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Samuel Kohanim, Oberhaupt einer der ältesten jüdischen Familien in Westpreußen, ist durchschnittliches Unglück gewöhnt. Seine Frau Mindel, schroff und wortkarg von Natur, gebar ihm sieben Mädchen. Die »sieben biblischen Plagen«, wie die Kohanim-Töchter im Dorf genannt werden, strapazieren die väterliche Geduld: Selma, die mit ihrem religiösen Spleen alle meschugge macht, Martha, die am laufenden Band haarsträubende Lügengeschichten erfindet, Fanny, die nicht unter die Haube zu bringen ist, der Wildfang Elli, Jenny, Flora – und Franziska, »die Katastrophe auf Abruf«, bildschön, stolz und eigenwillig.

Nach dem Ersten Weltkrieg sucht die Familie Kohanim Zuflucht in Berlin. Während Martha in gehobene Berliner Kreise einheiratet und ihr Mann Leopold zum Christentum konvertiert, lässt sich Franziska mit dem ebenso charismatischen wie unzuverlässigen jüdischen Gelegenheitsarbeiter und Glücksritter Willy Rubin ein und lebt fortan im »roten Wedding«. Auch die revolutionäre Oda, die deutsch-russische Adlige wider Willen und Freundin der Familie, hat es in die Hauptstadt verschlagen. Im Laufe der Jahre verbindet sich ihr

Schicksal endgültig mit jenem der Familie Kohanim, deren Stammbaum die unterschiedlichsten Triebe ausbildet, jüdische wie nicht-jüdische, nationalistische wie kommunistische.

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Stammbaum

Meinen Kindern und Enkeln

Inhalt

Die Anklage

Kaddisch für einen Kronprinzen

Die Strafverteidigerin

Die biblischen Plagen

Der gute Ort und der Zwölffingerige

Wahrheit und Glaubwürdigkeit

Eine Katastrophe auf Abruf

Über Kleinbürger, gewesene Helden und andere Folgeschäden

Ein Morgen, das kein künftiges Heute ist

Benno und Bruno

Max im Glück und Herrenausstatter im Pech

Wenn wir fallen, dann fallen wir tief

Die Vernehmung

Örtlich betäubt

Odas Privatrevolution

Ein Kronprinz ohne Reich

Das Feuer und der gewässerte Hering

Etwas läuten gehört

Schüttelfieber

Im Schatten von Helden

Jedem das Seine

Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens

Stalin ist tot!

Rette sich, wer kann!

Der Judaslohn

Heimlichkeiten

Der Tag X

Die Flucht

Ein Ende mit und ohne Schrecken

Der Termin


Danksagung

Anmerkungen

Die Anklage

Als man mich vom Flughafen Berlin-Tegel mit dem Krankenwagen hier in die Nervenklinik einlieferte, lautete die Diagnose »akute Synkope mit partieller Amnesie«. Seit Istanbul am Hafen kann ich mich an nichts erinnern. Licht aus, Ton aus, ein langes schwarzes Nichts. Blackout.

Erst im Krankenzimmer der Neurologie in Spandau wachte ich wieder auf. Offenbar wusste man nicht so recht, wohin mit mir. Ständig wurde ich im Bett hin- und hergerollt, begleitet von Pflegern mit der Statur von Preisboxern. »Ich kann doch laufen«, gab ich zaghaft zu bedenken, »warum fahren Sie mich eigentlich herum?«

»Aus juristischen und versicherungstechnischen Gründen«, erklärte mir der Glatzkopf mit den bösen Augen am Fußende des Bettes. Vor Schreck presste ich meine Handtasche noch fester an mich. Dabei war die Tasche vorher wahrscheinlich schon zigmal durchwühlt worden. Selbst das Innenfutter hat jemand aufgeschnitten! Erst hielt man mich wohl für eine demente Alte, dann aber für eine Kriminelle. Die Bundesrepublik Deutschland klagt mich an: Verdacht auf Verstoß gegen § 96 des Aufenthaltsgesetzes, gem. Absatz 1, Hilfe zur Schleusung, und nach Absatz 2, Vorwurf des gewerbsmäßigen Schleusens von Ausländern. So steht es in der Klageschrift.

Nach Absatz 1 wird mir eine Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren angedroht, nach Absatz 2 gleich der doppelte Satz: sechs Monate bis zu zehn Jahre! Jetzt bin ich in der geschlossenen Psychiatrie gelandet. Den Polizisten vor meiner Tür haben sie inzwischen abgezogen.

Ist das nun eher eine Zelle oder ein Krankenzimmer? Jetzt bloß nicht an Kafka denken! Vielleicht ist es sogar gut, dass ich mich nicht erinnere? Irgendwas muss gründlich schiefgegangen sein. Nur was?

Eine Fliege, die im Doppelfenster meines Krankenzimmers gefangen ist, rasselt schon wieder gegen die Scheibe. Seit zwei Stunden geht sie mir damit auf die Nerven.

Aus Übermut, so wie die dumme Fliege, die die Außenscheibe attackiert, nehme ich Frau Dr. Vogelsang, die die Ursachen meines Gedächtnisverlustes untersuchen soll, aufs Korn und spotte: »Vielleicht war ja mein ganzes bisheriges Leben auch nur eine einzige posttraumatische Belastungsstörung?«

Die linke Augenbraue meiner Therapeutin zuckt hoch und bildet einen schwarzen gotischen Bogen. Ihr Mund verzieht sich dabei säuerlich.

»Der Ernst der Lage ist Ihnen aber schon bewusst, ja?! Oder möchten Sie mir etwas ganz Bestimmtes mitteilen?«

Unter den gotischen Torbögen wohnen in tiefen Höhlen zwei Mausaugen. Sie scheinen nur aus Pupillen zu bestehen. Vorwurfsvoll blitzen mich die Mausaugen etwas fehlsichtig an.

Na, so frech war das auch wieder nicht, räsonniere ich still. Unwillkürlich reagiere ich dabei mit einer fahrigen Geste.

Sicher wertet sie das körpersprachlich wieder als Übersprunghandlung oder Abwehr. Na, meinetwegen!

Frau Dr. Vogelsang kritzelt ziemlich verdrossen und heftig in ihren Unterlagen herum. Dann misst sie mich mit dem prüfenden Blick einer beauftragten Analytikerin. Patienten oder Probanden, die sich über sie und ihr ernstes Werk lustig machen, sind ihrer Meinung nach entweder Idioten oder Neuroten. Worunter ich falle, weiß sie noch nicht.

Ich auch nicht.

Vielleicht ist das auch keine Entweder-oder-Frage?

Auf ein abgenutztes Clipboard mit abgeschabtem blauem Rücken notiert sie mit wütender Energie viel Text. Ich recke den Hals. Manisch lese ich verkehrt herum, immerhin mit einem Fragezeichen. Es springt mir in die Augen. Der Furor, mit dem sie sich auf dem Papier abarbeitet, hat eine Strähne aus ihrem hochgesteckten Haar gelöst. Ihre Haartracht gleicht allmählich einem Frisierunfall.

Ab wann ist »heiter« nicht bloß heiter, sondern manisch?, denke ich.

Die freischwebende Locke dreht sich in Zeitlupe zu einer Sechs auf ihrer Stirn. Zu ihrem müden Gesicht bildet das einen komischen Diskant. Das lenkt mich ab.

