cover

Ingrid Schmitz (Hg.)

Suche Trödel, finde Leiche!

Ingrid Schmitz (Hg.)

Suche Trödel,
finde Leiche!

Kurzkrimis vom Dachboden,
vom Sperrmüll und vom Flohmarkt

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Originalausgabe

Inhalt

KLAUS STICKELBROECK:

Chaos im Keller

REGINA SCHLEHECK:

Für dich soll’s rote Rosen regnen

JÜRGEN EHLERS:

Alte Dias

KARR & WEHNER:

Woyzecks Messer

REGINE KÖLPIN:

Schnee am Patscherkofel

ALMUTH HEUNER:

Der Schreibtisch des Grauens

BÄRBEL SCHOENING:

Ein fast perfekter Plan

NESSA ALTURA:

Antoinette

RAOUL BILTGEN:

Feira Da Ladra

HEIDI MOOR-BLANK:

Tagebuch

INGRID SCHMITZ:

Morgen ist Sperrmüll

FABIAN SKIBBE:

Matrjoschka

SUSANNE MISCHKE:

Nachbarschaftshilfe

TATJANA KRUSE:

Willkommen bei Trödel Träuble & Sohn

ERWIN KOHL:

Schöne falsche Ema

NIKLAUS SCHMID:

Das andere Fenster

RENATE MÜLLER-PIPER:

Kiras Krempel

SASCHA GUTZEIT:

Sperrmüll mit Bob und Roger

ELLA THEISS:

Sehnsucht

KAI MAGNUS STING:

Anderthalb alte Leichen

RALF KRAMP:

Opa Heinz

DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

Chaos im Keller

KLAUS STICKELBROECK

Ich bin ja Ende Juni geboren. Sternzeichen Krebs, erste Dekade. Einen Aszendenten hab ich auch. Welchen genau, das weiß ich jetzt nicht, aber Sternzeichen Krebs.

Krebse? Dankbare Menschen. Ganz dankbare Menschen! Sensibel, hilfsbereit, häuslich, sparsam, aber nicht geizig. Ein zartes Wesen und meist sehr, sehr gut aussehend.

Trifft auf mich alles zu.

Und ein Sammler ist er, der Krebs. Grundsätzlich. Jetzt vom Sternzeichen her. Bin ich auch. Also … weniger sammeln, sondern mehr: behalten. Im Sinne von: horten, aufbewahren. Nicht wegschmeißen.

Meine Mutter sagte immer: Klaus, Hebbe kömmt van Halde. Haben kommt von Halten!

Da ist was dran. Definitiv.

Ich bin der Meinung, dass man sich ganz gründlich überlegen muss, ob man was wegwirft. Entsorgen ist ja auch vom ursprünglichen Wortsinn her schon ein sehr unangenehmes, unschönes Wort. Vielleicht kann man die Sache ja noch mal gebrauchen. Und dann freut man sich.

Wie jetzt neulich, als der Sohn vom Nachbarn ein paar Häuser weiter die Straße runter an der Tür geklingelt hat und fragte, ob ich eine Eisenkugel zum Kugelstoßen habe. 7,257 Kilogramm. Weil er doch an den Olympischen Spielen 2024 teilnehmen möchte und üben muss.

Ja, hab ich gesagt, hab ich. Im Keller. Hol ich dir.

Ich meine, das sind doch Momente, in denen man mit seiner kompetenten Hilfsbereitschaft echt glänzen kann.

Ich bin also gleich runter in den Keller, in mein Lager. So nenne ich den großen Kellerraum hintendurch. Und habe die Kugel dann auch fast sofort gefunden. Ich wusste nur nicht mehr ganz genau, ob ich sie unter E wie Eisen, K wie Kugel oder unter Sportgeräte Allgemein abgelegt hatte. Gut, ich habe sie auch nach zwei Stunden akribischer Suche nicht ausfindig gemacht, aber ich hätte sie finden können. Das ist ja auch schon mal was.

Meine Frau ist die Sabine. Das ist meine dritte Frau. Und die ist anders. Jetzt vom Sternzeichen her. Kein Krebs. Sie ist vom Sternzeichen … das Gegenteil.

Jedenfalls saß ich an jenem Nachmittag tiefenentspannt in meinem gemütlichen Ohrensessel im Wohnzimmer, mollige Schlappen mit warmem Schafsfell an den Füßen und erfreute mich abwechselnd am Blick in den gepflegten, niederrheinischen Garten und auf die gerahmten Familienfotos an der Wand.

Als Sabine plötzlich nach mir rief.

»Klaus!«

Ich zuckte zusammen. Sabines Stimme hat manchmal so etwas unharmonisch Bohrendes, fast Keifendes.

»Klahaus!«

Ich sprang auf. Und hatte sofort so ein ungutes Gefühl, weil Sabines Stimme von unten aus dem Keller kam. Den Kellerbereich, den mied sie nämlich meistens. Wegen der steilen Holztreppe. Und den Spinnen. Und wegen der Mäusefallen, die ich überall aufgestellt hatte.

»Klahaus!«

Ich hastete die Stufen runter bis ins Lager und da stand sie, die Sabine. Die eine Hand in die breite Hüfte gestemmt, in der anderen ein … Bügelbrett.

»Sabine-Schatz, was machst du hier?«

»Ich richte das neue Bügelzimmer ein.«

Ich zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Das neue Bügelzimmer?«

Sie winkte mit dem klein geblümten Brett. »Im Wohnzimmer bügeln ist doof. Da liegen dann die Kleidungsstücke immer rum. Wer will das schon? Wenn mal Besuch kommt, wie sieht das aus?«

»Als ob im Wohnzimmer gebügelt wird«, antwortete ich und sah jetzt überhaupt nicht den Punkt.

