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   CLEMENS G. ARVAY MARIYA BEER– DAS BIOPHILIA TRAINING– Fitnesscenter Wald– edition a

Hinweis: Da Sportratgeber ein besonders hohes Maß an Übersichtlichkeit und Lesbarkeit beanspruchen, wurde beim Verfassen des vorliegenden Buches auf geschlechtsneutrale Formulierungen verzichtet. Sofern es aus dem Kontext nicht anders hervorgeht, sind stets Frauen sowie Männer gleichermaßen gemeint und angesprochen.

 

Clemens G. Arvay, Mariya Beer:
Das Biophilia-Training

Alle Rechte vorbehalten
© 2016 edition a, Wien
www.edition-a.at

Redaktion und Lektorat: Elena Höbarth
Cover und Gestaltung: Jaehee Lee
Fotograf: Michael Baumgartner

ISBN 978-3-99001-184-3

Inhalt

 

Vorwort

Der Biophilia-Effekt

Biophilia für Harte

Sport mit Baum-Aroma

Die Natur als Mental-Trainerin

Eis und Schnee? Kein Problem!

Anti-Stress-Training mit Biophilia-Effekt

Biophilia – Die Macht des Unbewussten

Geben und Nehmen

Auf den Punkt gebracht

Einige Hinweise für das Biophilia-Training

Aufwärmen

Das Lauf-ABC

Ganzkörperatmung im Wald

Die Atmosphäre des Waldes einsammeln

Den Himmel auf den Schultern tragen

Mobilisieren

Halswirbelsäule lockern

Arme drehen aus dem Schultergelenk

Schultern kreisen

Ellenbogen kreisen

Handgelenke lockern

Die Brustwirbelsäule mobilisieren

Hüfte mobilisieren

Knie- und Sprunggelenke

Bein und Gesäß

Kniebeuge

Kniebeuge mit einem Ast

Sumo-Kniebeuge

Ausfallschritt

Tree-Sit

Skater

Oberkörper und Rumpf

Schräges Rudern

Klimmzüge

Unterarmstütze

Bergsteiger

Liegestütz

Trizeps

Handstand mit Beinstütze

Hängendes Knieheben

Ganzkörper

Burpee

Standwaage

Einbeinstand

Step-Ups

Sprünge

Schulterbrücke

Statische Ganzkörperübung

Entspannen und Dehnen

Strecken und Toe-Touch

Toe-Touch für Menschen mit Rückenproblemen

Dehnungsübungen

Halswirbelsäule

Brust

Oberrücken

Bizeps

Trizeps

Schulter

Brustwirbelsäule

Seitlicher Rücken

Hüfte

Oberschenkel

Wade

Rückwärtige Kette

Quellenverzeichnis

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»Mein Körper muss in Bewegung sein, wenn es mein Geist sein soll.«1
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778)

Natur statt Fitness-Studio

Vorwort von Clemens G. Arvay

Die professionelle Mountainbikerin und frühere Abfahrtsläuferin Tina Vindum aus den Vereinigten Staaten von Amerika erinnert sich noch deutlich an die Zeit, in der sich ihre Einstellung gegenüber dem Training radikal veränderte. Wie andere Spitzensportler hatte sie viele Jahre ihres Lebens in Fitness-Studios verbracht: »Mit der Zeit frustrierten mich diese Räume voll mit unbeweglichen Fahrrädern und Laufbändern, Kraftgeräten und fluoreszierendem Licht. Mein Körper und mein Geist fühlten sich in dieser monotonen, sauerstoffarmen Umgebung wie betäubt an. Durch die Gewöhnung meiner Muskeln an die sich ständig wiederholenden Übungen an Standardgeräten hatte ich ein Plateau erreicht, sodass ich meine Leistung nicht mehr steigern konnte.«

Vindum blickt in ihrem Buch »Outdoor Fitness« auf ein einschneidendes Erlebnis zurück, das ihr über das Tief hinweghalf: »Eines Tages ertappte ich mich dabei, wie ich während einer langweiligen Trainingseinheit aus dem Fenster auf die majestätischen Berge der Sierra Nevada starrte und mich eingesperrt und bedrückt fühlte. Draußen bedeckten die Blätter den Boden. Der Wind wehte scharf und kalt. Wie ein Kind, das im Klassenzimmer eingesperrt ist, sehnte ich mich nach dieser Freiheit vor dem Fenster.« Die Sportlerin gab ihrem Drang nach und lief im Slalom durch den Herbstwald, wobei sie der schwierige, unebene Waldboden anspornte. An Baumstämmen, starken Ästen sowie auf Felsen führte sie Kraftübungen aus. Seither, so berichtet Tina Vindum, seien Fitnessgeräte für sie Vergangenheit und ihre Leistung sei im Vergleich zum Indoor-Training enorm angestiegen.2

