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Astrid Plötner

Todesgruß

Kriminalroman

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © don limpio / photocase.de, © Frank / Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5154-6

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Sonntag, 10. Juni

Trotz des warmen Sommertages stand sie am geschlossenen Fenster. Als wolle sie das fröhliche Vogelgezwitscher fernhalten, das immer noch dumpf zu ihr drang. Frohsinn passte nicht in ihr Leben. Sie rieb sich die dünnen Arme, an denen sich feine blonde Härchen aufstellten. Durch blank geputzte Scheiben sah sie in einen azurblauen Himmel, an dem sich vereinzelt Schäfchenwolken zeigten. Eine davon hatte die Form eines Herzens. Ihre Gedanken schweiften wehmütig zu Benny. Tränen traten in ihre Augen, als ihr Blick zur Kinderschaukel und zum Sandkasten in ihrem verwilderten Garten wanderte. Einst geschaffen für eine Familie mit lachenden Kindern.

Und wieder traf sie mit einer Wucht die Gewissheit, dass in ihrem Garten keine Kinder mehr lachen würden. Die glückliche Familie von damals gab es nicht mehr. Sie war zerbrochen. Sie wurde von einem Tag auf den anderen zerstört. Heute dominierte Rost das Gestänge der Schaukel, die morsche Sandkiste diente nur noch streunenden Katzen als Toilette und am Gartenhaus blätterte Farbe ab.

Und sie selbst? Was war aus der hübschen, lebensfrohen Frau geworden? Wo war die engagierte Grundschullehrerin auf der Strecke geblieben? Einsamkeit und Depression bestimmten ihren Tagesablauf. Sie lebte in der Vergangenheit. Sie zehrte von der Vergangenheit. Sie klammerte ihre Gedanken an die Vergangenheit und funktionierte nur noch wie ein Roboter.

Das Lachen verging, als Benjamin starb. Ihr kleiner, süßer Benny. Ihr ein und alles. Mit seinen vier Jahren wurde er aus dem Leben gerissen. Sie stand daneben, zur Untätigkeit verdammt. Oder hätte sie das Unglück verhindern können? Da waren sie wieder: die quälenden Gedanken. Seit Jahren. Jeden Monat, jeden Tag, jede Stunde. Sie schloss die Augen und rieb sich die Stirn. Benny. Sie konnte seinen Tod nicht verwinden. Auch nicht nach so langer Zeit. Niemals. Heute wäre ihr Junge 18 Jahre alt geworden. Volljährig. Ein junger Mann. Vielleicht mitten im Abitur. Sicher gäbe es eine große Party mit vielen Freunden.

Lächelnd blickte sie auf die Schokoladentorte, die sie bereits in der Früh gebacken hatte. 18 Kerzen brannten langsam herunter, wobei das Wachs zerfloss und sich in die Schokoladenglasur senkte. Sie seufzte und wendete den Blick ab. Die Bodendielen unter dem blau gemusterten Teppichboden knarrten, als sie auf das Kinderbett zuging und sanft über den frischen Bezug mit den aufgedruckten Rennwagen strich. Sie hob den Kopf und lächelte Benny an, der ihr von einem gerahmten DIN-A3-Porträt zuwinkte, das sie gestern noch rechtzeitig zu seinem Geburtstag vom Rahmengeschäft abholte. Er war ihr so nah wie lange nicht mehr.

Eine Weile stand sie so, dann wendete sie fast widerwillig den Blick ab, pustete die Kerzen aus und trat aus dem Kinderzimmer. Sie schloss leise die Tür, als wolle sie vermeiden, ihr schlafendes Kind zu wecken. Dann ging sie über den Flur zum Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank. Sie zog ein ärmelloses Spitzennachthemd heraus und entkleidete sich, obwohl es erst drei Uhr am Nachmittag war. Das Nachtkleid umspielte sanft und kühl ihren mageren Körper. Sie spürte eine gewisse Vorfreude, als sie sich ins Bett legte, und die Decke bis zum Hals zog. Ihr Entschluss stand fest. Kein Aufschub mehr, kein Entkommen. Endlich Erlösung. Ihr schmales, blasses Gesicht hob sich kaum vom weißen Kissen ab.

