Cover

Bewohner, Schwestern und Pfleger stehen Spalier. In ihrer Mitte eine zerbrechliche Frau im Rollstuhl. Die Reifen quietschen, der Transporter hält, entgeisterte Blicke: Holli Umsiedler ist gekommen, um seine Omi abzuholen.

Seit seine Großmutter im Heim ist, fährt Enkel Holli, sooft er kann, die 400 Kilometer zu ihr. Zwar fortschreitend dement, hält die zarte, willensstarke Frau im Heim alle auf Trab, irrt nachts umher, klaut Gebisse der Bewohner und Gummibärchen aus dem Schwesternzimmer. Sie lebt in ihrer eigenen Welt, umgeben von Erinnerungen an die im Zweiten Weltkrieg verlorene Heimat in Mähren und ihren ersten Ehemann Tias, dessen letzten Brief von der Front sie im Portemonnaie verwahrt, noch sechzig Jahre nach seinem Tod. Als sie immer tiefer in die Vergangenheit abtaucht, fasst Holli einen Entschluss: Er wird seine Großmutter auf ihrer Zeitreise begleiten. So stehen ein gemieteter Transporter, ein faltbarer Rollstuhl, der treue Sheltie Pit und die mysteriöse Marylong am Anfang einer abenteuerlichen Fahrt, die sie über mehrere Stationen der Familiengeschichte bis ins heutige Tschechien führen wird.

Titel.jpg

Manja und das Leben, bis zum Ende.

Möge der Roman beginnen. Im Grunde ist es
nichts als ein Trick. Ja. Es ist nur ein Trick.

La Grande Bellezza

Inhalt

Vorspann

Kapitel 1 – Es wäre einfacher gewesen …

Kapitel 2 – Holli wachte auf …

Kapitel 3 – Sie wird nicht zurückkommen …

Kapitel 4 – Ein Medikament, das ihr …

Kapitel 5 – Wenn schön Wetter war …

Kapitel 6 – Das Salz hat kleine Löcher …

Kapitel 7 – Ja, antwortet sie …

Kapitel 8 – Pit bellt. Die Martha kommt …

Kapitel 9 – Mein Gott, Holli …

Kapitel 10 – Sie sitzt auf dem Bett …

Kapitel 11 – Ich bin am Bahnhof …

Kapitel 12 – Wenn die Mutter fort war …

Kapitel 13 – Ich würde gern …

Kapitel 14 – Der Onkel Emil hat …

Kapitel 15 – Ich rufe an, um Ihnen zu sagen …

Kapitel 16 – Er ist mit Omi tief in der Nacht …

Kapitel 17 – Jetzt rechts einordnen …

Kapitel 18 – Der Onkel hat ein Radio …

Kapitel 19 – Im Grunde verhalte es sich so …

Kapitel 20 – Holli, das war …

Kapitel 21 – Da möcht ich zu Fuß …

Kapitel 22 – Seine Dachkammer zitterte …

Kapitel 23 – Neumünster, 11.2.1939 …

Kapitel 24 – Ja, Holli, nach einem Jahr …

Kapitel 25 – Neumünster, 14.3.1940 …

Kapitel 26 – Nein, nein, ich konnt’s nicht …

Kapitel 27 – Bildberge, Briefstapel. Feldpost …

Kapitel 28 – Über der Steppe brannte …

Kapitel 29 – Hm. Liest sich nicht so übel …

Kapitel 30 – Es ist eine kleine Welt …

Kapitel 31 – Herr/Frau Kreuzberg, Maria …

Kapitel 32 – Hollis Großmutter und zwölf Millionen …

Kapitel 33 – Sie glauben gar nicht …

Kapitel 34 – Marylong hatte sich eine Weile …

Kapitel 35 – Er erwachte auf dem Sofa …

Kapitel 36 – Er kam spät …

Kapitel 37 – Das ist ein unbeschreiblicher Moment …

Kapitel 38 – Am Morgen bellte Pit …

Kapitel 39 – Wenn er am Sonntag aufwachte …

Kapitel 40 – Er erinnerte sich noch …

Kapitel 41 – So was wie dich hätten wir früher …

Kapitel 42 – Der geliehene Transporter …

Kapitel 43 – Seine Großmutter starb …

Die Deutschen haben nicht viel Tschechisch gelernt, sagte sie weiter, aber die Tschechen Deutsch. Wie der Karel Gott. Der berühmte Sänger, die goldene Stimme aus Prag. Ich mein, Schlesien war an Preußen, und das war immer deutsch, das hat dem alten Friedrich gehört. Der Ramers Fred, der Boxer aus Herbstein, der Kamerad vom August, der fährt jedes Jahr nach Alt-Moletein. Der sagt dann: Hier haben die Tschechen a neues Haus gebaut oder dort, der tut sich erkundigen, was noch steht von uns. Es ist nicht mehr das. Alles zerstört.

Und wie der August ist durch den Ort gefahren, wir konnten gar nicht mehr, ich wollt so gern am Friedhof gehen, in die Kirch, ich bin auch reingegangen, aber der Anti und die Hilde wollten nicht lang halten, und ich hab am Friedhof der Mutters Grab gesucht, war alles verwildert. Ich wusste den Platz. Ich bin hingegangen. Und es war nichts. Kein Kreuz, verwaist wie heute die alten Judenfriedhöfe. Die Kirch dreckig, die Tschechen gingten ja nicht viel in die Kirch, sagte sie, holte tief Luft und stieß einen langen Seufzer aus.

Es waren noch diese Bilder und der Altar. Eine Ruine praktisch. Es gab von uns aus, von der Großmutter her, Eigentum für immer, da war einmal ein schönes Grabkreuz mit goldener Inschrift. Nicht mal das war mehr da. Sie starb an Gebärmutterkrebs. Ich war zwölf Jahr. Da war das Paradies zu End, gell.

1.

»Es wäre einfacher gewesen, das Raumtritandem zu nehmen.«

Holli Umsiedler sitzt am Steuer des Transporters.

»Hedef yoldur!«

Marylong, auf dem Beifahrersitz, schnippt mit den Fingern.

Pit liegt auf ihrem Schoß und bellt.

»Was?«

»Yol! Hedef yoldur! Türkisch. Der Weg. Der Weg ist das Ziel!«, holippt Marylong, formt ihre Finger zu Hörnern und sticht in die Luft.

Sie nimmt einen Zug aus ihrer E-Zigarette, die Form und Farbe eines Kugelschreibers hat. Holli zieht die rechte Augenbraue hoch.