Wo habe ich dieses Motiv schon mal gesehen?, frage ich mich. Die Garbo in der Kameliendame!, fällt mir ein. In einer Game Show gäbe das jetzt glatt hundert Punkte!

In meinem Bauch rollen bereits erste Lacher wie Glasmurmeln hin und her. Tatsächlich hat die Vogelsang mit der Garbo so viel gemein wie eine Kuh mit einer Nachtigall. Alles an ihr ist irgendwie schief. Den Mund verzieht sie beim Sprechen immer nach links. Als wollte sie dem Gesagten Nachdruck verleihen. Oder ist es ein Tick?

Prompt fallen mir Dutzende Psychiaterwitze ein. Ich widerstehe.

Die Nasenspitze von Frau Dr. Vogelsang driftet beim Sprechen ebenfalls sanft nach links. Das linke Auge ist kleiner als das rechte. Und nun noch diese Locke! Immer wieder muss ich auf diese haarige dunkelblonde Sechs starren.

Damit keine Peinlichkeit entsteht, sehe ich lieber aus dem vergitterten Fenster. Drüben auf dem Dachfirst versammeln sich gerade wieder die Nebelkrähen. Seltsamerweise hocken sie immer auf dem Dach der Forensischen Abteilung. Mindestens zweihundert Vögel auf Abruf. Emsig putzen sie ihr schwarzgraues Gefieder. Mit flink von rechts nach links wippenden Köpfen halten sie hektisch Ausschau wie wachsame Kurzsichtige, denen ständig die Brille verrutscht. Hitchcock!, raunt mein zweites Ich.

Der Himmel über dem Anstaltsdach mit der Vogelversammlung gleicht einem dunkel verschossenen Schmuddellaken. Wie nicht anders zu erwarten, meldet sich bei diesem Gedanken sofort mein chronischer Putzfimmel. Chlorbleiche, Wäscheweiß oder Zauberschwamm ist hier nicht die Frage, weise ich meinen Fimmel zurecht. Ich muss mich auf das Gespräch mit der Vogelsang konzentrieren. Da verbieten sich Fantasien zu blitzblank geputzten Himmeln, denn zugegeben: Ich sitze ziemlich in der Klemme.

Halb forschend, halb erbittert mustert Dr. Vogelsang mich. Jetzt beugt sie sich erwartungsvoll vor. Irgendwas muss ich nun wohl sagen. Hilfsweise grinse ich in Richtung Fensterscheibe. Den Blick richte ich fest auf die Vögel und denke mir das Wort »Brot«, wie das Schauspieler tun, wenn sie bekümmert und ernst wirken sollen.

Es klappt.

Das Vorher in meinem Leben, um das sich Frau Dr. Vogelsang bei mir bemüht, ist mir ziemlich gleichgültig, was mich in Anbetracht der Lage selbst verwundert.

Frau Dr. Vogelsang zuckt mit den Achseln. Unterdrückt einen Seufzer.

Ihren Verdruss tarnt sie mit professioneller Langmut: »Na, gut! Dann erzählen Sie mir einfach, woran Sie sich erinnern.« Der linke Mundwinkel führt dabei schon wieder ein seltsames Eigenleben. Verstohlen blickt sie auf die Armbanduhr, die Therapeuten einer geheimen Regel zufolge immer am Anfang einer Sitzung vom Handgelenk abnehmen und demonstrativ vor sich hinlegen. In Ermangelung eines Tisches klemmt Frau Dr. Vogelsang ihre Uhr hier an das Clipboard, als wollte sie mir sagen, ihre Zeit sei bemessen und kostbar. Ich solle davon sparsamen Gebrauch machen.

»Ich schlage vor, wir arbeiten uns, möglichst ohne Witze zu machen, zum traumatischen Ereignis vor«, beginnt sie gedehnt. »Dorthin, wo Ihre Erinnerung aussetzt, um Ihre Seele zu schützen. Ich sage noch einmal: Sie haben nichts zu befürchten!«

Nichts zu befürchten?!, echot es höhnisch durch meinen Kopf. Dabei fühlt sich mein Schädel an, als sei er mit rosa Zuckerwatte vollgestopft.

Meine mir zugeteilte Doktora atmet jetzt tief durch. »Wollen Sie mir bitte Ihren Satz, dass Ihr ganzes Leben eine einzige posttraumatische Belastungsstörung sei, näher erklären, oder beginnen wir lieber mit Ihrem Satz von gestern: ›Wenn wir fallen, dann fallen wir tief!‹ Wer ist dabei ›wir‹, und wer genau fällt denn da eigentlich?«

Über die Einzelheiten meines sogenannten posttraumatischen Lebens zu plaudern ist mir zu heikel. Das hieße, davon zu sprechen, dass ich schon bei meiner Geburt nur knapp dem Tod entging. Nabelschnurvorfall. Die Nabelschnur hatte sich siebenmal um meinen Hals gewickelt. Stranguliert im Mutterleib. Winter 1947 war das. Hausgeburt in einer kaum heizbaren Wohnlaube im Berliner Norden. Und kein Arzt weit und breit. Ohne Kaiserschnitt: entweder sie oder ich. Das Leben der Mutter geht vor. Nur bei den Katholiken soll es anders herum sein. Angeblich wegen der Unschuld des Ungeborenen, hat meine Mutter gesagt. Die Hebamme hatte sich zu meinem Exitus bereits Mut angetrunken. Mit selbstgebranntem Schnaps aus der braunen Medizinflasche mit dem Etikett 96 % med. Alkohol. Sie gab mir noch eine allerletzte Chance. Wenn nicht, dann … Den geschickten Fingern dieser Frau, die mir die strangulierende Nabelschnur schließlich siebenmal über den Kopf ziehen konnte, verdanke ich mein Leben. Dabei kenne ich noch nicht einmal ihren Namen! Mit einem blauen, deformierten Kopf bin ich »dem Tod von der Schippe gesprungen«, erzählte meine Mutter später immer triumphierend. Dass sie in Folge jedoch annahm, dass ich nur zu einer Idiotin taugen würde, ließ sie unerwähnt. »Und die Welt begrüßte mich als Erstes mit einer Schnapsfahne!«, ergänzte ich dann immer munter das Heldenepos meiner dramatischen Geburt.

Denn wir verachten den Tod. Wir lachen ihm ins Gesicht. Schon aus Prinzip! Wir glauben den Tränen nicht.

Deshalb sind Leid und Drama bei uns grundsätzlich komisch. Dazu passte, dass ich bei meiner Geburt gleich zwei Väter und kurz nacheinander drei verschiedene Familiennamen und drei Geburtsurkunden hatte. Erst den Namen des gefallenen Ehemannes meiner Mutter, dann den Mädchennamen meiner Mutter und etwas später den Namen meines richtigen Vaters, der übrigens ziemlich zeitgleich mit mir »dem Tod von der Schippe gesprungen« sein musste, denn an meinem Geburtstag lag er im Sterbezimmer einer Potsdamer Klinik. Motorradunfall bei Glatteis auf der Autobahn. Dem Tod zu entkommen, darin hatte mein Vater sehr viel Übung. Ich bereits nach einem Tag Leben.