»Sie werden es verstehen«, murmelte sie und meinte damit die wenigen Menschen, die ihr noch nahestanden, die sich verpflichtet fühlten, sich ab und zu kümmerten. Die freundlich lächelten, sich dennoch überwinden mussten, dieses Haus zu betreten. Ja. Natürlich hatte sie bemerkt, dass sie zu einer Last geworden war.

Langsam drehte sie sich zur Seite und griff nach dem Schälmesser, das sie bereits am frühen Morgen aus dem Messerblock genommen und auf den Nachttisch gelegt hatte. Eine Weile drehte sie es in der Hand, beobachtete, wie die Klinge das Sonnenlicht an die Wand warf. Dann legte sie das Messer noch einmal zurück und blickte auf den Block Briefpapier, der auf dem Nachttisch wartete. Sie richtete sich auf, griff nach dem gravierten Füllfederhalter und schraubte die Kappe ab. Sie zog die Beine an und nutzte die Oberschenkel als Schreibunterlage.

»Was soll ich schreiben?«, flüsterte sie. »Sie wissen es doch. Sie wissen, warum. Alle wissen, warum.«

Dennoch schrieb sie. Der Stift flog bald übers Papier und suchte nach Erklärung, bat um Verzeihung und Verständnis. Sie unterzeichnete mit dem Vornamen, riss das voll beschriebene Blatt heraus und faltete es. Sie schob den Block beiseite, verschloss den Füller und legte ihn zurück. Tränen rollten an ihren Wangen herab. Eine endlose Leere erfüllte sie. Endlich griff sie mit ihrer Rechten nach dem Messer und tat einen resoluten Schnitt. Den Schmerz spürte sie kaum. Es pochte am Handgelenk und sie beobachtete fasziniert, wie das Blut sprudelte und an den Fingern hinabfloss.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, griff sie noch einmal nach dem Briefpapier. Ihre Bewegung war fahrig, der Füller fiel zu Boden, rollte über das glatte Laminat unter das Bett. Mit Mühe riss sie ein leeres Blatt aus dem Block. Sie lächelte, tunkte ihren Finger in ihr Blut und schrieb mit letzter Kraft. Schließlich ließ sie sich müde zurückfallen und schloss die Augen. Sie sah Benny. Er stand im Licht am Ende des Tunnels. Winkte er ihr nicht zu? Ein Lächeln ließ ihr Gesicht ein letztes Mal leuchten. Die eisige Kälte aus ihren Knochen verschwand. Eine wohlige Wärme umfing sie. Bevor die Müdigkeit sie übermannte, dachte sie noch, wann und von wem sie wohl gefunden werden würde.

Freitag, 2. November

Achmeds Haltung strahlte selbstbewusste Arroganz aus. Breitbeinig hing er im Besucherstuhl, mit vor dem Bauch verschränkten Armen. Seine Mundwinkel zu einem siegessicheren Lächeln erhoben, das aussagen sollte: Du kriegst mich nicht, du Bullenschlampe! Der 17-jährige Albaner Achmed Tahiri saß neben seinem Vater und sah Kriminalhauptkommissarin Maike Graf mit hochgezogenen Augenbrauen unschuldig an.

»Was soll isch gemacht haben? Isch klau kleinen Jungs keine Handys!«

Maike lehnte sich im Stuhl zurück und fixierte die aufgerissenen Augen des Albaners, die ihm fast aus dem Gesicht zu springen drohten. Familie Tahiri war der Kriminalpolizei von Unna nicht unbekannt. Seine mehrfach vorbestraften Brüder hatten sich als Autoknacker und Geldeintreiber einen Namen gemacht. Vater Tahiri hielt die Hand über den Clan, ohne sich je selbst die Finger schmutzig zu machen. Maike dachte an den kleinen Björn König und seine Mutter, die am Nachmittag Anzeige erstattet hatten. Nach kurzer Zurückhaltung sprudelten die Informationen aus dem Jungen heraus. Dass Achmed ihm vor Wochen die Playstation abgenommen habe, und immer wieder Geld, heute schließlich Björns Handy. Maike konfrontierte Achmed mit den Anschuldigungen.

