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Horizonte der Psychiatrie und Psychotherapie – Karl Jaspers-Bibliothek

Herausgegeben von Matthias Bormuth, Andreas Heinz und Markus Jäger

Übersicht über die bereits erschienenen Bände:

•  Jäger, Markus:
»Konzepte der Psychopathologie. Von Karl Jaspers zu den Ansätzen des 21. Jahrhunderts«
(978-3-17-029780-7)

•  Heinz, Andreas:
»Psychische Gesundheit. Begriff und Konzepte«
(978-3-17-029936-8)

In Vorbereitung:

•  Wedler, Hans:
»Suizid kontrovers. Wahrnehmungen in Medizin und Gesellschaft«
(978-3-17-031046-9)

Andreas Heinz

Psychische Gesundheit

Begriffe und Konzepte

Verlag W. Kohlhammer

Für Friedrich Buonarroti

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1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-029936-8

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-029937-5

epub:    ISBN 978-3-17-029938-2

mobi:    ISBN 978-3-17-029939-9

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Vorwort zur Reihe

 

 

 

 

Psychiatrie und Psychotherapie nehmen im Kanon der medizinischen Fächer eine besondere Stellung ein, sind sie doch gleichermaßen auf natur- wie kulturwissenschaftliche Methoden und Konzepte angewiesen. Bereits vor hundert Jahren wies der Arzt und Philosoph Karl Jaspers darauf hin, dass man sich im psychopathologischen Zugang zum Menschen nicht auf eine einzige umfassende Theorie stützen könne. So warnte er entsprechend vor einseitigen Perspektiven einer Hirn- bzw. Psychomythologie. Viel mehr forderte Jaspers dazu auf, die verschiedenen möglichen Zugangswege begrifflich scharf zu fassen und einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Diese Mahnung zur kritischen Pluralität gilt heute ebenso, werden sowohl auf neurobiologischem als auch auf psychotherapeutischem bzw. sozialpsychiatrischem Gebiet nicht selten dogmatische Positionen vertreten, ohne dass andere Sichtweisen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ausreichend berücksichtigt würden.

Die Reihe »Horizonte der Psychiatrie und Psychotherapie – Karl Jaspers-Bibliothek« möchte die vielfältigen Zugangswege zum psychisch kranken Menschen in knappen Überblicken prägnant darstellen und die aktuelle Bedeutung der verschiedenen Ansätze für das psychiatrisch-psychotherapeutische Denken und Handeln aufzeigen. Dabei können viele Probleme im diagnostischen und therapeutischen Umgang mit den Menschen nur vor dem Hintergrund der zugrundeliegenden historischen Konzepte verstanden werden. Die »Karl Jaspers-Bibliothek « möchte den Leser dazu anregen, in solch pluralistischer und historisch weiter Horizontbildung den drängenden Fragen in Psychiatrie und Psychotherapie nachzugehen, wie sie die einzelnen Bandautoren entfalten werden. Ziel der Reihe ist hierbei auch, ein tieferes Bewusstsein für die begrifflichen Grundlagen unseres Wissens vom psychisch kranken Menschen zu entwickeln.

Oldenburg/Berlin/Günzburg

Matthias Bormuth, Andreas Heinz, Markus Jäger

Inhalt

 

 

 

 

  1. Vorwort zur Reihe
  2. Vorwort
  3. Einführende Übersicht
  4. 1 Der Begriff psychischer Krankheit
  5. 1.1 Einführung
  6. 1.2 Psychische Krankheit als Störung arttypischer Funktionen
  7. 1.3 Die Definition von Krankheit als wertsetzender Akt
  8. 1.4 Psychische Krankheit als definierter Hirnzustand
  9. 1.5 Psychische Krankheit als Leid ohne äußere Ursache
  10. 1.6 Psychische Krankheit als Verlust der Willensfreiheit
  11. 1.7 Zusammenfassung
  12. 1.8 Der Begriff psychischer Krankheit in seiner Anwendung auf einzelne Krankheitsbilder
  13. 1.9 Von der Kontrastierung unterschiedlicher Krankheitskonzepte zur Kombination medizinischer und lebensweltlicher Aspekte
  14. 2 Psychische Krankheit versus psychische Gesundheit
  15. 2.1 Einführung
  16. 2.2 Psychische Gesundheit als Ziel psychoanalytischer Therapie
  17. 2.3 Psychische Gesundheit als Ziel der Gesprächspsychotherapie
  18. 2.4 Das Krankheitsmodell der Verhaltenspsychologie und ihre Therapieziele
  19. 2.5 Zusammenfassung
  20. 2.6 Die Stressbewältigung stärkenden Verhaltensweisen und ihre Bedeutung für die seelische Gesundheit
  21. Einführung
  22. Kraemer und Schickors Untersuchung der Stressbewältigung schizophrener Patienten
  23. Tarriers Untersuchung der Bedeutung eines systematischen Trainings im Problemlösen auf die Symptomatik schizophrener Patienten
  24. Wheatons Untersuchung des Einflusses kultureller Faktoren auf depressive Symptombildung
  25. Zusammenfassung
  26. 3 Kriterien seelischer Gesundheit
  27. 3.1 Vielfältiges und flexibles Verhalten als Kriterium seelischer Gesundheit
  28. 3.2 Selbstvertrauen versus Entfremdung
  29. 3.3 Einfühlendes Verstehen – Nachempfinden – Akzeptanz
  30. Einfühlung versus Mitleid
  31. 3.4 Zusammenfassung und Ausblick
  32. Literatur
  33. Sachregister
  34. Personenregister

