Symbiose bilden.9 Zwar formuliert Ernst Cassirer seinen Mythus des Staats (1949) im Hinblick auf das Aufkommen des totalitären modernen «Mythus» im nationalsozialistischen Deutschland. Dennoch gilt die «Technik der modernen politischen Mythen»10 auf eigenartige Weise auch für die Schweiz in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg. So erreiche der Mythus «seine volle Kraft, wenn der Mensch einer ungewöhnlichen und gefährlichen Situation begegnen muß».11 Selbst in indigenen Gesellschaftsformen werden Mythen nur punktuell und gezielt eingesetzt, wo «ein Geschäft» «gefährlich und sein Ausgang ungewiß ist».12 Die subjektiv empfundene Bedrohungslage in der Schweiz, eingeklemmt zwischen dem totalitären Deutschland und Italien, ist nicht zu unterschätzen – vielleicht weniger in strategisch-militärischer als in ideologischer Hinsicht. Auch die Schweiz war anfällig für antidemokratische Ideen. Während aber der nationalsozialistische «Mythus der Rassen» in Deutschland im Alltag Fuss fassen konnte, musste die Schweiz auf ein anderes ideologisches Versatzstück zurückgreifen.

Es musste eine «emotionale Atmosphäre» geschaffen werden, in welcher Worte Gefühle erzeugen. Gleichzeitig kommt diesem Mythos Alleinstellungsmerkmal und Alleingültigkeit zu. Man kann sich in etwa ausmalen, welche Vorstellungen und Gefühle Begriffe wie Alpen, Granit, Gotthard zunehmend erzeugen mussten – bis hin zu «semantischen Analogien […] zwischen dem Klischee der bankgeheimnisgehärteten Vermögensbastion der Steuerflüchtlinge und der stereotypen Bilderwelt der Alpen als eines natürlichen Fortifikationssystems».13 An einer Überhöhung des Gotthards arbeitete der Fribourger Schriftsteller und (Literatur-)Historiker Gonzague de Reynold schon seit dem Ersten Weltkrieg und wurde dadurch nicht nur zum Lehrer des wertkonservativen Bundesrats der Geistigen Landesverteidigung Philipp Etter mit der «Botschaft des Bundesrates über die Organisation und die Aufgaben der schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwerbung» – als Bundesbeschluss im April 1939 vom Parlament genehmigt –, sondern auch zum Mitglied der im selben Jahr gegründeten Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia.14 Sein Gedankengut einer «Nationalen Revolution»15 brachte er auch in den 1940 von Denis de Rougemont gegründeten Gotthard-Bund ein, welcher die Réduit-Strategie ideologisch untermauerte und bis 1969 aktiv blieb.

Unter solchen Umständen ist es schwierig, eine Geschichte des Gotthards jenseits des Mythos zu schreiben. Deutschland hatte mit seinem modernen «Mythus der Rassen» radikal zu brechen,16 die Schweiz mit ihrem Mythos hingegen nicht.17 Und im Kalten Krieg wurde dieser Mythos beharrlich perpetuiert. Man hatte im Unterschied zu Deutschland keinen Grund, ihn zu hinterfragen. Die Identitätsproduktion über den Gotthard funktionierte in derselben kohärenten Weise fast tadellos weiter.18 Unabhängig davon, wie sich die Schweiz historisch konstituiert hat, kann zumindest die Genealogie des Gotthardmythos skizziert werden. Die Konstruktion des Ineinanderfallens von Gotthardpasserschliessung und Rütlischwur ist spät anzusetzen. Carl Spitteler fordert kurz nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs in seiner programmatischen Rede Unser Schweizer Standpunkt (1914) das Zusammenstehen der Willensnation über die Sprachgrenzen hinweg, ohne für Deutschland oder Frankreich Partei zu ergreifen. In seinem Reiseführer Der Gotthard (1897) formuliert er als einer der ersten das Desiderat an die Historiker, in Zukunft die beiden Erzählstränge der Passerschliessung und der Gründung der Alten Eidgenossenschaft zusammenzubringen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der historiografische Beweis für den Zusammenhang zwischen Gotthard und Rütli somit noch nicht erbracht.

Im Gegenteil: Zunächst kommt es zu einer Konkurrenzgeschichte. So erbringt der junge Archivrat zu Karlsruhe und begeisterter Gotthardbahnfahrer Aloys Schulte den Beweis, dass der Gründer der Schweiz «nicht der sagenhafte Tell» sei, «sondern der Mann der die stäubende Brücke ersann und ausführte». Trotz Sympathien für die Idee des «Passstaates» wollte man in der Schweiz der Entthronung des Nationalhelden in der Zwischenkriegszeit nicht zustimmen. Das Entweder-oder wurde durch ein Sowohl-als-auch ersetzt: So formuliert der Schweizer Historiker Karl Meyer – welcher in erster Linie die mittelalterlichen Ursprünge zu stärken versuchte –, «die Eidgenossenschaft sei nicht wegen, sondern trotz dem Gotthard entstanden».19

NEAT-Geschichte

Bei der NEAT kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Zukunft fast besser als die Vergangenheit zu erfassen ist. Eine gute Prognostizierbarkeit ergibt sich aus dem einfachen Mittel der linearen Extrapolation. Um zum Eingangsbild zurückzukehren: Wie die Dampfzüge mit einer Maximalgeschwindigkeit von 50 Kilometer je Stunde den Gotthard-Scheiteltunnel bei der Eröffnung 1882 passieren durften und sich dieser Wert allmählich auf mehr als das Doppelte steigern liess, so ist Ähnliches vom Basistunnel zu erwarten: Die Strecke, die aus sicherheits- und bahntechnischen Gründen jetzt noch auf maximal 230 Kilometer je Stunde Betriebsgeschwindigkeit ausgelegt ist, wird mit grosser Wahrscheinlichkeit in hundert Jahren auch mit doppelter Geschwindigkeit befahrbar sein. Doch die Geschwindigkeit allein ist nicht ausschlaggebend. Eine wesentlichere Rolle spielen Taktung und Haltestellen. Dies ist jedoch nur eine Frage des Bedarfs und ist von der Entwicklung des Rollmaterials abhängig. Die jetzige Auslegung des Tunnels spielt daher nur eine untergeordnete Rolle, ist aber Bestandteil eines europaweiten Netzes. Das Tessin rückt zeitlich genau bestimmbar näher an die Deutschschweiz, Zürich an Lugano, Genua an Rotterdam heran. Die «Zeit-Raum-Verdichtung» erhöht sich im Zuge der Globalisierung.20 Europa wird chronometrisch kleiner.