Da sprang er erregt auf und gestikulierte wild mit den Armen. Seine überzogenen Gesten wirkten wie die eines Rappers. »Isch hab den Jungen nie gesehen! Ährlisch! Isch schwör! Den kenn isch gar nicht. Kommen Sie bei misch zu Hause! Da ist kein PlayStation.«

Vater Tahiri stand auf und legte Achmed die Hand auf die Schulter. »Sohn guter Junge. Nicht klauen.«

Maike hob beschwichtigend die Hände, um nach dem Alibi des guten Jungen zu fragen, als ihr Telefon klingelte. Die Zentrale hatte einen anonymen Anrufer in der Leitung, der nur mit Hauptkommissarin Graf verbunden werden wollte. Sie nahm das Gespräch entgegen, während die Tahiris sich setzten. Eine Männerstimme, fremd und dumpf, als spräche der Mann durch ein Tuch, drang an ihr Ohr.

»Ich komme gerade aus dem Café Extrablatt am Markt. Ich habe dort vom Nachbartisch etwas belauscht. Zwei Männer stritten sich. Es klang, als planten sie, eine Frau – eine Zahnärztin – zu beseitigen.«

Maike griff nach Block und Stift und machte sich Notizen.

»Und so, wie die sprachen, meinten sie ihr Vorhaben völlig ernst«, fuhr der Anrufer fort.

»Geht das noch etwas konkreter, Herr …?«

»Mein Name tut nichts zur Sache. Ich möchte da wirklich nicht mit reingezogen werden.« Er legte eine kurze Pause ein und fuhr zögernd fort: »Wie gesagt: Es waren zwei Männer, und eine Frau saß auch mit am Tisch, hielt sich aber aus dem Gespräch heraus. Zunächst lief es bei denen feuchtfröhlich ab. Champagner floss, als hätten sie etwas zu feiern. Dann bekam der eine Mann einen Anruf von seiner Ehefrau und die Stimmung kippte. Ich hörte, wie er sagte, seine Frau müsse von der Bildfläche verschwinden. Noch heute. Es fiel der Name Schönfeld.«

»Können Sie die drei Personen beschreiben?«

Der Anrufer zog hörbar die Luft ein. »Also einer war so Mitte 30, der andere älter, Mitte bis Ende 40. Der Jüngere war schlank, etwa eins achtzig groß, hatte dunkles, mit Gel nach hinten gekämmtes Haar und trug einen billigen Anzug. Der andere war nur wenig größer, sportliche Figur, die Haare waren unter einer Mütze verborgen. Teure Klamotten. Die Frau war um die 30 und modisch elegant gekleidet mit blondem Kurzhaarschnitt.«

Maike kritzelte Stichpunkte auf den Block und beobachtete dabei Achmed Tahiri, der wieder breitbeinig auf seinem Stuhl saß und gelangweilt auf seinem Smartphone herumtippte. Sein Vater blickte dauernd auf seine Armbanduhr.

»Hören Sie … Es wäre sinnvoller, Sie würden aufs Polizeirevier kommen, damit ich Ihre Aussage aufnehmen kann.«

Der Anrufer hüstelte. »Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Das Trio verließ das Café Extrablatt etwa vor zehn Minuten. Der ältere Mann und die Frau gingen die Bahnhofstraße hinunter, der andere Mann eilte über den Markt Richtung Hertinger Straße. Aus dem Streit konnte ich ableiten, dass der ältere Mann Schönfeld hieß.«

»Wir sollten uns dringend persönlich unterhalten. Ich könnte auch zu Ihnen kommen, Herr …«

»Ich habe Ihnen alles gesagt. Unternehmen Sie lieber etwas!«

Maike hörte ein Knacken, dann das Freizeichen. Was sollte sie davon halten? Konnte man dem Anrufer Glauben schenken? Einen Mordplan zu schmieden in einem gut besuchten Café unter Zeugen? Das klang sehr unwahrscheinlich. Vielleicht hatte der Mann aus dem belauschten Gespräch einfach die falschen Schlüsse gezogen. Noch etwas irritierte Maike: Warum hatte der Anrufer sich ausgerechnet mit ihr verbinden lassen? Kannte sie ihn? Warum wollte er unbedingt anonym bleiben? Maike seufzte, bat die Tahiris um etwas Geduld und gab die Information, die sie auf ihren Block gekritzelt hatte, an ihre Kollegen weiter. Sie bat um eine Kopie des aufgezeichneten Gesprächs und darum, den Anruf zurückzuverfolgen. Vielleicht gelang es ihr, noch einmal mit dem Mann zu reden. Dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder den Tahiris. Sie sah Achmed eindringlich an.

