3.
Sie wird nicht zurückkommen. Sie wird nicht mehr in diese Wohnung zurückkehren. Nicht mehr sitzen zwischen Vitrine, Fenster und Vorhängen an diesem Eschenholztisch. Vierzig Mal Weihnachten, vierzig Mal Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat und Schnaps mit Opa nach dem Auspacken, auch als er schon zwanzig Jahre tot war, nicht mehr sitzen an diesem Esszimmereschentisch mit Blick auf die Wand und das Bild vom Tias als Offizier, darunter das Eiserne Kreuz Erster Klasse, Mamas Kommunion, Papa und er im Garten, zum letzten Mal.
Da lag noch der Teppich, der alte Berber. Schief. Dort, wo sie hingefallen sein musste, hingefallen und mit dem Kopf aufgeschlagen zwischen Wohnzimmerschrank und Wandlandschaft, um sich ruderte mit Armen und Beinen, auch der Sessel und Wohnzimmertisch umgerissen. Alle Achtung, Omi, dieses Trumm von einem Tisch. An ihm versuchte sie sich wohl aufzurichten, die ganze Nacht. Eingenässt, als der Pflegedienst sie fand, am Mittag. Die Monsterblumenkerze auf ihrem schmiedeeisernen Sockel, darüber das weiße Stickdeckchen, als hätte sie jemand mit einem Schleier zugedeckt. Sonnenblumen aus Plastik in der Vase über dem Wohnzimmerwandschrank, belegt mit jahrealtem Staub; war ja kein Zustand, schon lange nicht mehr.
Aber sie wollte nicht. Sie wehrte sich. Wehrte ab, mit letzter Kraft. Jede Hilfe, kein bisschen. Hat jeden rausgeschmissen, hochkant; alles umgeworfen auf dem alten Berber. Die Nussschale, Opas kaputte Uhren und Feuerzeuge, seinen Bastelkram. Das Adventskreuz mit Bläserengeln in Stücke zerprungen. Konnte doch alles noch selbst. Geh ja noch in die Stadt. Fahr mit dem Bus, die helfen mir schon. War heut morgen erst am Markt und auf der Bank. Obwohl sie es doch besser wissen musste. Omi, du hast die Wohnung in Edelzell seit mehr als drei Jahren nicht mehr verlassen. Arthrose in beiden Hüften. Vom Badezimmer konnte sie noch zur Küche auf die Terrasse schlurfen, barfuß und im Nachthemd, auch im Winter. Draußen die Katzen füttern vom Bauern, die x-te Generation. An den Wänden tastete sie sich entlang, dazu steifer Hals und Nacken vom nächtelangen Nähen in der nasskalten Wohnung unten in der Frankfurter Straß. Von Stuhllehne zu Wand zu Stuhllehne, es tat so weh. Und es tat weh, sie so zu sehen. Draußen kauerten die Katzen unter dem Terrassentisch. Drei kleine Schwarze und der große Graue.
Den Gehwagen benutzte sie nicht. Auch den Stock nicht, selbst wenn niemand zusah. Es ist der Rolls-Royce unter den Rollatoren!, sagte er. Aber das nützte nichts. Zuletzt, als auch Mama nicht mehr kam, waren sie nur noch zu zweit gewesen. Fünf Mal Weihnachten zu zweit mit Bäumchen und Bläserengeln und Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat, sie barfuß und im Nachthemd am Tisch mit Blick auf das Bild vom Schuhmacherhaus im Sudetenland, Ziegen und Hühner und Hasen darin, Leder und Leimtöpfe, die Schwestern, die Mutter und gebackener Hefezopf mit Beeren und heißer Milch in Alt-Moletein. Gekocht hat er so gut es ging, Schnaps auf Opa, mein Gott, Omi, wie viele Katzenmägen hast du in deinem Leben gefüllt? Der große Graue leckte sich die Pfote. Die Kleinen schmiegten sich an seinen Bauch.
Aufräumen, sagte er sich. Saugen, abwaschen. Bekleckerte Nachthemden in die gerade gelieferte, neue Maschine stopfen und den vollgepinkelten Rock zusammen mit dem vertrockneten Kuchen gleich in die gelben Säcke hinter dem Badezimmerschrank. Mein Gott, sie muss schon länger eingemacht haben und hat es nie gesagt, schüttelte er den Kopf. Aus Scham oder, wahrscheinlich, Vergesslichkeit. In den Schränken hundert Jahrgänge Schönhengstgauer Heimathefte. Schubladen voller Joghurtbecher. In vierzig Jahren hat sie keinen Joghurtbecher weggeworfen, nein, sie hat alle ausgewaschen, die kleinen bunten Becher, aus denen er Milch trank, aus jeder Küchenlade quollen sie hervor.
