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Claudia Rossbacher

Steirernacht

Sandra Mohrs sechster Fall

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Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Hillarys Blut (2019), Steirerrausch (2019), Steirerquell (2018), Steirerpakt (2017), Steirernacht (2016), Steirerland (2015), Steirerkreuz (2014), Steirerkind (2013), Steirerherz (2012), Steirerblut (2011), Enter ermittelt in Wien (2016), Enter ermittelt (2013), SOKO Graz – Steiermark (2017), Wer mordet schon in der Steiermark? (2015), GenussSpur Steiermark (2019), Griaß eich in der Steiermark (2013)

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

7. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von: © Hannes Rossbacher und

ricardoreitmeyer – Fotolia.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-5108-9

Widmung

Für alle treuen Leserinnen und Leser, die diesmal ein paar Monate länger als sonst auf Sandra Mohrs neuen Fall warten mussten 

Alle Steirerinnen und Steirer bitte ich um Verständnis, dass ich aus Rücksicht auf Leser im deutschsprachigen Raum, die steirische Mundart nicht verstehen, diese wie immer nur angedeutet und hie und da eingeflochten habe. Erklärt werden diese Ausdrücke am Ende des Buchs im Glossar.

Herzlich,

Claudia Rossbacher

Reinischkogel 2016

Vorbemerkung

Ein Glossar der steirischen beziehungsweise österreichischen Ausdrücke befindet sich am Ende des Buches.

Prolog

Die Stille der Nacht

zerfetzt.

Der erste Schuss

ein Treffer.

Der zweite,

dritte,

vierte Schuss

du bist tot.

Der fünfte Schuss 

mitten ins Herz.

Die Stille der Nacht

ewig.

Kapitel 1

Samstag, 12. April

1.

»Das ist jetzt aber nicht wahr …« Abteilungsinspektorin Sandra Mohr bremste den schwarzen Audi A6 ab, während sie ihr nächtliches Déjà-vu kommentierte. Ihr Blick folgte der halb gerauchten Zigarette, die in hohem Bogen über die Motorhaube ihres zivilen Dienstwagens auf die Fahrbahn flog.

Wann zum Teufel hatte der Chefinspektor wieder mit dem Rauchen angefangen? Und vor allen Dingen, warum? Nachdem er fast zwei Jahre lang abstinent gewesen war. Oder hatte er ihr bloß etwas vorgemacht? Zuzutrauen war es ihm.

Sascha Bergmann stürzte den restlichen Inhalt seines Kaffeebechers hinunter und stieg in den Wagen. Das leere Einweggebinde steckte er in die Getränkehalterung. Höchstwahrscheinlich würde sein Müll wieder solange dort bleiben, bis Sandra ihn aufforderte, diesen endlich zu entsorgen. Oder aber, wenn für den nächsten Becher einfach kein Platz mehr war.

Bergmann fuhr sich durch die Haare, die vom Wind zerzaust waren. Wenig überraschend, sahen sie danach auch nicht ordentlicher aus. »Na? Bist du so müde, wie du ausschaust? Oder geht’s eh?«, fragte er putzmunter und schnallte sich an.

Sandra legte den Retourgang ein, um in der kurzen Sackgasse zurückzusetzen. Sie biss sich auf die Unterlippe, während sie sich umwandte. Wenngleich ihr die Tatsache, dass Bergmann eine seiner widerlichsten Angewohnheiten wieder aufgenommen hatte, gehörig gegen den Strich ging, wollte sie ihm das nicht gleich in aller Herrgottsfrüh vorwerfen. Vorerst begnügte sie sich also mit einem genervten Seufzen und blickte wieder nach vorn aufs Armaturenbrett. Halb drei Uhr morgens war definitiv zu früh für eine Auseinandersetzung. Genau genommen war es um diese Uhrzeit für alles viel zu früh. Oder auch zu spät. Je nachdem, wie man es betrachtete.

Sandra gähnte, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten. »Tschuldigung«, murmelte sie, obwohl Bergmann ihre Unhöflichkeit ohnehin nicht wahrgenommen hatte. Oder ihn diese schlichtweg nicht störte.

Den Blick auf die Straße gerichtet, legte sie wieder den Vorwärtsgang ein. Wie oft sie Bergmann wohl schon vor seinem Wohnhaus in der Sterngasse abgeholt hatte, ging es ihr durch den Kopf. Seine Wohnung hatte sie bisher noch nie betreten. Genauso wenig wie er ihre, die unweit des Lendplatzes lag. Dabei wohnten sie zu Fuß gerade einmal eine Viertelstunde voneinander entfernt.

Fast vier Jahre war es nun her, dass der Chefinspektor von Wien nach Graz versetzt worden war – ausgerechnet ihr vor die Nase. Inzwischen hatte sie sich fast an ihn gewöhnt. Aber eben nur fast. Über seine Witze konnte sie noch immer nicht lachen. Höchstens in seltenen Ausnahmefällen. Dafür waren sie beruflich ein erfolgreiches Team, was für Sandra ohnehin mehr zählte.

»Vielleicht solltest du morgens doch auf Kaffee umsteigen«, schlug Bergmann ihr vor. Er schob sich ein Pfefferminzzuckerl in den Mund und hielt ihr die Packung hin.