»Wo warst du heute zwischen 16 und 17 Uhr?«

Der Alte mischte sich ein. »Sohn zu Hause. Ich kann bezeugen, Frau und Brüder auch.«

Natürlich konnte und würde er das. Plötzlich weckte das Bimmeln eines Handys in Achmeds Rucksack ihre Aufmerksamkeit. Achmed sah alarmiert auf und schob die Tasche mit dem Fuß unter seinen Stuhl. Maike schob resolut ihren Stuhl zurück, eilte um den Schreibtisch und bückte sich nach dem Rucksack. Dann kippte sie den gesamten Inhalt auf den Tisch. Das Handy bimmelte weiter. Ein Gerät der Marke Sony, wie das, welches Björn König abgenommen wurde.

»Ja, bitte?«, meldete sie sich.

Die aufgebrachte Stimme von Vater König tönte aus der Leitung. Er kam von einer Tagung und vermisste seine Familie, die immer noch auf dem Flur des Kommissariats ausharrte. Maike beruhigte den Mann, erklärte ihm die Sachlage und beendete das Gespräch. Mit einer gewissen Genugtuung wandte sie sich an den jungen Albaner.

»Diesmal kommst du um eine Anzeige nicht herum, Achmed.«

Maike konfiszierte das Handy, kontrollierte den weiteren Inhalt der Tasche, die jedoch nur noch einen abgegriffenen Block und Schreibutensilien enthielt. Sie verabschiedete die Tahiris, informierte die Königs im Nebenraum und gab Björn sein Handy zurück. Das Strahlen in den Augen des Jungen entschädigte den Aufwand. Er war überglücklich. Kurz darauf wurden Mutter und Sohn von Vater König abgeholt. Maike begann mit dem Schreibkram und bereitete die Strafanzeige gegen Achmed Tahiri vor. Der pünktliche Feierabend war dahin. Als sich nach einer Weile die Zentrale meldete, hatte sie den anonymen Anruf schon fast vergessen. Das Telefongespräch konnte tatsächlich zurückverfolgt werden. Der Mann hatte ein Prepaid-Handy benutzt und die Nummer nicht unterdrückt. Maike wählte. Gleich nach dem zweiten Rufton wurde das Gespräch entgegengenommen, als hätte der Mann ihren Anruf erwartet.

»Gut, dass Sie mich ernst nehmen, Frau Kriminalhauptkommissarin Graf«, sagte er sogleich mit derselben dumpfen Stimme. »Die Zahnärztin ist in Gefahr. Glauben Sie mir.«

Ehe Maike auch nur einen Ton sagen konnte, legte er auf. Danach war das Handy ausgeschaltet. Jetzt bekam Maike arge Bedenken an der Glaubwürdigkeit des Anrufers. Dennoch machte sich ein mulmiges Gefühl in ihr breit. Vielleicht hatte der Anrufer es selbst auf die Zahnärztin abgesehen? Sie ließ sich mit den Kollegen verbinden, an die sie die Information weitergeleitet hatte, und erfuhr, dass es in Unna eine Praxis Dr. Judith Heinemann-Schönfeld gab. Eine Streife war bereits dort. Beruhigt widmete Maike sich ihrem Schreibkram.

*

Frau Doktor Judith Heinemann-Schönfeld saß in ihrem Büro und starrte auf die Bürotür, die sich gerade hinter zwei Polizeibeamten schloss. Sie hatte keine Ahnung, ob sie lachen oder weinen sollte. Vielleicht hatte sie die Polizisten etwas zu burschikos zurückgewiesen. Aber deren Geschichte klang nun wirklich überaus lächerlich. Ein anonymer Anruf war bei der Kriminalpolizei eingegangen. Demnach planten zwei Männer, eine Zahnärztin »von der Bildfläche verschwinden zu lassen«. Bei einem von ihnen könnte es sich um ihren Ehemann handeln. Der Name Schönfeld sei gefallen. Und dies wäre die einzige Zahnarztpraxis mit diesem Namen. Frau Doktor Heinemann-Schönfeld lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Das würde Guido doch nicht wagen! Sie traute ihrem Ehemann einiges zu, aber einen Mord?