Dennoch ist die lineare technische Beschleunigung kein Garant dafür, dass sich die verschiedenen Regionen auch kulturell annähern. Die Vergangenheit belehrt uns eines Komplizierteren: Weil jede Unifizierung und Internationalisierung mit Diversifizierung, Regionalisierung und Peripherisierung Hand in Hand geht, ist der kulturelle und ökonomische Effekt des technischen Fortschritts nicht extrapolierbar. Exemplarisch lässt sich die Nichtvoraussehbarkeit anhand des Gebiets aufzeigen, welches unterquert wird: anhand der Alpen. Die Tendenz ist unübersehbar, dass die breiten, zentrumsnahen Alpentäler jetzt schon zur Agglomeration mutieren, die touristischen Ressorts zusehends nur noch potemkinsche Kulissenerlebnisse anbieten und die Artenvielfalt der jahrhundertealten kleinbäuerlichen Bewirtschaftung in der Verwaldung zivilisationsferner Gegenden verloren geht.21 Die «alpine Brache», wie sie das Städtebauliche Portrait der Schweiz unter der Federführung der Stararchitekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron vor zehn Jahren definierte,22 degradierte das Gebirge und insbesondere das Gotthardgebiet nolens volens nicht nur zur schweizerischen Peripherie, sondern – wenn überhaupt – zum eigentlichen non-lieu des reinen Transits, wovon die NEAT beredtes Zeugnis ablegt.

Gleichzeitig entstehen aber in den Alpen Modelle der ökologischen Nachhaltigkeit, die sich auf die jahrhundertalte Tradition berufen können. Die Landwirtschaft in den Alpen ist nur schon aus rein topografischen Gründen nicht industrialisierbar. Die Zulieferer, welche heute einen Nischenmarkt in den Städten zu entdecken beginnen, könnten in Zukunft ein Modell für eine dekarbonisierte Landwirtschaft mit geschlossenen Kreisläufen bilden. Die ökologische Vielfalt erfordert nicht mehr industrialisierte monotone Arbeiten, sondern bringt vielfältige Beschäftigung zwischen Alpwirtschaft, Landschafts- und Umweltschutz, Verwaltung und Tourismus, ortsabhängigen und ortsunabhängigen Arbeiten. Dass in einem solchen visionären Kontext der Ausbau der Gotthard-Autobahn quer in der Landschaft steht, ist zumindest zu bedenken – da die NEAT ja ein Grossteil des Transits übernehmen kann. Genau dafür wurde sie auch gebaut, wie wir aus der Geschichte lernen.

Aus diesem Grund lohnt sich immer ein genauerer Blick zurück, um die Frage nach der Bedeutung von Geschichte für unsere Gegenwart und Zukunft zu beantworten. Warum wird die NEAT eigentlich für absolut notwendig erachtet, sodass man diese Rieseninvestition auch wirklich wagt? Dazu sind die bundesrätliche «Alptransit-Botschaft» und die parlamentarischen Beratungen der Jahre 1990/91 zu zentral.23 Bereits in den späten 1980er-Jahren sah man sich «zwei Hauptsorgen» ausgesetzt: «der Sorge, umfahren, und der Sorge, überrollt zu werden».24 Noch lange hielt man an den Partikularinteressen der einzelnen Schweizer Regionen fest – was dazu führte, dass zum Beispiel die Splügen-Variante als ebenso valabel verhandelt wurde. Die Lötschberg-Simplon-Ergänzung wurde auch in die NEAT eingebunden, damit eine sichere Mehrheit in der Bevölkerung für den Gotthardbasistunnel gewonnen werden konnte. Doch letztlich lenkten die regionalpolitischen Geplänkel nur davon ab, dass es sich um eine Transitachse von europäischer Dimension handelt.

Mit diesem Bauwerk konnte die Schweiz in erster Linie ihre finanzielle Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen. Ging man anfangs noch davon aus, dass das Riesenunternehmen nur mit der Unterstützung der EG/EU gestemmt werden könne, hat die Schweiz sämtliche Kosten allein übernommen – und dies ganz im Unterschied zum Gotthard-Scheiteltunnel, dem Jahrhundertwerk des 19. Jahrhunderts, das vor allem Italien, Deutschland und Private finanzierten, während die Schweiz nur einen Bruchteil dazu beitrug. Doch letztlich handelt es sich um ein europäisches Projekt, in das sich die Schweiz mit allen Kräften involvieren liess. Blickt man weiter zurück, lässt sich die Internationalität des Projekts zusätzlich belegen. Dazu gehört die Ausarbeitung des «fertigen Baukonzepts» für eine Flachbahn durch die SBB zu Beginn der 1970er-Jahre,25 aber auch das von Ingenieur Eduard Gruner 1947 vorgeschlagene Projekt «Europa-Afrika-Express» mit den entsprechenden Zügen von Berlin nach Karthum, die technische Vision als gross angelegtes Friedensprojekt kurz nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs.

Fantasien

Wie kann man den Gotthard erzählen, ohne in den nationalen Tunnelblick der 1930er- und 1940er-Jahre und der Folgezeit des Kalten Kriegs zurückzufallen, in denen wichtige historische Tatbestände ausgeblendet werden mussten, um die mythische Kohärenz und Durchschlagskraft zu behaupten? Der «moderne Mythus», an den der Gotthardbasistunnel problemlos anschliessbar wäre, lässt sich nur mit losen Versatzstücken ausstatten, welche die Komplexität der gesamten Gemengelage nicht in den Blick bekommen. Die Urgeschichte der Schweiz – wie im Übrigen jeder anderen Nation auch – gibt es nicht. Es kann uns also nicht nur darum gehen, «den Gotthardmythos [zu] lesen […], [zu] erleben und zugleich [zu] verstehen».26 Was wollen wir hier verstehen – ausser der Konstruiertheit von Natürlichkeit? Mit den Gotthardfantasien lade ich Sie ein, einen Schritt weiter zu gehen.

