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H. C. Buch ist der große Reisende unter den deutschen Schriftstellern. Seine Bücher sind Schatzkisten, prall gefüllt mit Geschichten aus fernen Ländern, Zeugen seiner ungezähmten Fabulierlust. Mit seinem neuen Roman betritt er unbekanntes Terrain. Zum ersten Mal steht die Familie des Autors im Mittelpunkt: sein Vater, der Diplomat, der Shakespeare und das Neue Testament im Original las, seine Mutter Rut, die nach einer Kopfoperation zu malen begann und im Jahr 1958 Picasso besuchte, sein Großvater, der Ende des 19. Jahrhunderts nach Haiti auswanderte, die Pharmacie Buch gründete und eine Haitianerin heiratete. Damit nicht genug, denn »jede Familie birgt ein dunkles Geheimnis, das nicht besprochen, sondern beschwiegen werden soll«.

Und so beginnt der Roman nicht ohne Grund an einem der stillsten und kältesten Orte der Welt, mitten in der Antarktis, auf dem Eisbrecher Almirante Irizar. Für Hans Christoph Buch gibt es nur eine, vielleicht die nachhaltigste, mit Sicherheit aber die schönste Art, das Eis des Schweigens zu brechen: mithilfe der Literatur, der Axt für das gefrorene Meer in uns.

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»Mit jeder Drehung der Schraube drang ich tiefer
ins fahle Innere des Eisbergs vor. Mit jeder
Schicht veränderte sich meine Sicht. Der Eisberg
wurde für mich zu einer Person, und je lichter
er wurde, desto stärker fühlte ich so etwas
wie Verlust, ja Vergänglichkeit.«

Jules Verne: Die Eissphinx

INHALT

VORSPANN

Erstes Buch: WER BIN ICH?

Russland nackt

Kaukasische Nemesis

Sok Sinn oder die Rast am Nudelberg

Die Verlobung in Port-au-Prince

Zweites Buch: WOHER KOMME ICH?

Sätze über meinen Vater

Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß

Der Freund meines Vaters

Erziehung durch Tanten

Drittes Buch: WOHIN GEHE ICH?

Reise zum Pol der relativen Unzugänglichkeit

Birds of Central America

Ultima Thule

VORSPANN

1

Es gibt viele Arten, das Eis zu brechen: Durch Aufhacken und Zerkleinern des Eises mit dem Schiffsrumpf zum Beispiel, indem man Wasser von Backbord nach Steuerbord pumpt und so das Schiff in schlingernde Bewegung versetzt. Wenn das nichts nutzt, nimmt der Eisbrecher Almirante Irizar, 1978 auf der Wärtsila-Werft in Helsinki gebaut und getauft auf den Namen eines argentinischen Seeoffiziers, der 1903 der im Packeis eingeschlossenen Nordenskjöld-Expedition zu Hilfe kam, Anlauf und schiebt sich mit seinen 4.600 Bruttoregistertonnen auf die drei Meter dicke Eisdecke, wobei der Kapitän darauf achten muss, dass das Schiff nicht ausschert und wie ein gestrandeter Wal zur Seite rollt. Krachend zerbirst das Eis und gleitet polternd am Schiffsrumpf entlang, dessen stählerne Bordwand die Besatzung von minus zwei Grad kaltem Meerwasser trennt, das aufwallt wie siedendes Teewasser, bevor es von flüssigem in festen Zustand übergeht. Dafür ein Beispiel: Das Eismeer oder die gescheiterte Hoffnung hat Caspar David Friedrich sein 1824 entstandenes, berühmtes Gemälde genannt, das keinen Schiffsuntergang, sondern das Scheitern seines Lebenstraums zeigt: Nur das Heck des Schiffes mit dem Maststumpf sowie Teile der Takelage ragen aus ineinander verkeilten Eisschollen hervor, die je nach Blickwinkel die politische Restauration oder die Kälte und Gleichgültigkeit der sozialen Umwelt symbolisieren. Aber auch eine persönliche Lesart des Bildes ist möglich, weil der Maler in jungen Jahren beim Schlittschuhlaufen ins Eis einbrach und von seinem kleinen Bruder gerettet wurde, der dabei ums Leben kam: Ein Kindheitstrauma, das Caspar David Friedrichs Welt- und Kunstanschauung prägte. Dazu passt, dass Franz Kafka das Buch als Axt für das gefrorene Meer in uns bezeichnete und dass der Dichter Wladislaw Chodasewitsch im Knirschen russischer Konsonanten den Zusammenprall aufeinander geschobener Eisblöcke zu hören glaubte: Ein Vorbote des Tauwetters, das einer Literaturepoche den Namen gab und den Kalten Krieg beenden half.