Vorwort

 

 

 

 

Die Frage nach der psychischen Gesundheit, so die These des vorliegenden Bandes, geht über die Abwesenheit von Krankheit hinaus und zielt – wie die viel zitierte Definition der Weltgesundheitsorganisation (1946) – auf das Wohl der Menschen. Das zentrale Argument, das in dem hier vorgelegten Ansatz diese Unterscheidung stützen soll, lautet, dass ein Mensch, der unter unmenschlichen Bedingungen seine soziale Rolle erfüllt und nicht erkrankt, deswegen nicht notwendigerweise als gesund gelten kann. Wenn von zwei Menschen, die in einem Konzentrationslager ihre Tätigkeit verrichten, der eine depressiv wird, mag er an einer Erkrankung leiden, trotzdem erfüllt der andere, der solche psychischen Reaktion nicht zeigt, offenkundig nicht die Kriterien eines Zustands der Gesundheit, der als »vollständiges körperliches, geistiges und soziales Wohlergehen« definiert wird.1

Die Auffassung, dass Gesundheit mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit, teilen auch andere Autoren.2 Aber wie sollen diese über die Abwesenheit von Krankheit hinausgehenden Aspekte körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens angesichts der Diversität der Menschen und ihrer Lebensformen definiert werden? Der hier vorliegende Ansatz, der in wesentlichen Teilen auf eine unveröffentlichte Magisterarbeit aus dem Jahr 1994 zurückgeht, basiert auf der Annahme, dass die Auseinandersetzung über die Definition von Krankheit und Gesundheit immer in einem Kontext stattfindet, der durch die vielfältigen Artikulationen individueller und gemeinschaftlicher sozialer Kämpfe und Auseinandersetzungen gestaltet wurde und wird. Brechen an allen möglichen Stellen Widersprüche und Auseinandersetzungen um soziale Teilhabe und gesellschaftliche Anerkennung auf, lässt sich die Frage nach der psychischen Gesundheit nicht durch ein abschließendes »Bild des Menschen« beantworten. Helmuth Plessners »Homo absconditus«,3 sein Hinweis auf die Verborgenheit unserer menschlichen Natur, respektiert deshalb nicht nur die Grenzen unserer leiblichen und empirischen Erkenntnismöglichkeiten, sondern verweist zudem auf die Dynamik sozialer Auseinandersetzungen.

Soll psychische Gesundheit nicht in der Abwesenheit von Erkrankungen bestehen, müssen die Begriffe der seelischen Gesundheit und Krankheit eigenständig definiert werden. Deshalb beginnt der erste Teil des hier vorliegenden Buches mit einer (weitgehend aus dem Jahr 1994 stammenden) Übersicht über Theorien psychischer Krankheit. Dieser Teil soll hier im Vorwort ausführlicher erwähnt werden, um auf Differenzen und Übereinstimmungen mit der (späteren) Arbeit zum Begriff psychischer Krankheit hinweisen zu können: Wer sich bereits mit meiner 2014 erschienenen Schrift zum »Begriff psychischer Krankheit« auseinandergesetzt hat, findet im ersten Teil des vorliegenden Buches eine kurze Übersicht über die in der späteren Arbeit in anderen Kontexten diskutierten Theorien. Der Vergleich der Arbeiten von 1994 und 2014 zeigt, warum es so schwierig war, eine pragmatische Theorie zum »Begriff psychischer Krankheit«4 zu formulieren. So erscheint der Ansatz von Christopher Boorse, der mit seiner Definition psychischer Krankheit als »Störung überlebensrelevanter Funktionsfähigkeiten« von zentraler Bedeutung für die Arbeit von 2014 wurde, ohne kritische Reflexion und Einbettung in eine soziale Aspekte umfassende Theorie psychischer Krankheit als schlicht indiskutabel. Denn Boorse5 zählt die Reproduktionsfähigkeit zu den überlebensrelevanten Funktionen, versteht hierunter aber nicht einfach nur das physiologische Funktionieren der Geschlechtsorgane, sondern auch die sexuellen Präferenzen und ermöglicht so eine Pathologisierung der Homosexualität. Das führt zu einer Stigmatisierung frei gewählter Präferenzen erwachsener Menschen und geht weit über den Kompetenzbereich der Medizin hinaus, die sich um das Wohl der Einzelnen zu kümmern hat, nicht aber um die Frage, welche Zahl an Kindern in einer bestimmten gesellschaftlichen und historischen Konstellation bestimmten Interessen dienlich wäre. Historische Erfahrungen warnen, dass eine Medizin, die nicht den Perspektiven und dem Wohl der Einzelnen verpflichtet ist, sondern sich in den Dienst vermeintlich übergeordneter staatlicher oder gesellschaftlicher Interessen stellt, immer wieder zur organisierten Unmenschlichkeit beigetragen hat.