»Ich möchte ein vernünftiges Bügelzimmer, wo das Brett aufgestellt werden kann, wo ein Wäschekorb nicht im Weg steht und wo auch mal was liegen bleiben kann.«

Sie schwenkte das Brett, das unten nach vorne und hinten ausschlug und abwechselnd gegen ein gerahmtes Bild von Vater und Mutters Hochzeit und eine Blechtonne mit Spielzeugäutokes klopfte.

»Aber hier ist doch mein … Lager, hier ist doch kein Platz.«

Sie nickte heftig. »Genau. Sehr gut erkannt, mein Lieber. Das reinste Chaos! Der ganze Plunder, der ganze Pröll muss natürlich raus!«

»Pröll?«

»Am besten direkt in den Sperrmüll!«

Mein Herz setzte aus, meine Knie wurden weich. »Das ist nicht dein Ernst?«

»Aber sowas von ernst meine ich das! Was ist das denn alles für ein Zeug? Das da zum Beispiel«, deutete sie auf einen Haufen eisenbrauner Geräte, die – kreuz und quer auf dem Boden herumliegend – ein wenig unsortiert und rostig daher kamen.

»Das sind die Arbeitsgeräte von Uropa Konrad.«

»Uropa Konrad?«

»Aus seiner alten Schmiede. Da: der Amboss, die Sägen, die Lochplatten und mehrere Spaltkeile. In dem Härtebecken liegen die Hufraspel, die Schmiedezangen und ein paar Wetzsteine. Das Teil mit dem spitzen Zacken ist ein Auskratzer, das daneben ein Ausschneidemesser. Vorsicht: die Klinge ist noch scharf. Da drunter müssten noch ein paar Hufeisen liegen. Und Nägel.«

Sabine-Schatz schnaufte. »Na, da kriegt man ja immer noch was beim Alteisensammler für.«

»Das ist doch kein Alteisen«, murmelte ich leise.

»Und die Zeitschriften da drüben?«

»Burdas.«

»Burdas?«

»Burda Moden. Von Mutter. Alle Exemplare vom 1.3.52 bis Mai 2001. Mit Schnittmusterbogen. Nur das Heft vom 9. September 1979 fehlt. Das Schönste für den Herbst. Nr. M 2017 E. Flotte Röcke und Hosen, mit großem Handarbeitsteil. Das hat Mutter damals verliehen, aber sie konnte sich nicht mehr erinnern, an wen.«

Meine Gattin griff sich an die Schläfe. »Das darf doch nicht wahr sein.«

»Sowas wirft man doch nicht weg.«

»Das Papier schimmelt doch«, mäkelte Sabine.

Ich schüttelte energisch den Kopf. »Alles luftdicht eingeschweißt. Das Einschweißgerät müsste da hinten links stehen, neben dem Einkocher, zwischen den Einmachgläsern, vor dem alten Ehebett von Umberto und Deli, hinter dem alten Elektroschweißer von Onkel Bernd, Sektion Buchstabe E

»Der verbeulte, rostige Elektroschweißer? Das klobige Ding? Du hast doch gesagt, der ist kaputt!«

»Kaputt? Wenn da drei, vier Teile ausgetauscht werden, ist das Ding wieder wie neu!«

Sabines Blick fehlte die Begeisterung. Stattdessen versuchte sie nunmehr mit energischem Griff, das Bügelbrett auseinanderzuklappen, was aus Platzgründen nun wirklich nicht gelingen konnte. Dabei stieß die eine Brettecke gegen den gusseisernen Garderobeständer, den ich vom Straßenrand hatte retten können, als Hubert Hennesen damals seine Eckkneipe an der Krefelder Straße in Nieukerk dichtgemacht hatte. Das massive Teil stand nicht ganz eben und schwankte bedenklich. Ich hatte immer mal bei Gelegenheit eine Pappscheibe aus meiner umfangreichen Bierdeckelsammlung unterlegen wollen. In der Wicküler Pils-Reihe aus 1970 sollte ich ein paar Doppelte haben.

Man muss bei der Garderobe nämlich ein bisschen aufpassen, denn die Eisenzacken oben dran für die Hüte waren richtig spitz.

Das andere Ende des Bügelbretts hätte fast einen Aschenbecher von der pastellblauen Küchenanrichte mit bunt-fröhlichen Pril-Blumenaufklebern gefegt.

»Sabine, pass doch auf!«

»Was steht der Ascher da rum, der kann auch weg. Du rauchst doch gar nicht.«

Ich drückte energisch mein Kreuz durch. »Das ist kein Ascher! Das ist ein historischer Zeitzeuge!«

»Was?«

»Das ist der Aschenbecher von Helmut Schmidt!«

»Der Bundeskanzler?«

»Genau. 17. Februar 1962. Sturmflut in Hamburg. Am Schreibtisch: der Innensenator Helmut Schmidt. In der linken Hand eine Zigarette, die er regelmäßig in diesem Aschenbecher abstreift. Mit der rechten Hand greift er zum Telefonhörer, um Admiral Rogge anzurufen und mit der Bundeswehr Hamburg zu retten. Das ist kein Ascher, das ist ein deutsch-historisches Kulturgut!«

Ich stellte zufrieden fest, dass es in Sabines Augen tatsächlich beeindruckt geflackert hatte. Das Flackern erlosch allerdings sofort, als ihr Blick über die eingerollten Perserteppiche von Tante Gertrud aus Schaephuysen hinweg in den hinteren Bereich des Kellerraums fiel.

»Ist da noch ein Fenster?«

»Ein Kellerfenster.«

Sie reckte ihren Hals. »Kann man das aufmachen?«

»Nein, da kommt man nicht dran. Da liegt ja der schwere Ballen mit der luftdichten Klarsichtfolie davor.«

»Was willst du mit so einem riesigen Ballen Klarsichtfolie?«, fragte sie kopfschüttelnd.