Beides lehnte Sandra mit einem Kopfschütteln ab. »Von wegen morgens … Es ist mitten in der Nacht«, beschwerte sie sich. »Woher nimmst du um diese Uhrzeit überhaupt einen Coffee-to-go?« Und diese bewundernswerte Energie, fügte sie gedanklich hinzu. So viel Koffein konnte sie gar nicht in sich hineinschütten, als dass sie nach kaum mehr als einer Stunde Schlaf so fit gewesen wäre wie er. Ob Bergmann mit seinen gerade mal 40 Jahren bereits an seniler Bettflucht litt? Sandra grinste in sich hinein. »Etwa aus dieser Spelunke ums Eck?«, fragte sie ihn. Soweit sie wusste, war das heruntergekommene Café das einzige Lokal in unmittelbarer Nähe, das um diese Uhrzeit offen hatte. Außer den Wettcafés, einschlägigen Nachtklubs und Striptease-Bars in diesem Viertel, in denen überwiegend alles andere als Kaffee konsumiert wurde. Ganz egal, zu welcher Tages- oder Nachtzeit.

Bergmann verneinte, indem er dreimal mit der Zunge schnalzte. »Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich mich freiwillig in einer solchen Rumsn herumtreibe.«

Niemand, den Sandra kannte, konnte dermaßen dreckig grinsen wie der Chefinspektor. »Oh ja. Dem Gestank nach zu urteilen, schon«, bezog sie sich auf den Zigarettengeruch, der an ihm haftete. Und auch sonst war Bergmann kein Kind von Traurigkeit. Zumindest vermittelte er immer wieder diesen Eindruck.

Er schnüffelte am Ärmel seiner Jacke und deutete mit einer Geste an, dass er nichts wahrnahm, was ihn störte. Ansonsten ging er nicht weiter auf ihren Kommentar ein. »Solche Pappbecher mit Plastikdeckeln kann man kaufen«, erklärte er stattdessen. »Praktisch, nicht wahr? Den Rest erledigt die Kaffeemaschine. What else?«, spielte er auf das Kapselsystem an, für das George Clooney warb. Noch einmal fuhr er sich mit den Fingern durch die strubbligen Haare und sah sie von der Seite an.

Als würde sein Augenaufschlag auch nur im Entferntesten an jenen des Hollywoodstars heranreichen, dachte Sandra und gähnte noch einmal, diesmal hinter vorgehaltener Hand. »Praktisch vielleicht, aber nicht gerade umweltfreundlich. Weder die Kapseln noch die Plastikdeckel auf diesen Einwegbechern. Genauso gut könntest du dir einen Espressokocher zulegen und einen Thermobecher verwenden«, sagte sie.

»Wenn du mir beides hinterher abwäschst …«

»Sicher nicht.«

»Sag mal, was ist eigentlich los?« Bergmanns Blick klebte noch immer auf ihr.

»Wieso? Was soll los sein?«

»Na, wohin fahren wir? Und weshalb?«, kam er auf den Grund ihres nächtlichen Einsatzes zu sprechen.

»Ach so …« Sandra hielt den Wagen an der roten Ampel an. »Pöllau bei Hartberg. Sieht nach einer Familientragödie aus. Drei Tote: Vater, Mutter, Sohn. Alle erschossen.« Eine ganze Familie – einfach so ausgelöscht, fügte sie gedanklich hinzu.

»Wie alt war der Sohn denn?«

»Gerade mal elf Jahre alt.«

»Scheiße …« Bergmann blickte aus dem Seitenfenster.

Die nicht mehr ganz junge Frau in Leoparden-Leggings, überkniehohen Plateaustiefeln und Kunstpelzjacke, die an der Hausmauer lehnte, warf sich in Pose. Sie öffnete die Jacke, um ihr üppiges Dekolleté samt Speckrollen um die Leibesmitte zu präsentieren, und leckte sich lasziv über die knallrot geschminkten Lippen. Der Chefinspektor schien keinerlei Notiz von ihr zu nehmen. Auch nicht, als sie ihre Jacke wieder zuzog und ihm den Stinkefinger zeigte.

Sandra richtete ihren Blick wieder auf die Straße. »Du sagst es«, stimmte sie seinem Fäkalausdruck zu. »Für die Pöllauer Kollegen sieht alles nach erweitertem Suizid aus. Offenkundig hatte der Mann gravierende finanzielle Schwierigkeiten.«

Bergmann nickte nachdenklich. »Wieder einer, der sein Leben nicht mehr gepackt, durchgedreht und seine Familie in den Tod mitgenommen hat«, zog er seine Schlüsse. »Leider nichts Neues …«

»Dass ein solcher Fall nicht neu ist, spielt in unserem aber leider überhaupt keine Rolle«, sagte Sandra forscher als beabsichtigt. Sie stieg aufs Gaspedal, als die Ampel auf Grün sprang.

Bergmann nahm ihren Kommentar schweigend hin.

Wenngleich die Suizidraten in der Steiermark seit 1970 deutlich gesunken waren, häuften sich jene Fälle, in denen Menschen ihre nächsten Angehörigen töteten und sich anschließend selbst umbrachten. Oftmals waren es auch ältere Ehepaare oder Lebensgefährten, die aus Angst vor Krankheit und Pflegebedürftigkeit freiwillig gemeinsam aus dem Leben schieden. Oder weil sie nicht alleine, ohne den langjährigen Partner, der unheilbar erkrankt war, weiterleben wollten.