Ein weiterer Einwand gegen Boorse liegt in der für Mediziner und Psychologen enttäuschenden Vagheit dessen, was denn nun unter einer lebensrelevanten psychischen Funktionsfähigkeit verstanden werden könnte. Angesichts dieser Kritikpunkte am Ansatz von Christopher Boorse fokussierte der vorliegende Ansatz von 1994 auf die Thesen von Culver und Gert,6 die die Perspektive wechseln und die leidvolle Beeinträchtigung aus der Sicht der Betroffenen zum zentralen Kriterium einer Erkrankung erheben. An diesem Ansatz übte allerdings Thomas Schramme (2000) die berechtigte Kritik, dass hier eine falsche Objektivierung allgemein als leidvoll geltender Zustände betrieben und »individuelle Unterschiede in der Bewertung eines pathologischen Zustandes ignoriert« würden.7 Aus der klinischen Erfahrung wissen wir, dass es auch das umgekehrte Beispiel gibt, nämlich das Vorliegen eines die Lebensfähigkeit der betroffenen Person massiv beeinträchtigenden Zustandes, der dennoch nicht als leidvoll erfahren wird: man denke an Patienten mit Alzheimer-Demenz, die sich nicht mehr ernähren, waschen oder anziehen können, aber ihren Zustand nicht verstehen und darunter auch nicht leiden. Leidvolles Erleben kann also ein wesentliches Kennzeichen eines Krankheitszustandes sein, ohne dass es notwendigerweise vorliegen muss, wenn eine Erkrankung besteht.

Dies verweist erneut auf die Frage nach den lebensrelevanten Funktionsfähigkeiten, die in der Arbeit von 2014 zum notwendigen, aber nicht hinreichenden Kriterium psychischer Erkrankung erhoben wurden und zu denen zudem individuelles Leid oder eine massive Beeinträchtigung der sozialen Teilhabe hinzutreten müssen, um von einer klinisch relevanten Erkrankung sprechen zu können. Gilt die oben genannte Einschränkung, dass die Rede vom »Wesen der Menschen« immer nur Ausdruck einer bestimmten Konstellation sozialer Auseinandersetzungen und Kämpfe sein kann, dann musste an dieser Stelle eine »pragmatische Wende« erfolgen, die die medizinische Praxis einerseits ernst nimmt, sie aber andererseits einer kritischen Reflexion bezüglich ihrer Werte und Positionen zu zeitgenössischen Kämpfen um soziale Teilhabe unterzieht. Dementsprechend war der zentrale Ausgangspunkt der Arbeit zum »Begriff psychischer Krankheit« (Heinz, 2014) die Frage, welche Leitsymptome psychischer Erkrankungen als Beeinträchtigungen allgemein lebensrelevanter Funktionsfähigkeiten gelten können, die aber eben nur dann krankheitswertig sind, wenn sie für die betroffene Person schädlich sind, weil sie individuelles Leid oder eine massive Einschränkung der sozialen Teilhabe bewirken.

Die kritische Position Schrammes und die sich aus diesen Diskussionen ergebende Konzeption eines »Begriffs psychischer Krankheiten« werden im vorliegenden Band am Ende des ersten Teils in Kapitel 1.9 ausgeführt. An dieser Stelle des Vorworts soll aber bereits auf einige Fragen und kritische Stellungsnahmen eingegangen werden, die auf die Publikation des »Begriffs psychischer Krankheit« (2014) folgten und deren Besprechung den Zugang zum hier gewählten Ansatz erleichtern kann. Auf die Frage, warum keine einheitliche anthropologische Theorie entworfen wurde, aus der dann wesentliche psychische Funktionsfähigkeiten abgeleitet werden,8 deren Beeinträchtigung psychische Erkrankungen kennzeichnet, wurde bereits eingegangen: Die Diversität der Menschen und der sozialen Kämpfe, die unsere Artikulationen und Diskurse durchziehen, verbieten einen solchen monolithischen Ansatz.