Die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels nehmen wir zum Anlass, die neu-alte mythische Gemengelage aus verschiedenen Blickwinkeln zu untersuchen. Dabei soll der Gotthard nicht nur physisch ein drittes Mal (nach dem Eisenbahntunnel 1882 und dem Autobahntunnel 1980) untertunnelt werden, sondern ebenso metaphorisch in seiner Symbolik: Wie entwickelt sich das nationalistische Eigenbild der Schweiz nach 1945 am Gotthard? Welche Fragestellungen, die sich am Gotthard entzünden, finden wir in der Literatur – aus der Schweiz, aus Europa, aus der ganzen Welt? Wie überkreuzen sich europafreundlicher und weltoffener Umweltschutzdiskurs und konservativer Mobilitätsdiskurs im Gotthard? Gibt es vergleichbare, vielleicht auch nicht realisierte Réduit-Modelle in anderen Nationalprojekten? Wofür steht der Stachel (alias Tunnel oder russische Ansprüche) im Herzen der Schweiz? Welche Sehnsüchte kanalisiert der Tunnel – nur Richtung Süden oder auch Richtung Norden?Bedeuten die Transitrouten und -waren denn auch etwas? Welche Fantasien setzt heute der Gotthard bei Autorinnen und Autoren, bei Historikern, Politologen, Kultur- und Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern frei?

Für die Beantwortung dieser Fragen ist ein spezifischer Blick gefragt, der aktuelle Debatten historisiert und historische Diskurse wiederum kontextualisiert und aktualisiert. Dieser Blick impliziert eine Perspektive von aussen wie von innen, aus der Nähe wie aus der Fremde, einen spezifischen europäischen oder globalisierten Blick. Wichtig dabei ist sowohl eine topografisch-kulturelle als auch eine methodische Transversalperspektive, welche das kulturelle Erbe des Gotthards vor dem Hintergrund und dennoch jenseits der altbekannten Mythen befragt. Dadurch soll die Rolle einer europäischen und zugleich globalisierten Schweiz in Bezug zur ganzen Welt neu belichtet werden. Die mythische Überhöhung von Natur – welche die Naturalisierung der technischen Errungenschaft bereits miteinbezieht – soll zugunsten von Analysen des Zusammenspiels zwischen Natur- und Zivilisationsgewalt im ersten Teil «Infrastruktur, Natur» konsequent hinterfragt werden. Der eindimensionalen Mythologisierung werden im zweiten Teil historische «Kontrapunkte» und damit Alternativgeschichten und im dritten Teil «Bilanzen, Szenarien» die Vielfalt, aber auch die Dringlichkeit von Fragen an die Gegenwart entgegengesetzt.

Der Gotthard ist nicht nur in seiner technischen Materialisierung27 – wie man sie in Zukunft trotz gegenwärtigen Zweifeln am Willen der SBB28 sicherlich noch touristisch erfahrbar machen wird –, sondern vor allem in seiner Unbestimmtheit und Offenheit Anlass zur Fantasie. Hier ist die Rolle der Fiktion entscheidend: Denn Erinnerung und Fantasie bilden gleichermassen die kollektive Erinnerung aus und modellieren auf diese Weise neue Geschichtsbilder, welche für jegliche Entwicklung der Gesellschaft notwendig sind.29 Es gibt kein besseres Bauwerk als die NEAT, das uns so deutlich vor Augen führen kann, wie stark die Schweiz in Europa eingebunden ist und sich einen Sonderweg (wenn überhaupt) nur in beschränktem Ausmass leisten kann, ohne sich ökonomisch, ökologisch, forschungstechnisch und sozial selber am meisten Schaden zuzufügen. Unser Ziel ist doppelt angelegt, zum einen thematisch, zum anderen methodisch. So fragen wir sowohl nach dem Gegenstand, nach dem Gotthard-Transittunnel und nach den damit verbundenen Identifikationsmodellen, als auch nach den Diskursmodi von Mythos, Geschichte und Fantasien. Es geht in erster Linie darum, den thematisch-methodischen Fächer möglichst weit aufzuspannen.

Breite und Tiefe zugleich zu bieten ist nur möglich, wenn das Hebelgesetz der Fantasie in Anspruch genommen wird. Folgt man der Stellungnahme Carl Spittelers in seinem Gotthard-Reiseführer, so sprengt die Fantasie die Grenzen von Glauben und Erfahrung: «Denn die Fantasie folgt ihren eigenen Trieben und Gesetzen, die mächtiger sind als die Einreden [sic] des Verstandes.»30 Weil sich die Fantasie als Methode nicht der Rhetorik einer reinen Faktizität zu verschreiben hat, eröffnet sie neue Möglichkeitsräume des Denkens. Besonders in den Fantasien kristallisiert sich heraus, wie sehr Form und Inhalt des Denkens korrelieren. Darum folgt die Anordnung der Beiträge weder rein historischen noch rein thematischen Gesichtspunkten. Und obwohl alle Artikel höchsten Ansprüchen des jeweiligen Fachs genügen, bedienen sie sich manchmal auch unüblicherer literarischer Formen des Essays oder des Dramas. Dadurch wird die Perspektivität des jeweiligen Beitrags oder der jeweiligen Figur offengelegt und exponiert. Die Multiperspektivität der literatur-, kulturwissenschaftlichen, historiografischen und politologischen, aber auch technischen Beiträge wird regelmässig durch literarische Interventionen durchbrochen, welche für die Gotthardfantasien neu geschrieben und zusammengestellt worden sind. Sie vervielfachen nochmals die Stimmen; die persönlichen Ich-Erzählungen, die aufs Wesentliche reduzierten Verszeilen, die minutiösen Alltagsbeobachtungen entlarven das Korsett der Inszenierung. Gleichzeitig erweitern sie das Arsenal an Fantasien, welche dem Gotthard neue Dimensionen verleihen.