»Ist Jutta schon unterwegs?«, erkundigte sich Bergmann nach der Gerichtsmedizinerin.

Sandra nickte. »Frau Doktor Kehrer müsste vor uns am Einsatzort eintreffen. Siebenbrunner und seine Leute sowieso«, fuhr sie fort. Der Gedanke an den missmutigen Leiter der Tatortgruppe entlockte ihr ein weiteres Seufzen. Im Vergleich zu Manfred Siebenbrunner war Sascha Bergmann ein nahezu liebenswerter Zeitgenosse.

In Nächten wie dieser hasste Sandra ihren Job bei der Mordgruppe des Landeskriminalamtes Steiermark. Erst recht, wenn wie im aktuellen Fall ein Kind zu den Opfern zählte.

2.

Sandra jagte den Audi über die Landstraße, die die Marktgemeinde Pöllau mit dem kleineren Marienwallfahrtsort Pöllauberg verband. Stellenweise befürchtete sie, dass die heftigen Windböen ihren Dienstwagen jeden Moment von der Fahrbahn wehen könnten. Immer wieder musste sie abgebrochenen Ästen ausweichen. Einer fiel herab, just, als sie am Baum vorbeifuhren, und verfehlte sie nur knapp. Trotz aller Widrigkeiten lenkte sie das Auto weiterhin unbeschadet durch die Nacht. Hunderttausende gefahrene Kilometer und zahlreiche Fahrsicherheitstrainings hatten für entsprechende Routine gesorgt, selbst bei extremen Wetter- und Straßenbedingungen. Eine Routine, die ihr Partner leider vermissen ließ. Bergmann fuhr höchst ungern, daher nur äußerst selten und umso miserabler Auto.

Die Bauernhöfe und Einfamilienhäuser, die sie passierten, lagen im Dunkel der Nacht, ebenso die Äcker, Wiesen und Wälder ringsherum. Ab und zu lugte der fast volle Mond hinter bedrohlich aussehenden Wolkenformationen hervor, die der Sturm mit beachtlicher Geschwindigkeit vor sich hertrieb. In solchen Momenten war die malerische Hügellandschaft wenigstens schemenhaft sichtbar.

Die einzige stetige Lichtquelle, außer dem Display des Navigationsgerätes und den Scheinwerfern ihres Dienstwagens, war die beleuchtete Wallfahrtskirche Maria Pöllauberg, die vom Samstagsberg über den Naturpark Pöllauer Tal wachte. Doch auch das hochgotische Gotteshaus war nicht allzu lange zu sehen. Schon war es wieder hinter den bewaldeten Hügelkuppen aus ihrem Blickfeld verschwunden.

»Dort drüben«, kommentierte Bergmann die kleine, hell erleuchtete Siedlung, die unvermittelt nach einer Baumgruppe zu ihrer Linken auftauchte.

Ein Blick auf das stummgeschaltete Navi bestätigte Sandra, dass sie an der nahen Wegkreuzung in der Zeil nach links in die Sackgasse abbiegen musste, um ihr Ziel in 500 Metern zu erreichen. Solange die nervtötende Computerstimme fast alles falsch betonte, war sie zum Schweigen verdammt. Außer in jenen seltenen Ausnahmefällen, in denen es um Leben und Tod ging, wenn Sandra die Gegend zudem völlig fremd war. Im oststeirischen Pöllauer Tal kannte sie sich jedoch ganz gut aus, wie in den meisten Regionen der Steiermark. Auch der Zeitfaktor spielte in diesem Fall keine überlebenswichtige Rolle. Die Opfer waren leider nicht mehr zu retten.

Den Wagen stellte Sandra zwischen zwei schräg geparkten Funkstreifen direkt vor dem Wirtshaus ab. Drinnen brannte Licht. Der Tatort selbst lag an die 150 Meter weiter oben im Bauernhaus, das mit Polizeiabsperrbändern gesichert und mit Scheinwerfern beleuchtet war. Am Fahrbahnrand der Zufahrtsstraße, die zum Tatort hinaufführte, reihte sich ein Einsatzfahrzeug an das andere. Ganz oben, wenige Meter vor dem Haus, parkten die Kastenwägen der Tatortgruppe. Während sich Sandra und Bergmann die Schutzanzüge überzogen, kam ein uniformierter Polizist auf sie zu.

»Ihr seid’s bestimmt die Ermittler vom LKA?«, sprach sie der untersetzte Mann an, der Sandras 1,70 Meter höchstens um ein, zwei Zentimeter überragte.

Sandra strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, die ihr eine Windböe eben aus dem Pferdeschwanz gerissen hatte, nannte ihre Namen und Dienstränge.

Bergmann zog den Reißverschluss seines Einweg-Overalls geräuschvoll zu.

Der Kollege aus der Polizeiinspektion Pöllau stellte sich ihnen als Kontrollinspektor Gottfried Schnuderl vor.

»Ich nehme an, ihr habt die Opfer gekannt?«, erkundigte sich Sandra und setzte sich als Erste in Bewegung.