Das alles erzähle ich der Vogelsang nicht. Ich traue ihr nicht. Am Ende ist sie eine falsche Therapeutin und arbeitet für die Staatsanwaltschaft. Vielleicht ist sie gar eine bestellte Gutachterin? Wenn man auf der geschlossenen Station der Psychiatrie liegt, ist man dann eigentlich schon halb im Gefängnis, quasi in medizinischer Untersuchungshaft? Ich entschließe, so ohne weiteres nichts von mir preiszugeben.

Gar nichts!

In meiner Familie hat man gelernt, mit Finesse zu schweigen.

Am besten fange ich mit etwas Unverfänglichem an: mit wortreichem Schweigen oder mit der Genealogie der Ereignisse, die bis hierher führten …

Kaddisch für einen Kronprinzen

Zur Mittagszeit des 10. März 1902 ahnte niemand, dass der Untergang der Familie Kohanim von nun an seinen Lauf nehmen sollte. Kein leiser Knacks, kein haarfeiner Riss, kein eiskalter Hauch. Weder plötzliche Stille noch ein Schwarm auffliegender Raben oder eine auf Punkt zwölf stehengebliebene Uhr; keine schwarze Katze von links nach rechts, kein Bild, das von der Wand fiel, kein zersprungenes Glas, noch nicht einmal eine Verwünschung wurde laut. Auch kein bedeutungsvoller schwarzer, mit Lineal gezogener Strich wie bei den Buddenbrooks. Nichts dergleichen, das Vorahnungen beschwören könnte. Nur eine schwindsüchtige Sonne stand am Himmel und kämpfte darum, die Eiszapfen zum Weinen zu bringen. Das war alles.

Dieser 10. März schien lediglich einer der üblichen Unglückstage der Familie zu werden, so unvermeidlich wie zahlreich im Leben einer besseren jüdischen Familie im ländlichen Westpreußen im 19. Jahrhundert.

Mit Fassung sah man wiederum einem durchschnittlichen Unglück entgegen. So etwas gab es zur Genüge auf Sauermühle nahe der Kreisstadt Schwetz. Das einzig Ungewöhnliche an diesem Unglückstag war, dass im Haus ein jiddisches Schlaflied erklang.

Amol is gewen a Majese

Die Majse is gor nit frejlach,

die Majsse hebt sich on

mit a jidischen Mejslach.

Ljulinke, mejn Vejgele,

Ljulinke, mejn Kind!

Ich hob verlorn a sa Liebe,

wej is mir und wünd.

Der Bojm hot gehobt a Zwejg,

der Zwejg hot gehobt a Nestele,

dos Nestele hot gehobt a Vejgele,

dos Vejgele hot gehobt a Fliegele.

Ljulinke, mejn Vejgele, Ljulinke, mejn Kind!

Der Mejslach is gestorbn,

die Malke is geworen vardorbn,

der Bojm is opgebrochen,

dos Vejgele is awakgeflogn.

Ljulinke, mejn Vejgele,

Ljulinke, mejn Kind!

Er hot verlorn a sa Leben,

wej is mir und wünd.

Für nichtjüdische Ohren klang das für ein Wiegenlied schon befremdlich genug. Zu einer schwermütigen Melodie klagte im Lied eine Mäusemutter, dass ihr alle Mäusekinder der Reihe nach wegstürben, dazu noch der Baum, das Nest und die Vögel. Tod, Tod, Tod, überall Tod! Wollte man so etwa ein Kind in den Schlaf lullen? Was christliche Ohren da an Trauer verstörte, klang für jüdische eher normal. In früheren Zeiten war man schließlich nicht zimperlich. Man dachte praktisch. Ließ sich das Unglück nicht mit Gesang und Gebeten bannen, dann wollten die Altvorderen jüdische Kinder bereits in der Wiege auf ein entbehrungsreiches Leben einstimmen. Je früher, desto besser! Auch wenn man wohlhabend war, oder vielleicht gerade deshalb. Zur Mahnung, dass das Schicksal sich immer wenden könnte und jeder gefordert war, immer und zu jeder Zeit die Wechselfälle des Lebens von Grund auf neu zu meistern. Doch solche Existenzängste kannte die Familie schon lange nicht mehr. Die Kohanim waren seit Generationen recht begütert und geradezu messianisch vom Glauben an den Fortschritt besessen. In der Gemeinde und im Landkreis von Schwetz galt mein Urgroßvater, Samuel Kohanim, als liberaler Querkopf. Er war ein Modernist, der die neuesten Maschinen und Methoden immer als Erster einführen wollte. Der Umsturz alles Althergebrachten, Rückständigen und Überlebten war seine Passion. Meine Urgroßmutter nannte das den »Kohanim’schen Flitz«. An die zwölf technische und naturwissenschaftliche Zeitschriften studierte mein Urgroßvater regelmäßig. Außerdem war er weit und breit der einzige liberale Republikaner und Freigeist unter lauter Monarchisten und kaisertreuen Untertanen. Für die innerfamiliäre Gemütslage bedeutete das, dass man fast alle mittelalterlichen jüdischen Traditionen rigoros verachtete. Jiddisches war den Kohanim sogar so peinlich, dass sie so taten, als verstünden sie es nicht. So war es Familienbrauch, sobald jemand Jiddisch sprach, die Augenbrauen unwillig zusammenzuziehen und sich theatralisch verständnislos zu gebärden. Dieses jiddische Lied war im Hause Kohanim deshalb im doppelten Sinne unerhört. Mindel Kohanim, meine Urgroßmutter, die meinem Urgroßvater Samuel an Eigensinn nicht nachstand, missbilligte die jüdischen Traditionen nur halbherzig und gestattete sich an diesem 10. März ausnahmsweise einen Rückfall »ins Vorsintflutliche«. Aus gegebenem Anlass.

War Mindel nicht genauso eine unglückliche Mutter wie die Mäusemutter im uralten jiddischen Wiegenlied? Ihre sieben Töchter, also meine sechs Großtanten und meine halbkindliche Großmutter, waren des unverhofften vielstrophigen trübsinnigen Singsangs schnell überdrüssig. Sie verstanden den Text ja noch nicht einmal. Außer »Wej, wej, wej«, was man nicht übersetzen musste. Ungeduldig hofften sie auf einen Übergang zu geläufigeren Weisen. Lieder, in denen von Sternlein und Schäfchen die Rede wäre. In ihren Fibeln waren solche Lieder immer putzig bebildert. Mit verdrehten Augen flatterten da nackte Putten herum, die durchweg fett, ziemlich flugunfähig und dämlich aussahen.

Selbst »Bruder Jakob« wäre meiner halbkindlichen Großmutter und den schon jugendlichen Großtanten recht gewesen. Nur eines stand für alle sieben Schwestern fest: Dem Bruder hier in der Wiege könnten die Sternlein stehen, wo der Deibel Fliegen fängt!

Außer schwesterlicher Missgunst lag sonst nur Kampfer und Jammer in der Luft. Drum herum viel Langeweile.

Die verpönten Töne des Liedes drangen längst nicht mehr in die Herzen dieser jüdischen Mädchen. Unentschlossen blieben daher die obdachlosen ein- oder zweigestrichenen As, Ds und Hs ratlos in der mittleren Luftschicht der überheizten Stube hängen. Nur die Fransen an der Lampe ließen sie zittern. Vor Schwermut triefend, sanken die Töne langsam zu Boden und tropften zwischen den Dielen weg wie die Tränen der Sängerin.

