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Paul Lascaux

Goldstern

Ein Fall für Müller & Himmel

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Dominika Sobecki

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © mojolo / Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5170-6

Zitat

»Der Umzug der Roitscheggen fand an den Fasnachtstagen nachmittags statt. Alles flüchtete, wer konnte. Die Häuser wurden geschlossen. Kein Weibsbild durfte auf die Strasse, auch keine Knaben unter 20 Jahren, sonst bekamen sie den Aschensack um den Kopf. Und wirklich war es etwas Schaudererregendes, wenn etwa zwanzig so maskierte Männer, wie Stiere brüllend, paarweise durch die Gassen zogen.«

F. G. Stebler: »Am Lötschberg. Land und Volk von Lötschen« (1907)

Personal

Heinrich Müller: Privatdetektiv Detektei Müller & Himmel,
Ex-Polizist, wohnt in Bern, deutlich über 50 Jahre alt

Nicole Himmel: Anthropologin, arbeitet im Alpinen Museum der Schweiz und in der Detektei Müller & Himmel,
immer noch 29 Jahre alt

Mathilda: eine lebhafte Dame, im 9. Katzenjahr

Markus Forrer: Kontaktmann bei der Polizei

Dr. Augsburger: Rechtsmediziner, ein junger Mann ohne Eigenschaften

Die drei Grazien, immer noch jugendlich ungestüm:

Melinda Käsbleich

Phoebe Helbling

Gwendolin Rauch

Kurt Arnold: Der Kandersteg-Ötzi

Ueli Wanner: Police Bern Kandersteg

Kantonspolizei Wallis, Gendarmerieposten Visp:

Innelor Hosenden

Hans Jennitz

Kantonspolizei Wallis, Kriminalpolizei Sitten:

Anne Willis

Simon Zerzuben

Menschen im Lötschental:

Nesa Blantscho: Pressesprecherin »Lötschenblick«

Peter Eschiller: Gemeinderat Ferden

Gabriel Furer: Kurator des Lötschentaler Museums

Thrina Huoter: Gemeinderätin Blatten

Magdalena Im Ager: Tourismusbeauftragte Wiler

Menschen im Alpinen Museum:

Raphaela Bigler

Der Direktor

Die Kuratorin

Familien Lötschental:

Familie
Kippeler

Familie Brand

Familie

Zerbrigg

Ereignisse

Kippel

Wiler

Blatten

Urgroßeltern, Bauern

Marius
Kippeler:
ausgewandert im 19. Jahrhundert

Regina Brand: 1879–1918

Bruno Brand: 1864–1916

Niklaus
Zerbrigg: 1881–1908

Maria
Zerbrigg: 1883–1971

Lötschbergtunnel:
1906–1913

Großeltern, Bauern

Linus
Kippeler: erfolgreich in der Fremde

Ivo Brand: 1910–1985

Zita Brand: 1919–1983

Peter
Zerbrigg: 1907–1978

Antonia
Zerbrigg: 1916–1988

Eltern, erste Generation mit Ausbildung außerhalb des Tals

Moritz Brand: 1946, Primarschullehrer in Wiler

Emma Brand: 1949, Kindergärtnerin in Wiler

Anna Brand: 1951,
Schwester von Moritz,
Juristin in Brig

Anton
Zerbrigg: 1949–2015, Baufirma/
Privatier

Beatrice
Zerbrigg: 1960

Kinder

Martin
Kippeler: kehrt heute als Investor zurück

Bernhard
Zerbrigg: 1990, studiert in Bern Anthropologie

Georg
Zerbrigg: 1991, studiert in Bern
Pharmazie

Wendelin
Zerbrigg: 1992, Schweizergarde im Vatikan/Söldner

Lötschberg-Basistunnel: 1999–2007

Prolog

Minus 18 Grad war es an diesem Januarmorgen, und mit der Sonne war kaum zu rechnen. Zwar hatte man in Kandersteg unten noch eine vernünftige Sicht, aber hier oben hing dicht und fett der Nebel und hüllte die Gipfel ein, das Doldenhorn, das Fründenhorn, das Blüemlisalphorn, das Dündenhorn – der Mann würde sie heute nicht zu Gesicht bekommen.