Schnuderl nickte. »Sicher. Hier kennt a jeder an jeden. Bei den Toten handelt sich’s um die Familie Faschingbauer … den Walter und die Gudrun, seine Frau …« Schnuderl stockte, sichtlich betroffen.

»Und um den Sohn der beiden«, vergewisserte sich Sandra.

Schnuderl schluckte. »Ja, den Severin hat’s a daklescht«, bestätigte er.

»Erweiterter Suizid?«, hakte Sandra nach.

Schnuderl zuckte mit den Schultern. »Schaut ganz danach aus. Obwohl ich mir beim besten Willen nicht erklären kann, wie der Walter ein solches Massaker hat anrichten können«, meinte er.

»War Herr Faschingbauer nicht hochverschuldet?«

»Ja eh. Aber das war nicht seine Schuld.«

»Wieso nicht?«

Schnuderl blieb stehen und wandte sich nach links.

Sandras Blick folgte seinem ausgestreckten Arm. Die ersten Meter des Feldweges, der keine drei Schritte neben ihnen abzweigte, lagen im Lichtkegel der Polizei-Scheinwerfer.

»Dort hinten sind die Ferienhäuser, die die Faschingbauers an Gäste vermieten. Oder besser, gern vermietet hätten«, erklärte Schnuderl.

Sandra kniff die Augen zusammen. Die besagten Gebäude jenseits des Scheinwerferlichts ließen sich noch nicht einmal erahnen. »Waren diese Ferienhäuser der Grund für die Schulden?«, fragte sie nach.

»Ich sag einmal so: Der Hof war schon belastet, wie ihn der Walter von seinem Vater übernommen hat«, erzählte der Polizist, während sie ihren Weg zum Wohnhaus auf der Anhöhe fortsetzten. »Er hat dann eine Weile so weiterg’wurscht’lt, bis die Grazer Tant von der Gudrun g’storben is und ihr einen ordentlichen Batz’n Geld vererbt hat. Auf das hinauf hat er dann den Landwirtschaftsbetrieb aufgeben, das Wohnhaus renoviert und den alten Troadkasten und die zwei Huam zu Ferienhäusern umbaut. Alles vom Feinsten und entsprechend kostspielig. Dafür hat die Erbschaft garantiert ned g’langt. Wenns mich fragt’s, hat die Gudrun den Walter da voll einig’ritten. Die Häusermieten ham’s dann auch noch viel zu hoch für die Gegend ang’setzt. Von dem her ist das Geschäft leider ned so auf’gangen, wie sie sich das vorg’stellt ham. Wegen dem hätt der Walter dem Severin aber trotzdem kein Haar gekrümmt. Hab i wenigstens immer glaubt. Der Bua war doch sein Ein und Alles.« Noch einmal hob sich der Adamsapfel des Landpolizisten, um sich im nächsten Augenblick wieder zu senken.

»Und seine Frau?«, fragte Sandra. »Könnte sie die Tat begangen haben?«

Wieder zuckte Schnuderl ratlos mit den Schultern. »I bin schon zu lang in unserm Verein dabei, als dass i für irgendjemand die Hand ins Feuer legen tät.«

Das hatte eben aber noch ganz anders geklungen, als Schnuderl den angeblich unschuldig verschuldeten Mann verteidigt hatte, stellte Sandra fest. Objektiv betrachtet und ohne die genauen Hintergründe zu kennen, konnte Walter Faschingbauer genauso wenig oder so viel für seine Misere wie jeder andere Unternehmer, der sich verkalkuliert hatte und in eine finanzielle Krise geschlittert war. Auch wenn ihn angeblich seine Frau in die Bredouille gebracht hatte.

Wenige Meter vor dem schmucken Bauernhaus flatterten die rot-weißen Absperrbänder mit dem Polizeischriftzug geräuschvoll im Wind. Dass die Renovierung des alten Gebäudes einiges an Geld verschlungen haben musste, hätte Sandra auch dann vermutet, wenn Schnuderl es zuvor nicht erwähnt hätte. Das traditionelle Bauernhaus, das laut Inschrift über dem Eingang im Jahre 1818 erbaut worden war, hätte jederzeit Platz in einem dieser Hochglanzmagazine gefunden, in denen die schönsten Seiten des Landlebens inszeniert wurden.

Sandra tat es Bergmann gleich und bückte sich, um vor dem Betreten des Tatorts die Einweg-Überzieher über ihre Schuhe zu stülpen. »Wer hat die Leichen eigentlich gefunden?«, fragte sie, nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte. Noch einmal strich sie die lose Haarsträhne hinters Ohr, die der Wind neuerlich erfasst hatte.

»Die Johanna, das arme Dirndl …«

»Johanna?«

»Die Tochter vom Walter und der Gudrun.«

»Die beiden hatten noch ein zweites Kind?«, fragte Sandra erstaunt. Hatte sie diese Tatsache etwa überhört, nachdem Lubenskys Anruf sie aus dem Tiefschlaf gerissen hatte? Wohl kaum. Vermutlich war ihm dieser Fakt nicht bekannt gewesen. »Ist das Mädchen verletzt?«

»Des ned … Aber sie steht unter Schock. Der Arzt hat ihr was zur Beruhigung geb’n. Sie wollt partout ned ins Krankenhaus.«

»Wie alt ist Johanna denn?«

»Zwei Jahre älter als der Severin … 13 müsst sie jetzt sein«, rechnete Schnuderl nach.