Nur Mindels Jüngster, dem das missliebige Wiegenlied galt, hörte es als Einziger nicht. Tief vergraben lag das Kind, das mein einzig übriggebliebener Großonkel in spe werden sollte, in seiner weißen Kissengruft. Darüber wucherten Spitzen wie Spinnweben auf Dachböden. Abwechselnd rang das Kind mal mit dem Leben, mal mit dem Tod. Seufzte der kleine Benjamin auf, dann hatte gerade mal wieder das Leben triumphiert. Japste oder röchelte er, dann schien gerade wieder der Tod die Oberhand zu gewinnen. Drei Tage und Nächte ging das nun schon so.

Der kleine Benjamin sollte der Kronprinz der Familie werden. Doch nun, nach zwanzig Monaten, machte auch dieser Kronprinz schlapp. Genau wie die fünf Kronprinzen vor ihm.

Da half kein Wiegenlied, kein Arzt, auch nicht der Wunderrabbi von Sadagora, den meine Urgroßmutter im Tausch gegen ihre Perlen heimlich ins Haus geholt hatte. Die Perlen, die sie seither an Festtagen trug, waren falsch. Echt blieben nur die Tränen.

Inzwischen schwankte die Wiege aus geschnitztem Nussbaum wie ein Kahn auf schwerer See. Gefährlich nah neben der Wiege ragte ein kolossaler grüner Kachelofen auf. Eine Handbreit unter der Zimmerdecke war dieses Bollwerk gegen sibirische Kälte mit grünen Kachelzinnen wie eine Burg bekrönt. Das Schaukeln der Wiege verursachte auf den weiß gescheuerten Dielen ein sandiges Mahlgeräusch. Zusammen mit dem behäbigen Ticken der Standuhr verband es sich zu einem Duett von Vergänglichkeit, vorausgesetzt, man hatte einen Sinn für Höheres. Die großen Schwestern des siechen Kronprinzen waren dafür jedenfalls nicht empfänglich.

Elli dachte ans letzte Eislaufen der Saison, das sie nun verpasste. Flora deklamierte stumm alle dreiundzwanzig Strophen der »Kraniche des Ibykus«. Martha sinnierte darüber, ob sich die Liebenden in ihrem Schmöker kriegen. Fanny dachte an die Hausarbeit, die jetzt liegen blieb. Jenny hatte Hunger und grämte sich über das verspätete Mittagessen, das inzwischen in der Bratröhre verschmorte. Franziska grübelte, wem sie das verhasste Spleißen der Gänsefedern aufhalsen konnte. Selma, meine jugendliche Großtante mit religiösem Spleen, ging im Geiste durch, welche Gebete und Rituale bei Kindstod vorgeschrieben waren. Die Beschäftigung mit den kultischen Spitzfindigkeiten der verschiedenen jüdischen Glaubensrichtungen war erst seit kurzem Selmas Marotte.

Alle ihren Gedanken nachhängend, standen die sieben Kohanim-Töchter so in Langeweile erstarrt im überheizten Schlafzimmer. Tapfer kämpften sie gegen das Gähnen. Zu gern hätten sie im Stehen geschlafen. Angeblich beherrschten die livrierten Hausdiener im gräflichen Schloss das Stehendschlafen, ohne umzufallen.

Das Boudoir, wie das Schlafzimmer von den Urgroßeltern genannt wurde, war vollgestellt mit ausladenden dunklen Möbeln. Diese wurden von bis zur Erschöpfung geschonten Teppichen belagert. Das schmalbrüstige Doppelfenster hatte meine Urgroßmutter aus Angst vor tödlicher Zugluft vom Knecht zunageln lassen. Wild ragten die überlangen, rostigen Dachlattennägel aus dem weiß lackierten Fensterrahmen. Fast anklagend. Die einzige Attraktion bot die rot glühende Ofenklappe des grünen Kachelgebirges. Ab und zu ließen die sieben Mädchen den Blick zu den tanzenden Fransen am Lampenschirm wandern. Dann wieder spähten sie so teilnahmsvoll in die Wiege, als läge dort ein Insekt.

»Der macht nicht mehr lange!«

»Das Mensch«, wie die Mädchen untereinander den zwergenhaften gelben Greis in der Wiege nannten, war ihrer Meinung nach schon viel zu lange der Mittelpunkt der Familie.

Fast zwei Jahre schon waren sie, die Kohanim’schen Prinzessinnen, für die Eltern praktisch Luft. Obendrein sollten sie noch lieb zum Brüderchen sein.

Lieb zu einem, der sie von heut auf morgen entthront hatte? Eine Zumutung mit der Quintessenz, dass sie ihm von Herzen alles Schlechte wünschten. Und dass dies nun tatsächlich eintrat, betrachteten sie als ein göttliches Zeichen. Als Dank für ihre erhörten Gebete gelobten sie Frömmigkeit bis ans Ende ihrer Tage.

Die stämmige Elli, die erste Mittlere, und die zweite Mittlere, Franziska, lugten beide prüfend in die Wiege. Sie waren der Ansicht, dass es nun reichte. Manchmal muss man dem Schicksal auf die Sprünge helfen!

»Corrigez la fortune!« Das war der Satz, der ihnen am besten an der Minna von Barnhelm gefallen hatte. Verstohlen blinzelten sie sich zu und legten auf dem Rücken die Zeigefinger der rechten und linken Hand über Kreuz. Dabei lächelten sie sanft wie Engel. Der kleine Benjamin in der Wiege lief blau an. »Mama!«, kreischte Martha los, »Elli und Fränze haben das Kreuz gemacht! Das hab ich ganz genau gesehen!«

Das Kreuz, das Ketzerzeichen! Das Zeichen des Todes!

»Stimmt ja gar nich’! Die lügt doch, dass sich die Balken biegen!«, blökte Franziska entrüstet zurück. »Wie immer!«, sekundierte Elli patzig.

Weil Mindel weiter tränenblind in die Wiege starrte, nutzte Elli die Gunst des Augenblickes. Katzenschnell griff sie Martha in den roten Haarschopf. Mit dem Ellenbogen knuffte sie ihrer Schwester in den Magen. Von der anderen Seite trat Franziska ihr gegen das Schienbein. »Olles Mistvieh, olles! Da hastes, du Falschpetze!«

Martha heulte auf wie eine Schiffssirene.

Für Ketzerzeichen und Raufen hätte es normalerweise mindestens einen Tag Stubenarrest bei trocken Brot und Schweinekartoffeln gegeben. Für jedes Vergehen einzeln. Doch an so einem Tag war nichts normal. Die reguläre Strafe blieb deshalb aus.

Des Gezänks ihrer streitsüchtigen Töchter überdrüssig, verordnete meine Urgroßmutter nur lahme Gott-verhüte-Gebete für alle.

Selma, die Zweitälteste, die alle Schwestern an jüdischer Frömmigkeit übertraf, freilich ohne dass ihr eine davon auf diesem Gebiet Konkurrenz machen wollte, spuckte andeutungsweise aus. Das taten sonst nur die Chassidim, wenn von Abtrünnigen, Ketzern, Gojim oder Unreinem und Sünde die Rede war. Danach legte sie scheinheilig den Kopf schief. Nach links. Diese Marotte hatte sie sich von den katholischen Votivbildern und Heiligenfiguren in den katholischen Kirchen abgesehen.