Ich erklärte es ihr. »Das sind riesig breite Folienstreifen. Damit kannst du locker ein 150 Quadratmeter großes Freilandfeld überspannen, um zum Beispiel Salat gegen Schädlinge zu schützen.«

»Aber wir haben kein 150 Quadratmeter großes Freilandfeld.«

»Aber Schädlinge.«

Sabine schnaufte. »Das ist doch irre. Und genau das meine ich. Das muss hier alles weg, raus mit dem Zeug!«

Sie quetschte ihren Körper samt Bügelbrett kräftig ein bisschen tiefer in den Raum hinein, was mir ein wenig Sorge bereitete. Den relativ unaufgeräumten, vernachlässigten Bereich auf der hinteren, rechten Seite des Kellers nannte ich liebevoll Ostzone. Da war noch viel zu tun.

Und es war wirklich nicht meine allerbeste Idee gewesen, die alte Waschmaschine von Tante Maria aus Willich-Anrath noch oben auf den Kondenstrockner mit flexiblem Abluftschlauch von Onkel Jakob aus Hüls zu packen. Den ich ja schon auf die breite Kühltruhe von Tante Elli aus Walbeck gewuchtet hatte. Aber das passte thematisch so schön.

Und durch die alte Fahnenstange der Kirchenstandarte der Schützenbruderschaft St. Antonius Untereyll, die ja keiner meiner Kameraden hatte haben wollen, wurde der Turm ja insgesamt auch ganz ordentlich gestützt und abgesichert.

»Ich dreh hier durch«, fluchte Sabine giftig, denn ein Zipfel ihres Rockes hatte sich im Drahtgeflecht eines alten Kaninchenstalls verheddert. »Was ist das denn wieder?«

»Der Stall von Peterle?«

»Wer ist Peterle?«, schrie sie, ein bisschen lauter als vielleicht nötig.

»Unser Zwergkaninchen.«

»Da ist kein Hase drin!«

»Kaninchen, Sabine, Kaninchen. Nein, der ist ja auch schon lange tot und wohnt unter den Tomaten im Garten.«

»Mein Gott! Dann wirf den ollen Stall doch weg!«

»Das war doch Peterles Zuhause!«

»Ja, aber er braucht ihn doch nicht mehr!«

Sie hustete kehlig, denn ein Stapel mit alten Kissenbezügen und Tischdecken war hinter ihr von der Küchenanrichte zu Boden gerutscht und pustete fette Staubwölkchen zu uns rüber. Auf Anhieb wollte mir partout nicht einfallen, welche Tante mir die gut erhaltenen Stoffteile vererbt hatte …

Ich wedelte mir freie Sicht. Und sah im gleichen Moment, dass Sabine sich plötzlich bückte, um einen länglichen Karton zu öffnen. Ich wollte sie noch warnen, war aber zu spät, den Karton hatte sie mit einem Ruck schon aufgerissen.

»Aaaaaaaaah!«

Sie schrie, eine Hand feste auf ihre wogende Brust gepresst. »Was ist das denn?«

Sie deutete mit einem vagen Anflug von Hysterie in den aufgeklappten Karton.

»Das ist die Beinprothese von Onkel Erwin.«

»Die Beinprothese …«

»Von Onkel Erwin. Kennst du doch. Der immer so viel geraucht hat. Die Prothese: Sowas schmeißt man doch nicht weg. Onkel Erwin hatte ungefähr meine Größe. Und man weiß ja nie. Bein ist Bein. Blutvergiftung, Thrombose und zack, brauchst du eine Laufhilfe.«

Sie ruckelte heftig an ihrem Rock, der Draht wollte einfach nicht loslassen. »Du bist doch total verrückt! Keine Wunder, dass deine Ex-Frauen alle abgehauen sind!«

Ich schürzte die Lippen. Alle? Das waren doch nur zwei.

Ich murmelte leise: »Ich hab immer noch sporadischen Kontakt mit Helga und Sigrid.«

Mit einem ruckigen Ratschen gelang es ihr, dem Drahtgeflecht den Rock zu entreißen. Derartig befreit, taumelte sie allerdings nun schwungvoll nach vorne, das Bügelbrett entglitt ihren Fingern. Mit einem weiten Ausfallschritt gelang es ihr gerade eben noch, einen Sturz zu verhindern. Die rechte Schuhspitze landete aber … ärgerlich, ärgerlich … in einer der kleinen Mausefallen, die gierig zuschnappte.

»Aua!«

Sabine stolperte nach links.

Und heißa! Sie hatte die 7,257 Kilogramm schwere Kugelstoß-Kugel gefunden, die sich hinter meinem alten Grundschulranzen mit den lustigen Mickey Mouse-Aufklebern versteckt hatte. Sie trat mit dem linken Fuß mitten drauf, fiel geradewegs nach hinten und brachte eine die Wand hoch gestapelte Schuhkartonpyramide zum Einsturz.

»Oh«, sagte ich und versuchte schnell zu retten, was zu retten war.

Geistesgegenwärtig gelang es mir, zumindest den obersten Karton mit der Aufschrift Sommerurlaub Noordwijk 1967 mit Heiders aufzufangen.

Sabine dagegen stürzte hölzern auf den Rücken. Der Hinterkopf ploppte hohl auf den Betonboden, den ich ja immer mal mit den guten Perserteppichen von Tante Gertrud aus Schaephuysen hatte auslegen wollen. Aber man kam ja zu nichts.

Mein Blick schoss hektisch durch den Raum und so sah ich, wie das Bügelbrett … ganz unglücklich … gegen den Garderobenständer von Hubert Hennesen krachte, der auch prompt umkippte.

Direkt auf Sabine.