Auch die Frage, warum denn überhaupt ein Vertreter einer herrschaftsfreien Gesellschaft, die sich aus freier Assoziation entwickeln soll, in der Arbeit zum »Begriff psychischer Krankheiten« zitiert wurde, erklärt sich in diesem Zusammenhang. Allerdings wurde der betreffende Autor, Peter Kropotkin, in der eilfertigen Kritik eines Wissens, das immer schon von vorneherein weiß, was es nicht wissen darf, um seinen herrschaftskonformen Status nicht zu gefährden,9 kurzerhand mit Bakunin verwechselt, einem weiteren russischen Anarchisten, der im »Begriff psychischer Krankheit« allerdings nur als Vertreter elitärer Geheimgesellschaften kritisiert wurde, deren Wirken in den von Albert Camus sogenannten »rationalen Terror« führen kann.10 Kropotkins These von der gegenseitigen Hilfe in der Tier- und Menschenwelt11 ist dagegen aus zwei Gründen zentral für den hier vorliegenden Ansatz: Zum einen versteht Kropotkin ähnlich wie Helmuth Plessner soziale Besonderheiten der Conditio humana wie eben die gegenseitige solidarische Hilfe und das Leben in der Mitwelt gerade nicht als lebensfremde Einschränkung vermeintlich natürlicher triebhafter Dispositionen »des Menschen«, sondern sieht sie als Ausdruck unserer Einbettung als Lebewesen in eine Natur, aus der heraus (ohne Hinzufügung eines Schelerschen Geistes oder einer Nietzscheanischen »Sklavenmoral«) ein Leben mit anderen ebenso möglich wie notwendig wird. Kropotkins Bedeutung liegt zum zweiten darin, dass er der Wissenschaft die Aufgabe stellte, die kopernikanische Wende zu vervielfachen und von der Konzeptualisierung unseres Sonnensystems, das eben nicht um die Erde, sondern um die Sonne kreise, in ein Verständnis unzähliger interaktiver Körper und Systeme überzugehen, die sich dezentralisiert in multiplen Konstellationen bewegen:

»So wird der Mittelpunkt, der Ursprung der Kraft, der [mit der kopernikanischen Wende] von der Erde auf die Sonne verlegt wurde, jetzt verteilt, dezentralisiert: er ist überall und nirgends. […] Die ganze Auffassung des Universums wechselt mit dieser neuen Anschauungsweise. Die Idee von der weltregierenden Kraft, deren vorbestimmtem Gesetz, der innewohnenden Materie schwindet, um jener Harmonie Platz zu machen, […] die nur die Resultante dieser zahllosen Schwärme von Materie sind, von denen jeder einzelne seinen Weg geht und die einander im Gleichgewicht halten.«12

Was Kropotkin damit beschwört, ist das Bild einer polytopen kosmischen und sozialen Organisation, in der es keinen Hauptwiderspruch und keinen endgültig zu findenden Zustand der Harmonie gibt, sondern ein Wechselspiel freier Assoziationen und Auseinandersetzungen, die zu immer neuen Konstellationen und Aufgaben führen. Gesellschaftsordnungen können gegenüber diesen dynamischen Kräften unterschiedlich flexibel sein, ihnen Raum geben oder sie unterdrücken, sie institutionalisieren und kanalisieren oder kreative neue Lösungen entstehen lassen.

Ein weiteres Missverständnis der Arbeit von 2014 rankt sich um die Frage, ob denn eine psychische Funktionsstörung von Krankheitsrelevanz einer organischen Verursachung oder zumindest eines organischen Korrelats bedarf.13 Im Alltag sind wir geneigt, immer dann von Erkrankung zu sprechen, wenn sich hinter den Symptomen ein definierbarer organischer Prozess verbirgt, wenn also beispielsweise Kopfschmerzen auf Hirndruck aufgrund eines Hirntumors zurückgeführt werden können. Bereits das Beispiel der Kopfschmerzen zeigt aber, wie irrig diese Annahme ist: denn natürlich haben auch Kopfschmerzen, die nicht durch einen Hirntumor verursacht werden, ein organisches Korrelat (beispielsweise eine Veränderung im Spannungszustand der Nackenmuskulatur oder im Tonus der Gefäße). Dasselbe gilt für psychische Funktionen: Je genauer unsere neurowissenschaftlichen Untersuchungsmethoden werden, desto deutlicher wird, dass jeder psychische Vorgang ein neurobiologisches Korrelat hat. Eine zentrale These der Arbeit zum »Begriff psychischer Krankheit« (2014) lautet, dass man diesen neurobiologischen Korrelaten nicht ansehen kann, ob sie pathologisch sind oder nicht – es ist die Bewertung der mit ihnen korrelierten Funktionsbeeinträchtigungen, die zur Krankheitsdiagnose führt. Hier wäre Widerspruch von Seiten der Medizin zu erwarten gewesen, denn man könnte ja postulieren, dass neurobiologische Befunde wie etwa die Zerstörung von Nervenzellen in fortgeschrittenen Stadien der Alzheimer-Demenz das klare Bild einer Organpathologie bieten und es keiner Bewertung der damit verbundenen kognitiven Beeinträchtigungen bedarf, um als Krankheit zählen zu können. Dem ist aber entgegenzuhalten, dass es eine Vielzahl von Alterungsvorgängen inklusive des Abbaus von Nervenzellen gibt, die im höheren Lebensalter, aber auch in anderen Lebensabschnitten wie z. B. im Rahmen der Pubertät und anderer Reifungsprozesse stattfinden, und dass es eben letztlich doch wieder nur die negativ bewerteten Folgen sind, die bei solchen Veränderungen von Krankheit sprechen lassen. Die negativ bewerteten Auswirkungen der organischen Befunde sind aber eben die Einschränkungen einer Funktionsfähigkeit, die für das Leben der Betroffenen wichtig ist. Angesichts der oben genannten Variabilität unserer Körper und der Diversität menschlicher Lebensformen lassen sich solche Definitionen allerdings immer nur pragmatisch in Hinblick auf ihre Plausibilität und ihre möglichen schädlichen Folgewirkungen diskutieren und nie abschließend festschreiben.