Zu den Beiträgen

Die Infrastruktur bestimmt den Grad der Wahrnehmung von Natur beziehungsweise von Natürlichkeit. So macht Peter Utz, Spezialist für Schweizer Literatur und Katastrophen, eingangs deutlich, dass die enge Verflechtung von alpinem Naturraum mit der menschlichen Technisierung die Gefahr von Katastrophen nicht bändigt, sondern im Gegenteil provoziert, wie ein Blick auf die Gotthard-Literatur des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts zeigt. Schweizer Identität versteht sich viel besser vor dem Hintergrund der latenten Katastrophe. Trotz oder dank den massiven technischen Eingriffen soll die Landschaft Erlebnis bleiben. Dass der alleinige Blick aus dem Bahnwaggonfenster nicht genügt, zeigt der Historiker Daniel Speich Chassé anhand exemplarischer Eisenbahnführer auf. Er macht deutlich, wie unterschiedliche Blickanweisungen, welche man für die Gotthardbahnfahrt bekommt, die Natur und die Landschaft trotz der technischen Revolution und Beschleunigung weiterhin erfahrbar machen und die technische Apparatur gleichzeitig zum Vergessen bringen sollen.

Carl Spittelers Gotthardbahnführer reiht sich zwar in die erst junge, aber schon reichhaltige Tradition von Blickanweisungen ein, versieht das Genre aber mit einem Schuss Ironie, welche das Wissen um das Erlebbare immer schon voraussetzt und es um die Pointe bringt, sodass die erzählerische Aneinanderreihung die filmische Abfolge von Bildern imitiert, was der Literaturwissenschaftler Alexander Honold in Absetzung von Martin Stadlers sozialkritischer Auseinandersetzung mit den technischen Revolutionen am Gotthard darlegt. Der Doyen der Schweizer Literaturgeschichte Peter von Matt bringt auf den Punkt, worauf der neue Mythos spätestens an der Landi 1939 abzielt: auf die Symbiose zwischen Technik und Natur, zwischen Fortschritt und Ursprung. Der essayistische Beitrag von Lars Dietrich, Leiter für alle technischen Installationen im Gotthard-Basistunnel, lässt erahnen, mit welcher Präzision und mit welchem Sinn für jegliche auch nur denkbare Eventualität der Sakralbau par excellence unserer Zeit ausgestattet worden ist. So setzt die subterrane Erschliessung neue Fantasien frei – wie die vier literarischen Beiträge des ersten Teils in Form eines Gedichts (von Nora Gomringer), zweier Reiseberichte (von Michael van Orsouw und Verena Stössinger) und kulturell-geologische Tiefenbohrungen (von Peter Weber) veranschaulichen.

Man kann zwar im «Banne des Sonderfalls» gefangen und paralysiert sein. Gleichzeitig ist dieser Bann aber immer auch aktiv zu durchbrechen. Dies wird möglich, indem bewusst Kontrapunkte gesetzt werden. Es gibt nichts Enttäuschenderes für die Einmaligkeit als den Vergleich. So vergessen wir allzu schnell, dass der Gotthard in Russland einen eigenen Mythos wegen der Alpenodyssee russischer Truppen unter Suvorov im Herbst 1799 bildet. Der Osteuropa-Historiker Frithjof Benjamin Schenk zeigt das Nachleben des Generals in der russischen Kultur bis in unsere Tage. Parallel dazu zeichnet der Spezialist für slawische Literaturen Jens Herlth nach, wie Suvorovs Spuren in der Lyrik dem sowjetischen Menschen verständlich sein mussten. Dennoch ist zu fragen: Gibt es vergleichbare oder alternative Modelle nationaler Überhöhung – wie sie sich im Gotthard-Mythos manifestiert? Es handelt sich um Nationalmythen, welche frappierende Parallelen zum Réduit-Gedanken aufweisen, aber im Unterschied zum Schweizer Nationalstaat im Fall des jugoslawischen Raums entweder romantische Fantasie geblieben sind und in den verschiedenen Nationalliteraturen einen bemerkenswerten Gemeinplatz pluraler Zuordnungen einnehmen (dazu die Südslawistin Anna Hodel) oder im Fall Armeniens gescheitert sind (dazu die Osmanistin Elke Hartmann).

Doch Kontrapunkte können auch auf und gegen den Gotthard selbst gesetzt werden, indem der «Felsenthron Europas» auf der Reise ins Tessin immer neue Ansichten und Beschreibungen generiert. So untersucht der vergleichende Literaturwissenschaftler Thomas Fries Deutschschweizer Reiseberichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts ins Tessin, das zu diesem Zeitpunkt noch quasi-kolonialen Status innerhalb der zwölf Alten Orte hatte. Zur selben Zeit wandert auch Goethe dreimal auf den Gotthard, ohne ihn je zu überqueren. Für die Reise nach Italien wird er den Weg über den Brenner nehmen. Denn am Gotthard – so der Literaturwissenschaftler Daniel Müller-Nielaba – hat sich der noch junge Autor des Werther zwischen Malerei und Literatur zu entscheiden, am Gotthard lernt er, die Begrenztheit und die Unvollkommenheit der jeweiligen Kunstform zu reflektieren, sodass der Gotthard immer schon Goethes Dichtung impliziert. Denselben Ausgangspunkt bei den Reiseberichten des 18. Jahrhunderts nimmt der Tessiner Ökonomie- und Sozialhistoriker Luigi Lorenzetti. Hier kondensiert der Gotthard zur kulturellen Brückenmetapher. Als Dach Europas imaginiert, verkommt er zur rein technisch-topografischen Bewältigung von Distanz durch seine Untertunnelungen – am deutlichsten durch den Gotthard-Basistunnel, welcher zwar Länder und Städte des Nordens und Südens verbindet, aber den Gotthard seiner Funktion als Ort der Kulturbegegnungen endgültig beraubt, weil das Hindernis nicht mehr Anlass zur Reflexion, sondern lediglich Vorwand zur maximalen Beschleunigung von Menschen und Gütern wird. In besonders ironischer Weise unterlaufen die literarischen Beiträge dieses zweiten Teils Heldenverehrung (Katharina Lanfranconi), Geschichtsträchtigkeit und Einmaligkeit des Gotthards (Arno Camenisch und Iso Camartin).