»Madonnen holippen heute. Das kommt von holistic rap«, sagt Marylong. Manchmal geht ihm das auf die Nerven. Marylong stößt blassblaue Luft aus und pariert seine skeptische Mimik: »Ist von Mighty Ma.«

Holli Umsiedler tritt auf die Bremse. Die Reifen quietschen. Der Transporter holpert über den Bordstein auf den beschädigten Gehweg, das Fahrzeug kommt mit dem linken Rad auf der Kante zum Stehen. Holli dreht den Zündschlüssel, würgt den Motor mit einem Rumpeln ab. Vor dem Haus am Frauenberg stehen sie Spalier: Alte, Schwestern und Pfleger. Omi thront mittig auf ihrem Rollstuhl und blickt sich verwundert nach allen Seiten um. Neben ihr steht Frau Tell, die Heimleiterin, und winkt. Holli öffnet die Fahrertür. Pit springt über seine Beine hinweg aus dem Transporter und bellt. Omi sieht hinüber zu dem großen roten Wagen und staunt.

Holli trägt seinen besten, einzigen Anzug, einen dunkelbraunen zerknitterten Zweireiher. Marylong ein hellblaues hüftlanges Latzkleid über einem schwarzen T-Shirt mit der weißen Aufschrift: who needs tits. Um ihren Hals ist ein silbernes Edelweiß an einem breiten schwarzsamtenen Band gebunden. Ihr Hals giraffenartig lang und dünn. Daher stamme ihr Name, hatte Marylong gesagt. Von der Madonna mit dem langen Hals von Parmigianino. Aber mit ihren kurzen, beinahe kahl rasierten wasserstoffblonden Stoppeln über den Ohren und der hohen Stirn, als hätte sie eine mönchische Tonsur, und dem im Nacken mehr als schulterlangen Haar sieht sie wie die junge Frau auf der gleichnamigen Fünfzigerjahre-Schweizer-Zigarettenmarke aus – von der Haarfarbe und Tonsur einmal abgesehen. Ihr Gesicht ist das eines Mädchens. Eines kleinen, süßen, unglaublich wütenden Mädchens. Ihre Augen haben die Farbe des Himmels.

Pit bellt.

Die Schwestern treten nervös auf der Stelle. Frau Tell kullert ein Tränchen über die faltige Backe. Frau Hübel steht etwas abseits und stützt sich auf ihren Gehwagen. Die Martha trägt ihr Kissen unter dem Arm. Das muss ihr der nette schwule Pfleger vom Abend für diesen Morgen extra aus dem Schrank geholt haben, fällt es Holli ein. Die Hallo sagt Hallo. Der Russe zetert. Pit wuselt flink um alte Beine, schnüffelt an Filzpantoffeln, löchrigen Faltenröcken, herabhängenden Nylonstrümpfen und der speckigen Hose des Russen. Der Hund niest. Frau Tell fasst sich. Sie lächelt und bleckt lange gelbe Zähne, die Hälse stehen bis zu den Zapfen frei und sind braun vom Nikotin. Frau Hübel legt ihren Kopf auf den Einkaufskorb ihres Gehwagens und versucht mit zittriger Hand, den sich schüttelnden Sheltie zu erreichen. Pit wendet sich ab. Marylong steigt aus. Sie reckt sich und versprüht ein paar heilige Strahlen. Niemand scheint sich daran zu stören. Omi erkennt Holli, und ihr Gesicht erfüllt sich mit Freude.

»A lot of bad boys want my numba. Daai bra anies hy’s n fokken gam bra. Ken sy my numba? Xha!« Marylong schnippt mit den Fingern. Ihre Augen blitzen, als könne sie jederzeit jemandem mit den Zähnen an die Gurgel schnellen.

»Na, wenn das mal gut geht«, sagt Frau Tell und umarmt Holli Umsiedlers schlaksige Gestalt wie einen Sohn.

Holli versucht sich aus der stählernen Umklammerung zu lösen. Er sieht zu den Alten, die vom Spalier zur Phalanx übergegangen sind. Das halbe Haus am Frauenberg hat sich jetzt an der Pforte versammelt, als gäbe es geweihte Hostien zu verteilen. Sogar Herr Brand ist da. Den hat Omi immer mit der Zeitung vertrimmt. Die Martha umarmt ihr Kissen. Frau Hübel richtet sich auf und schnäuzt theatralisch in ein besticktes Tuch. Der Russe faucht.

»Hallo!«

»Hallo!«

»Hallo?«, sagt die Hallo.

Holli küsst seine Großmutter sanft auf die Wange.

»Mein Jung, mein Jung, mei Jüngi!«

Er hebt sie aus dem Rollstuhl. Sie ist federleicht. Die Schwestern öffnen die seitliche Schiebetür. Holli Umsiedler setzt seine Großmutter vorsichtig auf die Rückbank. Pergamentartige Haut und spitze Knochen, ihre geschrumpfte Gestalt verschwindet auf der Bank des Transporters wie das kleine Hollichen damals in der Kuhle hinten im alten schwarzen Käfer verschwunden war, aber in der Eile hatte er keinen kleineren Wagen auftreiben können. Er rückt die Kissen zurecht, die er mitgebracht hat, damit sie möglichst bequem sitzt. Behutsam legt er den Gurt über ihre Schulter und stopft jeweils ein Kissen unter Gesäß, rechten Arm und zwischen linken Arm und Fenster. Sie sieht ihren Enkel mit großen, freudigen Augen an. Ihre Brille sitzt etwas schief. Holli rückt sie zurecht. Omi hält ihre Handtasche auf dem Schoß fest umklammert, ihre Hände von Arthrose und Sehnenverkürzungen gekrümmt. Demente machen das. Sie haben ständig Angst, beklaut zu werden. Zärtlich streichelt er über ihr dünnes weißes Haar und ihre Stirn, wie er es immer tut. Dann küsst er sie auf die eingefallenen Wangen. Frau Hübels Schnäuzen klingt wie ein Nebelhorn. Der Russe flucht, tritt nach dem Pfleger, der neben ihm steht, und spuckt auf den Boden. Der Pfleger schreit und sinkt in die Hocke. Der Hund entfernt sich.