Hui, war das ein fieses Geräusch, als sich einer der spitzen Zacken für die Hüte in Sabines Schädel hackte. Sie hat dann noch den Kopf so zu mir hin gedreht. Mit einem Blick. Voller Vorwurf …

Ich zuckte mit den Schultern, ich konnte ja nichts dafür, musste aber eilig zur Seite springen.

Denn Sabine hatte mit dem linken, mausefallenfreien Fuß im Stürzen die Eisenkugel feste nach vorne geflitscht. Und die wiederum hatte die Fahnenstange der Schützenbruderschaft St. Antonius Untereyll vom Boden gekratzt.

Woraufhin der Haushaltsgeräteturm nach vornerüber kippte.

Aber hallo, so eine alte Waschmaschine, Baujahr Ende der Siebziger? Was waren die Viecher schwer! Ich konnte mir sehr gut vorstellen, wie der spitze Eisenzacken der Garderobe knirschend tief in Sabines Schädel reingerammt wurde, als die dicke, weiße Miele von Tante Maria aus Willich-Anrath jetzt mit Schmackes auf sie niederrauschte.

Dann war Ruhe.

Und ich stand da. Mit dem staubigen Schuhkarton voller Urlaubsmuscheln. Sommerurlaub Noordwijk 1967 mit Heiders.

Ich seufzte tief. Was für ein Unfall! Das würde mir bei der Polizei ganz bestimmt keiner abnehmen.

»Nun denn.«

Sternzeichen Krebs: der Sammler? Ich sag ja immer, man muss sich ganz genau überlegen, was man wegwirft, man kann alles noch mal gebrauchen.

Ich würde mich jetzt bis zu Uropa Konrads scharfen Sägen durcharbeiten, Sabine portionieren, sie mit der luftdichten Klarsichtfolie gegen Schädlinge einwickeln und mit den Kissenbezügen von wem auch immer anschließend den Boden gründlich blutfrei wischen.

Dann würde ich Sabine geruchsfest verpackt zu Helga und Sigrid in Tante Ellis Kühltruhe legen.

Meine beiden Ex-Frauen hatten seinerzeit nämlich ganz, ganz ähnliche Unfälle gehabt.

Für dich soll’s rote Rosen regnen

REGINA SCHLEHECK

Willem trug mich die knarrende Stiege hinauf, stieß die Tür zu seinem Schlafzimmer auf und legte mich behutsam auf dem Gründerzeit-Himmelbett ab, das über und über mit Rosenblättern bedeckt war. Er stellte das Grammophon an. Die Stimme der Knef füllte den Raum: »Für mich soll’s rote Rosen regnen ...«, dann entkleidete er mich behutsam. Ich schloss die Augen, während seine Hände meinen Körper erforschten. Dass so große schwielige Hände so zärtlich sein konnten …

Es war erst drei Wochen her. Auf dem Trödelmarkt in Hauset, gleich hinter der belgischen Grenze. Der Stand hatte mich magisch angezogen. Gar nicht mal wegen der Jugendstil-Möbel, die auf den Flohmärkten in der Aachener Grenzregion in solchen Mengen angeboten wurden, dass ich mich manchmal fragte, ob das mit rechten Dingen zugehen konnte. Es war das Grammophon auf der Marmorplatte eines Waschtischchens. Vielmehr nicht das Grammophon. Das Lied. Die raue Stimme der Knef. Sofort hatte ich die meiner Mutter im Kopf. Sie hatte die Knef immer eine Oktave höher begleitet, was der Sehnsucht nach dem Rosenregen einen noch melancholischeren Beigeschmack gegeben hatte. Zumal sie zu Tremoli neigte. Als Kind hörte es sich für mich so an, als wimmerte sie, während sie mitsang. Meine Mutter war immer von einer Wolke von Traurigkeit umgeben, und ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass es mit mir zu tun hatte. Kinder neigen wohl dazu, alles auf sich zu beziehen. Diese Stimmung hat meine frühe Jugend überschattet. Obwohl ich eigentlich ein unproblematisches Kind war. Keine Krankheiten, Unfälle, besonderen Vorkommnisse. Meine Mutter war sehr liebevoll. Die schlimmste Erfahrung, an die ich mich erinnere, war, dass ich am ersten Schultag geklammert und geweint hatte, als wir unsere Eltern auf dem Schulhof verabschieden und mit unserer Klassenlehrerin in das düstere Grundschulgebäude gehen sollten. Kaum drinnen, war die Beklemmung vorbei. Die Räume waren hell, die Wände bunt gestrichen, meine Lehrerin nahm mich an der Hand, nannte mich ein »tapferes Mädchen« und ich bekam einen Platz am Fenster, wo ich meiner Mutter zuwinken konnte.

Der Mann lachte, als ich fragte, was das Grammophon koste.

»Das ist unverkäuflich«, sagte er. Er hatte diesen kleinen Akzent, der den Niederländer verriet, dieses kehlige »ch« und scharfe »s« – wie ich es liebe! – und so ein wunderbares Lächeln in der Stimme und in den Fältchen neben den Augen, sodass ich stehen blieb und eine Weile mit ihm plauderte. Über Kindheitserinnerungen an Schlager, melancholische Lieder und die Knef. Ich erfuhr, dass der Vater der Knef aus dem flämischen Teil von Belgien stammte und an Syphilis gestorben war, als die kleine Hildegard gerade ihren ersten Geburtstag gefeiert hatte.

»Das ist ja lustig«, sagte ich. »Ich bin auch ohne Vater groß geworden.«

Er hob eine Augenbraue. »Lustig?«

»Ein merkwürdiger Zufall«, verbesserte ich mich.

»Ist das nicht eher ziemlich weit verbreitet?«, gab er zurück. »Väter, nein Männer neigen nun mal zu Flüchtigkeit.«

Es lag mir auf der Zunge ihn zu fragen, ob das auch auf ihn zutreffe, und in dem kurzen Moment des Zögerns, ehe ich antwortete, war ich mir sicher, dass er genau wusste, was ich dachte, denn er lachte und zwinkerte.