»Und wo ist das Mädchen jetzt? Hat es von der Tat etwas mitbekommen?«

»Ob die Johanna was g’sehn hat, wiss’ ma ned. Sie hat nur g’reart, kaum was g’redt. Der Bruder vom Walter, der Bernhard, hat den Mord um drei viertel eins g’meldet, nachdem die Johanna bei ihm auf’taucht ist. Ihr Onkel ist der Wirt von der ›Waldstubn‹, der einzige unmittelbare Nachbar.«

»Und Johanna hält sich jetzt bei ihrem Onkel auf?«

Schnuderl bestätigte das.

»Wohnt er auch im Gasthausgebäude?«

»Im ersten Stock oben. Er lebt allein in der Wohnung. Seit ihm die Susanne oboscht is.«

»Seine Frau?«

»Die Lebensgefährtin. Verheiratet waren die beiden nie. Sie ham auch keine Kinder.«

»Und der Mann hat keine Schüsse gehört?«

Schnuderl verneinte. »Er hat beim Z’ammräumen laut Musik g’hört. Erst, wie’s wieder aus war, hat er mitgekriegt, dass die Johanna wie eine Narrische anpumpert.«

»Gäste waren demnach keine mehr im Wirtshaus?«

Wieder verneinte Schnuderl. »Spätestens um zwölf ist Sperrstund in der ›Waldstubn‹. Wenn um die Uhrzeit überhaupt noch Leut da sind. Übernachtungsgäste gibt’s zurzeit auch keine. Und das, obwohl heute die Osterferien beginnen. Ich hab den Bernhard gebeten, dass er unten in der Gaststube auf euch wartet.« Der Polizist zeigte zum Wirtshaus hinunter.

»Kümmert sich momentan jemand um den Mann und seine Nichte?«

»Fraliwull. Eine Kollegin ist unten, das Kriseninterventionsteam hama auch schon verständigt.«

Sandra nickte.

»Die Johanna ist beim Bernhard bestens aufg’hob’n«, war Schnuderl überzeugt.

Diese Entscheidung würde der Jugendrichter treffen. Aber bestimmt nicht mehr heute Nacht. Nur im äußersten Notfall würde das Jugendamt sofort hinzugezogen werden. Ansonsten erst am nächsten Werktag. »Gibt es noch weitere Zeugen? Hat jemand Schüsse gemeldet? Oder irgendetwas anderes?«, fragte Sandra.

»Bei uns ned.«

Bei der Polizeinotrufnummer war auch kein Zeugenanruf eingegangen, wusste Sandra von der Einsatzzentrale. Zumindest nicht bis zu jenem Zeitpunkt, als sie mit Lubensky telefoniert hatte. »Seltsam. So ruhig, wie es hier ist«, meinte sie.

»Na, so seltsam ist des gar ned«, widersprach ihr Schnuderl. »Die nächste Siedlung liegt dort, hinter der Hügelkuppe, ungefähr einen Kilometer weit weg. Die Fenster und Türen vom Haus war’n alle zu, wie wir hier an’kommen sind. Von daher is ned weiter verwunderlich, dass keiner was g’hört hat.«

In diesem Fall hätte höchstens Bernhard Faschingbauer etwas von den Schüssen mitbekommen können, wenn nicht die laute Musik im Gasthaus gespielt hätte, überlegte Sandra. Oder jemand, der gerade die Landstraße weiter unten entlanggefahren war. Noch unwahrscheinlicher war, dass jemand mitten in der Nacht vorbeispaziert war oder die Sackgasse, die zum Gehöft führte, befahren hatte. »Gut. Vielen Dank fürs Erste, Gottfried.«

»Friedl.«

»Ja, Friedl … Wir schauen dann mal hinein.« Sandra streifte die Einweghandschuhe über.

»Soll i mit einikommen?«

»Nicht nötig. Da drinnen sind bestimmt schon etliche Leute am Werken. Könnte ziemlich eng werden. Gehen Sie lieber wieder hinunter zu den Zeugen. Wir kommen später nach, um sie zu befragen. Entschuldigung, dürfen wir vorbei?«, wandte sich Sandra an den Kriminaltechniker, der gerade das Schloss der Eingangstür inspizierte.

»Bitte schön«, antwortete er und wich beiseite.

Ein weiterer Kollege im Vorraum wies ihnen den Weg zur Holztreppe, die zu den Schlafzimmern hinaufführte. Auf halbem Weg stieg Sandra der eigentümliche Geruch von Blut in die Nase, das reichlich geflossen sein musste. Schnuderl hatte von einem Massaker gesprochen. Hinzu kam der Anblick von Manfred Siebenbrunner, der sie oben auf dem Podest erwartete. »Morgen«, begrüßte sie ihn knapp. »Dürfen wir schon hinein?«

»Hätte ich Sie sonst heraufkommen lassen?«, antwortete der Chef der Tatortgruppe mit einer patzigen Gegenfrage.

Sandra verzichtete auf eine Antwort. Sollte sich Bergmann doch mit diesem Grantscherm herumschlagen.

»Also, Siebenbrunner«, übernahm der Chefinspektor prompt. »Wie schau ma aus? Außer grauslich …«

Der Kriminaltechniker deutete Bergmann mit einem Wink, ihn in eines der Zimmer zu begleiten, dessen Tür offen stand. »Kommen Sie mit«, brummte er.