Obwohl … Nachdem, was sie heute in Erfahrung gebracht hatte, passte einiges mit dem zusammen, was die Beamten ihr zu sagen hatten. War es ein Fehler gewesen, die Polizei fortzuschicken und die Warnung als dummen Humbug abzutun? Die Zahnärztin versuchte die Wut, die in ihr brodelte, niederzukämpfen. Für heute reichte es. Der Tag war mies gelaufen, schlimmer konnte es kaum werden. Sie wollte nur noch raus aus der Praxis. Schnell nach Hause und ein heißes Bad nehmen. Dass sie in ihrer Villa auf Ehemann Guido treffen könnte, hielt sie für unwahrscheinlich. Immerhin hatte sie ihm am Nachmittag per Telefonat Hausverbot erteilt. Der Streit mit ihm am Telefon war hässlich gewesen, aber deshalb würde er sie kaum umbringen.

Judith stand auf und griff nach ihrem Mantel. Gut, dass ihr Angestellter Stefan Stracke für die Spätschicht bis um 20 Uhr eingeteilt war. Ihm konnte sie die Verantwortung für den Abend getrost allein überlassen. Sie knöpfte den Mantel zu, dabei fiel ihr Blick auf den schwarzen Terminplaner ihres Mannes, der noch auf ihrem Schreibtisch lag. Das Büchlein war der Grund ihres Streits gewesen. Alberne Schnüffeleien waren eigentlich nicht ihr Ding. Wäre da am Mittag nicht der Patient Schuhmann gewesen, der sich am liebsten von Guido behandeln ließ und nur Dienstagvormittag Zeit hatte. Judith hatte in seinem Planer nachsehen wollen, ob er für den Dienstag etwas eingetragen hatte, weil seine Schicht da erst um 13 Uhr begann. Sie lachte verbittert auf. Und was sah sie beim Blättern? Am Mittwoch, den er angeblich mit seinem Freund Frank in der Sauna verbrachte, stand regelmäßig der Name Claudia! Er hatte sich nicht einmal um ein Kürzel bemüht.

Vor drei Wochen war er mit ihr bei Notar von Freising gewesen. Was hatte ihr Ehemann mit dieser Frau dort gemacht? Seine Affären waren eine Sache. Aber der Notartermin in seinem Notizbuch machte sie stutzig. Was plante Guido? Auch heute hatte er sich laut eines umkringelten Eintrags mit ihr getroffen. Am Nachmittag im Café Extrablatt. Und genau dort sollte er das angebliche Mordkomplott mit einem jüngeren Mann geschmiedet haben. Lächerlich! Er könnte unter Alkoholeinfluss gestanden haben, hatten die Beamten gesagt. Wer weiß, was er im Suff alles für einen Stuss geredet hatte. Wenn sie den Planer rechtzeitig in die Finger bekommen hätte, wäre sie persönlich ins Café Extrablatt gegangen, um ihn zur Rede zu stellen. Sie würde schon herausfinden, was da lief. Inzwischen ärgerte sie sich, dass sie ihren Mann in ihrer Aufregung am Spätnachmittag angerufen hatte, um ihn zur Rede zu stellen. Nun war er gewarnt. Oder hatte ihr Anruf ihn so sehr unter Druck gesetzt, dass er tatsächlich Mordpläne schmiedete? Das würde er doch nicht ernsthaft wagen! Er war geldgeil und im Falle ihres Todes würde er keinen Cent bekommen. Ihr gesamtes Vermögen ginge an die Kinder.

Judith seufzte. Das Gespräch mit den Polizeibeamten hatte sie völlig aufgewühlt. Sie warf den Terminplaner in ihre Handtasche, dann verließ sie ihr kleines Büro und betrat den Eingangsraum der Praxis. Ihre Sprechstundenhilfe Isabella Arndt saß am Empfang.

»Ich mache jetzt Feierabend. Für heute bin ich für niemanden mehr zu sprechen.« Sie wandte sich zum Ausgang, drehte sich aber noch einmal um und wies ihre Mitarbeiterin an, für den Patienten Schuhmann einen Termin mit Dr. Stracke zu vereinbaren. Sie brannte förmlich darauf, Guido ins Gesicht zu schleudern, dass seine Dienste hier in der Praxis nicht länger erwünscht wären. Dass sie gleich am Montag die Scheidung bei Rechtsanwalt und Notar von Freising einreichen wollte, hatte sie ihm bereits am Telefon mitgeteilt und völlig ernst gemeint. Beim alten Freund ihres Vaters würde sie gleichzeitig in Erfahrung bringen, was Guido mit dieser Claudia dort zu suchen hatte. Mit einem zufriedenen Lächeln verließ sie das Gebäude.