Er hatte absichtlich nicht die erste Gondel der neuen Seilbahn gewählt, wie es sonst seine Art war, sondern abgewartet, bis eine Gruppe von Skitouristen den Eingang in Beschlag nahm und somit die Sicht auf die Fahrgäste einschränkte. Er war sicher, dass ihn keiner beobachtet hatte.

Zu seinen weiteren Vorsichtsmaßnahmen gehörte ein weißer Umhang über der dick wattierten Jacke und eine ebenso weiße Kapuze, die er über den Kopf zog, nun, da er nach einem 20-minütigen Fußmarsch endlich auf dem Eis des Oeschinensees stand. Die Sicht verschlechterte sich beinahe von Minute zu Minute.

Ein Selbstmordunternehmen, dachte der Mann und lachte. Das Eis war wegen des bisher milden Winters erst 10 bis 15 Zentimeter dick, gerade genügend, um einen Mann seines Gewichts zu tragen. Über dem Eis lag Schneematsch, darauf eine dicke Schicht Pulverschnee, der für eine zusätzliche Dämmung sorgte und das weitere Einfrieren des Sees verlangsamte.

Er hatte mit seinem Kollegen einen Treffpunkt auf der gegenüberliegenden Seite unterhalb des Fründenhorns abgemacht, wo sich ein lichter Wald befand, der Lawinen daran hinderte, den See zu erreichen. Weiter hinten hätte man sich selbst gefährdet. Andererseits würde dort die Eisschicht noch etwas dünner sein.

Langsam stapfte er in seinen wasserdichten Stiefeln durch den Pflotsch, sorgsam darauf bedacht, dass die Nässe nicht an ihm hochkroch und sich in seinen Kleidern verfing. Erfrierungen wären die Folge gewesen. Die beiden Restaurants am gegenüberliegenden Ufer waren kaum mehr als dunkelbraune Silhouetten. Noch hatten sich keine Eisfischer auf den See bemüht, um den einen oder andern Saibling zu fangen, den die kantonale Fischereibehörde im Sommer hier ausgesetzt hatte.

Sein Kollege würde auf dem Schneemobil die Straße hochfahren. Erst am Nachmittag war mit Touristen zu rechnen, die mit Schlitten in rasanter Fahrt nach Kander­steg hinunterrutschten. Er selber war in seinem weißen Anzug auf dem See nur dann als schemenhafte Gestalt zu erkennen, wenn er sich gegen den dunklen Felshintergrund abhob.

Endlich erreichte er das Ufer. Ein paar Meter davon entfernt packte er seinen Rucksack aus und legte das, was er gerade brauchte, in den Pulverschnee, sorgsam darauf bedacht, dass nichts nass wurde und einfror. Er setzte den Handbohrer zusammen, ein Gerät mit einer groben Drehschraube, die es ihm erlaubte, ein Loch mit 20 Zentimetern Durchmesser in das Eis zu bohren. Normalerweise hätte er jetzt mit einer Schöpfkelle die Eispartikel, die sich sofort an der Oberfläche bildeten, herausgehoben, damit er die Angel ins Wasser halten konnte.

Heute jedoch hatte er andere Pläne. Er bohrte geduldig ein Loch nach dem anderen, bis er erste Schweißperlen unter seinen Schultern fühlte. Jetzt nicht nachlassen, dachte er, gleichzeitig war er sich der Gefahr bewusst, der er sich aussetzte. Es konnte jedoch nicht mehr lange dauern. Sorgsam bedeckte er die Löcher mit Pulverschnee.

Zum Glück trug sein Kollege eine rote Jacke. So erkannte er ihn von Weitem, als er auf dem Schneemobil am Ufer entlang brauste und es auf sicherem Boden zum Halten brachte. Sein Bekannter stapfte nun auf ihn zu, winkte wild mit den Armen und rief etwas, was er nicht verstand.

Schließlich hatte er ihn erreicht.

»Das ist aber ein seltsamer Ort für eine Wette«, sagte er und lachte, als er die Angel erblickte, die neben einem Eisloch lag. »Hat einer angebissen? Haben sie so früh am Tag bereits Hunger? Ich schon.«

Halt die Klappe, dachte der Mann und öffnete die Arme zu einer herzlichen Begrüßung.