2

»Es gibt elf Arten von Eis in der Antarktis«, sagte Korvette hoch zwei, so genannt, weil er Corbetta hieß, Korvettenkapitän war und in seiner Freizeit Korvetten malte: »Eissuppe, Eisbrei, Plätzcheneis, Pfannkucheneis, Torteneis, Tafeleisberge, Eisburgen, Eisschlösser, Eispaläste, Eispyramiden und Eiskathedralen, aus deren Rissen und Spalten violettes Licht strahlt, als würden im Inneren bengalische Feuer abgebrannt. Das Eis schmilzt von unten ab, und wenn ein Eisberg seinen Schwerpunkt verlagert, löst er eine Flutwelle aus, die Schlauchboote kentern lässt, bevor er seine mit Rotalgen bewachsene oder wie Roquefort marmorierte Unterseite nach oben kehrt.«

»Salzwasser gefriert bei minus 2,2 Grad«, fuhr er fort und klirrte mit den Eiswürfeln in seinem Whiskyglas: »Es gibt elf Eissorten, wie gesagt, und ebenso viele Arten, das Eis zu brechen, außer man ist mit einem atomgetriebenen Eisbrecher unterwegs, der durch Verwirbelung Blasen erzeugt, die das Eis porös machen, oder kochend heißes Wasser ausstößt, das die Eisdecke schmilzen lässt – Methode zwölf und dreizehn. Ich spreche von Meereis, wohlgemerkt, nicht vom Inlandeis der Antarktis. Wissen Sie, was ein Nunatak oder ein Trockental ist? Und kennen Sie den katabatischen Wind, der die Eisdrift in Bewegung setzt und im antarktischen Sommer die Fahrrinne durch das Weddellmeer offenhält?«

»Als ich am Südpol überwinterte«, seufzte General Leal, der Nestor der argentinischen Antarktisforschung, »gab es keine atomgetriebenen Eisbrecher, nur amerikanische und sowjetische Atom-U-Boote, die um ein Haar kollidiert wären, als sie sich im Weddellmeer begegneten, unter dem Eis natürlich. Übrigens war es am Südpol mollig warm. Unsere Wohncontainer in Scott Base waren dermaßen überheizt, dass wir nackt herumtollten und einander mit Schneebällen bewarfen. In Scott Base gab es einen Psychotherapeuten, genannt Shrink, zur Betreuung der Huskys, die unruly waren, weil sie keinen Auslauf hatten.« Später habe man die Schlittenhunde durch Motorschlitten ersetzt, die in Gletscherspalten fielen, weil Motorschlitten, anders als Huskys, Risse im Eis nicht riechen können. Daran sei Greenpeace schuld, fügte General Leal hinter vorgehaltener Hand hinzu, eine internationale Organisation, die von Kommunisten und Homosexuellen unterwandert sei. Leider seien der Armada Argentina seit dem Malwinen-Krieg die Hände gebunden, aber unter der Militärjunta habe man gelernt, scharf durchzugreifen und subversive Elemente nicht mit Samthandschuhen anzufassen.

»Das Problem im Zivilleben ist der Mangel an Disziplin«, warf ich ein, General Kühlmann-Stumm zitierend, den Erforscher des Zivilverstands in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, ohne zu bemerken, dass ich mich in vorauseilendem Gehorsam dem Militärregime unterwarf. »Aber ich wüsste trotzdem gern, warum die Almirante Irizar seit einer Woche im Zickzack durch eine immer enger werdende Fahrrinne fährt, während die Sonne wie eine Flipperkugel, die niemals Tilt macht, um den Horizont rotiert. Wohin geht die Reise?«

Der Kurs des Schiffes unterliege der Geheimhaltung, antwortete Korvette hoch zwei in scharfem Ton, Debatten darüber seien verboten an Bord. Er sei menschlich enttäuscht von mir, setzte er vertraulich hinzu und blickte versonnen in sein Whiskyglas, als sei dort, zwischen Eiswürfeln, die Antwort auf meine Frage zu finden. »Gerade Sie als Reiseschriftsteller sollten wissen, dass die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten keine gerade Linie, sondern eine Ellipse ist. Haben Sie schon mal was von der Krümmung des Universums gehört?«

Erstes Buch: WER BIN ICH?