Dass selbst aus Tessiner Sicht die Bilanz in Bezug auf den Gotthard eher durchmischt, wenn nicht sogar negativ ausfällt, mag auf den ersten Blick zu Beginn des dritten Teils erstaunen. Doch der Alpenhistoriker Marco Marcacci zieht lediglich Lehren aus den technischen Erschliessungen des 19. und 20. Jahrhunderts für das 21. Jahrhundert. Wenn sich der Politologe und Politiker Nenad Stojanović erinnert, wie er in den 1990er-Jahren, als Flüchtling aus Sarajevo im Tessin angekommen, die Eishockeyspiele in Ambrì-Piotta erlebte und dabei neue Kategorien von Identitätszuschreibungen – jenseits von Konfessions- und Sprachzugehörigkeit – ausfindig macht, so formuliert er ein Plädoyer nicht an die Ausländer, sondern an die Schweizer, sich in die Realitäten der Schweiz zu integrieren. Der Alpenhistoriker Jon Mathieu unterstreicht, wie unterschiedlich die Innen- und Aussenperspektive auf die Alpen und insbesondere auf den Gotthard ausfallen können. Tendiert der urbane innenpolitische Diskurs dazu, die Alpen ganz zu ignorieren oder höchstens als alpine Brache zu vernachlässigen, gibt es eine Alpen-lobby, welche innerhalb der UNO aus dem Gebirge ein weltweites Thema macht, um damit der Schweiz in bestimmten Umweltfragen eine Führungsrolle zukommen zu lassen. Es ist an uns zu entscheiden, welcher Fraktion wir uns anschliessen wollen.

Die Alpen werden zur gleichen Zeit ideologisch aufgefaltet, in welcher sie technisch geglättet werden. Die Geschichtswissenschaft hat sich an der Überlagerung zweier Nationalmythen, am Gotthard zum einen als militärischem Réduit in der Wiege der Eidgenossenschaft, zum anderen als Transitort zwischen den Achsenmächten, weitgehend abgearbeitet, wie das Guy P. Marchal mit Rückgriff auf die ganze Vorgeschichte nachzeichnet. Dennoch ist die Symbolgeschichte des Gotthards nach 1945 erstaunlich unterbelichtet. Sie scheint zwar auf den ersten Blick von einer gewissen Kontinuität geprägt zu sein. Man kann also durchwegs von einer Fortsetzung des eidgenössischen Zentral- und des europäischen Transitmythos mit einer allmählichen Umlagerung von Deutungshoheit sprechen. Doch scheint sich kurz vor und mit der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels eine verquere Symbolpolitik abzuzeichnen: Während sich eine tendenziell proeuropäische Fraktion mit der Alpeninitiative als Bewahrerin des Zentralmassivs herausstellt, fordert der konservativ-nationalistische Flügel im Verbund mit gewissen Interessenvertretern eine zweite Autobahntunnelröhre und damit noch eine erhöhte «Transitsogwirkung» (Hermann Burger) mitten durch die Schweiz.

Der Zeithistoriker Damir Skenderovic bringt Erstaunliches zu Tage: Just um das Jahr 2000, als man die mythologische Überhöhung historiografisch abgetragen zu haben vermeinte (Fichen-Affäre, Bergier-Bericht), wird der Gotthard durch die neue Rechte remystifiziert, indem diese wie in anderen europäischen Ländern historische Deutungshoheit – entgegen jeglichen wissenschaftlichen Standards – beansprucht. Viel einsichtiger wäre eigentlich eine Schweizer Geschichte der Immigration, welche mit dem Bau des Gotthard-Scheiteltunnels einsetzt und bis heute andauert. Spätestens an dieser Stelle wird klar, warum der Gotthard – so im dramatischen Szenario des Kulturwissenschaftlers Walter Leimgruber – ins Weltkulturerbe der immateriellen Güter aufgenommen werden muss, wogegen sich der personifizierte und materialisierte Gotthard auf den Malediven mächtig wehrt. Damit erhält der Betroffene – wie in den literarischen Einwürfen von Pirmin Meier und Matteo Terzaghi – eine eigene Stimme, um in die Fantasien einzustimmen.

Beiträge können manchmal auch unscheinbar sein, vor allem wenn es um die Finanzierung und Organisation eines so anspruchsvollen Vorhabens geht. Darum möchte ich mich bedanken für die grosszügige finanzielle Unterstützung durch die Albert Köchlin Stiftung und die Universität Luzern. Weitere Beiträge stammen vom Kanton Uri. Namentlich zu erwähnen sind Silvan Moosmüller, der innerhalb unseres Forschungsprojekts «Polyphonie und Stimmung» mit viel Bedacht und Beharrlichkeit mithalf, die Finanzierung zu sichern, Silvia Cavelti, welche alles Administrative und einiges darüber hinaus fristgerecht abzuwickeln wusste, Wiebke Suden und Hannes Weber, die mir beim Lektorat gewissenhaft über die Schultern schauten, und Madlaina Bundi, Simone Farner sowie Rafael Werner für die enge und professionelle Betreuung durch den Verlag. Der grösste Dank geht an die Beiträgerinnen und Beiträger, welche – im Unterschied zu anderen Publikationen – nicht einfach ihr Projekt hier platzieren konnten, sondern von mir gezielt für bestimmte Fragestellungen angegangen worden sind, damit der Band möglichst breit und kompetent den ganzen thematischen Fächer abdeckt.