»Diese bigotte Kuh!«, zischte die Flora.

Die anderen Schwestern verdrehten die Augen. Selmas Gefrömmel war schon eine schwere Prüfung, das Wort »bigott« war eine weitere. Mit ihrem Tick für Fremdworte und geschwollenem Gerede nervte sie seit längerem die Jüngste, Flora. Ständig hing sie über den väterlichen Bänden der Enzyklopädie auf der Suche nach seltsamen Wörtern, die sie aufspießte und ausstellte wie ein Sammler seltene Schmetterlinge.

Die Vorlieben und Eigenheiten der elf verstorbenen Geschwister sind nicht überliefert. Es geht nur die Fama, dass von den insgesamt achtzehn Kindern, die meine Urgroßmutter Mindel geboren hatte, keines Plattfüße hatte. Darauf war Mindel sehr stolz. Ob Säuglinge tatsächlich schon Plattfüße haben konnten oder nicht, blieb seither umstritten.

Das achte, gerade noch lebende Kind, der jüngste Sohn Benjamin, der das Geschlecht der Kohanim in Westpreußen fortsetzen und den großartigen Stamm meiner Familie halten sollte, siechte wie alle seine Brüder vor ihm nun seinem frühen Ende entgegen.

Die fünf verstorbenen Mädchen zählten in der familiären Plattfußstatistik nicht. Wahrscheinlich trauert eine Mutter, die elf ihrer Kinder, und darunter sämtliche Knaben, begraben hat, schon aus Gewohnheit. Dass die Hälfte aller Kinder starb, war normal. Doch das vollständige Knabensterben ließ meiner Urgroßmutter keine Ruhe. Sie grübelte über die möglichen göttlichen Gründe, warum der männliche Samen der Kohanim nicht mehr gedeihen wollte. Woran lag’s? Wer war schuld?

Samuel, mein Urgroßvater, suchte in den Schriften und beim Rabbi nach Antworten: ›War es der unergründliche Ratschluss des Allmächtijen?! Na, von wejen!‹ Im Geiste ging Mindel Kohanim ihren Zweig der Familie nach einem ähnlichen Phänomen durch: So was hat es in unserer Familie noch nie gegeben! Es war ganz klar: Schuld waren die angeheirateten Kohanim! Das erklärte sich ihrer Meinung nach von selbst: Der Stamm war einfach zu alt. Dieser Zweig des Priestergeschlechtes der Kohanim oder Cohn war nach gut vier- bis fünftausend Jahren einfach nicht mehr stark genug, um kräftige Söhne in die Welt zu setzen. ›So verhält es sich doch! Da braucht man bloß in die Natur zu schauen!‹

Dabei dachte Mindel an den uralten Kirschbaum im Hof. Alt war er, mit weit ausladender Krone über dem Schieferdach des klobigen Gutshauses. Jeden Mai schneiten Abertausende winzige weiße Blüten auf das braune Kopfsteinpflaster. Sehr schön anzusehen, aber ohne eine einzige Frucht.

Mindel Kohanim, die Tochter von Juda Beinesch aus dem russisch-polnischen Inowrazlaw, machte sich ihren eigenen Vers drauf. Abgesehen von der üblichen göttlichen Willkür betrachtete sie die nachhaltige Inzucht der Söhne Aarons als Grund ihres Unglücks. Denn wie jeder Jude wusste, waren die Kohans, Kohns oder Kohanim das Priestergeschlecht der Juden, alle direkte Nachkommen von Moses’ Bruder Aaron. An dem skandalösen Sündenfall mit dem Goldenen Kalb war Aaron schuld, der seine Pflicht als Glaubenshüter vernachlässigt hatte. Angeblich steckte Aarons heidnische Ehefrau oder Nebenfrau dahinter, die dem Baal-Kult mit dem heiligen Rind wieder Geltung verschaffen wollte. Zur Strafe für die frevelhafte Pflichtvergessenheit hatte Moses Aaron und seine Nachkommen dazu verurteilt, künftig weder eine konvertierte Frau aus anderen Völkern noch eine geschiedene oder verwitwete Jüdin heiraten zu dürfen.

Eine große Auswahl an angemessenen Bräuten hatten die Cohns oder Kohanim in Westpreußen und Polen daher nie. Wenn die von den Eltern bestellten Brautwerber in der Ferne keine geeignete Braut fanden, dann wurde eben ein junges Mädchen aus der Familie geheiratet. Die legendäre Cousine. Das war das Einfachste. Aber so eine war Mindel nicht.

»Moses’ Einfall hin oder Gottes Plan her, die Natur liest keine Thora, sondern regiert nach eigenen Gesetzen!« Diese Erkenntnis behielt Mindel Kohanim freilich für sich. Außerdem hielt sie sich zugute, eine wohlerzogene Jüdin aus dem Großherzogtum Warschau zu sein. Sie entstammte immerhin der berühmten Familie Katzenellenbogen[1]. In mütterlicher Linie war sie sogar eine echte Nachfahrin des sagenhaften jüdischen Eintagskönigs. Jener Ahnherr, der legendäre königliche Steuerpächter Saul Wahl, der am 15. August 1587 für einen Tag König von Polen war. Mit seiner Erhebung auf den polnischen Thron wollte der verzweifelte Thronrat wohl den jahrelang zerstrittenen Adel zur Wahl eines Königs provozieren. Der Coup gelang. Mit einem Juden auf dem polnischen Thron einigte man sich dann innerhalb weniger Stunden. Eine Jüdin mit einer solch sagenhaften halbaristokratischen Herkunft wie Mindel wusste einfach, wann sie zu reden, vor allem aber, wann sie zu schweigen hatte. Schroff und wortkarg war Mindel von Natur. Darüber hinaus schien sie immer in einen Kokon von Grübelei eingesponnen. Ansonsten hegte sie eine grenzenlose Verachtung für die Welt. Mit anderen Worten: Mindel Kohanim, geborene Beinesch, die Nachfahrin des polnischen Eintagskönigs, war exzessiv verschroben, überwiegend geistesabwesend und auf eine böse Art gut.

Damit man sie möglichst in Frieden ließ, zeigte sie allen ein hochmütig-hartes, abweisendes Gesicht. Haus und Hof regierte sie fast ausschließlich mit ihren kalten kieselgrauen Blicken. Dabei schien sie über ein unerschöpfliches Repertoire von stummen Fragen, Befehlen, Verurteilungen und Verwünschungen zu verfügen. Nicht bloß zu Neumond, wenn alle besseren jüdischen Frauen ohnehin den ganzen Tag schwiegen, bekam Mindel den Mund nicht auf. Es konnte durchaus auch vorkommen, dass sie geschlagene zwei Wochen nicht sprach. Mit niemandem.

So grimmig wie im Hause Kohanim Leben und Tod gegeneinander kämpften, rangen draußen nicht weniger erbittert Winter und Frühling miteinander.