Man kann also fragen, ob die klassischen Leitsymptome psychischer Erkrankung im Sinne der Beeinträchtigung der Wachheit oder der Orientierung, der Auffassung und der Merkfähigkeit, der Zurechenbarkeit eigener Gedanken und Handlungen und der affektiven Schwingungsfähigkeit, wie sie in Kapitel 5 des »Begriffs psychischer Erkrankung«14 aufgeführt werden, als solche universell lebenswichtigen Funktionsfähigkeiten verstanden werden können. Dabei zeigt sich, dass ein Teil dieser Leitsymptome, und zwar diejenigen, die gemeinhin für die Diagnose der Delirien und Demenzen Verwendung finden, offenbar direkt für das Überleben der Menschen in unterschiedlichsten Kontexten relevant sind. So ist es schwer vorstellbar, dass eine in ihrer Wachheit oder Orientierung beeinträchtigte Person ohne ausgeprägt fremde Hilfe irgendwo auf der Welt nicht in ihrem Überleben gefährdet wäre. Die Leitsymptome der früher sogenannten endogenen Psychosen, also der schizophrenen Psychosen und schweren affektiven Erkrankungen, gefährden demgegenüber weniger das »nackte Überleben« als vielmehr das »Leben in der Mitwelt«. Die direkte Überlebensfähigkeit muss z. B. durch die Erfahrung, dass meine Gedanken von außen gesteuert werden oder dass ich nicht mehr trauern oder mich nicht mehr freuen kann, im Allgemeinen gar nicht beeinträchtigt sein. Was aber in solchen Zuständen beeinträchtigt wird, ist das Leben mit meinen Mitmenschen, beispielsweise weil diese sich nicht mehr darauf verlassen können, ob ich gerade aus eigenem Antrieb oder aufgrund der »eingegebenen« Gedanken oder akustischen Halluzinationen handele, oder weil der in der Manie oder Depression erstarrte Affekt es verunmöglicht, ansatzweise flexibel auf Veränderungen in den mitweltlichen Gegebenheiten (etwa einen Trauerfall oder ein freudiges Ereignis) zu reagieren. Hier zeigt sich, wie wichtig ein Verständnis des Menschen als Mitmenschen ist, das einerseits auf den sozialen Kontext verweist und andererseits genügend Spielraum für gesellschaftliche Dynamiken und Kämpfe lässt, um eine normative Fixierung auf einzelne Lebenswege und Haltungen zu vermeiden.

Für die Diagnose einer psychischen Erkrankung ist es also nicht notwendig, dass sich organische Korrelate der beeinträchtigten Funktionsfähigkeiten nachweisen lassen, solche körperlichen Befunde verweisen aber ebenso wie die Betonung der Mitwelt darauf, dass wir Menschen nicht ohne unsere leibliche Einbettung als Lebewesen unter anderen adäquat verstanden werden können. Soziale Auseinandersetzungen finden ihr Korrelat in neurobiologischen Prozessen und neurobiologische Prozesse beeinflussen unsere Erfahrungen und Handlungen. Im Dualismus gefangen lassen sich diese zwei Seiten ein und derselben Medaille nur in falscher Entgegensetzung konzeptualisieren, auch deshalb ist der Verweis auf Plessner und auf Kropotkin und deren durchaus divergente Versuche einer Einbettung der Menschen in ein freiheitliches Gesellschaftskonzept so wichtig.

Der zweite Teil der vorliegenden Arbeit, der sich dem Begriff psychischer Gesundheit widmet, soll hier nur kurz angesprochen werden. Da Gesundheit eigenständig definiert werden soll, die in der bisherigen Literatur diskutierten Kriterien psychischer Gesundheit aber je nach Welt- und Menschenbild erheblich variieren, vollzieht der vorliegende Text eine »pragmatische Wende«, verzichtet auf eine theoretische Konstruktion »des« Wohls »der« Menschen und vergleicht stattdessen die Ziele der im deutschen und angloamerikanischen Sprachraum vorherrschenden Psychotherapien (der Verhaltenstherapie, der Psychoanalyse und der Gesprächsführung nach Carl Rogers) bezüglich ihrer jeweils angestrebten therapeutischen Resultate. Diese werden dann in Hinblick darauf untersucht, ob sie dem Anspruch genügen, allgemein notwendige Voraussetzungen für die Ermöglichung der individuellen ebenso wie der sozialen Selbstverwirklichung der Menschen zu benennen, ohne allzu weitgehende inhaltliche Einschränkungen der damit möglichen Lebensgestaltung vorzugeben. Das Vorgehen zielt also auf einen Begriff psychischer Gesundheit, der auf die Möglichkeit eigenständiger Lebensgestaltung verweist, ohne sich dann zu erschöpfen (denn sonst könnt auch das Funktionieren in unmenschlicher Tätigkeit gesund genannt werden).