Der andere stolperte auf ihn zu, und der letzte Schritt war ein Stolpern zu viel. Sein Fuß sackte weg und mit ihm das Bein bis oberhalb des Knies. In seltsam verdrehter Stellung versank das andere Knie langsam im Matsch. Die Sprüche waren dem Kollegen im Hals stecken geblieben. Es flehten nur noch die schreckerstarrten Augen.

»So kann ich dich ja nicht liegen lassen«, brummte der Mann, »du leuchtest wie ein Augustfeuer.«

Irgendwo über ihm krachte das Gletschereis.

Er aber behielt seine Ruhe. Er zog eine kleine Pistole aus seiner Jackentasche, zeigte sie seinem Bekannten, setzte die Waffe an dessen Schläfe an und drückte ab. Dann zog er seinem Kollegen den rechten Handschuh aus, steckte den Zeigefinger in den Abzug der Pistole, drückte noch einmal ab, schoss diesmal in den Schnee.

»Es braucht eine Schmauchspur, sonst glaubt man mir nicht, falls man mich je verdächtigt«, erklärte er, obwohl ihn keiner mehr hören konnte. Der Nebel hatte die beiden nun vollends eingehüllt, und er schluckte auch den zweiten Schuss.

Mit einer ihm selbst unerklärlichen Ruhe streifte er seinen Überwurf ab und legte ihn auf seinen Kollegen, der nun im Weiß verschwand. Das war der Schwachpunkt des Unterfangens. Vielleicht blies der Wind den Schnee weg, bevor das Eis tauen und der Körper im Wasser in die Tiefe sinken würde.

Inzwischen begann es zu schneien. Schwere Flocken legten sich wie ein Leichentuch über den Oeschinensee.

Schließlich packte der Mann seine Geräte, schüttelte die dunkelbraunen, leicht verschwitzten Locken, an denen bereits Eiskristalle hingen, und verließ die kalte Hölle. Er watete hinüber zum Ufer, hockte sich auf das Schneemobil, fuhr nach Kandersteg und ließ es am Bahnhof stehen.

Es war Mitte März, gegen Ende der Saison, als die ersten lauen Lüftchen durch den hochalpinen Talkessel des Oeschinensees zogen und das Eis zu knarren begann. Die Eisfischerzeit neigte sich ihrem Ende zu, die hinteren Teile des Sees waren bereits gesperrt. In der Nacht zum 15. März hatte ein kräftiger Talwind den Schleier von einem Verbrechen gelüftet, das der See beinahe in seinen Tiefen begraben hätte. Ein Eismeister bemerkte bei einem Kontrollrundgang etwas leuchtend Rotes, das er bisher nicht wahrgenommen hatte. Als er den Gegenstand vom Ufer aus mit dem Feldstecher in Augenschein nahm, erkannte er den kräftig behaarten Hinterkopf und die Schultern eines Mannes.

Es blieb dann aber der Polizei überlassen, den Leichnam zu bergen, gefroren und gut erhalten. Nur das Gesicht war nicht auf den ersten Blick zu erkennen.

Donnerstag, 23. April 2015

Der April zeigte sich von seiner besten Seite, das Wetter prahlte mit Sonnenschein und Wärme. Vor dem »Schwarzen Kater« waren die Tische der Pergola bereits gut besetzt. Heinrich Müller hatte hier draußen gefrühstückt. Mathilda strich ständig um seine Beine, den Schwanz in die Höhe gereckt, die klaren Augen aufmerksam auf den Detektiv gerichtet.

Nach dem Tod des Katers Baron Biber war sie von einer gewissen Verunsicherung befallen worden, die sich nach zwei Wochen in gesteigerte Zuneigung gewandelt hatte. Inzwischen hatte die Katze Heinrich Müller vollständig annektiert, hatte an seiner Seite ihren Platz gefunden, den sie um keinen Preis mehr aufgeben würde. Es beruhte auf Gegenseitigkeit.

Jeden Morgen, wenn Heinrich die Augen öffnete, blickte er auf Botticellis Zeichnung der Simonetta Vespucci, jeden Morgen erinnerte sie ihn an seinen größten Erfolg, aber auch daran, dass er Detektiv war und seither nichts mehr erledigt hatte. Es gab noch nicht einmal den Ansatz eines neuen Falls, und wenn es so weiterginge, müsste er den Botticelli verkaufen, um nicht jeden Rappen im Portemonnaie umzudrehen.