Vor dem zugenagelten Fenster lag die bügelbrettflache weite Ebene der Tucheler Heide. Dort, wo die Sonne den weißen Wintermantel aus Schnee weggeschmolzen hatte, sah die Heide aus wie eine schmutzige Nackte, die sich in faulende Lumpen gehüllt hatte. Die Forstwälder des Bischofs von Kujawien und die gräflichen Wälder der Grafen Solkowsky erstreckten sich schwärzlich kahl mit ihren wie Aussatz schimmernden fahlen Birkenstämmen bis zum Horizont. Ein Land, so weit wie das Meer, mit einem ebenso ozeanischen Himmel darüber. Die trostlose Weite führte dem Menschen seine Nichtigkeit vor Augen und verbreitete lähmende Mutlosigkeit. Selbst bei strahlendem Sonnenschein und Amselschlag überfiel auch das heiterste Gemüt sofort Schwermut, sofern man nicht umgehend mit einem Wasserglas Hochprozentigem dagegen anging. Besonders im März.

Am Nachmittag wich mit einem Zirpen das letzte Leben aus meinem kleinen Großonkel in spe. Mindel wischte sich die Augen. Steinalt und sterbensmüde fühlte sie sich. Ächzend verhängte sie alle Spiegel mit schwarzem Tuch. In ausgetretenen Kamelhaarlatschen schlurfte sie mit gekrümmtem Rücken durchs Haus, schloss die Fensterläden und zog die Vorhänge zu. Nach jüdischer Tradition riss sie die rechten Rocksäume und Kragen der Mädchen ein, sich selbst als Mutter die linken, zerzauste sich und den Mädchen die Haare und entzündete rechts und links der Wiege Kerzen für die Zeit des Schiwe-Sitzens, der jüdischen Trauerzeremonie. Zu guter Letzt hielt sie feierlich das Pendel der Standuhr an. Ein paar Tage lang sollte die Zeit stillstehen, oder fast.

Zum ersten Mal regte sich auch bei den sieben Mädchen so etwas wie ein Gefühl. Der Anblick der düsteren Szenerie mit den trüb funzelnden Kerzen neben der nun schwarz verhängten Wiege war ihnen unheimlich. Jeden Moment waren die sieben darauf gefasst, dass die unglückliche Seele ihres Bruders als Gespenst von irgendwo hervorhuschen würde: »… wenn er Charakter hat!«

Zu ihrer Enttäuschung spukte er nicht einmal herum. »So ein Schmock!«

Für ein Kleinkind unter zwei Jahren sollten ein Tag und eine Nacht anstatt der für Erwachsene vorgeschriebenen sieben Tage und Nächte Trauer reichen. Das hatten die Juden der Gegend vor Urzeiten so beschlossen. Schließlich starben Kinder jeden Tag weg wie die Fliegen. Die jüdischen Kinder raffte der Tod wegen des schlechten Wassers ihrer Brunnen sogar noch häufiger dahin als die christlichen. Und wo käme man hin, wenn man für jedes Würmchen, das wegstürbe, eine ganze Woche vertue und die Lebenden um der Toten willen hungern ließe?

Wie befohlen sprachen die sieben hinterbliebenen Schwestern leiernd die Gebete. Nur Flora tat so, als trauerte sie aus tiefster Seele, heulte theatralisch auf und riss sich an Haaren und Kleidern.

»Die schiebt Phiole! Das falsche Aas.«

Wie ein Schwarm verfrorener Nebelkrähen hockten die Frauen der Beerdigungsgesellschaft in dunkle Wolltücher gehüllt. Auf Baumstämmen ritten sie auf der letzten Holzfuhre, die den buckligen Weg über das Flüsschen Schwarzwasser zum Kohanim’schen Anwesen nahm.

Im blaustichigen Licht des sinkenden Winternachmittags hätte man sie auch für ein Hexenbataillon auf Ausritt halten können. Zur Abwechslung einmal nicht auf Hexenbesen, sondern auf dicken Kiefern- und Fichtenstämmen. Nachdem sich das Trauergeschwader die Kälte aus den schwärzlichen Tüchern und Lumpen und den klammen Gliedern geschlagen hatte, flatterte es geschäftig durchs Haus und verbreitete einen Geruch von altem Achselschweiß und Fichtenharz. Entweder aus Versehen oder aufgrund der Gewohnheit der neuen Mehrheitsverhältnisse im jüdischen Teil der westpreußischen Kreisstadt Schwetz oder auch nur von irgendwoher gekommen, um zu schnorren, waren vier berufsmäßige Klageweiber »der Sekte«, der Chassiden, mit von der Partie. Angeblich verstanden sie außer Jiddisch nur Persisch.

Einen Moment lang schüchterte sie der satte bürgerliche Glanz des Trauerhauses ein. Scheu hielten sie inne und beäugten neugierig das Interieur. Doch gleich darauf besannen sie sich ihrer Bestimmung und legten sich im Trauerzimmer mit professionellem Eifer ins Zeug. Mit von Asche beschmierten Gesichtern und zerzaustem Haar stimmten sie ihr wüstes Klagegeschrei an, warfen die Arme in die Luft, rauften sich die Haare, klopften sich klagend an die Brust und rissen sich an den Kleidern. Die kaschubischen Dienstboten der Kohanim bekreuzigten sich unablässig. Mit abergläubischem Schaudern, mit gefalteten Händen stumm betend schauten sie dann zu, wie die Frauen der Beerdigungsgesellschaft, der Chewra Kadischa, den mageren gelben Körper des Kindes mit koscherem Wasser wuschen. Es ähnelte einem aus dem Nest gefallenen nackten gelben Vogelküken. Nach der Waschung hüllten die Frauen der Beerdigungsgesellschaft das Kind in das kleine weiße Leinentuch. Zwischen die Händchen legten sie dem kleinen Leichnam ein Beutelchen mit Erde vom Ölberg aus Jerusalem.

Wenn der Messias dereinst käme und seinen Namen aufriefe, würde er so seine Auferstehung nicht verpassen.

Von Klageweibern hatten die sieben Mädchen bislang nur vage gehört und meist nur mit Schaudern. Anders als den sonst überall herumstromernden Kindern der anderen Familien war den Töchtern des fortschrittsgläubigsten Juden des Landkreises der Aufenthalt im Schtetl streng verboten. Bei Strafe sollten sie sich im litwakischen oder chassidischen Teil von Schwetz ja nicht blicken lassen. Das jüdische Viertel lag direkt unten am Ufer der Weichsel und wurde jedes Frühjahr überschwemmt. Tagelang konnte man sich nur von Haus zu Haus auf Kähnen treiben lassen, wenn man sich besuchen oder den Markt erreichen wollte. Dort, in der für die Kohanim-Töchter verbotenen Stadt von Schwetz, regierte Rabbi Menachem Streisand, der »angeborene Feind« des Kohanim. Es war auch das Reich der Ratten, Flöhe, Läuse, Wanzen, der Krätze. Selbst die Cholera und die Ruhr verkehrten hier ab und zu. Von den einheimischen Pocken, dem Typhus, der Diphterie, der Kinderlähmung und der gerade epidemisch um sich greifenden Schwindsucht ganz zu schweigen. »Außer für mildtätige Besuche ist das kein Ort für uns!«, mahnte meine Urgroßmutter. »Schon aus Gründen der Hygiene!«

Zur Bekräftigung erinnerte sie refrainartig an die letzte Cholera-Epidemie, die im Schtetl von Schwetz ihren Anfang nahm. Die Gefahr war begründet. Regelmäßig, wenn im Frühjahr die Überschwemmungen nachließen, faulte auch das Wasser in den koscheren Brunnen der zugezogenen Juden aus Russland und Galizien, so dass alle Chassiden an Furunkeln und Geschwüren litten. Zu ihrer absonderlichen Kluft und Haartracht waren sie zusätzlich mit eitrigen Beulen an Haupt und Gliedern gezeichnet und sahen zum Fürchten oder Erbarmen aus.