»Nicht alle.«

»Schlimmer wäre wohl, wenn die Mütter sich verflüchtigten«, wich ich aus.

»Meine ist im letzten Jahr gestorben«, sagte er.

»Meine vor zwei Wochen.«

Wir lachten, obwohl es doch traurig war.

Wie war das möglich, dass man mit einem wildfremden Menschen so persönliche Dinge austauschte? Ich grüßte, ging hastig weiter. Gleich darauf tat es mir leid.

Drei Wochenenddienste später wollte ich mit einer Freundin eine Radtour machen. Ich stand vor dem Fahrradschuppen, als mein Smartphone vibrierte. Sie schaffe es nicht. Ich blinzelte in die warme Augustsonne und brach mit unbestimmtem Ziel in Richtung Grüne Grenze auf, radelte über den Frepert in Richtung Hauset Zentrum, dachte an Lachfältchen in Augenwinkeln. Wahrscheinlich war er gar nicht da, zweifelte ich, als ich mein Fahrrad in der Nähe der Cafeteria abschloss und in die Richtung bummelte, wo er das letzte Mal gestanden hatte. Ich war oft auf dem Euregio-Markt in Hauset gewesen, ohne dass mir der Mann mit dem Grammophon je aufgefallen wäre. Aber ich kam schließlich, um Trödelware anzugucken, nicht Trödler. Zumal der Stand mich nicht interessierte – was sollte ich mit Möbeln? Ich musste zusehen, dass ich entrümpelte.

Es war Knall auf Fall gegangen mit meiner Mutter. Bauchfellkrebs. Fortgeschrittenes Stadium. Drei Wochen, sagte der Arzt, aber man könne nie wissen. Ich hatte immer schon gewusst, dass ich wieder zu ihr ziehen würde, wenn sie mich brauchte. Als Tochter, als ausgebildete Krankenschwester – und Erbin des Häuschens. Ich nahm unbezahlten Urlaub, kümmerte mich um den Umzug und ihre Pflege – vier Wochen später um die Beerdigung. Ließ es rote Rosen regnen auf ihren Sarg und das Lied der Knef dazu spielen. Ich war mir sicher, dass es ihr gefallen hätte. Neben einigen guten Freunden und im Rückblick weniger guten Beziehungen war meine Mutter der einzige Mensch auf der Welt gewesen, der mir etwas bedeutet hatte. Ich vermisste sie. Wie sehr, merkte ich erst, als die Aufregung sich gelegt und ich ein paar ruhige Minuten für mich fand.

Ich war jetzt Mitte dreißig. An eigene Kinder war kaum noch zu denken. Eins hatte ich aus meiner frühesten Jugend mitgenommen: Ich wollte keins allein großziehen.

Mein leiblicher Vater war bereits verheiratet und nicht gewillt gewesen, diesen Zustand zu ändern. Meine Mutter sollte gefälligst abtreiben. Auf Unterhalt brauchte sie nicht zu spekulieren, hatte er gesagt. Auf keinen Fall dürfe seine Frau von dem Seitensprung erfahren.

»Warum hast du es ihr nicht gesteckt?«, fragte ich.

»Meinst du, er hätte mir seine Adresse verraten?«, gab meine Mutter zurück. »Im Nachhinein bin ich noch nicht einmal sicher, ob er mir seinen richtigen Namen gesagt hat. Ich hab ihn nie nach dem Ausweis gefragt. Er war geschäftlich in Aachen, kam aus Frankreich, wo er für einen belgischen Energiekonzern arbeitete. Vielleicht war das ja alles gelogen.« Mutter seufzte.

»Arschloch!«, entfuhr es mir.

Mutter hatte Tränen in den Augen. »Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn nie wieder sehen wollte.«

Ein Geschmack von Galle brannte in meiner Kehle. »Ich glaube, ich hätte zum Messer gegriffen!«, sagte ich. Der Kerl hatte mich umbringen wollen! Jeder Richter hätte mir mildernde Umstände gegeben.

»Ich habe ihn rausgeschmissen«, sagte meine Mutter. »Und nie wieder von ihm gehört. – Lass uns bitte von schöneren Dingen reden! Begraben und vergessen!«

Der Stand! Er war wieder da! Hatte er mich erkannt? Er wandte mir den Rücken zu und ging zu dem Grammophon. »Für mich soll’s rote Rosen regnen«, sang die Knef. Mir wurde warm. Als er sich wieder umdrehte, stand ich so dicht vor ihm, dass ich die Lachfältchen hätte zählen können.

Er strahlte. »Da bist du ja!« Betonte das bist, als hätte er mich vermisst.

Nein, das war kein typischer Trödler. Die hatten zottelige Haare, trugen Latzhosen, Jesuslatschen, waren irgendwo in den frühen siebziger Jahren stehen geblieben und machten den Eindruck, als hätten sie sich während des Studiums zu oft die Birne zugekifft. Nachdem sie das Aachener Umland jenseits der BRD als billigen Wohnraum kennengelernt hatten, erweiterten sie ihre dem Grenzverkehr geschuldete Handelspalette von Cannabissorten um alte Möbel und Antiquitäten, bis sie das Studium irgendwann im siebzehnten Semester abbrachen.

Dieser hier war von angenehmer Normalität, Jeans, Holzfällerhemd, Sneakers, kurze dunkle Haare, an den Schläfen ein winziges bisschen grau meliert, irgendwo um vierzig, schätzte ich. Ein Schreiner oder Handwerker jedenfalls, den schwieligen Händen nach zu urteilen.

»Bist du eigentlich immer hier?«, fragte ich.