Draußen zerrte ein böiger Wind an ihren kurzen Haaren. Sie schlug den Mantelkragen hoch und kramte im Schutze des Vordachs in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel. Mit einem Knopfdruck öffnete sie das Garagentor und wartete, bis es hochgefahren war. Ihre Schritte klackerten über das Pflaster des schmalen Gehwegs, als sie zu ihrem schwarzen BMW lief. Die Beleuchtung in der Garage war seit einer Woche defekt. Guido wollte sich darum kümmern. Bisher war nichts passiert. Wieder ein Beweis dafür, dass kein Verlass mehr auf ihn war. Gleich morgen würde Judith selbst beim Elektriker anrufen. Sie betätigte die Fernbedienung des BMW. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte sie, im Licht der Blinklichter einen dunklen Schatten an der hinteren Garagenwand zu sehen. Ihr Herz pochte wild. Sie stierte mühsam in die Dunkelheit, konnte jedoch nichts erkennen. Alarmiert und das Gespräch mit der Polizei im Hinterkopf, betätigte sie noch einmal die Zentralverriegelung. Nichts zu sehen. Vermutlich ging ihre Fantasie mit ihr durch und sie sah Gespenster. Judith Heinemann-Schönfeld straffte genervt die Schultern. Energisch betätigte sie abermals die Zentralverriegelung, zog die Fahrertür auf und warf ihre Handtasche auf den Rücksitz.

Plötzlich meinte sie, unter dem Rauschen des Windes ein fremdes Geräusch zu vernehmen. Sie blickte zur Seite und sah wieder einen dunklen Schatten. Diesmal sehr deutlich und ganz nah. Im nächsten Moment wurde sie gepackt und zurückgerissen. Sie taumelte, ihr Körper prallte gegen die Garagenwand. Ein stechender Schmerz schoss durch ihre Schulter. Ihr Herz raste. Sie wollte schreien. Doch eine kräftige Hand presste ihr mit Kraft einen Lappen auf Mund und Nase und drückte ihren Kopf dabei gegen die Wand. Sie trat um sich, mühte sich mit aller Macht, dem festen Griff zu entkommen. Das Tuch stank furchtbar. Irgendein betäubendes Mittel, das ihre Reaktionen schwächte. Es dauerte nicht lange, bis ihr die Sinne schwanden.

*

Feierabend. Wochenende. Ab morgen konnte sie Putzkelle und Malerrolle schwingen. Hauptkommissarin Maike Graf fuhr den kürzesten Weg in die Lortzingstraße und hievte zwei Zwanzigkiloeimer Reibeputz aus dem Kofferraum. Sie stellte sie im nassen Laub ab, das ihre Nachbarn zum Straßenrand gefegt hatten, und knallte den Kofferraum zu. Ihren Plan, die Wände ihres Wohnzimmers zu verputzen, konnte sie für heute begraben. Sie packte die schweren Verputzeimer. Ihre Stiefeletten versanken im Laub, als sie den Haufen bis zum Bürgersteig überquerte. Eine der Straßenlaternen flackerte.

Endlich erreichte sie den Hauseingang des roten Backsteinhauses in der Lortzingstraße, in dem sie vor zwei Monaten eine der sechs Eigentumswohnungen erworben hatte. Sie stellte die Eimer ab und keuchte. Die Metallhenkel hatten tiefe Rillen in die Innenflächen ihrer Finger gedrückt. Sie sperrte die Eichentür auf und schob die Eimer mit dem Fuß in den Flur. Die Haustür flog mit lautem Knall zu. Das war der alten Frau Döring, rechtes Parterre, bestimmt nicht entgangen.

Richtig. Gerade als sie nach den Eimern griff, öffnete sich die Wohnungstür der Dörings und Volksmusik schallte ins Treppenhaus.