Vollziehen wir einen Ortswechsel von der Sierra Nevada in die österreichische Wachau. Mit dem Mount Whitney aus den Sierras, der es auf mehr als 4400 Meter Seehöhe bringt, können die Erhebungen der Wachau zwar nicht mithalten, aber es handelt sich dennoch um eine landschaftlich reizvolle Region entlang der Donau und sie stellt mein derzeitiges Zuhause dar. Hier gibt es ausgedehnte Waldgebiete, urtümliche Weingärten und die Wachauer Marille, eine schmackhafte Aprikose, die auf der ganzen Welt bekannt ist und in unserer Region an den sonnendurchfluteten Berghängen besonders süß wird.

Die Felsen der Wachau fallen steil zur Donau ab. Sie gehören zu den wichtigsten Fixpunkten meines Sportlebens, weil sie mich zu Höchstleistungen beim Geländelauf motivieren. Auf einem Laufoand im Fitness-Studio oder im Sattel eines Hometrainers wird mir schon nach einer Viertelstunde langweilig. Laufen oder Radfahren, ohne dabei vom Fleck zu kommen, löscht jeden Funken Motivation in mir aus. Hingegen spornen mich die Felsen der Wachau zum Durchhalten an. Sie lassen die Zeit wie im Flug vergehen.

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Die größte Motivation, den Anstieg durchzuhalten, ist der Ausblick, der mich am Gipfel erwartet.

Die Landschaft ist vielfältig und birgt so viele Überraschungen, dass ich gar nicht auf die Idee komme, vorzeitig umzukehren. Was erwartet mich hinter der nächsten Wegbiegung? Wie sieht es hinter diesem Felsen aus? Und auf jenem Plateau bin ich noch nie gewesen, also nichts wie hin! Die Entdeckungslust in der Natur lässt mich bis an meine Grenzen gehen. Sport mit Naturkulisse kostet mich viel weniger Mühe als Sport im Fitness-Studio. »Meine« Berge in der Wachau bieten versteckte Pfade und unzählige mögliche Routen, sodass sie mich auch in vielen Jahren nicht langweilen werden. Es gibt immer etwas zu entdecken. Der Geländelauf führt mich durch karge, mediterran wirkende Wälder mit knorrigen alten Eichen und Kiefern, und über nackten Fels. Je nach Lust und Laune kann ich auf Wegen und Trampelpfaden bleiben oder zwischendurch an Felswänden emporklettern, um meine gesamte Körpermuskulatur zu aktivieren. Die größte Motivation, den Anstieg durchzuhalten, ist der Ausblick, der mich am Gipfel erwartet. Die Felsen belohnen mich dort mit dem sensationellen Panorama der Wachau.

Aus der Perspektive eines Vogels blicke ich auf die imposante Donau, die sich wie eine gigantische Schlange durch die Landschaft windet und im Laufe der Erdgeschichte an beiden Ufern sogar Sandstrände entstehen ließ. Diese gehören im Sommer zu meinem Outdoor-Fitness-Studio, denn das Schwimmen rundet mein Ganzkörpertraining ab und ist eine Wohltat für meine Rückenmuskulatur. Oft fahre ich am Radweg entlang der Donau bis zu den Felsen, dann ist es ein Triathlon mit Radfahren, Laufen und Schwimmen. Kein Fitness-Studio der Welt würde mich so sehr zu Sport motivieren, wie es die Natur mit ihren inspirierenden Landschaften vermag.

Biophilia-Training ist Abenteuer. Wenn die Zeit für einen Ausflug zu den Felsen nicht reicht, mache ich mich zum Waldlauf rund um meinen Wohnort auf. Nicht weit von dort liegt ein idyllischer Waldsee, der aus einem Altarm der Donau entstanden ist. An dem See befindet sich ein natürlich gewachsenes Trainingsgerät. Ein alter, durch das Wasser abgeschliffener und konservierter Baumstamm liegt dort im Uferbereich des Sees. Er erstreckt sich vom Waldrand etwa zehn Meter ins Wasser und eignet sich durch seine hohe Stabilität zum Balancieren und Klettern. Ich nutze ihn, um Klimmzüge zu machen. Ein paar Enten sind immer dabei und feuern mich durch ihr Schnattern an.3 In den Wäldern rund um mein Haus entstanden die meisten Fotos aus diesem Buch. So wie damals, als Tina Vindum aus dem Fitness-Studio hinaus in die Wildnis der Sierra Nevada lief, war es auch bei uns gerade Herbst, als Mariya Beer, unser Fotograf Michael Baumgartner und ich zum Biophilia-Training in die Wälder der Wachau auforachen.