»Omi, wir machen einen Ausflug!«

»Waas?!«

Holli Umsiedlers Großmutter strahlt. Sie scheint nicht überrascht oder gar ängstlich, wie Frau Tell es befürchtet hatte. Einen alten Baum verpflanzt man nicht, hatte sie noch am Vorabend gesagt. Aber sie ist doch hierher verpflanzt worden, hatte ihr Holli entgegnet, als er sich auf dem Weg zum Aufzug befand, ein großes D darin steht für Dach, Omi war bester Laune gewesen. Sie hatte keine Ahnung, worum es ging. Holli war da und Holli war alles, was zählte. Er hatte es ihr zu erklären versucht: Omi, morgen fahren wir weg, weit weg! Aber das hatte sie in dem Moment, als sie ihm vom Bett aus ihres Zimmers unterm Dach mit schütterer Bewegung winkte, wieder vergessen. Gute Nacht, Omi. Schlaf gut und träum was Schönes, sagte Holli. So, wie sie es früher in sein Ohr geflüstert hatte.

»Ja, Holli, und gell, bis morgen früh!«

Holli schlüpft aus dem Wagen, ohne seine Großmutter aus den Augen zu lassen. Marylong setzt sich neben Omi. Sie werde schon aufpassen während der Fahrt. Omi krallt sich in ihre Handtasche. Sie sieht Marylong böse an, bereit zum Äußersten. Marylongs längeres Nackenhaar sträubt sich wie elektrisiert. Sie sieht aus wie Franz von Assisi mit aufgestellten Adlerfedern.

»Arrrr«, knurrt Marylong.

Holli Umsiedler hievt den maßgeschneiderten Rollstuhl auf die hintere Ladefläche. Die Schwestern reihen sich auf und helfen, vielleicht gibt es Trinkgeld. Pit erkennt in Frau Tell das hiesige Alphatier, gibt Pfötchen und setzt seinen ergreifendsten Blick auf: Er hat dank einer Laune der Natur ein stahlblaues und ein schwarzbraunes Auge. Marylong grinst: »Yes daddy, I’m a big girl now. Jas little devil make your dick go wow.« Sie sticht mit Hörnerfingern in die Luft.

»Hallo!«

»Hallo?«, sagt die Hallo.

Der Pfleger kauert in der Hocke, jammert und reibt sich das Schienbein. Der alte Russe speit und keift.

Holli hatte am Morgen Kaffee für die Thermoskanne aufgesetzt, Brote gemacht in der Küche der Pension und hart gekochte Eier. Wie früher. Sie würden auf dem erstbesten Rastplatz halten, an einem steinernen Tisch Platz nehmen, ein Geschirrtuch darüberbreiten, alles auspacken und sofort aufessen. Wie früher. Goodbye Johnny, warst mein bester Freund, sang Opa. Holli hatte Frau Tell überredet, ihm noch einen leichten, faltbaren Rollstuhl zu überlassen, ein ausgedientes, geflicktes Modell, das niemand mehr brauchte. Für die Rastplätze und die Toiletten, falls die Windeln nicht hielten. Die Schwestern und er hatten am Abend alles gepackt. Holli lud in den Bus, was seine Großmutter noch besaß: zwei Koffer Wäsche, Kleidung und Schuhe; eine Tüte Kopftücher, eine Tasche Mäntel; ein paar Kartons, darin ihre hübsche Haarbürste und der Flurspiegel, ein Fotoalbum der Wehrmacht im Russlandfeldzug. Der kleine Stahlhelm aus Blech mit dem Hakenkreuz darauf ist verbeult. Das Rucksäckchen aus Keramik, Andenken an die Eifel, das Holli in letzter Minute vor Eckis blauen Säcken gerettet hatte; der letzte Teppichläufer und der Dürerdruck. Der hatte immer an ihrer Eingangstür neben der Schnitzerei Tritt ein, bring Glück herein gehangen. Holli verlud Vasen, Tischdecke und die Küchenfunkuhr, die er ihr zum Siebzigsten geschenkt hatte und deren Zeiger in einem einzigartigen Schauspiel jeden Winter und Sommer selbstständig der Zeit folgten, ein Wunder, das sie zwanzig Jahre ungeduldig erwartet hatte, um ihm aufgeregt davon zu berichten; das Madonnenbild mit Kind, das vierzig Jahre so gütig wie gestreng über das Ehebett, diesen knarzenden Klotz, gewacht hatte; das Schlafhäschen, ein weißes flauschiges Stofftier, das sie liebte, weil Holli es ihr zum Trost ins Heim mitgebracht hatte, und, zuletzt, ihren schönen Stuhl, der Thron, auf dem nie jemand saß; den rosenbestickten, bauchig ausladenden Gobelinsessel mit Blattgold und passendem Spiegel dazu, ihr ganzer Stolz. Wie ein verwaister Solitär aus einstiger kaiserlich-königlicher Pracht und Herrlichkeit, zu der die Sudeten ja einmal gehörten, steht er jetzt neben dem Rollstuhl und dem Häuflein irdischer Artefakte ihres Lebens auf dem schwarzen PVC einer Grand-Canyon-großen Ladefläche. Frau Tell hat Pit ein Würstchen aus der Küche geholt. Nein, Omi. Wie kann etwas, das einmal so schön begann, nur derart enden?

Pit springt in den Transporter und kuschelt sich zwischen Marylong und Omi. Holli schließt die Ladeluke. Er drückt Frau Tell die Hand und steigt in den Laster.

Omi sitzt verhältnismäßig quietschvergnügt auf der Rückbank. So wie Holli früher hinten in der Kuhle des schwarzen Käfers saß und Opa Goodbye Johnny brummte, mehr denn er sang, Omi Kaffee aus der Thermoskanne schenkte, aber leider, aber leider kann’s nicht immer so sein. Marylong pafft E-Zigarette und bläst Wasserdampf in die Luft. Omi streckt den Schwestern die Zunge raus.

Holli muss grinsen.

»Na, da werden die aber staunen in Maberzell«, sagt Omi.

Die Alten winken.

»Wenn nur der August endlich käm …«

Frau Tell, Frau Hübel, die Schwestern und sogar der Russe winken. Im Rückspiegel verschwindet das Haus am Frauenberg. Das ist ein Bild, das Holli gefällt. Noch nie hat ein Insasse das Haus am Frauenberg lebend wieder verlassen. Seine Großmutter ist die Erste.

Holli Umsiedler muss lachen.

Die Leipziger Straße kleinstadtauswärts spiegelt Tristesse, zweistöckige, mit Rollläden verbarrikadierte Giebelhäuser ohne Vorgärten, die er nur zu gut kennt, Tankstelle, Hotel Lenz, Shoppingmall, dieses wuchernde MyZeil rund um die Stadt, Gartencenter, Baumarkt. Holli Umsiedler biegt auf den Zubringer zur B 27. Goodbye Johnny, in hundert Jahren, Johnny, ist doch alles vorbei.

»Sie sieht mich an, als wäre ich eine Marienerscheinung«, sagt Marylong.