Es lag auf der Hand, dass die alteingesessenen Juden, die Krawatten-Juden, die Deutsch sprachen, sich rasierten und nach Eau de Cologne dufteten, mit den finsteren, schmuddeligen, nach Knoblauch, Schmutz und Armut stinkenden jiddelnden Kaftan-Juden vom Weichselufer nicht das Geringste zu tun haben wollten. Man mied sie wie Aussätzige. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Die hochgelehrten Litwaken, die sich für die einzig wahren Orthodoxen hielten, als auch die eher primitiven, spirituell-schwärmerischen Chassiden betrachteten die assimilierten deutschsprachigen Glaubensbrüder als Apikores, als abtrünnige Juden, die ihnen sogar noch verächtlicher schienen als reine Gojim.

Meine halbkindliche Großmutter und ihre sechs Schwestern begrüßten dieses unverhoffte exotische Spektakel indes mit Begeisterung. Endlich kam etwas Würze in den faden Tag! Endlich konnte man diese seltsamen Wesen einmal aus der Nähe betrachten. Atemlos, mit offenen Mündern verfolgten sie das Treiben der Klageweiber, als sähen sie Akrobatinnen im Zirkus zu. Besonderes Interesse weckte dabei eines der Klageweiber, das noch bizarrer als die anderen lamentierte. Unter dem Kopftuch der Frau zeigten sich zudem lange blonde Zöpfe! Rothaarige gab es unter den Chassiden aus Vorderasien ja viele, aber Blondinen? Die Mädchen bekamen kreisrunde Augen.

Davon abgesehen waren die Bewegungen der Frau mit dem Blondschopf für ein mittelaltes Klageweib zu jugendlich. Feixend blinzelten sich die Schwestern zu. Hier bahnte sich ein mittlerer Skandal an. »Mensch, das ist ja Oda!«, flüsterte Fanny ihrer jüngeren Schwester Martha zu. »Nebbich!«, ranzte Martha beleidigt zurück, denn Oda war Marthas beste Freundin. »Doch!«, beharrte Fanny. »Guck mal ganz genau hin. Das ist deine Zucker-Oda und keine andere!« Jetzt erkannten die anderen Schwestern sie auch. Alle prusteten los. Das theatralische Gestikulieren des verdächtigen Klageweibes brach daraufhin jäh ab. Ihr Klagegeschrei begann seltsam zu zittern und ging in ein Glucksen über. Hals über Kopf lief sie davon. Die anderen Klageweiber und die Frauen von der Beerdigungsgesellschaft glotzten ihr blöde nach. Johlend stolperten ihr die sieben Kohanim-Mädchen in Holzpantinen auf dem glasigen Schnee rutschend und halb ausgleitend hinterdrein.

Draußen an den vereisten Brombeersträuchern hinter der Scheune riss sich das fliehende Klageweib triumphierend das Kopftuch herunter: »Na?! Da seid ihr baff, was?!« Oda! »Kolossal epochal!«, grölte Elli und boxte Oda anerkennend auf den Oberarm. »Enorm schneidig, die Jungfer! Da schau eener guck!«

Die Mädchen bogen sich vor Lachen. Dem weltweiten Lachverbot bei Trauer zu trotzen, welch ein herrlich ruchloser Spaß! Reihum äfften sie das exaltierte Getue der Klageweiber nach. Seltsamerweise war die protestantische Oda ihnen allen im Jiddeln überlegen. Kreischend stießen sie die Zeigefinger in Richtung Oda und krümmten sich vor Lachen. Tränen liefen ihnen die Wangen runter, bis sich Martha vor Lachen in die Hose gemacht hatte. Ein neuer Grund für Gejohle und juchzendes Gelächter. Doch plötzlich, wie aus dem Boden geschossen, stand ein streng blickendes Gespenst im matschigen Schnee: der Vater!

Als Erste fasste sich Franziska. Knicksend mit vor Lachen geröteten Augen und sich wegen der Seitenstiche das Zwerchfell haltend, meinte sie so harmlos wie möglich: »Tschuldigung, Papa! Aber diese Klageweiber! Wir konnten einfach nich’ mehr. Und anstatt vor …« Wieder schüttelte sie ein Lachkrampf: »… anstatt vor der Leiche zu lach…, zu laaaacccchhhheeeennnn …« Wie Fontänen spritzen ihr dabei die Lachtränen aus den Tränendrüsen. Ihr Kopf lief puterrot an. Ein neuer Lachkrampf zwang sie halb in die Knie.

Stumm und mit zornig zusammengepresstem Mund verwies mein Urgroßvater seine ungeratenen Töchter ins Haus. Der herrisch ausgestreckte Arm mit gebieterischem Zeigefinger genügte. Wie eine von Füchsen gehetzte Gänseschar stoben sie auf und davon. Fränze, vom Gelächter noch geschwächt, taumelte als Letzte hinterdrein und hielt sich japsend die Seiten. Nur Oda blieb mit gesenktem Haupt stehen, trat verlegen von einem Fuß auf den anderen, wünschte sich ganz weit fort und fror plötzlich ganz fürchterlich. Allein stand sie nun vor dem hoch aufgeschossenen Mann, den sie gleichermaßen fürchtete und heimlich bewunderte. Verglichen mit ihrem feisten Vormund daheim wirkte der Vater ihrer Freundin Martha richtig vornehm, fand sie. Außerdem hatte er den sephardisch-schmalen Schädel, was man in ihren Groschenromanen »edel« nannte. Sein Haupthaar mit Bart umrahmte das bleiche Gesicht mit den skeptischen bernsteinfarbenen Augen wie ein Helm mit offenem Visier. Nur seine linke Augenbraue flatterte. Ein Familientick, wie Oda von Ihrem Stiefvater wusste. Samuel Kohanims Stimme wollte beherrscht und mit Autorität auftrumpfen. Dazu klang sie aber zu rau, wütend und verletzt. Die fünfzehnjährige Oda schämte sich jetzt tatsächlich in Grund und Boden. Ein Wohltäter für die Armen war der Kohanim und ein Förderer der Künste! Die Geschichten ihrer geldgierigen Familie wussten nichts von Kunstsinn oder gar Mildtätigkeiten zu berichten. Bei ihr daheim drehte sich fast alles um Geschäftsanbahnung, Bankenkräche, zu Protest gegangene Wechsel, Geldheiraten, Erbschaftsstreitigkeiten, Prozesse um Liegenschaften, Intrigen und Profit. »Jesses, wie banal!«, stöhnte Oda jedes Mal. Sie schämte sich der ignoranten Borniertheit und eingefleischten Gewinnsucht ihrer Sippe. Ihr Clan war ein unübersichtliches Konglomerat von Russisch-Orthodoxen sowie Protestanten und Lutheranern, in der sich alle von Herzen spinnefeind waren. Nur bekamen Oda und ihr älterer Bruder Rudolf seltener etwas von den heftigen innerfamiliären Glaubenskriegen und Geldgesprächen mit. Sie wussten nur, dass ihrem leiblichen Vater, dem von Güldner, einst eine russisch-orthodoxe Beisetzung verwehrt wurde. Der Grund des Popen: Die Kinder des Verblichenen, sie und Rudolf, waren nicht russisch-orthodox getauft! Die ganze Trauergesellschaft machte deshalb damals mit dem Sarg vor der russisch-orthodoxen Kirche in Lodz kehrt und begrub den Leichnam bei den Lutheranern. Seitdem waren die von Güldners lutherisch und betrachteten fortan alle Russisch-Orthodoxen in der Familie als Verräter.