Reiß dich zusammen! Deine Rührseligkeit interessiert nicht. Steh auf. Pack die Sachen für nachher zusammen. Sieh auf die Liste, was sie alles noch braucht, sagte er sich. Haarklammern, Muttergotteskerze, Hammer und Nägel für die Bilder, Pullis, Röcke. Schuhe. Mein Gott, auf einmal trug sie wieder richtige Schuhe. Auf einmal war sie wieder gekleidet, gekämmt, das dünne Haar zum kleinen Zopf geflochten – warum nur war er in all den Jahren nie auf die Idee gekommen, ihr einen Zopf zu flechten? Es wird Zeit, willst spätestens um vier auf der Autobahn sein, vor der Dunkelheit. Komm, steh auf, pack mal, mach mal, hätte sie auch gewollt, und dann willst du ja noch Zeit verbringen mit ihr, dort, wo sie jetzt ist.
Sie hörten ihn. Stemmten sich mit den zarten Pfoten an die Balkontür, die kleinen Schwarzen, miauten. Das ist wahrscheinlich schon genetisch, dachte er. Seit vierzig Jahren schleppen die Mütter ihre Jungen am Nacken aus der Scheune des Bauernhofs über die Straße. Das muss schon in der DNA liegen, auch wenn Opa sie immer verscheucht hat. Tagelang lag sie nur noch, als wollte sie sterben. Die Katzen warteten geduldig unter dem Terrassentisch. Er konnte sie nicht mehr erreichen. Dann wieder dieses Geistern in der Nacht. Sie lief auf die Straße hinaus oder in den Keller, immer suchte sie was. Räumte von hier nach dort, kramte sämtliche Schubladen durch. Dreimal war die Feuerwehr da, das eine Mal brannte die Eschenstele im Esszimmer schon lichterloh. Der Geruch war kaum mehr aus der Wohnung zu kriegen. Sie weinte, wenn er laut wurde. Dazu die Fliegen vom Bauernhof. Vom Misthaufen an der Straße, im Sommer waren sie bös. Dann saßen sie beide in der Küche, am Tisch, er streichelte ihre Hand. Ihre Augen glänzten. Sie sah ihn an.
»Wir sind doch schon so lang verheirat’«, sagte sie.
Sie aß nicht mehr. Sie trank nicht mehr. Nur noch das bisschen Milch, das sie sich wieder aufzukochen begann. Die Milch, die er ihr bestellte vom Milchhof, ein Stück trockenen Wecks hineinzutunken. Dann wieder, wie ein Überfall, sprang sie in den Hausflur hinein, barfuß und im Nachthemd, als der neue Nachbar von der Spätschicht nach Hause kam: Da! Hab ich dich! Du bist also der Tschech, der mich hier vertreiben will! Sie griff ihn an mit dem Besen. Wo kam auf einmal diese Wut her, fragte er sich. Woher diese Kraft?
Büchsen machte sie nicht mehr auf. Wurst, Käse, alles, was er ihr gebracht hatte, gab sie den Katzen. Selbst die Astronautennahrung vom Pflegedienst. Einzig den Pudding aß sie noch, und wenn die Becher leer waren, die Joghurts. Zwanzig Mal Pudding, zwanzig Mal Joghurt, so viel passte in den Kühlschrank. Berlin–Fulda–Berlin, fünfhundert Kilometer, Freitag auf Sonntag. Einkauf, Kochen, Wäsche. Opas Grab. Und zuletzt, nur noch, heiße Milch mit Honig. Ein paar Löffel Suppe. Wenn es gut ging, ein Stück Huhn. Der Kampf um die Medizin. Ach, ich hab doch schon so viele Tabletten genommen in meinem Leben. Ja, Omi, aber diese noch – Nein!
Wiederholt rief das Haus am Frauenberg an. Jawohl, renitent, nicht mehr führbar. Sie rammt mit dem Gehwagen die Türen der Heimbewohner und beschimpft uns ständig. Gefährlich. Untragbar. Da fällt das Wort: Psychiatrie. Das Wort, vor dem er Angst hat. Er hört die Großmutter argumentieren, im Hintergrund. Ich hab mir nie was zuschulden kommen lassen. Ich war immer anständig, sagt sie. Das geht nicht anders, sagt das Heim. Das geht nur so. Dort wird sie medikamentös eingestellt, dann kommt sie wieder zurück. Sie als Betreuer müssen zustimmen. Die Sanitäter sind schon da. Ich will nicht länger auf der Polizei bleiben, hört er Omi im Hintergrund. Ich will nach Hause.