Sandra folgte den Männern ins Elternschlafzimmer. Der Raum mit der dunklen Holzdecke und dem etwas helleren Holzboden war in gedeckten Beige- und Blautönen eingerichtet. Das viele Blut hatte etliche Stellen rot gefärbt. Sandra spürte, wie sich ihr Magen umdrehte. Wenngleich sie sich in derlei Situationen noch nicht übergeben hatte müssen, gewöhnen würde sie sich niemals daran. Die meisten Kollegen stumpften mit der Zeit ab. Ihr wollte das nicht so ganz gelingen, doch das behielt sie lieber für sich. Wobei nicht auszuschließen war, dass es manch anderem nach außen hin abgebrühten Polizisten insgeheim ebenso erging wie ihr.

Der Gerichtsmedizinerin machte das Gemetzel freilich nichts aus. Andernfalls hätte sie ihren Beruf verfehlt gehabt. Doktor Jutta Kehrer blickte kurz von der weiblichen Leiche im Bett auf, ließ die Schere in ihrer Hand sinken, um die beiden LKA-Ermittler zu begrüßen. Anschließend fuhr sie fort, das blutgetränkte Nachthemd aufzuschneiden, damit sie den Leichnam der Frau untersuchen konnte.

Sandra betrachtete die Opfer aus einigem Abstand. Beide lagen in ähnlicher Position rücklings auf dem Doppelbett. Der tote Mann trug nur ein T-Shirt, auf dem sie keine Blutflecke erkennen konnten. Jedenfalls nicht von ihrer Warte aus. Sein linkes Bein und der linke Arm ragten über die Bettkante. Bettdecken fehlten. Blutspritzer und Gewebeteile klebten an zwei Wänden, auf den Pölstern und dem Spannleintuch. Eines der Nummernkärtchen, das die Tatortgruppe aufgestellt hatte, markierte eine unsichtbare Spur auf dem Schiffboden, direkt unter dem linken Arm des Mannes, der herabhing.

»Ich sehe mir zuerst die Frau an. Sie wurde mehrfach von Schüssen getroffen. Danach den Mann«, kommentierte Doktor Kehrer ihre Arbeit und legte die Schere beiseite.

»Was ist mit dem Buben?«, fragte Bergmann.

»Mit dem bin ich fürs Erste fertig. Die Leiche liegt nebenan, auf dem Boden des Kinderzimmers, falls ihr euch den zweiten Tatort anschauen wollt … Der Bub wurde mit einem einzigen Schuss von vorne getötet. Todesursache Herzperforation oder Aortenruptur, das wird die Obduktion weisen. Der Todeszeitpunkt lässt sich relativ genau eingrenzen, zumal er noch nicht besonders lange zurückliegt. Er muss zwischen 23 Uhr und 1 Uhr morgens verstorben sein«, fasste die Gerichtsmedizinerin ihre bisherigen Erkenntnisse zusammen.

»Das kommt hin«, bestätigte Bergmann. »Der Leichenfund wurde um 0.45 Uhr gemeldet.«

»Was du nicht sagst …« Doktor Kehrer schenkte Bergmann ein süffisantes Grinsen. Der lächelte zurück.

Sandra wusste noch immer nicht, ob zwischen den beiden etwas lief oder nicht. Die Ärztin war eine dieser aparten, unterkühlten Frauen, die stets darauf bedacht waren, sich keinesfalls hinter die perfekt geschminkte Fassade blicken zu lassen. Dennoch wirkten sie und der Chefinspektor oftmals auffallend vertraut. Besonders, wenn sie sich wieder einmal einen verbalen Schlagabtausch lieferten, frei nach dem Motto: Was sich liebt, das neckt sich. Wie auch immer, Sandra war es egal. Weder ging es sie etwas an noch interessierte es sie, was der Chefinspektor in seinem Privatleben trieb. Auch wenn sich das umgekehrt leider ganz anders verhielt.

»Der Patient weist außer der tödlichen Schussverletzung noch einige ältere Blessuren auf«, fuhr Doktor Kehrer gewohnt nüchtern fort.

Sandra fand es immer ein wenig seltsam, wenn die Gerichtsmedizinerin von ihren »Patienten« sprach, zumal keiner von ihnen mehr lebte. Auch wenn die Ärztin formal völlig recht hatte.

»An seinem rechten Auge wurde erst vor Kurzem eine Keratoplastik vorgenommen.«

»Aha … Und auf Deutsch?«, fragte Bergmann.

»Eine Hornhauttransplantation. Entweder hat er an einer schweren Augenerkrankung gelitten oder er hatte einen Unfall«, erklärte die Gerichtsmedizinerin. »Jedenfalls bezweifle ich, dass er mit diesem Auge noch sehen konnte. Auf seinem Nachttisch liegt eine cortisonhaltige Augensalbe«, merkte sie an.