An diesem nebeligen Tag, an dem sich uns die Natur von ihrer wilden Seite zeigte, sollte ich noch viel Neues lernen. Wir befanden uns in einem mir sehr vertrauten Wald, durch den ich schon hunderte Male gelaufen und mit dem Rad gefahren war. Ich war überzeugt davon, die sportlichen Potenziale meiner Umgebung bereits zur Gänze zu kennen. Doch Mariya öffnete mir mit ihrem erfahrenen Blick als Fitness-Trainerin an diesem Tag die Augen für die vielen, von mir bislang ungenutzten Möglichkeiten des Waldes. Ein Baumstamm, der durch einen Sturm umgefallen war und zwischen zwei standfesten Bäumen eingeklemmt wurde, diente uns als »Gerät« für verschiedene Kraftübungen, für die Sie in diesem Buch die Anleitungen finden. Seltsam, zuvor war ich an diesem Baumstamm immer achtlos vorbeigelaufen. Seit unserem Fototermin ist er aber ein fixer Bestandteil meiner Waldläufe. In diesem Buch werden wir Sie an den Erkenntnissen teilhaben lassen, die wir während unserer Trainingseinheiten in der Natur gewonnen haben. Liegende Baumstämme eignen sich hervorragend für Kraftübungen, für Ausdauertraining und für Geschicklichkeitsübungen, die auch Freude bereiten. Herumliegende Äste und Teile von Stämmen sind nicht nur Kennzeichen eines ökologisch intakten Waldes, sondern stehen für viele verschiedene Übungen zur Verfügung, mit denen wir unser Muskelkorsett so richtig in Gang setzen und unsere Haltung verbessern können.

Der Wald ist ein natürlicher Physiotherapeut. Seit ich meine Liegestütze auf Felsen mache, fühlen sie sich auf herkömmlichen Unterlagen nicht mehr »richtig« an. Einmal hatte ich mir vorgenommen, zum Biophilia-Training in den Wald zu laufen, als das Wetter unerwartet schlecht wurde. Ich war etwas krank und zunächst war ich unsicher, ob ich mich bei so unwirtlichem Wetter mit Halsschmerzen und Schnupfen auf den Sport im Wald einlassen sollte. Ich tat es.

Und siehe da: Ganz anders als befürchtet, wurde meine Verkühlung im Laufe des Tages nicht stärker, sondern es ging mir nach ein paar Stunden im Wald immer besser. Ich war beeindruckt von der Wirkung, welche die Waldluft auf mich ausübte. Nach getaner Arbeit fühlte ich mich deutlich besser als davor. Wie Sie später in diesem Buch noch ausführlich erfahren werden, enthält die Waldluft bioaktive Pflanzenstoffe, die nachweislich unser Immunsystem stärken und uns sogar vor Krebs schützen. Die Bäume im Wald unterstützen zahlreiche unserer Körperfunktionen und halten uns gesund. Der Wald ist aber nicht nur Arzt und Physiotherapeut, er ist auch Psychotherapeut. Wissenschaftler konnten nachweisen, dass Sport in der Natur sogar gegen psychische Störungen wirkt und unser Sozialleben verbessert. An die gesundheitsfördernde Wirkung der Natur kommt kein Fitness-Studio heran.

Wir werden in diesem Buch auch zeigen, dass Eis und Schnee kein Grund sind, auf das Biophilia-Training in der Natur zu verzichten. Sport im Wald ist zu jeder Jahreszeit auf komfortable Weise möglich und steigert von Jänner bis Dezember unsere sportlichen Leistungen sowie unsere Gesundheitskräfte.

Mariya Beer war bei der Arbeit an diesem Buch überwiegend für die Konzeption der Übungen verantwortlich und brachte sich mit ihrem fundierten Wissen über das Training in der Natur ein. Meine Beiträge als Biologe finden sich vor allem in den Abschnitten wieder, in denen es um die körperlichen und psychologischen Wirkungen der Pflanzen und Landschaften auf den menschlichen Organismus geht.

Das Biophilia-Training ist der Weg zur Traumfigur und zur sportlichen Höchstleistung mithilfe des Waldes. Ich wünsche Ihnen viel Freude mit diesem Buch.

Clemens G. Arvay

Krems an der Donau, 31. Jänner 2016, unmittelbar nach einem winterlichen Waldlauf

Der Biophilia-Effekt

Sport im Wald ist Sport »zuhause«

Wenn Ihnen der Aufenthalt in der Natur ein gutes Gefühl verschafft, dann ist es Ihre Biophilia, die Sie spüren. Das ist die Verbindung, das heilsame Band, zwischen Mensch und Natur, das sich im Laufe der Evolution in uns entwickelt hat. Das wusste schon Erich Fromm, der große deutsch-amerikanische Psychoanalytiker (1900 bis 1980).