Für Gustav von Steinfeld, Odas Stiefvater und Vormund, waren die Mündel Rudolf und Oda als Stiefkinder aus der ersten Ehe der Frau Baronin zweitrangig. Oda und Rudolf mussten deshalb am Katzentisch oder bei den Dienstboten in der Küche essen. Schon um nicht weiter den Hänseleien ihrer privilegierten nachgeborenen sechs Geschwister ausgesetzt zu sein, die den Katzentisch regelmäßig mit Brotkügelchen und Knochen unter Beschuss nahmen, wenn die Erwachsenen wegsahen, zogen Oda und Rudolf die Gesellschaft der Dienstboten bald vor. Für diese Schmach rächten sie sich am Rest der Familie, wo es nur ging. Weihnachten, als sich die angereiste Verwandtschaft in Festtagslaune zum Ball versammelt hatte, erschienen Rudolf und Oda nicht zur Festtafel. Als man sie holen ließ, zeigten sie sich nicht in der angeordneten Festtagsgarderobe, die ihnen aus Bromberg geschickt worden war. Sie stolzierten in den üblichen schäbigen Kleidern, einem erbarmungswürdigen Sammelsurium aus alten abgelegten fadenscheinigen Kleidern der Familie, herum. Diese Kleidung taugte in anderen besseren Häusern höchstens für Dienstboten oder als milde Gabe an die Pächterskinder in den Gesindekaten. »Zur Feier des Tages tragen wir heute die ganz guten Sachen!«, verkündeten sie jubelnd.

Die Eltern waren vor der ganzen Familie und im Landkreis blamiert. Rudolf und Oda bekamen eine derartige Tracht Prügel, dass sie bis Neujahr in ihrem aufgezwungenen Festtagsstaat weder sitzen noch liegen konnten. Trotzdem fühlten sie sich wie Sieger. »Keile vergeht, Arsch besteht!«, hieß die Losung.

Am Neujahrsmorgen erwachte Oda deshalb außer mit einem verbläuten Hinterteil auch mit einer Idee. Ihre penibel geführte Liste über erhaltene Schläge und erlittene Schikanen legte sie ad acta. In ihrer Wut entwarf sie einen Kriegsplan nach dem anderen. In Geheimschrift, in die nur ihre Freundin Martha Kohanim eingeweiht war, verzeichnete sie jede mögliche Revanche, um sich daran zu erbauen. »Oda, mir graut vor dir!«, meinte Martha, aber gleichermaßen genoss sie es. Der Klageweiberstreich war Teil dieses Plans. Kein sonderlich guter, wie ihr jetzt schwante.

»Ich werde mit deinem Vormund reden müssen. Wolltest du unsere Religion verhöhnen, oder was hast du dir dabei gedacht?« Kopfschüttelnd griff Samuel Kohanim nach Odas Kinn, drehte prüfend ihren Kopf hin und her und studierte eingehend die Asche in Odas Gesicht und dann ihre bizarre Verkleidung, die an der Ziehtochter des deutsch-russischen Schnaps- und Zuckerzaren von nebenan doppelt seltsam aussah.

Oda traten nun vor Reue Tränen in die Augen. Wenn sich doch der Erdboden öffnete!, betete sie still. Wie sollte sie Marthas Vater erklären, dass neben Rachegelüsten gegen die eigenen Eltern manche Kinder einfach der Verlockung nicht widerstehen können, für fünf Minuten eine Bettlerin, eine Marktfrau oder ein jüdisches Klageweib oder sonst eine andere Person zu sein? Das war doch, als lebe man ein anderes Leben auf Probe. Warum verstanden das Erwachsene eigentlich nicht?

Die Einzige, die sie da verstand, weil sie auf ihre ganz eigene Art das gleiche Laster teilte, war Martha, die fünfte Kohanim-Tochter.

Die Freundschaft zwischen Oda und Martha blühte im Verborgenen. Zum Harmoniezwang des Landkreises Schwetz gehörte, dass Deutsche, Polen, Kaschuben und Juden in der Stadt und den Dörfern zwar gemeinsam siedelten, dabei aber in Wahrheit drei bis vier streng voneinander getrennte Welten bildeten, die sich feindselig belauerten. Hinzu kamen die nicht minder bewachten Standesschranken. Selbst die niedrigste Küchenmagd der polnischen Grafenfamilie fühlte sich so der Hüterin des Spülsteins der deutsch-russischen Fabrikantenfamilie von Steinfeld oder gar den Dienstboten des noch weiter nachrangigen jüdischen Holzkönigs Kohanim überlegen.

»Na, wir sprechen uns noch!«, drohte Samuel Kohanim, und seine flatternde Augenbraue gab dazu ein optisches Tremolo. Gemäß der Logik der Verhältnisse schloss Oda daraus, dass der Kohanim sie nicht bei ihrem Vormund anschwärzen würde. Wenngleich ihre beiden Familien Nachbarn waren, verbot es die Etikette, miteinander zu verkehren. Die alteingesessenen jüdischen Kohanim betrachtete man als Parvenus in Schwetz und Preußen. Sie galten nach der Logik der Zeit den ebenfalls neureichen von Steinfelds, die ihr Adelsprädikat einst in Moskau für zwanzigtausend Rubel erworben hatten, als nicht »satisfaktionsfähig«. Duelle mit Degen oder Pistolen waren zwar lange verboten, nicht aber die verklärte alte Ordnung, die zur Satisfaktionsfähigkeit zwischen oben und unten, fein und unfein sortierte, wenngleich meist theoretisch.

Meine Ahnen waren zweifellos unfein!

Samuel Kohanim hätte sich demzufolge schon mit einem Brief über die Unarten der Stieftochter des Zuckerzaren beschweren müssen. Das wäre unter seiner Würde, spekulierte Oda. Für den doppelten Tabubruch, der ihrem Vormund dann auch noch von einem Juden hinterbracht werden würde, rechnete sich Oda eine doppelte bis dreifache Tracht Prügel mit dem Siebenstriem aus, der siebenschwänzigen Lederpeitsche mit Eisennieten auf den Riemen, dem bevorzugten Züchtigungswerkzeug ihres Stiefvaters gegen Vieh, Gesinde, Frau und Kinder. Nach Lage der Dinge schien das eher unwahrscheinlich. Erleichtert atmete Oda auf und trollte sich.

Dennoch nahm sie sich den Vorfall zu Herzen und beschloss, sich das alles eine Lehre sein zu lassen. Ihre Streiche würde sie künftig weniger kindisch planen. »Schwein gehabt!«

Den verschossenen schwarzen Rock in der Taille geschürzt, hüpfte Oda leichtherzig pfeifend durch den überfrierenden Schneematsch heim. Ihr Bruder Rudolf würde Augen machen, wenn sie ihm alles erzählte. Das ließ ihr Herz höherschlagen.