INFRASTRUKTUR, NATUR

Gefährdete Gotthardpost

Literarische Abschweifungen in die schweizerische Katastrophenkultur

Peter Utz

Gefahr gehört zum Gotthard. Beim Passübergang erleben wir die Alpen aus der Nähe, nicht nur mit fernen, glänzenden Firnen, sondern auch mit Schneestürmen, Lawinen, Steinschlag oder Hochwasser. Gleichzeitig grossartige und gefährliche Bergwelt: So wird der Gotthard zum eigentlichen Pars pro Toto für die alpine Schweiz, zu einem Erlebnispark der Naturgefahren.

Das «Zitterthal» und die gefährdete Gotthardpost

Wohlig werden diese Schrecken, wenn man sie aus Distanz geniesst, etwa in der bekannten deutschen Familienzeitschrift Die Gartenlaube. Sie führt 1862 dem Leser in Bild und Text jene Gefahren vor Augen, die uns am Gotthard erwarten: eine Säumerkolonne im Kampf mit den Elementen, auf verschneitem, abschüssigem Weg (Abb. 1).

Die entsprechende Beschreibungsprosa greift ebenfalls voll in die Tasten:

«Da lauerte auf der einen Seite der gähnende Abgrund, ein zu lauter Ruf konnte auf der andern die schlafende Lawine wecken, daß sie mit Donnergebrüll niederstürzte vom schwindelnden Hange und in ihrem rasenden Anpralle Roß und Reiter mit sich durch die Luft wirbelte, […]; oder es kamen langsam, in weiten wallenden grauen Talaren, die Nebelgeister herauf gewallt aus den unergründlich tiefen Schluchten des Gebirgs, umspannten den Verwegenen, der es gewagt, ihr Revier zu betreten, mit ihren trügerischen Schleiern, bis sein strauchelnder Fuß […] hinaustrat in’s Leere, und Roß und Reiter zerschellend auf’s unsichtbare Felsenbette hinunterstürzten.»1

Mythische Kräfte, resistent gegen alle Aufklärung, herrschen in der Bergwelt, sodass etwa das «Tremola-Tal» den Namen «Zitterthal» zu Recht verdiene.2 In den Süden führt nur eine Geisterbahn ohne Notausgang.

1  «Ein Zug Saumthiere vom Schneesturm überfallen.» Originalzeichnung von H. Jenny. Die Gartenlaube (1862).

Das Ende dieses heroischen Zeitalters ist jedoch abzusehen. Die Gotthardpost, die Rudolf Koller noch 1873 mit seinem Bild genau in der Tremola feiert, ist schon bei ihrem Entstehen überholt. Denn tief unter den Strassenwindungen arbeiten bereits die Mineure am Bahntunnel. Mit seiner Eröffnung 1882 wird Kollers Kutsche erst recht zum Nostalgiebild. Doch es enthält in sich schon jene Spannungen, in welchen das alpin geprägte Selbstbild der Schweiz mit der Dynamik des Fortschritts kollidiert. Darauf hat Peter von Matt mit seinem Buch Das Kalb vor der Gotthardpost brillant aufmerksam gemacht.3 In seiner Deutung steht jenes Kalb, das von der fünfspännigen Kutsche in den Abgrund gedrängt zu werden droht, für die Bedrohung, welche in der Dynamik des Fortschritts selbst steckt. Die Postkutsche Kollers ist eigentlich schon jener Schnellzug, der sie dann endgültig verdrängen wird.

Auch die Literatur artikuliert die inneren Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten in den Selbstbildern der Schweiz, gerade am Gotthard. Das soll hier an einigen literarischen Zeugnissen exemplarisch aufgezeigt werden. Denn während der Gotthard zum Zentralsymbol der helvetischen Identität aufgefaltet wird, wird er gleichzeitig technisch unterminiert und durchstossen.4 Zudem durchquert die neue Eisenbahnlinie auch jene Landschaft, die man bald darauf zur Kernfestung des militärischen Réduits ausbaut. Die europäische Brückenfunktion des Alpenpasses, der ins Zentrum des europäischen Verkehrsnetzes rückt, trifft direkt auf die ideologische und militärische Einigelungstendenz der Schweiz im 20. Jahrhundert. Dabei beruft man sich wiederum auf die Gründungsgeschichte der Schweiz, die ihrerseits in sich den Widerspruch von Abschottung und Öffnung enthält. Denn sie wird historisch aus den besonderen Bedingungen des aufkommenden spätmittelalterlichen Transitverkehrs abgeleitet. Kein Rütlischwur ohne den Saumweg über den Gotthard, auf den die Habsburger ihr eifersüchtiges Auge geworfen haben, lautet diese Gründungserzählung. Freiheit ist die Freiheit, über den Gotthard zu verfügen.

Am Gotthard treffen also mit der Eröffnung des Eisenbahntunnels Diskurse des technischen Fortschritts und der patriotischen Mythologie aufeinander. Ihr gemeinsamer Nenner ist das Motiv der Gefahr. Schon Schiller stellt in seinem Wilhelm Tell 1804 die Innerschweizer Idylle als doppelt gefährdet dar, durch die fremden Vögte und die drohenden Lawinen oder den rasenden See. Im Rütlischwur wird die «Gefahr» zur eigentlichen gemeinschaftsbildenden Kraft: «Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern / In keiner Noth uns trennen und Gefahr.»5 In dieser Formel klingt nicht nur ein Grundpostulat der Französischen Revolution an. Wirkungsmächtig wird sie in der Schweiz besonders deshalb, weil sie die Bildung einer Solidargemeinschaft aus einer Bedrohungslage heraus motiviert, die sowohl eine politisch-militärische wie eine der Natur sein kann.