Holli dreht sich um.

»Marylong?«

»Ja?«

»Du bist eine Marienerscheinung!«

Marylong lacht und stellt ihr Nackenhaar auf wie eine Kragenechse.

»Arrrr …«

Pit bellt. Marylong streichelt den Sheltie.

»Oh, dibbedi dibbedi meck meck meck, die Ziege raubt der Maus den Speck, dibbedi dibbedi wau wau wau, der Hund, der geht zur Modenschau«, singt Marylong.

Holli brummt die Kindermelodie, die ihm aus der Seele ruft, so gut er kann, und fällt in den Refrain ein.

»Oh, dibbedi dibbedi meck meck meck …«

Omi lacht.

»Wohin fahren wir denn?«

»Omi, wir fahren nach Berlin!«

Sie strahlt.

»Wohin?«

»Nach Berlin, Omi!«

»Nach Berlin?!?«

Sie sieht ihn an mit großen verwunderten Augen, ihre Brille sitzt wieder schief. Holli dreht sich um und rückt sie zurecht, die Linke behält er am Steuer. Marylong schnippt mit den Fingern, meck meck meck. Dann widmet er sich der Straße. Der geliehene Transporter der Marke Ford Transit biegt von der B 27 auf den Zubringer der A 7 Richtung Kassel. Es wäre einfacher gewesen, das Raumtritandem zu nehmen, lacht Holli Umsiedler. Dann bricht die Wolkendecke, Sonne trifft auf Asphalt.

2.

Holli wachte auf: Und warum war er hier? In Edelzell wütete der Ecki, zerschlug alles mit dem Hammer, schlug ihrer beider Leben zu Müll, in zwei Tagen würde der Ecki übergeben, besenrein, dann war alles weg, unser ganzes Leben, unsere Geschichten, die du so gern erzähltest, bevor du in das Haus am Frauenberg kamst.

Im Sommer, am Schinderrain, unten bei den Holunderbüschen: Er höhlt die Äste zu Blasrohren aus und verwendet deren Beeren als Kugeln, gleich geht er nach Hause, die Abendglocken läuten schon, und vielleicht laufen wir nachher noch runter zum Telefonhäuschen und rufen Mama an?

Ja?

Sein Schlafhäschen lag jetzt wieder neben seinem Kopfkissen, er wollte zurück nach Edelzell, Omi, deine schönste Zeit, das war doch auch meine schönste Zeit, und warum war er hier und nicht mehr dort? So musste es ihr vielleicht ergehen. Wenn sie aufwachte am Morgen, dort, wo sie nun war, ein großes D im Aufzug stand für Dach, und wieso war sie da und nicht mehr daheim? Warum wachen wir immer auf, wo wir nicht sein wollen, und wo war meine schönste Zeit, wenn nicht dort?

Es ist der Ecki, Omi, weißt du noch? Der Ecki aus Pilgerzell, der mir die goldene Angel am Weiher versprach, bevor du gedroht hast, ihn zu verdreschen. Da liegt ’ne goldene Angel am Weiher vergraben, die hat er mir versprochen, der war damals der Ecki aus Pilgerzell, der ist heute der Trödel-Ecki in Dietramszell, und der schlägt jetzt alles klein mit dem Hammer, Omi, mit dem Hammer!

Es heißt, das Glück liegt woanders, es ist immer an einem anderen Ort. Dieser Ort liegt an einem See vor der Stadt. Der kleine blonde Junge, der er war, sitzt eingewickelt in seine Kinderdecke im Gras und Finger im Mund. Der Ort ist eine blasse Baumwolldecke mit hellgrünen Elefanten darauf, während sein Vater mit Freunden albert und rauft, ein knochiger, lachender Student in einer riesenhaften Hose, es riecht nach Algen und Rhabarber.

Der Ort ist ein Garten, den er nicht kennt, eine Stange an zwei Stricken zwischen Rasen und Ast, er schaukelt und träumt, während sein Vater dasitzt und malt mit seinen Stiften, an dem Tag, an dem der schwarze Käfer kommt und ihn mitnehmen wird. Der Ort ist ein schwarzer Käfer in der Nacht. Er liegt mit der Kinderdecke in der Kuhle hinter der Rückbank und betrachtet den Himmel, der fährt. Goodbye Johnny, singt der Großvater, warst mein bester Freund.

Der Ort ist eine Wirtschaft in der Kolonie. Er spielt mit dem gehörlosen Kind, und sein Großvater sitzt an einem Tisch mit den Alten und brummt. Der Ort liegt auf einem Schiff, das sein Vater nahm und das ihn nicht mitgenommen hat. Er suchte diesen Ort noch immer, er wachte auf und wusste im selben Moment: Ich bin hier.

Es heißt, das Glück liegt woanders: Es ist nicht hier, wo wir sind, sondern immer dort, wo wir waren. Aber niemand weiß, wo das ist. Wir sind hier, und wo wir waren ist nie gleich. Es ist immer anders, weil nie jemand wieder dorthingelangt, außer in den Träumen.

Er lebte, sehr oft und lange, in einer chimären Welt. Er sucht noch immer nach einer analogen Struktur in seinem Erwachsenenleben, er verlor sich gern in der Flucht. Diese Welt war ein Paradies, ein Wahnsinn. Seine Großmutter befand sich seit ihrer Vertreibung aus dem Sudetenland in einer solchen Phantasiewelt; sie wollte nichts sehnlicher, als an ihren Ort und in ihre Zeit zurückkehren, zu seinem richtigen Großvater, der starb, bevor seine Mutter geboren wurde. Sie kannten sich gerade zwei Jahre und sechs Monate. Sie sahen sich sechs Wochen und sechs Tage. Sechzig Jahre hatte sie nur von ihm erzählt.

Dieser Umstand sowie andere Verhaltensmerkmale erfüllten, wenn er es aseptisch betrachtete, einige Parameter des Wahnsinns. Sie verhielt sich außerhalb der Vernunft; sie wollte die Folgen ihres Tuns für sich und andere nicht abschätzen; manche Handlungen waren sinn- und zwecklos; kognitive Fähigkeiten versagten; sie nahm den Unterschied zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit nicht mehr wahr; es verließ sie ihre Sprache, sie artikulierte sich in Kinderreimen, Liedern, geheimen Zeichen. Am Ende gewann die Traumwelt. Ergriff ganz und gar von ihr Besitz. Je mehr er darüber nachdachte, desto deutlicher wurde ihm bewusst, wie sehr auch er sich in einsamen Traumwelten bewegte, in kindlichen Gedankengebilden, die ja nicht kindlich waren, sondern die erwachsene Projektion einer vermeintlichen Kinderwelt. Hatte er einige Merkmale ihres Wahnsinns übernommen, erfüllte auch er ein paar dieser Parameter, bis hin zu manisch-aggressivem Handeln und stundenlangem, reglosen Dahindämmern in seiner Dachkammer? Er versank in dieser Losigkeit. Er kämpfte damit, die Seuche loszuwerden.