»Nur wenn meine Kunden was loswerden wollen.«

»Hä? Ich dachte, du verkaufst hier!«

Er lachte. »Die Kunden, für die ich arbeite.«

»Was arbeitest du denn?«

»Ich hab eine Schreinerei. Wenn ich Einbauten mache, werde ich gelegentlich gebeten, Rommel abzufahren.«

»Rommel

»Für die ist es Gerümpel.«

»Bist du eigentlich Holländer? Du sprichst hervorragend deutsch.«

»Ich hab mal in Deutschland gearbeitet. Aber jetzt bin ich dran. Wie kommt es, dass du alleine unterwegs bist? Suchst du etwas Bestimmtes?«

Dich, dachte ich. Sagte: »Nö. Ich war mit einer Freundin zu einer Radtour verabredet. Die konnte nicht. Da bin ich alleine ...«

»Du bist mit dem Fahrrad hier?« Er sah zum Himmel. Im gleichen Moment sah ich es auch. Wolken zogen auf.

»Schiet op!«, sagte er. Im ersten Moment dachte ich an einen Kraftausdruck. Dann fiel mir ein, dass opschieten so viel hieß wie beeilen.

»Uff«, sagte ich. »Ich Idiot hab kein Regenzeug dabei.«

Er grinste. »Schöner Name! Angenehm. Willem.«

»Karin.«

»Okay, Karin. Vorschlag: Hilf mir aufladen. Dein Fahrrad packen wir dazu, und dann kriegst du bei mir einen Kaffee. Bis das Unwetter vorbei ist.«

Ich zögerte.

Er hielt mir eine Karte hin: »Ich wohne in Raeren, nicht weit von hier. Gib deiner Freundin Bescheid, wo du bist, dass sie weiß, wohin sie die Polizei schicken muss, wenn ich dich nicht mehr weglasse.«

Wenn ich dich nicht mehr weglasse!

Ich rief nirgends an. Holte mein Fahrrad und wir beluden den Transporter.

Rundum wurde hektisch abgebaut. Nur in der Halle ging der Verkauf weiter. Die ersten Tropfen fielen.

Eine Viertelstunde später rumpelte der Wagen durch eine Hofeinfahrt. Der Regen klatschte derart heftig auf die Windschutzscheibe, dass ich nicht mehr viel erkennen konnte. Ein Gebäude vor uns, zwei rechts und links, die eher wie Werkstätten wirkten, ehemalige Ställe.

Willem fuhr vor das Haus, stellte den Motor ab, sprang aus dem Wagen, lief ums Auto herum und riss meine Tür auf. »Schnell!«

Ich sprang ihm fast in die Arme. Er zog seine Jacke über unsere Köpfe, legte den Arm um meine Schultern und wir rannten zur Tür. Als wir im Flur standen, hinterließen wir bereits Wasserpfützen. Er zog mich ins Wohnzimmer, legte mir eine Wolldecke um und schob ein paar Scheite in den Kamin, den er befeuerte.

Dann lief er wieder hinaus. Ich hörte die Haustür, dann die große Wagentür. Kurz darauf schlug die Wagentür wieder zu, dann die Haustür. Ich ging ihm entgegen, zur Wohnzimmertür. Willem war triefnass. Er trug etwas Unförmiges, über das er seine Jacke geworfen hatte. »Ich bring das eben rauf.«

Ich kuschelte mich mit der Decke in einen Sessel. Als er zurückkehrte, hatte sein Hemd die Farbe gewechselt. Die Haare wirkten, als habe er sie mit einem Handtuch trocken gerubbelt, aber das Kämmen vergessen. Er kniete vor dem Kamin, stocherte im Feuer, legte Holz nach.

»Wohnst du hier ganz allein?«, fragte ich den Holzfällerhemdrücken.

Willem warf mir einen Schulterblick zu. »Meine Mutter ist gestorben.«

Stimmt. Das hatte er erzählt. Aber hatte er mit ihr hier gelebt? Bis sie gestorben war? – Wie Psycho war das denn? Hitchcocks Film schoss mir in den Kopf. Der Motel-Besitzer Norman Bates, der allein reisende Frauen umlegte, weil seine verstorbene Mutter, deren Normen er in seine gespaltene Persönlichkeit integriert hatte, seine sexuellen Bedürfnisse nicht tolerierte.

»Alles klar?«, fragte Willem.

Hätte ich ihn bitten sollen, dass er mir noch einmal seine Karte zeigte? Wie peinlich! Ich nickte.

Er verschwand nebenan in der Küche, wo er mit Schranktüren und Geräten klapperte. »Tee? Kaffee?«, rief er, steckte den Kopf wieder zur Tür herein und zwinkerte. »Oder ein Glas Wein?« Mit Blick auf die Armbanduhr: »Halb sechs. Fast Abend, oder?«

»Na, gut«, sagte ich unbestimmt.

Kurz darauf kehrte er mit zwei Rotweingläsern zurück, hielt mir eins hin, stieß mit mir an, sagte »Prost« und trank.

»Du willst mich willenlos machen«, konstatierte ich.

»Uns beide«, korrigierte er.

»Na, dann.« Ich trank. Was folgte, würde dem Wein geschuldet sein.

Nach dem dritten Glas setzte ich mich zum Anstoßen neben ihn. Bevor wir einen Schluck getrunken hatten, küsste er mich, und dann ging alles so traumhaft selbstverständlich, dass ich geradezu enttäuscht war, als er mich wieder von sich schob und fragte: »Ist das okay für dich?«

Ich hatte keine Lust zu antworten, wollte meine Nase in seine Halsbeuge versenken, die so gut roch, aber er gab zu bedenken, dass er mich, wenn wir jetzt nicht weitermachten, noch nach Hause fahren könnte. Ansonsten könne er mir gerne sein Bett anbieten und würde auch, wenn mir das lieber wäre, auf dem Sofa ... Ich knabberte mich von der Halsbeuge aufwärts und küsste ihn, bevor er noch mehr Schwachsinn von sich geben konnte.