»Du hast wenigstens noch deinen Teilzeitjob im Alpinen Museum«, sagte er, ohne zu grüßen, zu Nicole Himmel, die sich eben mit einer Tasse Tee an seinen Tisch gesetzt hatte und den Schlaf aus ihren dunkelbraunen Locken schüttelte.

»Auch dir einen schönen guten Morgen«, murrte sie.

»Danke, gleichfalls«, erwiderte er. »Ich war grad in Gedanken.«

»Finanzielle Probleme?«, fragte Nicole.

»Noch nicht«, antwortete Heinrich. »Aber wenn es so weitergeht … Man würde annehmen, dass eine erfolgreiche Detektei Müller & Himmel mit Anfragen nur so überhäuft würde, dass man Aufträge ablehnen müsste …«

Nicole frotzelte: »Dich mag keiner.«

»Keiner?«

»Na gut. Ich vielleicht«, fügte sie an. »Und Mathilda. Gib ihr doch endlich etwas zu fressen.«

»Sie nimmt nichts vom Tisch, kein Fleisch, keinen Fisch, sie ist programmiert auf Katzenfutter aus dem Beutel.«

»Hast du gehört, Mathilda?«, wandte sich Nicole an die neunjährige Dreifärber-Tigerdame und streichelte ihren Kopf, bis sie schnurrte. »Wegen dir muss Heinrich wieder arbeiten. Er selber ist ja so genügsam. Aber er hat noch keinen Plan.«

»Danke für die Aufmunterung«, brummte der Detektiv.

An den Tisch in der Ecke der Pergola setzen sich die »drei Grazien«, Melinda Käsbleich, Phoebe Helbling und Gwendolin Rauch, aufgekratzte Girls, frisch aus der Testabteilung von H&M, und erzählten ausgelassen von ihren Flirterlebnissen. Melinda blätterte in der Gratiszeitung, die sie aus dem Kasten neben dem Tramhäuschen auf dem Breitenrainplatz mitgenommen hatte. Dann kicherte sie plötzlich, stellte ihre Kolleginnen ruhig und referierte so laut, dass das halbe Quartier damit beschallt wurde: »Da steht was Tolles über Lady Gaga: Sie glaubt, wenn sie mit jemandem schlafe, könne diese Person ihre Kreativität durch die Vagina hindurch stehlen!«

Langsam sickerte die Erkenntnis in die Gehirne, dann prusteten die jungen Frauen los, und Phoebe meinte: »Also, ich lasse keinen Dieb in meine Vagina …«

Nicole schloss für ein paar Sekunden die Augen und sagte: »Das beunruhigt mich. Ich werde alt.«

Heinrich nuschelte etwas Unverständliches und griff zu einem Buch, das neben dem Teller lag. Er schlug es auf, ihm fiel ein Foto in den Schoß.

»Eine neue Kategorie der Erkenntnis«, begann er, »Dinge, die Leute in Büchern vergessen, die andere Leute auf Flohmärkten oder in Brockenhäusern kaufen. Letzthin habe ich eine Eintrittskarte für ein Spiel von Bayern München gegen Borussia Dortmund gefunden.«

»Die eine oder andere Banknote käme wohl gelegener«, meinte Nicole.

»Das schon. Aber in meinem ganzen Leben habe ich bisher nur eine einzige gefunden. Das ist wie ein Gewinn im Lotto.«

»Du spielst gar kein Lotto. Wie willst du denn so gewinnen?«

»Aber ich kaufe Bücher. Da könnte doch auch ab und zu ein Gewinn drin stecken.«

»Das wäre überhaupt mal ein Geschäftsmodell. Zum Beispiel liegt in jedem 99. Buch ein Gewinn, eine Zehnernote oder ein Gutschein für eine Übernachtung oder einen Restaurantbesuch. Und nur in eingeschweißten Büchern. Ich würde einen Testlauf machen, um festzustellen, ob das den Absatz steigert.«

Heinrich blickte auf seinen Gewinn. In Walter Mosleys vom Vorbesitzer offensichtlich nur angelesenem »Der weiße Schmetterling« musste das Foto zwischen den Seiten 18 und 19 gesteckt haben. Denn diese öffneten sich gleich wieder, als er das Buch auf den Rücken legte. Ein Urlaubsfoto, das eine Familie zeigte, Vater um die 40, mit Glatze, in einem grauen, ärmellosen Shirt und Jeans mit heraufgerollten Hosenbeinen, nackte Füße in gelben Mokassins, sowie mit einer Sonnenbrille, die auf der Stirn auflag und mit einem Lederbändel befestigt war. Der Mann trug einen goldenen Ring.