Hatte er hier gerade sein Einverständnis gegeben, seine eigene Großmutter bis auf Weiteres in die Psychiatrie der Städtischen Kliniken Fulda einzuliefern? Hatte er soeben das Amtsgericht angerufen und die Richterin um Erlaubnis der Übersendung gebeten, das Ganze auch noch schriftlich formuliert und hinterhergeschickt? Ich hab mir nie was zuschulden kommen lassen. Nein, Omi, nie, und da war auch dieses Wort gefallen, Schuld.
Du bist schuld. Die Frage ist in uns. Vielleicht eine Folge der Erbsünde. Die Idee, bereits mit Schuld beladen auf die Welt zu kommen, ist eine grauenhafte Vorstellung. In der katholischen Lehre befreit die Taufe den Menschen von der Erbsünde, der Trennung von Gott. Genau genommen war er katholisch getauft. Omi wollte das so, und Mama hatte sich gefügt. Opa August, Omis zweiter Mann, wurde Pate. Aber Mama hatte das wieder rückgängig gemacht, ihn exkommunizieren und noch einmal evangelisch taufen lassen, als er zwei Jahre alt war, in der Zeit, in der sie protestierte gegen die Sünde und den Staat und austrat aus der katholischen Kirche. Aber Martin Luther hatte Holli nicht befreit, sondern seinen Zustand zementiert. Und der war für einen elfjährigen pummeligen Jungen alles andere als befriedigend gewesen. Holli Umsiedler war, schon sein Name schrie es heraus, kein Hiesiger. Bei der Ankunft des Aussiedlerzugs seiner Großmutter in Fulda, damals, nach der Hitlerzeit, schnatterten die drei Schwestern etwas von umsiedeln. Umsiedler, dieses Wort fiel an jeder Ecke. Und der städtische Beamte, der die Listen führte, schrieb, vielleicht aus Müdigkeit, vielleicht aus boshaftem Witz: Umsiedler, Maria, Erna und Hilde, Tochter Ingrid. Omi protestierte nicht. Sie liebte Obrigkeiten. So hießen sie fortan Umsiedler. Und da Mama zwar geheiratet hatte, aber Obrigkeiten leidenschaftlich hasste und unter gar keinen Umständen ihren Namen ändern wollte, hieß auch er Umsiedler. Seinen Vornamen hatte er einmal in seiner Geburtsurkunde gelesen, aber seit er klein war, nannte ihn seine Mutter Hollichen. Aus Hollichen wurde im Laufe der Zeit Holli, und als er zehn war, schien ihm die Kurzform seines ebenso bescheuerten Namens das kleinere Übel. Das hatte etwas von Hollywood, immerhin, und Mama drückte diesen Namen schließlich auch auf dem Standesamt durch. Den Fuldaern war so etwas schwer beizubringen. Zudem waren seine Eltern geschieden. Er selbst lebte nicht einmal bei seinen Eltern, er lebte bei seinen Großeltern. Das ging auch gar nicht anders, weil sein Vater tot war. Und Mama wurde Kriminalkommissarin in München, eine der ersten Frauen in diesem Beruf. Das war alles in allem zu viel für die Phantasie zehn- und elfjähriger Jungen im Dorf Edelzell nahe Fulda im Jahr 1972. Das war selbst zu viel für die Phantasie der Eltern und Lehrer.