Der hier vorliegende Versuch einer Klärung der Begriffe psychischer Gesundheit und Krankheit soll dazu beitragen, einerseits die Einschränkungen durch Krankheit ernst zu nehmen und den Betroffenen denselben Schutz und dieselben Rechten zu gewähren, die alle anderen Menschen haben, die sich mit Erkrankungen unterschiedlichster Art im Gesundheitssystem bewegen. Andererseits orientieren sich die hier vorgeschlagenen Begriffe psychischer Gesundheit und Krankheit am Ziel einer freien Assoziation der Menschen, die in unterschiedlichen Konstellationen um ihre Inklusion, ihre gesellschaftliche Gleichstellung und ihre individuelle wie gemeinschaftliche Anerkennung kämpfen, deren Diversität zu respektieren ist und an deren Wünschen und Verletzlichkeiten sich jedes Gesundheitssystem und damit gerade auch das psychiatrische und psychotherapeutische ausrichten muss.

 

 

1    Weltgesundheitsorganisation (WHO/World Health Organisation): Constitution of the World Health Organisation. In: Official Records of the World Health Organisation 2, 1946, S. 100

2    Callahan, D.: Die Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation. In: Schramme, T. (Hrsg.): Krankheitstheorien. Berlin 2012, S. 191–204. vgl. auch Whitbeck, C.: Eine Theorie der Gesundheit, a.a.O., S. 205–222

3    Plessner, H.: Homo absconditus. In: Plessner, H.: Conditio humana. Frankfurt a.M., 2003, S. 353–366

4    Heinz, A.: Der Begriff psychischer Krankheit. Berlin, 2014

5    Boorse, C.: What a theory of mental health should be. Journal for the Theory of Social Behavior 6, 1976, S. 61–84

6    Culver, C., Gert, B.: Philosophy in Medicine. Conceptual and Ethical Issues in Medicine and Psychiatry. Oxford, 1982

7    Schramme, T.: Patienten und Personen. Zum Begriff der psychischen Krankheit. Frankfurt a.M., 2000, S. 164

8    Schmid, J.: Rezension zu Heinz, Andreas: Der Begriff der psychischen Krankheit. In: Zeitschrift für philosophische Literatur 3, Vol. 2, 2015, S. 41–48

9    Gehring, P.: Psychische Leiden. Therapiebedarf lässt sich immer anmelden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 6., 8. Januar 2015, S. 10

10  Heinz, A., 2014, a.a.O., Fußnote 67, S. 328

11  Kroptokin, P.: Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, Grafenau, 1989

12  Kroptokin, P.: Der Anarchismus: Seine Philosophie / Seine Ideale. In: Kroptokin, P.: Der Anarchismus. Siegen-Eiserfeld, 1983

13  vgl. Schmid, J., a.a.O.

14  Heinz, A., 2014, a.a.O., S. 123

Einführende Übersicht

 

 

 

 

»Gesundheit ist der Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens«, lautet die berühmte Aussage der WHO von 1946.15 Psychische Gesundheit erscheint somit als Versprechen eines geglückten Daseins am Horizont des alltäglichen Scheiterns und der gesellschaftlichen Begrenztheit des jeweils im Einzelnen gegebenen Lebens. Als normatives Ideal eignet sich der Begriff psychischer Gesundheit sowohl zum Gebrauch für eine Kritik der entfremdeten Verhältnisse als auch zum Missbrauch zum Zweck der Ausgrenzung und gegebenenfalls Vernichtung all jener, die seinen Anforderungen nicht entsprechen können oder wollen.16 Von daher sind die ethischen Implikationen eines wie auch immer postulierten Begriffs psychischer Gesundheit immer mitzudenken.

Wenn psychische Gesundheit als Zustand der Abwesenheit seelischer Krankheit aufgefasst wird, kann eine erste Annäherung an eine Bestimmung des Begriffs psychischer Gesundheit mittels einer Analyse der Zustände erfolgen, in denen Gesundheit verfehlt wird. Aus der Analyse der Eigenschaften, die psychische Krankheit kennzeichnen sollen, kann versuchsweise ein Rückschluss auf den in dieser Beeinträchtigung jeweils implizierten Zustand seelischer Gesundheit erfolgen. Im ersten Teil der Arbeit werden deshalb verschiedene Begriffe psychischer Krankheit analysiert.