»Wir werden seinen Onkel nach dem Auge befragen«, sagte Sandra. »Wie sieht es mit Abwehrverletzungen aus?«

»Ich konnte keine frischen Abwehr- oder Kampfspuren feststellen. Lediglich Hautpartikel unter seinen Nägeln. Er könnte sich selbst gekratzt haben, ohne seine Haut zu verletzen. Kratzer sind keine ersichtlich. Oder er hat jemand anderen gekratzt. Auffällig sind hingegen einige ältere Hämatome an seinen Oberarmen, am Gesäß und an den Beinen.«

»Ist der Bub misshandelt worden?«, fragte Sandra.

»Sieht so aus. Genaueres kann ich nach der Obduktion sagen. Jetzt kümmere ich mich erst einmal um diese beiden Patienten hier.«

»Wo sind die Bettdecken?«, fragte Bergmann

»Unten im Wagen«, antwortete Siebenbrunner. »Die Frau war bis zur Hüfte zugedeckt. Der Mann bis über die Brust.«

Der Chefinspektor wandte sich wieder der Gerichtsmedizinerin zu. Die machte sich gerade daran, die Rektaltemperatur der Toten zu messen. Zusammen mit der Umgebungstemperatur und anderen Todesmerkmalen wie der Leichenstarre und den Totenflecken ließ sich damit der Todeszeitpunkt bis auf wenige Stunden genau eingrenzen. Sofern dieser nicht länger als zwei Tage zurücklag, was hier augenscheinlich nicht der Fall war.

»Die Spurenlage lässt vermuten, dass der Bub aufgewacht und aufgestanden ist, bevor er erschossen wurde«, übernahm Siebenbrunner wieder das Wort. »Logisch erscheint mir, dass er die Schüsse auf seine Eltern gehört hat und entweder nachsehen oder flüchten wollte. Der Täter hat ihn im Kinderzimmer gestellt und auf ihn geschossen.«

»Dann hat also der Vater zuerst die Mutter erschossen«, meinte Sandra. Unwahrscheinlich, dass sich die Frau selbst mehrere Schüsse zugefügt hatte. »Danach seinen Sohn. Warum ist der Mann ins Ehebett zurückgekehrt, um sich selbst zu erschießen? Das hätte er doch gleich im Kinderzimmer erledigen können«, überlegte sie laut.

»Das kann ich Ihnen schon sagen … Weil der Tathergang völlig anders war.« Siebenbrunner legte eine Kunstpause ein. »Weder dieser Mann hier ist der Täter noch die Frau.« Der Blick des leitenden Kriminaltechnikers ließ sich am treffendsten mit selbstherrlich beschreiben.

Sandra wandte sich angewidert ab. Lieber sah sie der Gerichtsmedizinerin bei ihrer blutigen Arbeit zu.

»Und was macht Sie da so sicher? Haben Sie keine Tatwaffe gefunden oder was?«, hakte Bergmann nach.

»Oh ja, die Tatwaffe haben wir sichergestellt.« Siebenbrunner bückte sich erneut nach seinem Alukoffer. Diesmal, um einen Plastikbeutel herauszuholen, den er Bergmann überreichte.

»Eine Glock.«

»Glock 17«, ergänzte Siebenbrunner, als ob der Chefinspektor die Waffe nicht auch so erkannt hätte. Immerhin handelte es sich dabei um dasselbe Modell, das der österreichischen Polizei als Dienstpistole diente. »Sie lag am Boden, unter der linken Hand des Mannes. Die Position haben wir dort markiert. Sicher ist, dass mit der Waffe vor Kurzem geschossen wurde. Ebenso sicher ist aber auch, dass es nicht dieser Mann hier getan hat.« Wieder folgte eine Kunstpause.

Bergmann seufzte hörbar und rollte genervt die Augen. »Und weiter?«

»Selbst wenn der Tote Linkshänder war, was der Auffindesituation entsprechen würde, konnten wir keine Schmauchspuren an seinen Händen feststellen«, fuhr Siebenbrunner fort. »Auch nicht an den Händen der Frau, falls Sie sich gerade überlegen, wie die Tatwaffe post mortem von der einen Seite des Bettes auf die andere Seite gelangt sein könnte, Frau Mohr.« Siebenbrunner trug sein glatt rasiertes Kinn noch höher als zuvor und grinste Sandra von oben herab an.

Tatsächlich war ihr genau diese Frage eben durch den Kopf gegangen. Dass ausgerechnet dieser Kotzbrocken ihre Gedanken erriet, ärgerte Sandra. So lächerlich war die Frage nämlich gar nicht. Immerhin hatte er sie eben selbst gestellt.

»Dann hat also jemand anders geschossen«, kam Bergmann ihrer Antwort zuvor.

»Definitiv. Wir haben insgesamt fünf Patronenhülsen sichergestellt. 9 Millimeter Vollmantelgeschoss«, sagte Siebenbrunner. »Im Magazin der Tatwaffe befinden sich aber nur noch drei Patronen. Demnach müssen wir davon ausgehen, dass die Pistole vor der Tat nicht voll geladen war. Das ist übrigens nicht die einzige Waffe, die sich hier im Haus befunden hat. In einem Schrank im Arbeitszimmer waren noch zwei Gewehre und eine Luftdruckpistole. Leider waren auch diese Waffen nicht ordnungsgemäß versperrt.«

»Ganz schön fahrlässig«, merkte Sandra an. »Überhaupt, wenn Kinder im Haus sind.«

»Ist die Tatwaffe auf eines der Opfer eingetragen?«, fragte Bergmann.