Als wir wechselseitig die Regionen unter unserer Kleidung so weit erforscht hatten, dass ein Ausziehen unumgänglich war, schob er mich wieder von sich. »Ich muss erst mal gucken, wie es oben aussieht. Warte, ich hol dich«, sagte er und verschwand im Flur. Ich schloss die Augen, hörte ihn die Treppe hinauf und oben hin und her laufen. Seine schnellen Schritte abwärts. Dann stand er wieder vor mir und nahm mich auf den Arm.

Er hat es Rosen regnen lassen für mich. Mich in rote Blütenblätter gebettet und nach Strich und Faden verwöhnt. Nachdem er mich komplett entkleidet hatte, zögerte er, nahm meine Hand in seine, küsste die Innenfläche, streichelte meinen Ringfinger und vergewisserte sich: »Da ist niemand, der auf dich wartet?«

Ich schüttelte den Kopf. Stellte keine Fragen. Was wusste ich von ihm? Meine Sehnsucht hatte mich ihm in die Arme getrieben. Das Gefühl, dass ein unsichtbares Band zwischen uns beiden existierte, das mich zu ihm hinzog.

Ihn doch genauso! Als wären wir füreinander bestimmt!

Wir können uns nicht aneinander satt lieben. Wie lange war es her gewesen, dass ich mit einem Mann das Bett geteilt hatte? Ich hätte schwören können, es sei nie so schön gewesen. So selbstverständlich und beglückend zugleich.

Als ich zum dritten Mal kam, meinte ich urplötzlich zu zerfließen. Als wenn die Ekstase den letzten Knoten in mir gelöst hätte. Ich lag auf dem Rücken. Tränen strömten mir aus den Augenwinkeln. Willem küsste sie behutsam weg.

»Habe ich dir wehgetan?«, raunte er mir ins Ohr. Dieses »ch«!

»Nein, überhaupt nicht«, schluchzte ich.

Ich schmiegte mich an seine breite behaarte Brust und heulte mir die Seele aus dem Leib, ohne überhaupt zu wissen, was es war, das diesen Strom verursachte. Doch. Meine Mutter! Ich weinte um meine Mutter. Dass sie gestorben war. Weinte über ihr Leben. Ihr Unglück. Mich. Nein, nicht mich! Aber das, was dafür gesorgt hatte, dass es mich gab. Vielmehr den! Nein, um den weinte ich nicht. Er mochte in der Hölle schmoren! Ich weinte, weil er meiner Mutter keine Wahl gelassen hatte! Sie hätte ihn rausgeschmissen, hatte sie gesagt. Ja, so war es. Ich habe ihr Tagebuch gelesen. Überlegt, ob ich es nicht besser verbrenne. Wollte es! Aber es brannte nicht. Einzelne Blätter sind kein Problem. Die brennen blitzschnell lichterloh. Aber ein kompakter Block Papier – das Feuer erlosch, ehe der Einband sonderlich angekokelt war. Da habe ich es gelesen.

Sie hatte sich auf den Speicher geflüchtet. Dorthin, wo sie immer hinging, wenn sie Ruhe brauchte. Ihre Gedanken sortieren wollte. Er war ihr gefolgt und hatte sie bedrängt. Mich zu töten!

Da hatte sie ihn rausgeschmissen.

Aus dem Dachbodenfenster. Es war ein großes Fenster, das bis zum Boden ging. Mein Großvater hatte es eingebaut. Keine besonders stabile Konstruktion. Als sie den Mann wegstieß, prallte er mit dem Rücken dagegen, der Rahmen gab nach, das Glas splitterte und mein Vater verschwand.

Als sie unten ankam, lag er mit verdrehten Gliedern und abgeknicktem Kopf auf dem Rasen vor dem Rosenstrauch.

Dort, im Schutz der großen Hecke, hatte sie ihn begraben.

Ich hatte es nicht glauben wollen. Bin am nächsten Tag dem Rosenstrauch mit dem Spaten zu Leibe gerückt. Stieß auf einen Schädel, Knochen und einen goldenen Ring. Den Ehering meines Vaters. Marinus. Das war der Name, den meine Mutter mir genannt hatte. In dem Punkt hatte er sie offensichtlich nicht angelogen. Der Name seiner Frau war seinem vorangestellt. Grietje. Den Namen hatte meine Mutter nie erfahren. So wie Grietje den meiner Mutter nie kennenlernen musste, nie etwas von ihrer Existenz geahnt haben mochte. Geschweige denn, wo ihr Gatte geblieben war. Vielleicht wähnte sie ihn ja irgendwo auf einer Fidschi-Insel mit einer glutäugigen Schönen. Sie wird ihn irgendwann für tot erklärt haben.

Es war mir vollkommen egal, genau so, wie mich der Tod meines Vaters vollkommen kalt ließ. Um ihn konnte ich keine Träne vergießen.

Ich weinte um meine Mutter. Um den Schatten über meiner Jugend, den ich jetzt erst begriff. Tastete nach dem Ring an meinem Finger. Dem meines Vater, der mich hatte umbringen wollen. Bevor meine Mutter ihn umbrachte.

Willem rückte ab. Sagte: »Da ist jemand.« Fixierte den Ring.

»Nein«, schluchzte ich. Um es ihm zu beweisen, zog ich ihn ab und reichte ihn ihm. »Es ist der Ring meines Vaters.«

Er nahm ihn und hielt ihn gegen das Licht, um die Namen zu lesen, die darin standen. Runzelte die Stirn. Las. Schüttelte den Kopf. Las. Schüttelte sich.

Dann stand er langsam auf und ging zu dem Schreibtisch vor dem Fenster. Zog eine Schublade auf, kramte darin herum, fischte ein Kästchen heraus. Entnahm ihm einen Ring. Hielt ihn neben meinen. Hielt beide gegen das Licht. Las abwechselnd, was darin eingraviert stand.