»Gut, dass Sie da sind! Seit Stunden dieser Lärm. Immer bum, bum, bum. Die Frau macht mich wahnsinnig!« Sie legte den Kopf etwas zurück und schielte nach oben. »Sie haben doch einen Schlüssel von dem Grabowski bekommen? Seien Sie so lieb und sagen Sie der Alten, sie soll mit dem Klopfen aufhören. Ihr Sohn ist nicht da. Mein Ludwig ist extra ums Haus gelaufen. Von draußen ist kein Licht zu sehen.«

»Sie hören seit Stunden ein Klopfen aus der Wohnung oben und haben nichts unternommen? Auch nicht geschellt oder angerufen?«

Frau Döring machte eine abwertende Handbewegung. »Die macht doch eh nicht auf. Und am Telefon versteht man sie nicht. Wahrscheinlich haut sie den Krückstock im Takt ihrer Klassikmusik auf den Boden.« Die Döring hielt ihre füllige Gestalt gestreckt und stützte entrüstet ihre Hände auf den Hüften ab. Ihre Wangen glühten. »Wie kann der Grabowski seine Mutter nur so lange allein lassen? In ihrem Zustand! Das sollte man dem Amt melden.«

Maike griff nach den Eimern. Sie verkniff sich eine bissige Bemerkung. Blöde Ziege, dachte sie und hievte wortlos ihre schwere Last Stufe für Stufe die Treppe hoch.

»Was haben Sie eigentlich vor? Sie wissen schon, dass Sie sich an die Ruhezeiten halten müssen, nicht wahr?«

Maike hatte die Hälfte der Treppe bezwungen und legte eine Pause ein. Sie drehte sich langsam um und schaute ihre Nachbarin mit aufgesetzter Freundlichkeit an.

»Aber natürlich, Frau Döring. Und wenn Frau Grabowski auf den Badezimmerfliesen liegt und mit ihrem Stock um Hilfe klopft, werde ich ihr sagen, sie soll um 22 Uhr damit aufhören.« Mit Wut im Bauch schaffte sie die letzten Stufen in Rekordzeit. Hoffentlich ging es Frau Grabowski gut! Als Maike ihre Wohnungstür aufschloss, fiel die Tür der Dörings mit lautem Knall ins Schloss und die Blasmusik verstummte.

Sie hievte die Eimer mit letzter Kraft in ihren Flur. Ihre 70 Quadratmeter große Wohnung glich einer einzigen Baustelle. Überall stapelten sich Pakete mit Fliesen und Laminat, Säcke mit Spachtelmaterial und Farbeimer. Maike lief in die Küche und griff nach dem Wohnungsschlüssel, den David Grabowski ihr vor etwa vier Wochen überlassen hatte. Einer Kriminalkommissarin müsse man vertrauen können, sagte er mit einem schüchternen Lächeln. Er erzählte, er wohne mit seiner Mutter seit knapp einem halben Jahr in Haus Nummer 94. Brigitte Grabowski litt an den Folgen eines Schlaganfalls, der viele Jahre zurücklag. Seitdem saß sie im Rollstuhl. Eine schwerwiegende Aphasie konnte in langjähriger Behandlung durch einen Logopäden nur bedingt geheilt werden. Zu den anderen Mitbewohnern habe er bisher keinen »Draht« gefunden und deshalb niemandem den Schlüssel anvertrauen wollen.

Wem auch? Den Dörings wohl kaum. Für die glich Brigitte Grabowski einer Aussätzigen und war reif für die geschlossene Anstalt. Und der ruhige Mats-Hummels-Verschnitt im Parterre links kam auch nicht infrage. Der bewohnte die von Mama und Papa finanzierte Wohnung nur an den Wochenenden. Wäre noch die junge Familie in der Mansarde: Er arbeitsloser Taugenichts, sie Verkäuferin bei C&A, die in den frühen Morgenstunden Zeitung austrug, um dem achtjährigen Töchterchen immer die angesagtesten Klamotten kaufen zu können. Ja, und den Namen »Jürgen Schlegel« – linke Mansarde – den kannte Maike nur von der Türklingel.

Maike hatte den Schlüssel der Nachbarwohnung gerne angenommen, sie mochte Brigitte Grabowski. Obwohl die Dame sich nur schwer verständlich machen konnte, gab es zwischen ihnen vom ersten Kennenlernen an ein herzliches Verhältnis. Zwei- oder dreimal hatten sie schon gemeinsam Rommé gespielt und einen netten Abend verbracht, während David Grabowski mit Taxifahren Geld dazuverdiente, um seiner Mutter die Pflege zu finanzieren. Normalerweise sorgte der freiberufliche Fotograf immer für die Anwesenheit einer Pflegerin, während er Dienst tat. Heute Abend schien er dies versäumt zu haben. Das war nicht seine Art. Irgendetwas musste schiefgelaufen sein!