Die schweizerische «Katastrophenkultur» und Carl Spittelers Gedankendynamit

Daraus hat sich in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert eine eigentliche helvetische «Katastrophenkultur» entwickelt.6 Die plurikulturelle Schweiz, die – anders als die meisten europäischen Staaten – ihren inneren Zusammenhalt nicht in Kriegen gegen aussen aushärten kann, beweist bei Erdrutschen, Überflutungen oder Lawinenkatastrophen ihr Existenzrecht als «Schicksalsgemeinschaft» unter den Alpen, zu denen sie von allen Seiten aufblickt. Und in breiten Spendenaktionen kann sie ihre Solidarität als «Willensnation» einüben, ein erstes Mal beim Bergsturz von Arth-Goldau von 1806, der über 400 Opfer fordert und eine topografische Kernzelle der Schweiz trifft. Die Idylle wird zum Katastrophengebiet. Erstmals wird eine gesamtschweizerische Hilfsaktion gestartet, die alle Landesteile erfasst. Der friedliche Spendenwettbewerb überbrückt politische, soziale und konfessionelle Gegensätze, und gerade die städtischen Gebiete können mit ihrem Beitrag die virtuelle Zugehörigkeit zur Alpenschweiz beglaubigen, der sie ökonomisch eigentlich bereits den Rücken zuwenden. Diese «Katastrophenkultur» wird in der Schweiz zum Kulturgut: auf die Liste des «immateriellen Kulturerbes der Schweiz» zuhanden der UNESCO hat der Bundesrat 2014 den Umgang mit der Lawinengefahr an die erste Stelle gesetzt.

Der Bau der Gotthardbahn ist in diesem Zusammenhang zu sehen: Einerseits ist der Gotthardtunnel selbst eine effiziente Massnahme, um den Alpenübergang vor den Naturgefahren zu sichern. Andererseits setzt die Bahn auf den Zufahrtsstrecken zum Scheiteltunnel die Reisenden und Güter, die sie nun in Massen in die Alpenwelt hineinsaugt, diesen Gefahren gerade aus. Gleichzeitig behauptet sie, dagegen alle nötigen technischen Vorkehrungen treffen zu können. Sie setzt also im Kampf gegen die Naturgefahren ganz auf den technischen Fortschritt. Dies wirft jedoch eine Reihe von Fragen auf: Wie verträgt sich dieser Triumph des Fortschritts mit den Gründungsmythen der Schweiz, die er eigentlich im Wortsinn unterminiert? Wird nun ein heroisches Techniknarrativ an die Stelle des militärisch geprägten Gründungsnarrativs gesetzt? Ist dieses Narrativ mit jenem gemeinschaftlich-solidarischen Sozialmodell kompatibel, das die Katastrophenkultur generiert? Welche Rolle spielen dabei die Alpen, der häufig personifiziert auftretende «Berg»? Ist er der älteste Verbündete der Schweiz, im Sinn des Réduits, oder der Gegner, den man mit der Technik besiegt?

Diese Widersprüche und Spannungen werden auch in der Literatur ausgetragen. Dabei werden sie nach aussen gestülpt, werden sichtbar und reflektierbar. Sie vermittelt diese Widersprüche an ihr Publikum, das ja meist im urbanen Flachland angesiedelt ist, und bindet dieses so zurück an die Alpenschweiz und ihre Katastrophenkultur, in die sie immer wieder abschweift. Ein erstes Beispiel dafür liefert Carl Spitteler. Er verfasst im Auftrag der Gotthardbahngesellschaft 1896 das Buch Der Gotthard – der erste bekannt gewordene Reklameauftrag an einen Schweizer Schriftsteller.7 Das Buch ist in zwei Hauptteile gegliedert, von denen nur der erste den Auftrag direkt reflektiert: «Mit der Eisenbahn» und «Zu Fuß». Der Fahrt mit der Gotthardbahn, in deren Auftrag Spitteler ja schreibt, wird die archaische Fusswanderung in der Gotthard-Region gegenübergestellt, die den dichterischen Journalisten erst richtig an die harte Natur und ihre archaischen Gefahren heranführt. Fast wie die Gartenlaube beschwört Spitteler herauf, wie eine Fahrt über den Pass früher eine «dreitägige Schlacht des wehrlosen Menschen mit der Natur, die heimtückisch aus dem Hinterhalte droht» (S. 145) gewesen sei. Diese Bedrohung ist auch durch die Eisenbahn nicht gelöscht: Im Zentrum des Buchs rückt ein erstaunlicher Exkurs über das 1895 von einer Lawine verschüttete Airolo die Naturgefahren ganz dicht an die neue Bahnstrecke und an den Leser heran.

Gegenüber diesen breit ausgemalten Katastrophenszenarien bleibt Spitteler beim Gotthardtunnel selbst erstaunlich wortkarg. Ja, die «erhabenste Tunnelnacht» scheint sich kaum zu unterscheiden von einer banalen «Kellernacht». Kein Gedanke an die heroischen Erbauer des Tunnels, wie man sie später auch literarisch immer wieder feiern wird. Um sich selbst Angst zu machen, und damit die Tunnelquerung doch noch zu einem Ereignis würde, muss man sich schon eine Katastrophe imaginieren:

«‹Was geschähe jetzt, wenn jetzt –? Eine Entgleisung mitten im Tunnel zum Beispiel –› oder, wie jene Bäuerin meinte, ‹wenn sich der Zug unter der Erde ‹verirrte›, so daß er statt nach Italien gegen Österreich führe und unterwegs stecken bliebe, daß man ihn ausgraben müßte wie der Dachs in der Höhle?›» (S. 44)

Eigentlich hat der Tunnel die Schrecken des Berges beseitigt. So braucht es eine schon dichterische Fantasie, ein «Was wäre wenn …», um dem Tunnel-Thema noch neue Schrecken abzugewinnen. Friedrich Dürrenmatt wird dieses Szenario 60 Jahre später in seiner Novelle Der Tunnel zu Ende denken, in der ein Zug aus der helvetischen Fahrplan-Topografie heraus dem Erdinnern entgegenstürzt. Eine andere fantastische Abzweigung wird Hermann Burger wählen, die sogar nach Österreich führt. Jedenfalls scheint der Banalität des Tunnelerlebnisses nur eine Katastrophenfantasie beizukommen, mit der jedoch auch Spittelers Text selbst definitiv von seinem Auftragsgleis abkommen würde.