Physiker behaupten, es existiere eine unendliche Anzahl an Paralleluniversen, in denen womöglich das Gleiche oder etwas Ähnliches geschehe wie in unserem, nur zu unendlich vielen unterschiedlichen Zeiten, und man könne in diesem Multiversum eines Tages Raum und Zeit dadurch überwinden, indem man die Paralleluniversen wechsle. Die Stringtheorie geht von der Existenz von Paralleluniversen aus. Hier ist auch dort: Ein Elektron kann der Stringtheorie zufolge an zwei Orten gleichzeitig sein.

Angenommen, es gibt diese anderen Dimensionen; vielleicht reisen wir dorthin, wenn wir träumen. Halten uns in einer anderen Zeit und in einer anderen Dimension auf, sehen in die Vergangenheit, Zukunft, in eine Parallelität hinein, als betrachte ein Kind ein Stück Himmel durch die Glasscherben eines Kaleidoskops. Selbst in einem vermeintlich wachen Zustand, beim Kartoffelschälen am Küchentisch, am Steuer auf der A 7, hinsiechend in der lichtlosen Ecke einer Kammer, fliegen wir an die Orte und in die Zeit unserer Kindheit, vergangenen Liebe oder unseres Todes. Die so nie existiert haben und existieren werden, ohne uns auch nur einen Millimeter von Küchentisch und Autositz zu entfernen, ohne uns aus unseren Körpern und der Losigkeit herauszubewegen. Wenn man Menschen am Schlafen hindert und ihnen die Träume nimmt, sterben sie.

Oder angenommen, die Zeit, wie wir sie kennen, gibt es gar nicht. Alles passiert gleichzeitig, in jedem Augenblick. Jederzeit könnte man von der Geburt bis zum Greisentum reisen. Der Tod verlöre jede Tragik: aber hier begann dort, und es wird enden vor langer Zeit?

Er las gern Donald Duck.

In der Nacht, vor den Träumen, wenn der Tag ihn wieder erdrückt hatte, wenn die Ängste da waren und die Zweifel kamen, die Gespenster aus dem Dunkel wuchsen, begab er sich nach Entenhausen. Wo die Welt immer gleich war. Wo alles möglich war. Wo Onkel Dagobert das Gespenst, das sich in seinem Geldspeicher eingenistet hatte, mit einem Staubsauger fangen und mit ihm reden konnte und feststellte, dass es ein netter Kerl war mit einem interessanten Schicksal. In der Welt von Entenhausen waren die Gesetze der Physik und des Siechtums außer Kraft gesetzt, er fühlte sich darin geborgen. Am liebsten folgte er den Episoden, die er schon als Kind gelesen hatte. Die er kannte. Weil er wusste, dass sie ihn an einen Ort und in eine Zeit, in eine Sicherheit und Geborgenheit zurückbrachten, die so nie existiert hatten und nie existieren würden.

In einem der frühen Bände der Lustigen Taschenbücher gab es eine Geschichte, in der die Bewohner eines fernen Planeten traurig und missgelaunt waren, weil ihr König das Lachen verlernt hatte. Bis drei dieser Bewohner aufbrachen und die Zeit und das All auf einem Raumtritandem durchquerten, auf der Suche nach dem Lachen, das ihnen verloren gegangen war. Diese Idee faszinierte ihn.

Das Raumtritandem war eigentlich ein gewöhnliches Fahrrad. Nur befand sich auf dem vorderen Schutzblech eine große bauchige, von einem Dynamo betriebene Lampe wie auf einem alten Motorrad oder Krad der Wehrmacht. Unter dem Gepäckträger war ein Rücklicht befestigt. Eine Schiffsschraube, die mit der Kette verbunden war, und vier Pedalpaare, so viele Leute fanden darauf Platz, dienten als Antrieb. Die Bewohner des fernen Planeten brauchten keine Raumanzüge, im Comic ging das. Auf ihrer Suche nach etwas, das ihren traurigen König aufheitern könnte, gelangten die Fremdlinge nach Entenhausen. Dort stießen sie auf den tollpatschigen Donald und seine drei schlauen Neffen Tick, Trick und Track. Die Außerirdischen lehnten das Raumtritandem an einen Zaun und folgten Donald. Sie hatten die gleichen spitzen Nasen, Ohren und buschigen Augenbrauen, trugen die gleichen Uniformen und Mützen. Niemand in Entenhausen nahm von ihnen Notiz. Auch Donald und die Kinder nicht. Donald tapste wie gewöhnlich von einer kleinen Katastrophe des Alltags in die nächste, und während die Bewohner des traurigen Planeten ihn dabei beobachteten, begannen sie zu lachen und fassten einen Plan. Sie würden Donald auf ihren Heimatplaneten verschleppen und dem König vorführen. So würde er wieder lachen können. Oft stellte sich Holli Umsiedler vor, einer dieser Bewohner des traurigen Planten zu sein; mit ihnen auf dem Raumtritandem zu anderen Orten und in andere Zeiten zu reisen, auf der Suche nach dem Lachen.

3.

Sie wird nicht zurückkommen. Sie wird nicht mehr in diese Wohnung zurückkehren. Nicht mehr sitzen zwischen Vitrine, Fenster und Vorhängen an diesem Eschenholztisch. Vierzig Mal Weihnachten, vierzig Mal Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat und Schnaps mit Opa nach dem Auspacken, auch als er schon zwanzig Jahre tot war, nicht mehr sitzen an diesem Esszimmereschentisch mit Blick auf die Wand und das Bild vom Tias als Offizier, darunter das Eiserne Kreuz Erster Klasse, Mamas Kommunion, Papa und er im Garten, zum letzten Mal.

Da lag noch der Teppich, der alte Berber. Schief. Dort, wo sie hingefallen sein musste, hingefallen und mit dem Kopf aufgeschlagen zwischen Wohnzimmerschrank und Wandlandschaft, um sich ruderte mit Armen und Beinen, auch der Sessel und Wohnzimmertisch umgerissen. Alle Achtung, Omi, dieses Trumm von einem Tisch. An ihm versuchte sie sich wohl aufzurichten, die ganze Nacht. Eingenässt, als der Pflegedienst sie fand, am Mittag. Die Monsterblumenkerze auf ihrem schmiedeeisernen Sockel, darüber das weiße Stickdeckchen, als hätte sie jemand mit einem Schleier zugedeckt. Sonnenblumen aus Plastik in der Vase über dem Wohnzimmerwandschrank, belegt mit jahrealtem Staub; war ja kein Zustand, schon lange nicht mehr.