Er sprach von den »biophilen Kräften« tief in der menschlichen Psyche, die sich nach den Lebens- und Wachstumsprozessen der Natur sehnen.4 Fromm ging davon aus, dass uns die Biophilia gesund erhält und seelisch ausgleicht, sofern wir ihr durch Kontakt zur Natur Raum geben. In den frühen Achtzigerjahren, nach Erich Fromms Tod, übernahm der in Fachkreisen weltweit renommierte Professor Edward Wilson an der Harvard University den Begriff in die Evolutionsbiologie und setzte die »Biophilia-Hypothese« in die Welt. Diese besagt, dass die Liebe zur Natur genetisch in uns angelegt ist. Als die Spitzensportlerin Tina Vindum aus dem Fenster des Fitness-Studios blickte und ihrem Drang nach draußen nicht mehr widerstehen konnte, war es die Biophilia, von der sie angetrieben wurde. In Vindums öffentlichem Lebenslauf erfahren wir, dass sie in den »atemberaubenden Bergen der Sierra Nevada« aufwuchs. »Es ist kein Wunder«, heißt es weiter, »dass sie eine solche Leidenschaft für Outdoor-Sport entwickelte.« 5

Aus zahlreichen wissenschaftlichen Studien wissen wir, dass die Biophilia aber in fast allen Menschen wirkt und nicht nur in jenen, die im Grünen aufgewachsen sind oder, so wie Tina Vindum, sogar in einem Naturschutzgebiet. Nur sehr wenige von uns behaupten über sich selbst, keine Begeisterung für die Natur zu empfinden. Das Phänomen »Biophobia«, also das Gegenteil der Biophilia und somit die Ablehnung von Naturkontakt, taucht in umweltpsychologischen Umfragen nur selten auf. Obwohl unser gesellschaftliches Verhalten alles andere als naturfreundlich ist, bezeichnet sich fast niemand als »Naturhasser«. Ein prominenter Biophobiker ist der US-amerikanische Schauspieler, Filmemacher und Komödiant Woody Allen. Nach eigenen Angaben meidet er jeglichen körperlichen und sozialen Kontakt zu Tieren und Pflanzen und würde auch nie in einem natürlichen See schwimmen, »weil dort lebende Dinge drin sind«. Woody Allen bezeichnete New York City als das für ihn genau richtige Maß an Natur. Mehr Wildnis wolle er nicht.6

Auch wenn immer wieder über Menschen berichtet wird, für die von den Pflanzen und Tieren, den Flüssen und Seen, den Bergen und Wäldern nichts Reizvolles ausgehen soll, sind wir (die Autoren dieses Buches) in der Realität noch nie einem Menschen begegnet, der so wie Woody Allen über sich gesagt hätte, die Natur ließe ihn völlig kalt und er meide jeden Kontakt zu ihr. Unsere Erfahrungen aus Gesprächen mit Menschen lehrten uns vielmehr, dass die Natur für fast jeden von uns mit positiven Gefühlen verbunden ist, ganz egal, ob wir gebildet oder weniger gebildet sind, alt oder jung, reich oder arm. Uns ist noch kein bekennender Biophobiker begegnet – schon gar nicht unter Sportlern.

Professor Wilsons »Biophilia-Hypothese« dürfte also auf die meisten von uns zutreffen. Das Band zwischen Mensch und Natur ist uns in die Wiege gelegt. Ein Blick auf unsere Evolutionsgeschichte macht deutlich, dass es eher verwunderlich wäre, wenn das nicht so wäre. Zehntausende, ja sogar hunderttausende Jahre lang lebten unserer Vorfahren in Wäldern und in der afrikanischen Savanne. In der Savanne vollzog sich sogar der Übergang vom Homo erectus zum Homo sapiens. Die Natur, aus der wir entstammen, hat unmittelbar mit unserer Identität als Menschen zu tun. Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass wir modernen Menschen noch immer eine unbewusste Vorliebe für Savannenbäume haben. Diese Baumformen gefallen uns am besten, wenn wir Bäume spontan nach ihrem Aussehen und nach ihrer Wirkung auf uns beurteilen. Unsere intuitive Verbindung mit den Savannenbäumen haben Wissenschaftler an Menschen überall auf der Erde festgestellt, ganz egal, ob diese in einer Großstadt oder am Land aufgewachsen waren. Die Umwelt unserer Vorfahren ist etwas Vertrautes für den Homo sapiens. Unsere Biophilia ist ein Ergebnis der Evolution. Für die Qualitäten der Natur als Physiotherapeutin ist vor allem unsere körperliche Verbindung zum natürlichen Erdboden ausschlaggebend.

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