Wie noch zu zeigen sein wird, lässt sich ein Begriff psychischer Krankheit, der sich ausschließlich oder auch nur vordringlich an biologischen Normen zu orientieren versucht, argumentativ nicht widerspruchsfrei begründen, so dass ein Positionswechsel notwendig wird, der Krankheit als Einschränkung und Leid aus der Perspektive der Beeinträchtigten zu definieren sucht. Nur in Kombination medizinischer, individueller und sozialer Aspekte der Teilhabe lässt sich ein pragmatischer, die Interessen der Betroffenen schützender Krankheitsbegriff formulieren.

Der Versuch, aus dieser Krankheitsdefinition einen sinnvollen Begriff psychischer Gesundheit abzuleiten, muss jedoch scheitern. Denn wenn nicht nur manifeste, sondern auch drohende Erkrankungen als Krankheit gelten sollen, lässt sich die Definition psychischer Gesundheit als Abwesenheit seelischer Krankheit nur um den Preis einer umfassenden Pathologisierung all derer aufrechterhalten, die an einem erhöhten Risiko leiden, erneut zu erkranken.

Die ethischen Komplikationen einer solchen Gesundheitsdefinition werden zu Beginn des zweiten Teils dieser Arbeit dargelegt werden. Der Versuch, zu einer Definition psychischer Gesundheit zu gelangen, soll dann im Folgenden anhand einer Analyse jener Zustände und Eigenschaften erfolgen, die verschiedene Psychotherapieschulen als Therapieziele benennen. Als solche gemeinsamen Therapieziele können vielfältiges und flexibles Verhalten, Selbstvertrauen und Einfühlung bzw. nachvollziehendes Verstehen benannt werden. Anhand einer Analyse empirischer Studien, die sich mit den Mechanismen der Aufrechterhaltung von psychischer Gesundheit befassen, soll dann ausgeführt werden, warum diese Eigenschaften als Grundlagen seelischer Gesundheit aufgefasst werden können.

In einem dritten Teil sollen die so gewonnenen Begriffe im Hinblick auf ihre Brauchbarkeit zur Definition seelischer Gesundheit näher untersucht und mit anderen Ansätzen verglichen werden. Flexibles Verhalten ist dabei gegen opportunistische Anpassung abzugrenzen, Selbstvertrauen in eigene Handlungen soll auf dem Hintergrund seiner Begrenzung durch Entfremdung17 diskutiert werden. Nachvollziehendes Verstehen wird in seiner bewussten Beschränktheit einem Begriff der Einfühlung entgegengestellt, die den grenzenlosen Zugriff auf das Seelenleben des Gegenübers postuliert. Zudem muss Verstehen und Einfühlung vom Begriff des Mitleids unterschieden werden, der heftigen Angriffen von Seiten Nietzsches ausgesetzt ist.18 Daran schließt sich eine Auseinandersetzung mit Nietzsches Verständnis der Degeneration an, das eine wesentliche Rolle in seiner Ablehnung des Mitleids wie in der zeitgenössischen und nachfolgenden psychiatrischen Krankheitsdefinition spielt. Mit dem Verweis auf die ethischen Folgen einer zu weitgehenden Festschreibung dessen, was als gesundes Seelenleben gelten darf, wird zum Abschluss der Arbeit die intendierte Begrenzung auf die Definition von Grundlagen seelischer Gesundheit begründet.

 

 

15  Weltgesundheitsorganisation, 1946, a. a. O. Vgl. auch Blankenburg, W.: Der Krankheitsbegriff der Psychiatrie. In: Kisker, K.P., Lauter, H., Meyer, J.E., Müller, C., Strömgren, E. (Hrsg.): Psychiatrie der Gegenwart 9. 3. Auflage, Berlin, Heidelberg, New York, London, Paris, Tokyo, Hong Kong, 1989, S. 119–146

16  Sartre, J.P.: Vorwort. In: SPK. Aus der Krankheit eine Waffe machen. Tiamat Texte, o.J., S. 6-7. Vgl. Haug, W.: Faschisierung des Subjekts. West-Berlin, 1986, S. 19–29

17  Marx, K.: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844). MEW Ergänzungsband, Teil 1. Berlin, 1979, S. 574

18  Nietzsche, F.: Zur Genealogie der Moral. In: Colli, G., Montinari, M.: Kritische Studienausgabe, Bd. 5. Berlin, New York, 1988, S. 252-270

1         Der Begriff psychischer Krankheit

 

 

1.1       Einführung

In einer ersten Annäherung kann versucht werden, den Begriff psychischer Gesundheit als Abwesenheit psychischer Krankheit zu definieren. Damit scheint auf den ersten Blick nicht viel gewonnen zu sein, sagt doch die Abwesenheit bestimmter Eigenschaften oder Zustände wenig über die verbleibenden aus.

Wie im Folgenden zu zeigen ist, beinhalten Definitionen psychischer Krankheit jedoch regelmäßig einen Verweis auf den Zustand, von dem Krankheiten abweichen sollen, also auf psychische Gesundheit. Je nach Krankheitsmodell lassen sich dabei verschiedene Begriffe psychischer Gesundheit aufzeigen, die den Modellen implizit zugrunde liegen. In einem ersten Schritt kann aus diesen Begriffen eine vorläufige Abgrenzung des Begriffs psychischer Gesundheit gewonnen werden.