Aber sie wollte nicht. Sie wehrte sich. Wehrte ab, mit letzter Kraft. Jede Hilfe, kein bisschen. Hat jeden rausgeschmissen, hochkant; alles umgeworfen auf dem alten Berber. Die Nussschale, Opas kaputte Uhren und Feuerzeuge, seinen Bastelkram. Das Adventskreuz mit Bläserengeln in Stücke zerprungen. Konnte doch alles noch selbst. Geh ja noch in die Stadt. Fahr mit dem Bus, die helfen mir schon. War heut morgen erst am Markt und auf der Bank. Obwohl sie es doch besser wissen musste. Omi, du hast die Wohnung in Edelzell seit mehr als drei Jahren nicht mehr verlassen. Arthrose in beiden Hüften. Vom Badezimmer konnte sie noch zur Küche auf die Terrasse schlurfen, barfuß und im Nachthemd, auch im Winter. Draußen die Katzen füttern vom Bauern, die x-te Generation. An den Wänden tastete sie sich entlang, dazu steifer Hals und Nacken vom nächtelangen Nähen in der nasskalten Wohnung unten in der Frankfurter Straß. Von Stuhllehne zu Wand zu Stuhllehne, es tat so weh. Und es tat weh, sie so zu sehen. Draußen kauerten die Katzen unter dem Terrassentisch. Drei kleine Schwarze und der große Graue.

Den Gehwagen benutzte sie nicht. Auch den Stock nicht, selbst wenn niemand zusah. Es ist der Rolls-Royce unter den Rollatoren!, sagte er. Aber das nützte nichts. Zuletzt, als auch Mama nicht mehr kam, waren sie nur noch zu zweit gewesen. Fünf Mal Weihnachten zu zweit mit Bäumchen und Bläserengeln und Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat, sie barfuß und im Nachthemd am Tisch mit Blick auf das Bild vom Schuhmacherhaus im Sudetenland, Ziegen und Hühner und Hasen darin, Leder und Leimtöpfe, die Schwestern, die Mutter und gebackener Hefezopf mit Beeren und heißer Milch in Alt-Moletein. Gekocht hat er so gut es ging, Schnaps auf Opa, mein Gott, Omi, wie viele Katzenmägen hast du in deinem Leben gefüllt? Der große Graue leckte sich die Pfote. Die Kleinen schmiegten sich an seinen Bauch.

Aufräumen, sagte er sich. Saugen, abwaschen. Bekleckerte Nachthemden in die gerade gelieferte, neue Maschine stopfen und den vollgepinkelten Rock zusammen mit dem vertrockneten Kuchen gleich in die gelben Säcke hinter dem Badezimmerschrank. Mein Gott, sie muss schon länger eingemacht haben und hat es nie gesagt, schüttelte er den Kopf. Aus Scham oder, wahrscheinlich, Vergesslichkeit. In den Schränken hundert Jahrgänge Schönhengstgauer Heimathefte. Schubladen voller Joghurtbecher. In vierzig Jahren hat sie keinen Joghurtbecher weggeworfen, nein, sie hat alle ausgewaschen, die kleinen bunten Becher, aus denen er Milch trank, aus jeder Küchenlade quollen sie hervor.

Reiß dich zusammen! Deine Rührseligkeit interessiert nicht. Steh auf. Pack die Sachen für nachher zusammen. Sieh auf die Liste, was sie alles noch braucht, sagte er sich. Haarklammern, Muttergotteskerze, Hammer und Nägel für die Bilder, Pullis, Röcke. Schuhe. Mein Gott, auf einmal trug sie wieder richtige Schuhe. Auf einmal war sie wieder gekleidet, gekämmt, das dünne Haar zum kleinen Zopf geflochten – warum nur war er in all den Jahren nie auf die Idee gekommen, ihr einen Zopf zu flechten? Es wird Zeit, willst spätestens um vier auf der Autobahn sein, vor der Dunkelheit. Komm, steh auf, pack mal, mach mal, hätte sie auch gewollt, und dann willst du ja noch Zeit verbringen mit ihr, dort, wo sie jetzt ist.

Sie hörten ihn. Stemmten sich mit den zarten Pfoten an die Balkontür, die kleinen Schwarzen, miauten. Das ist wahrscheinlich schon genetisch, dachte er. Seit vierzig Jahren schleppen die Mütter ihre Jungen am Nacken aus der Scheune des Bauernhofs über die Straße. Das muss schon in der DNA liegen, auch wenn Opa sie immer verscheucht hat. Tagelang lag sie nur noch, als wollte sie sterben. Die Katzen warteten geduldig unter dem Terrassentisch. Er konnte sie nicht mehr erreichen. Dann wieder dieses Geistern in der Nacht. Sie lief auf die Straße hinaus oder in den Keller, immer suchte sie was. Räumte von hier nach dort, kramte sämtliche Schubladen durch. Dreimal war die Feuerwehr da, das eine Mal brannte die Eschenstele im Esszimmer schon lichterloh. Der Geruch war kaum mehr aus der Wohnung zu kriegen. Sie weinte, wenn er laut wurde. Dazu die Fliegen vom Bauernhof. Vom Misthaufen an der Straße, im Sommer waren sie bös. Dann saßen sie beide in der Küche, am Tisch, er streichelte ihre Hand. Ihre Augen glänzten. Sie sah ihn an.

»Wir sind doch schon so lang verheirat’«, sagte sie.

Sie aß nicht mehr. Sie trank nicht mehr. Nur noch das bisschen Milch, das sie sich wieder aufzukochen begann. Die Milch, die er ihr bestellte vom Milchhof, ein Stück trockenen Wecks hineinzutunken. Dann wieder, wie ein Überfall, sprang sie in den Hausflur hinein, barfuß und im Nachthemd, als der neue Nachbar von der Spätschicht nach Hause kam: Da! Hab ich dich! Du bist also der Tschech, der mich hier vertreiben will! Sie griff ihn an mit dem Besen. Wo kam auf einmal diese Wut her, fragte er sich. Woher diese Kraft?