Jesus ist am Kreuz für die Vergebung deiner Schuld gestorben, sagte Martin Luther in Gestalt von Mathemüller, der im Bistum Fulda mangels Planstelle auch Religionslehrer war. Da ist ein dreiunddreißigjähriger aramäischer Jude vor 1939 Jahren an einem sechstausend Kilometer entfernten Ort an einem römischen Kreuz unter schlimmster Folter gestorben, um seine Schuld auf sich zu nehmen? Wie konnte der Aramäer von einem Quintaner am Fuldaer Freiherr-vom-Stein-Gymnasium wissen? Eine nicht zu überbietende Dramatik. Mathemüller, ein ergrauter, drahtiger kleiner Kerl mit Kassengestell, der die sieben von der Sexta bis zur Untersekunda verstreuten Lutherzipfel dienstagnachmittags unterrichtete, griente. Gegen Monsignore Krieg, diesen Prälaten aus dem Mesozoikum, hatte er keine Chance. Seit Anbeginn der Zeit wachte der strenge Blick des geschorenen Quadratschädels auf seinem trapezförmigen Talar in jeder Pause über die Gottesfürchtigkeit am neusprachlichen Gymnasium. Mit Ausnahme der sieben Evangelischen. Auch Holli fürchtete ihn. Aber manchmal machte Mathemüller, zum Johlen aller Schüler, in der Pause zehn Klimmzüge an einer Laternenstange im Hof und hob jeden da hinauf, der es auch versuchen wollte. Dann wandte sich Monsignore Krieg mürrisch ab. Mathemüller weckte in Holli ein aufrichtiges Interesse an der Bibel. Omi war begeistert. Der Jung liest die Bibel. Jessesmarantjosef! Der Jung, das wird a mal ein Herr!
Für jemanden wie Holli Umsiedlers Omi, geboren in Alt-Moletein in Mähren, war Schuld ein Apodiktum. Das hatte sie weitergegeben an Mama und ihn. Eingetrichtert, gebadet hatte sie beide darin und gesäugt mit täglicher Litanei, während sie kochte, buk, wusch, damals, mit Mama unten in der klammen, kleinen Aussiedlerwohnung in der Frankfurter Straß, wie später in seiner Kindheit oben in der schönen hellen Erdgeschosswohnung mit Terrasse und Garten in Edelzell, in der ja zuvor der Generaldirektor der Gummiwerke mit seiner Frau gewohnt hatte. Sie war so stolz. Er hörte das ewig gemurmelte Zwiegespräch, das Kratzen der Borsten auf Holz und ihre Knie rutschen, weniger frömmelnd als unablässig Geschichten erzählend, die in seiner Vorstellung zu einem elegischen Gesang aus Tias und Heimat verschwammen. Er sah sie mit weißer Kittelschürze und hochrotem Kopf die Dielen mit der Handbürste schrubben; das cognacfarbene Parkett in Wohn- und Esszimmer, das Linoleum in der Küche, jeden Tag. Sie nutzte dabei stets das Abwasser der Waschmaschine, deren Schlauch sie in die Badewanne geleitet hatte, die gute Waschlauge, wie sie sagte. Sie bekam beim Schrubben Nasenbluten. Er hat den Geruch der guten Lauge, in die sie etwas Essig und kochendes Wasser mischte, noch in Erinnerung. In das murmelnde, einseifende Klagelied stieß sie dramaturgisch geschickt lautpoetische Aufschreie hinein, Jessesmarantjosef! Heiliggewitternochamal! – ein Stöhnen, Seufzen, dann hob sie plötzlich wie dem Himmel drohend die Bürste: »Weh! Weh dir! Komm du mir a mal nach Haus!«
Ihre Geschichten zeichneten klar umrissene Bilder von Schuld. Diese Bilder hatten er und seine Mutter verinnerlicht wie ihre Markklößchensuppe und das tägliche Brot. Wir sind schlecht, dachte er. Von der ersten Minute an alle schlecht gewesen, Mama, Opa, er, du bist schuld. Später erst fand er heraus, dass auch Mama die Bibel gelesen hatte. Und zwar von vorn bis hinten unten in der Frankfurter Straß, aber da war Omi gar nicht begeistert gewesen. Mama sollte doch waschen, kochen und backen. Marantjosef.
Wählt er hier wirklich gerade die Nummer der Psychiatrie Station 3 Ost der Städtischen Kliniken Fulda?
Nein, das ist heute nicht mehr so schlimm. Die werden heute nicht mehr in Zwangsjacken gesteckt und in ein dunkles Loch geworfen. Nein, Omi. Das ist heute hell und freundlich. Das ist modern und human, und nein, Ihre Großmutter wird nicht zugedopt. Ihre Großmutter bekommt ein Medikament, das ihr die Angst nimmt, sagt der Stationsarzt. Achtzig Prozent der Patienten einer Psychiatrie bestehen heute aus Demenzkranken, sagt Mamas Freundin, die in einer Psychiatrie arbeitet. Sie bekomme lediglich ein Medikament, das ihr die Angst nehme, den Verfolgungswahn, der aus der Krankheit resultiere. Achtzig Prozent. So ist das mit die alten Weiber, da kannst nix machen, sagt Omi am Telefon.