1.2       Psychische Krankheit als Störung arttypischer Funktionen

Eine in der Psychiatrie stark vertretene Richtung versucht, den Begriff psychischer Krankheit am Begriff physischer Krankheit zu orientieren. So vermerkt Huber in seinem Lehrbuch der Psychiatrie: »Von psychiatrischen Krankheiten sprechen wir nur dann, wenn sie durch krankhafte Veränderungen des Leibes, durch bestimmte Organprozesse mit ihren funktionalen Folgen und (funktionalen oder morphologisch fassbaren) Bereichen bedingt sind.«19 Damit ist das Definitionsproblem allerdings erst einmal nur auf eine andere Ebene verschoben, denn auch der Begriff physischer Krankheit muss definiert werden. Christopher Boorse steht für den Versuch, Krankheit als Störung »natürlicher Funktionen« zu definieren, die in »arttypischer Weise« Überleben und Reproduktion eines Organismus sichern.20 An dieser Stelle könnte jedoch mit Engelhardt eingewendet werden, dass die Störung einer »arttypischen Funktion« keine notwendige Bedingung für die Feststellung einer Erkrankung sein kann. Engelhardt verweist in seiner Argumentation auf das Beispiel der Osteoporose, einer schmerzhaften Knochenentkalkung, die bei Frauen regelhaft nach der Menopause auftritt. Die »arttypische« Osteoporose als Folge der »arttypischen« hormonellen Umstellung nach der Menopause kann sicher nicht als artuntypische Funktionsstörung bezeichnet werden und gilt dennoch als Erkrankung.21

Dies widerspricht der Definition von Boorse, der explizit feststellt, dass der als Krankheit bezeichnete »innere Zustand des Organismus« nicht einfach »in der Natur der Art« liegen darf. Ein krankhafter Zustand muss demnach für die Art untypisch sein oder – wenn er doch typisch ist – dann wenigstens im Wesentlichen auf Umweltursachen zurückgeführt werden können.22

Der bei Boorse implizit gegebene Begriff psychischer Gesundheit kann aus seinem Krankheitsbegriff erschlossen werden. Wenn Krankheit bestimmte, arttypische Funktionen stört, als physische Krankheit »physiologische Prozesse«, als psychische Krankheit »geistige (mentale) Prozesse«, dann ist psychische Gesundheit (mental health) eben die ungestörte Ausübung psychischer Prozesse, die das arttypische Überleben und die Reproduktion sichern.23 Boorses Argumentation steht und fällt also mit dem Verweis auf bestimmte »Standardfunktionen« im menschlichen Verhalten, die durch psychische Prozesse ausgeübt werden,24 und zwar im Sinne einer Verursachung bestimmter Verhaltensweisen.25 Als solche Standardfunktionen benennt er Wahrnehmung, Intelligenz und Gedächtnis, Triebe, Angst, Schmerz und Sprache.26 Dass sie Standardfunktionen sind, soll ihre Konformität mit dem »Design« der »Art« sicherstellen, dass Boorse als »angeborene« Organisation zum Zwecke der Anpassung versteht.27

Damit stellt sich jedoch die Frage, was denn dann Psychiatrie von Neurologie, der Wissenschaft von den krankhaften Zuständen des Gehirns, unterscheiden soll. Boorse antwortet darauf, indem er die angedeutete Artikulation psychischer und psychologischer Funktionen sofort wieder einschränkt: ein psychisch definierter Krankheitstyp (als Beispiel für eine solche Erkrankung wird erstaunlicherweise »Ambivalenz gegenüber seinem Vater« gewählt) könne mit unterschiedlichen Zuständen des Gehirns verschiedener Patienten zusammenfallen.28 Diese Argumentation für die relative Unabhängigkeit psychischer Prozesse von bestimmten Hirnfunktionen lässt jedoch erneut die Frage aufkommen, welches Kriterium denn garantieren soll, dass eine Funktion der Psyche eine »arttypische Standardfunktion« darstellt.

Was hier angesprochen werden soll, ist das Problem kultureller Einflüsse, auf das bereits beim Verweis auf die »Natur der Art« angespielt wurde. Wenn Boorse die Störung psychischer Funktionen über den Begriff der »biologischen Dysfunktionalität«29 mit der Störung psychischer Funktionen vergleichen will, die psychische Krankheit definieren soll, versucht er natürlich, sich einen möglichst kulturunabhängigen Raum zu erschließen. Tatsächlich kann argumentiert werden, dass die einfachen Symptome einer Störung des Zentralnervensystems, aus denen z. B. die Neurologie ihre Krankheitsbilder zusammensetzt, relativ kulturunabhängig vorliegen können. Muskelkraft und Muskelkonus, die Flüssigkeit und Zielgenauigkeit einfacher Bewegungen oder gar Muskeleigenreflexe, die ohne aktive Beteiligung des Untersuchten ausgelöst werden können,3031