Büchsen machte sie nicht mehr auf. Wurst, Käse, alles, was er ihr gebracht hatte, gab sie den Katzen. Selbst die Astronautennahrung vom Pflegedienst. Einzig den Pudding aß sie noch, und wenn die Becher leer waren, die Joghurts. Zwanzig Mal Pudding, zwanzig Mal Joghurt, so viel passte in den Kühlschrank. Berlin–Fulda–Berlin, fünfhundert Kilometer, Freitag auf Sonntag. Einkauf, Kochen, Wäsche. Opas Grab. Und zuletzt, nur noch, heiße Milch mit Honig. Ein paar Löffel Suppe. Wenn es gut ging, ein Stück Huhn. Der Kampf um die Medizin. Ach, ich hab doch schon so viele Tabletten genommen in meinem Leben. Ja, Omi, aber diese noch – Nein!

Wiederholt rief das Haus am Frauenberg an. Jawohl, renitent, nicht mehr führbar. Sie rammt mit dem Gehwagen die Türen der Heimbewohner und beschimpft uns ständig. Gefährlich. Untragbar. Da fällt das Wort: Psychiatrie. Das Wort, vor dem er Angst hat. Er hört die Großmutter argumentieren, im Hintergrund. Ich hab mir nie was zuschulden kommen lassen. Ich war immer anständig, sagt sie. Das geht nicht anders, sagt das Heim. Das geht nur so. Dort wird sie medikamentös eingestellt, dann kommt sie wieder zurück. Sie als Betreuer müssen zustimmen. Die Sanitäter sind schon da. Ich will nicht länger auf der Polizei bleiben, hört er Omi im Hintergrund. Ich will nach Hause.

Hatte er hier gerade sein Einverständnis gegeben, seine eigene Großmutter bis auf Weiteres in die Psychiatrie der Städtischen Kliniken Fulda einzuliefern? Hatte er soeben das Amtsgericht angerufen und die Richterin um Erlaubnis der Übersendung gebeten, das Ganze auch noch schriftlich formuliert und hinterhergeschickt? Ich hab mir nie was zuschulden kommen lassen. Nein, Omi, nie, und da war auch dieses Wort gefallen, Schuld.

Du bist schuld. Die Frage ist in uns. Vielleicht eine Folge der Erbsünde. Die Idee, bereits mit Schuld beladen auf die Welt zu kommen, ist eine grauenhafte Vorstellung. In der katholischen Lehre befreit die Taufe den Menschen von der Erbsünde, der Trennung von Gott. Genau genommen war er katholisch getauft. Omi wollte das so, und Mama hatte sich gefügt. Opa August, Omis zweiter Mann, wurde Pate. Aber Mama hatte das wieder rückgängig gemacht, ihn exkommunizieren und noch einmal evangelisch taufen lassen, als er zwei Jahre alt war, in der Zeit, in der sie protestierte gegen die Sünde und den Staat und austrat aus der katholischen Kirche. Aber Martin Luther hatte Holli nicht befreit, sondern seinen Zustand zementiert. Und der war für einen elfjährigen pummeligen Jungen alles andere als befriedigend gewesen. Holli Umsiedler war, schon sein Name schrie es heraus, kein Hiesiger. Bei der Ankunft des Aussiedlerzugs seiner Großmutter in Fulda, damals, nach der Hitlerzeit, schnatterten die drei Schwestern etwas von umsiedeln. Umsiedler, dieses Wort fiel an jeder Ecke. Und der städtische Beamte, der die Listen führte, schrieb, vielleicht aus Müdigkeit, vielleicht aus boshaftem Witz: Umsiedler, Maria, Erna und Hilde, Tochter Ingrid. Omi protestierte nicht. Sie liebte Obrigkeiten. So hießen sie fortan Umsiedler. Und da Mama zwar geheiratet hatte, aber Obrigkeiten leidenschaftlich hasste und unter gar keinen Umständen ihren Namen ändern wollte, hieß auch er Umsiedler. Seinen Vornamen hatte er einmal in seiner Geburtsurkunde gelesen, aber seit er klein war, nannte ihn seine Mutter Hollichen. Aus Hollichen wurde im Laufe der Zeit Holli, und als er zehn war, schien ihm die Kurzform seines ebenso bescheuerten Namens das kleinere Übel. Das hatte etwas von Hollywood, immerhin, und Mama drückte diesen Namen schließlich auch auf dem Standesamt durch. Den Fuldaern war so etwas schwer beizubringen. Zudem waren seine Eltern geschieden. Er selbst lebte nicht einmal bei seinen Eltern, er lebte bei seinen Großeltern. Das ging auch gar nicht anders, weil sein Vater tot war. Und Mama wurde Kriminalkommissarin in München, eine der ersten Frauen in diesem Beruf. Das war alles in allem zu viel für die Phantasie zehn- und elfjähriger Jungen im Dorf Edelzell nahe Fulda im Jahr 1972. Das war selbst zu viel für die Phantasie der Eltern und Lehrer.

Jesus ist am Kreuz für die Vergebung deiner Schuld gestorben, sagte Martin Luther in Gestalt von Mathemüller, der im Bistum Fulda mangels Planstelle auch Religionslehrer war. Da ist ein dreiunddreißigjähriger aramäischer Jude vor 1939 Jahren an einem sechstausend Kilometer entfernten Ort an einem römischen Kreuz unter schlimmster Folter gestorben, um seine Schuld auf sich zu nehmen? Wie konnte der Aramäer von einem Quintaner am Fuldaer Freiherr-vom-Stein-Gymnasium wissen? Eine nicht zu überbietende Dramatik. Mathemüller, ein ergrauter, drahtiger kleiner Kerl mit Kassengestell, der die sieben von der Sexta bis zur Untersekunda verstreuten Lutherzipfel dienstagnachmittags unterrichtete, griente. Gegen Monsignore Krieg, diesen Prälaten aus dem Mesozoikum, hatte er keine Chance. Seit Anbeginn der Zeit wachte der strenge Blick des geschorenen Quadratschädels auf seinem trapezförmigen Talar in jeder Pause über die Gottesfürchtigkeit am neusprachlichen Gymnasium. Mit Ausnahme der sieben Evangelischen. Auch Holli fürchtete ihn. Aber manchmal machte Mathemüller, zum Johlen aller Schüler, in der Pause zehn Klimmzüge an einer Laternenstange im Hof und hob jeden da hinauf, der es auch versuchen wollte. Dann wandte sich Monsignore Krieg mürrisch ab. Mathemüller weckte in Holli ein aufrichtiges Interesse an der Bibel. Omi war begeistert. Der Jung liest die Bibel. Jessesmarantjosef! Der Jung, das wird a mal ein Herr!