So taucht der Text die Gotthardbahn trotz allen guten Reklamevorsätzen in ein merkwürdiges Zwielicht: Sie führt uns zwar elegant ins Herz der Gotthard-Landschaft hinein, doch droht sie mit den alpinen Gefahren auch deren besondere Erlebnisqualität zu beseitigen. Darum sucht der Text imaginativ die Faszination der Katastrophe, ohne aber deren Solidaritätskontribution zu verlangen. Ohnehin kommen in Spittelers Text keine schweizerisch-nationalen Gefühle auf, wie sie 50 Jahre später beim gleichen Thema obligatorisch wären. Im Gegenteil: Auf dem Gotthard weiss man sich «mehr in Europa als überall sonst.» (S. 12) Euphorisch wird Spitteler nur, wenn er jenen Süden heraufbeschwört, den man dank dem Tunnel nun schneller erreicht.

Die Alpen dagegen haben für Spitteler letztlich keinen Eigenwert. Das sagt er in diesem Buch aber nicht explizit. Nur seinem Freund Joseph Viktor Widmann schreibt Spitteler:

«Ich hasse im Grunde die Berge, weil sie kälten und dem Himmel, also der Lichtkugel Stücke wegfressen, den Horizont verringern […]. A propos Gotthard u. meine alpine Natur: meine Lieblingsphantasie ist jetzt, den Gotthard mit allen Alpen mit Dynamit in die Luft zu sprengen auf die andere Seite, gegen Norden, damit wir italiänische Luft direct bekämen.»8

Als Tunnelbauer eigenen Rechts hantiert hier der spätere Nobelpreisträger ganz unbefangen mit jenem Gedankendynamit, das ihm nur als Dichter in unbegrenzter Menge zur Verfügung steht.

Die Heroen der Technik und das helvetische Kollektiv

Der Gotthard fliegt jedoch nicht in die Luft, im Gegenteil: Nach der Eröffnung der Bahnstrecke wird er gar militärisch befestigt, und gleichzeitig wächst er zum Zentralmassiv des eidgenössischen Selbstbehauptungswillens heran. Die Gotthardbahn wird nach 1909 nicht nur materiell, mit der Eingliederung in die «Schweizerischen Bundesbahnen», sondern ebenso ideologisch nationalisiert. Auch die Dichter des 20. Jahrhunderts arbeiten auf dieser neuen geistigen Gotthard-Baustelle.9 Sie re-inszenieren den Bau des Tunnels, dessen Eröffnung man 50 Jahre zuvor (im Jahr 1932) feierte. Im Zeichen der Geistigen Landesverteidigung wird der Tunnelbau zur nationalen Gründungstat umgedeutet. Dabei entstehen allerdings Spannungen zwischen dem modernen Technikdiskurs und der mythischen Gründungsgeschichte wie auch zwischen dem heroischen Einzelnen und dem Kollektiv. Doch auch dafür liefert – so die bestehende These – die helvetische Katastrophenkultur eine vermittelnde Matrix.

Dies zeigt sich zunächst an dem wirkungsmächtigen Jugendbuch von Robert Schedler Der Schmied von Göschenen. Eine Erzählung aus der Urschweiz für Jung und Alt, das zwischen 1920 und 1971 elf Auflagen erlebt.10 Der jugendliche Titelheld schart mit seinem Projekt, die Schöllenenschlucht durch den «stiebenden Steg» begehbar zu machen und dadurch den Gotthard zu erschliessen, die ganze Talschaft hinter sich. Er ist der erste Technikheld der Schweiz, ein Tell mit Amboss statt mit Armbrust, der in der Schöllenen die neue Willens- und Solidargemeinschaft zusammenschmiedet. Als solcher ist er auch ein impliziter Vorläufer von Louis Favre, dem Ingenieur des Gotthardtunnels. Dieser rückt ins Zentrum weiterer Gotthard-Romane, am entschiedensten im Roman des Österreichers Oskar Maurus Fontana Der Weg durch den Berg: Ein Gotthard-Roman, der 1936 in Wien erscheint.11 Favre kämpft hier als heroischer Einzelner nicht nur gegen die Naturgefahren, sondern auch gegen die Widerstände aus der Bevölkerung. Felix Moeschlin scheint als Schweizer darauf zu antworten: Mit dem monumentalen Roman Wir durchbohren den Gotthard (1947/49) gibt er jenem «Wir» seine Stimme, das allein den Gotthard bezwingen könne.12 Auch wenn dieses Kollektiv wesentlich aus italienischen Tunnelarbeitern besteht, rückt der Bahnbau so ein in die alten Strategien des kollektiven helvetischen Kampfs gegen die Naturgefahren.

Die Geistige Landesverteidigung steht dabei zwischen der Rückbesinnung auf eine mythische, naturnahe Solidargemeinschaft und dem Fortschrittsglauben. Die alpine Sagenwelt, wie sie etwa Eduard Renner mit dem Goldenen Ring über Uri 1941 heraufbeschwört,13 steht gegen eine Publikation wie die von Walter Angst im «Schweizerischen Jugendschriftwerk» von 1944: Mit 12 000 PS durch den Gotthard. Technische Reise eines jungen Eisenbahnfreundes.14 Diesen Widerspruch kann man gerade am Gotthard im Zeichen der eingeübten Bewältigungsstrategien von Naturgefahren aufheben. Das versuchen auch weitere Gottharderzählungen der Zeit.15 Am formvollendetsten Meinrad Inglin mit seiner Novelle Die Lawine.16 Der Titeltext der gleichnamigen Sammlung erscheint 1947. Jener Lawine im Reusstal, die er zum Titel erhebt, setzt er eine Eisenbahnbrücke entgegen, die schliesslich einen Triumph der Technik und ein fast unverschämtes Liebesglück ermöglicht, in dem sich auch die vom Krieg verschonte Schweiz erkennen kann – eine geniale literarische Ingenieursleistung.

Der verschüttete Gotthardexpress und Friedrich Dürrenmatts Einspruch gegen den helvetischen Katastrophenkonsens