Maike öffnete mit ihrem Schlüssel die Tür der Nachbarwohnung und tastete nach dem Lichtschalter. Obwohl sie helfen wollte, fühlte sie sich wie eine Einbrecherin. Auf ihr Rufen antwortete niemand. Die stickige Luft roch nach einer Mischung aus medizinischen Salben und Bübchen-Seife, die das Pflegepersonal zum Waschen nutzte. Maike vernahm die leisen Klänge klassischer Musik. Sie erkannte den »Bolero« von Maurice Ravel, ein Orchesterstück im Dreivierteltakt mit ständigem Crescendo.

Wo mochte Frau Grabowski sein? Im Bad? Wenn die Wohnung so geschnitten war wie ihre eigene, musste die Tür zu ihrer Rechten liegen. Das Licht der Eingangsdiele fiel auf kalte, weiße Fliesen. Das Badezimmer war leer. Hinter der nächsten Tür befand sich eine verwaiste Küche. Das Wohnzimmer kannte Maike von ihren Besuchen. Große Teppiche auf Stäbchenparkett. Vor Kopf eine Wohnwand mit Flachbildschirm, davor eine mit Cord bezogene Sitzgruppe. Man blickte durch einen Durchbruch zum Nebenraum, der als Esszimmer diente. Der »Bolero« dominierte den Raum, schwoll zu voller Lautstärke an. Die Balkontür stand einen Spalt offen. Ob Frau Grabowski frische Luft schnappen wollte und im Freien gestürzt war? Ein antiker Ohrensessel nahm ihr die Sicht. Maike hetzte durchs Zimmer.

Da saß sie! Auf dem Fußboden, angelehnt an die Rückwand des Sessels. Sie mochte vor Erschöpfung eingeschlafen sein, ihr Kopf hing auf der Brust. Die knochigen Finger umkrampften einen schwarzen Gehstock. Mit dem musste sie auf den Boden gepocht haben, in der Hoffnung, ein Nachbar käme zu Hilfe. Maike hockte sich neben die alte Dame und löste vorsichtig deren Hand vom Gehstock. Die Handgelenke waren kalt, aber man konnte deutlich ihren Puls fühlen. Zunächst brauchte sie den Rollstuhl. Auf dem Weg in die Diele schaltete sie die Musikanlage aus, die den »Bolero« unaufhörlich wiederholte. Hinter der letzten verschlossenen Tür verbarg sich das Schlafzimmer. Ein modernes Krankenbett mit bunt karierter Bettwäsche dominierte den Raum, daneben stand der Rollstuhl. Maike lenkte ihn ins Wohnzimmer. Dann beugte sie sich zu Frau Grabowski hinab und fasste ihr sanft an den Oberarm.

»Frau Grabowski? Kommen Sie, ich helfe Ihnen!«

Die Lider der Dame flatterten. Als sie die Augen öffnete, ging ein Lächeln über ihr Gesicht. Maike griff ihr unter die Arme. Mit Schwung hievte sie die Frau hoch und setzte sie in den Rollstuhl. Sie griff nach einer flauschigen Decke mit Tigerdekor, die auf der Sitzgruppe lag, und legte sie ihr über die Beine. Dann setzte sie sich ihr gegenüber in den Ohrensessel und nahm ihre Hände, um sie zu wärmen. Frau Gra­bowski drückte nervös die Finger gegen ihre Handflächen. Endlich holte sie tief Luft. Sie sprach langsam und unartikuliert. Dabei zog sie die Vokale sehr lang.

»David nicht da. Sehn, wo David ist.«

»Er fährt gewiss noch Taxi. Machen Sie sich keine Sorgen.«

Maike tätschelte Frau Grabowski freundschaftlich die Hände. Sie machte ihr einen heißen Tee, dazu belegte Brote. Dann half sie ihr ins Nachthemd. Eine halbe Stunde später war die alte Dame eingeschlafen. Maike deckte sie fürsorglich zu und klappte das Gitter des Krankenbettes hoch. Die Nachttischlampe ließ sie brennen. Es war kurz vor zehn, als sie die Tür ihrer Wohnung hinter sich schloss und sich mit Blick auf das Chaos erschöpft dagegenlehnte. Sekunden später hörte sie Schritte im Treppenhaus. Sie blickte durch den Spion und erkannte David Grabowski. Er sah müde aus – abgespannt, als trüge er alle Last der Welt auf seinen Schultern. Die Standpauke für ihn konnte bis morgen warten.