Für jemanden wie Holli Umsiedlers Omi, geboren in Alt-Moletein in Mähren, war Schuld ein Apodiktum. Das hatte sie weitergegeben an Mama und ihn. Eingetrichtert, gebadet hatte sie beide darin und gesäugt mit täglicher Litanei, während sie kochte, buk, wusch, damals, mit Mama unten in der klammen, kleinen Aussiedlerwohnung in der Frankfurter Straß, wie später in seiner Kindheit oben in der schönen hellen Erdgeschosswohnung mit Terrasse und Garten in Edelzell, in der ja zuvor der Generaldirektor der Gummiwerke mit seiner Frau gewohnt hatte. Sie war so stolz. Er hörte das ewig gemurmelte Zwiegespräch, das Kratzen der Borsten auf Holz und ihre Knie rutschen, weniger frömmelnd als unablässig Geschichten erzählend, die in seiner Vorstellung zu einem elegischen Gesang aus Tias und Heimat verschwammen. Er sah sie mit weißer Kittelschürze und hochrotem Kopf die Dielen mit der Handbürste schrubben; das cognacfarbene Parkett in Wohn- und Esszimmer, das Linoleum in der Küche, jeden Tag. Sie nutzte dabei stets das Abwasser der Waschmaschine, deren Schlauch sie in die Badewanne geleitet hatte, die gute Waschlauge, wie sie sagte. Sie bekam beim Schrubben Nasenbluten. Er hat den Geruch der guten Lauge, in die sie etwas Essig und kochendes Wasser mischte, noch in Erinnerung. In das murmelnde, einseifende Klagelied stieß sie dramaturgisch geschickt lautpoetische Aufschreie hinein, Jessesmarantjosef! Heiliggewitternochamal! – ein Stöhnen, Seufzen, dann hob sie plötzlich wie dem Himmel drohend die Bürste: »Weh! Weh dir! Komm du mir a mal nach Haus!«

Ihre Geschichten zeichneten klar umrissene Bilder von Schuld. Diese Bilder hatten er und seine Mutter verinnerlicht wie ihre Markklößchensuppe und das tägliche Brot. Wir sind schlecht, dachte er. Von der ersten Minute an alle schlecht gewesen, Mama, Opa, er, du bist schuld. Später erst fand er heraus, dass auch Mama die Bibel gelesen hatte. Und zwar von vorn bis hinten unten in der Frankfurter Straß, aber da war Omi gar nicht begeistert gewesen. Mama sollte doch waschen, kochen und backen. Marantjosef.

Wählt er hier wirklich gerade die Nummer der Psychiatrie Station 3 Ost der Städtischen Kliniken Fulda?

Nein, das ist heute nicht mehr so schlimm. Die werden heute nicht mehr in Zwangsjacken gesteckt und in ein dunkles Loch geworfen. Nein, Omi. Das ist heute hell und freundlich. Das ist modern und human, und nein, Ihre Großmutter wird nicht zugedopt. Ihre Großmutter bekommt ein Medikament, das ihr die Angst nimmt, sagt der Stationsarzt. Achtzig Prozent der Patienten einer Psychiatrie bestehen heute aus Demenzkranken, sagt Mamas Freundin, die in einer Psychiatrie arbeitet. Sie bekomme lediglich ein Medikament, das ihr die Angst nehme, den Verfolgungswahn, der aus der Krankheit resultiere. Achtzig Prozent. So ist das mit die alten Weiber, da kannst nix machen, sagt Omi am Telefon.

4.

Ein Medikament, das ihr die Angst nimmt? Die Nachtschwester im Haus am Frauenberg schüttelte den Kopf. So was gibt’s nicht. So was kenn ich nicht. Sie kramte einen Ordner hervor, Pit schlich um ihre Beine. Göbel, Maria. Pipamperon. Ein Beruhigungsmittel ist das, in Tropfenform. Eine lächerliche Dosis, sagte die Nachtschwester. Fünf Milligramm morgens, fünf abends, da gibt’s ganz andere, die kriegen dreimal am Tag zwanzig. Pit sah auf. Holli Umsiedler seufzte, und sie nahmen den Aufzug, D wie Dach.

Omi strahlte. Wie ein Mädchen, ihre kleinen grauen Augen. Sie war ganz wach, ganz da und wieder im Zimmer im Haus am Frauenberg, auch wenn sie nur noch Haut und Knochen war und so klein. Sie konnte sich an nichts erinnern. An keine psychiatrische Station, keinen Arzt, kein Telefonat. Sie saßen auf dem Bett, Hand in Hand, in ihrem Zimmer unter dem Dach. Der Sheltie hechelte und wedelte mit dem Schwanz. Das war ein schöner Augenblick. Das ist ein schöner Schrank, sagte sie. Sie war sehr fröhlich und deutete auf den Biedermeierschrank in ihrem Zimmer.

»Den nimmst du dir mal, ja?«

»Ja, Omi, klar. Aber der gehört doch dem Heim.«

Sie sah ihn an.

»Was für ein Heim?«

Die Abendglocken läuteten in sein Zimmer hinein. Das alte, kaputte Bett, die Nähmaschine, Stoffreste, Kartons und Kinderzeichnungen; wenn irgendwo auf der Welt die Abendglocken herüberläuteten, war Holli in diesem Kinderzimmer und dachte daran, wie er sich mit zwanzig Pfennig am Boden der Blechkanne auf den Weg zum Milchhof machte. Pit bellte. Holli nahm seine Sachen vom Bett. Unfall vor dem Kirchheimer Dreieck. Danach glatt durch.

»Wo bist du denn?«

»Wieder in Berlin, Omi.«

»In Berlin?«

»Ja, Omi. Ich wohne dort, schon so lange, das weißt du doch.«

»In Berlin?«

Wiederholt rief er im Heim an. Jawohl, besser, ihr Zustand, aber fortschreitend, die Demenz, sagten die Schwestern. Sie jammere. Sie wolle nach Hause. Sprechen könne er sie nur, wenn sie unten im Speisesaal sitze. Oben unterm Dach, wo ihr Zimmer am Ende des Flurs lag, gebe es kein Telefon. Am Abend erreichte er sie im Saal.

»Ja, gut, ich bin ja jetzt in Maberzell, im Ausflugslokal«, sagte Omi.

»In Maberzell?«

»Ja, Maberzell. Mit dem Radfahrverein«, sagte sie. »Weißt du doch. Wir sind hier mit dem Radfahrverein, alle sind da, in Maberzell in der Wirtschaft. Ich weiß nur nicht, wo der August steckt und wie ich werd heimkommen.«

Wie kam sie bloß auf Maberzell?