»Das müssen wir erst überprüfen. Jedenfalls haben wir die Waffenbesitzkarte des getöteten Mannes sichergestellt.«

»Irgendwelche Einbruchsspuren?«, fragte Bergmann.

»Bislang negativ.«

»Was ist mit der Frau?«, sprach der Chefinspektor die Gerichtsmedizinerin an, die das Thermometer längst wieder aus der weiblichen Leiche entfernt hatte.

Sie blickte von der Bauchwunde auf. »Der Todeszeitpunkt liegt im selben Tatzeitraum wie jener des Buben. Insgesamt drei Einschüsse, jeweils einer in Bauch, Brust und Kopf. Sie wurde regelrecht hingerichtet.«

Bergmann trat näher an die entblößte Frauenleiche heran, um sie zu begutachten. »Irgendwelche anderen äußerlichen Verletzungen?«, fragte er.

»Momentan ist keine feststellbar«, antwortete Doktor Kehrer. »Wenn die Leiche gewaschen ist, kann ich mehr dazu sagen.«

Sandra hatte sich dem männlichen Opfer von der anderen Seite genähert, um das Einschussloch an dessen Schläfe zu betrachten. Sie beugte sich über den Kopf der Leiche. Die Stanzmarke auf der Haut verriet ihr, dass die Waffe diese berührt hatte, als sie abgefeuert worden war. Wo die Kugel ausgetreten war, klaffte ein deutlich größeres Loch im Schädel als an der Eintrittsstelle. Charakteristisch für einen Kontaktschuss.

Wenn sich der Mann nicht selbst getötet hatte, war die Waffe an seiner linken Schläfe aufgesetzt und abgedrückt worden. Wahrscheinlich, während er geschlafen hatte. Demnach musste er das erste Opfer des Täters gewesen sein, mutmaßte Sandra. Ihre Theorie erschien ihr auch deshalb plausibel, weil der Mann bestimmt der Kräftigste in der Familie gewesen war, den man besser als Ersten auslöschte, wollte man die Gegenwehr möglichst gering halten.

Die Frau war vermutlich vom Schuss auf ihren Mann aufgewacht. Andernfalls hätte sich der Täter wohl mit einem einzigen aufgesetzten Kopfschuss begnügt, wie schon zuvor bei der Tötung des Mannes. Naheliegend war, dass sich die Frau im Bett aufgesetzt hatte. Das wäre jedenfalls die normale Reaktion gewesen. Wenn sie sich also im Bett bewegt hatte, war es für den Täter nicht so leicht gewesen, sie mit nur einem Schuss tödlich zu treffen. Um auf Nummer sicher zu gehen, hatte er folglich drei Schüsse auf sie abgefeuert, kombinierte Sandra. Eine Übertötung, die dem Opfer weitaus mehr tödliche Verletzungen, als zum Sterben nötig waren, zugefügt hätte, schien hier nicht vorzuliegen.

Der Sohn war nach der Mutter in seinem Kinderzimmer hingerichtet worden, nachdem dieser von den Schüssen auf seine Eltern wach geworden und aufgestanden war, spekulierte Sandra weiter.

Entweder hatte sich der Täter im Haus ausgekannt und das Zimmer des Buben gezielt aufgesucht, oder er war in den nächstgelegenen Raum spaziert, um weitere potenzielle Opfer oder mögliche Tatzeugen auszulöschen. Einzig der Tochter war es gelungen, ihm zu entkommen. Fragte sich nur, wie.

Die fehlenden Einbruchsspuren sprachen für Sandras erste Theorie, nämlich, dass der Täter die Familie und das Haus gekannt hatte. Er musste demnach über einen Schlüssel verfügen oder jemand hatte ihn freiwillig ins Haus gelassen, bevor alle zu Bett gegangen waren.

Sandra hoffte, dass ihnen Johanna als Tatzeugin weiterhelfen konnte. Vielleicht hatte das Mädchen den Täter gesehen, möglicherweise sogar erkannt. Etwas an diesem Szenario machte sie allerdings stutzig. Wenn der Täter die Familie gekannt hatte, musste er doch zumindest befürchten, dass Johanna die Ermordung ihrer Familie mitbekommen hatte und zu ihrem Onkel ins nahe Gasthaus geflüchtet war. Warum hatte er die 13-Jährige nicht dort gesucht und sein Massaker fortgesetzt? Um keinen weiteren Zeugen zu riskieren und den Wirt ebenfalls töten zu müssen? Hatte er das Mädchen absichtlich verschont? Oder war der Wirt der ›Waldstubn‹ der gesuchte Täter? In diesem Fall stellte sich allerdings die Frage, warum seine Nichte ausgerechnet zu ihm geflüchtet war, beziehungsweise wieso er sie am Leben gelassen und seinen Neffen getötet hatte. Vielleicht war Severin während der Tötung seiner Eltern in deren Schlafzimmer gekommen und hatte deshalb sterben müssen, überlegte Sandra weiter. Aber warum war der Bub dann in seinem Zimmer von vorne erschossen worden und nicht im Elternschlafzimmer oder auf der Flucht von hinten? Unzählige Fragen gingen ihr durch den Kopf, die zuerst einmal alle sortiert werden wollten. »Gibt es weitere Schlafzimmer hier oben?«, sprach sie eine davon aus.