Schüttelte wieder den Kopf. »Meine Eltern«, sagte er, als könnte er es nicht glauben. Streckte mir den Ring, den er eben aus der Schublade geholt hatte, entgegen, dass ich es selbst sehen konnte. »Guck, das ist der Ehering meiner Mutt… «

Er vollendete den Satz nicht. Sah meine aufgerissenen Augen. Begriff, was ich begriffen hatte. Den Bruchteil einer Sekunde vor ihm.

Nein! Mein – unser Vater war mir nicht egal!

Ich hasste ihn.

Alte Dias

JÜRGEN EHLERS

Alte Dias«, sagte Susanne. »Was willst du mit dem Krempel?«

»Ich weiß nicht.« Peter hatte sie auf dem Sperrmüll entdeckt und sie einfach mitgenommen. Jetzt hielt er die Bilder gegen das Licht. Es waren überwiegend Landschaftsaufnahmen.

»Das sind die Urlaubsdias von irgendeinem toten Opa«, mutmaßte Susanne.

»Ich weiß nicht.« Ja, wahrscheinlich waren es einfach alte Urlaubsdias. Landschaften und Menschen, so viel konnte Peter erkennen. »Weißt du, wo der Projektor steckt?«

Susanne zuckte mit den Achseln. »Auf dem Boden wahrscheinlich. Wenn er noch da ist.«

»Der wird schon noch da sein.« Der Boden ließ sich zwar nicht abschließen, aber wer würde schon einen alten Diaprojektor klauen? »Ich seh mal nach.«

Susanne zündete sich eine Zigarette an. Es war ihr gleich, was das für Dias waren. Sie steckten in blauweißen Kunststoffrähmchen mit Glas. Dass Peter sie eingesammelt hatte, war eine Dummheit gewesen, aber längst nicht die größte. Peter machte viele Dummheiten. Eine davon hatte ihn seinen Job in der Versicherung gekostet. Und statt sich neue Arbeit zu suchen, suchte er im Sperrmüll nach Dingen, die man gebrauchen konnte. Das meiste, was er anbrachte, taugte nichts. So wie diese alten Fotos. Die konnte man zu nichts gebrauchen.

Peter kam mit dem Projektor zurück. Ein leeres Magazin hatte er auch gefunden. Er sortierte die Dias ein und schaltete den Projektor an. Der Ventilator lief, aber das war auch alles.

»Die Birne«, sagte Peter. »Die Birne ist im Eimer.« Er sah auf einmal mutlos aus. Wo sollten sie jetzt eine Ersatzbirne herkriegen? Für so ein altes Gerät?

»Früher hattest du eine Birne in Reserve«, erinnerte ihn Susanne.

Ja, tatsächlich. Die Birne war noch da. Und sie funktionierte. Der Projektor warf ein helles Rechteck auf das Bild an der Küchenwand. Peter nahm das Bild ab, schob das Magazin in den Projektor, und die erste Aufnahme erschien. Ein tiefes Tal, in der Ferne ein See.

»Das ist Norwegen«, behauptete Peter.

Susanne gab keinen Kommentar ab. Peter war nie in Norwegen gewesen. Die Aufnahme konnte genauso gut in den Alpen entstanden sein. Oder im Himalaja.

Die nächste Aufnahme zeigte zwei Personen, die auf Plastikstühlen vor einer Holzhütte saßen. Die Hütte wirkte primitiv im Vergleich zu den Sommerhäusern, in denen Susanne mit ihrem Ex-Mann im Urlaub gewesen war. Dann hatte sie Peter kennengelernt und sich scheiden lassen. Jetzt hatte sie keine teuren Urlaube mehr, aber dafür hatte sie Peter.

»Das ist Norwegen«, wiederholte Peter. »Ganz sicher ist das Norwegen. – Und ich kenne den Mann.«

Die beiden Personen auf dem Bild sahen aus wie ein junges Paar. Der Mann mochte vielleicht 30 Jahre alt sein, die Frau Mitte 20. Und der Mann – Susanne hatte nicht das Gefühl, den schon mal gesehen zu haben, aber Peter kannte viele Menschen.

Die nächsten Aufnahmen zeigten den See. Susanne fiel auf, dass keine Straße zu sehen war, nur eine Art Feldweg, der offenbar selten befahren wurde. Wo immer diese Aufnahmen gemacht worden waren, es war jedenfalls eine einsame Gegend gewesen. Vielleicht wirklich in Norwegen.

»Scharfe Bilder«, sagte Peter.

Susanne war sich nicht sicher, ob ihr Partner damit die junge Frau meinte, die nackt im See badete, oder die Qualität der Aufnahmen. Die Bilder waren gestochen scharf, wenn auch die Farben inzwischen etwas verblichen waren.

»Der Newtonring stört«, sagte Susanne. Sie hatte ihre Bilder immer glaslos gerahmt – damals, als sie noch Dias gemacht hatte. Wie lange war das jetzt her? 15 Jahre mindestens.

Die nächste Aufnahme zeigte den Mann, wie er nackt ins Wasser stieg. »Ich kenne den«, murmelte Peter. »Wer ist das bloß? Ich bin mir ganz sicher, dass ich ihn kenne!«

Das nächste Bild zeigte ein Rentier. »Kennst du das auch?«, fragte Susanne.

Peter antwortete nicht. Die Frau – jetzt wieder angezogen – versuchte, das Rentier zu füttern, aber das lief weg.

Susanne registrierte, dass die Landschaft im Hintergrund sich verändert hatte. Anstelle des lieblichen Tales sah man jetzt kahlen Fels. Die Frau trug einen Pullover. Wo sie jetzt stand, schien es kalt zu sein.