Neben ihm eine schlanke, etwas jüngere Frau mit hochgesteckten, wasserstoffblonden Haaren – im Ansatz dunkelbraun –, in denen ebenfalls eine Sonnenbrille steckte. Eine weiße Bluse, ein blauer, knielanger Rock und Sandalen an nackten Füßen, eine silberne Uhr am Handgelenk. Sie zeigte dem Mann etwas.

Ein Mädchen sah man von hinten. Während die beiden Erwachsenen auf einer Treppenstufe vor einer altmodischen grauen Holztür mit verrosteten Eisenbeschlägen saßen, hockte das Mädchen vor dem Mann auf den Fersen. Es trug wie die Mutter schwarze Sandalen, dazu Hotpants im hellblauen Jeans-Look mit einer dunkelblauen Gesäßtasche, ein buntes T-Shirt und einen kleinen schwarzen Rucksack. Ihre dunkelbraunen Haare waren hochgesteckt, und sie schaute ihren Eltern zu.

»Nun hast du etwas zu tun«, stellte Nicole fest.

Heinrich blickte sie unsicher an. »Wie meinst du das?«

»Ein solches Bild muss dich doch zu einer Interpretation anregen, das schärft den detektivischen Verstand. Offenbar hat die Frau etwas gekauft, eventuell ein Schmuckstück. Oder sie hat es geschenkt gekriegt. Jedenfalls starren alle drei auf den unsichtbaren Gegenstand, keiner schaut den andern an.«

»Eine dysfunktionale Familie«, schloss der Detektiv. »Fragt sich, wer das Buch besessen hat.«

»Definitiv der Mann, denn solche Thriller werden von Männern ansatzweise gelesen und dann weggelegt. Die Frauen bringen sie später ins Brockenhaus.«

»Also ein Erinnerungsfoto an den Urlaub.«

»Es sind Vater und Tochter, das sieht man an der körperlichen Nähe der beiden«, erklärte Nicole, »und eine Frau, die er erst kennengelernt hat. Nun braucht er das Foto, damit er nicht vergisst, wie sie aussieht. Das Wichtigste aber fehlt: Man sieht ihre Augen nicht. Vergiss nie die Augenfarbe einer Frau!«

Die drei Grazien spitzten die Ohren und lauschten den Erkenntnissen einer fast Dreißigjährigen.

»Es gibt eine noch viel wichtigere Frage, die wir leider nie werden beantworten können«, sagte der Detektiv.

»Und die wäre?«

»Wer ist der Fotograf oder die Fotografin? Wer hat die drei in dieser intimen Szene aufgenommen, offenbar mit ihrem Einverständnis? Und hat nicht der Fotograf das Bild in seinem Buch vergessen?«

Aus dem Schankraum kam eine laute Aufforderung: »Herr Detektiv, ans Telefon!«

Heinrich überließ Nicole die abschließende Bilddeutung, kam aber bald zurück.

»Markus Forrer«, erklärte er. »Wir sollen uns bei Gelegenheit bei Dr. Augsburger in der Rechtsmedizin melden. Er hat eine Eisleiche.«

Die Mädchen packten, irritiert von der plötzlichen Wendung, ihre Sachen. Der Tod interessierte sie bedeutend weniger als das Leben und die Liebe.

»Eine Eisleiche? Ist es dafür nicht schon zu warm?«, wollte Nicole Himmel wissen.

Freitag, 24. April 2015

»Sind Sie mit dem Verblichenen bekannt oder verwandt?«, fragte Dr. Augsburger und fuhr sich mit der Linken über die Glatze, als Nicole Himmel, Heinrich Müller und Markus Forrer in den Sektionssaal traten, um gleich anzufügen: »Kleiner Scherz unter Ermittlungsbeamten.«

Nicole machte Zeichen in der Luft, die wohl ein teuflisches Emoticon bedeuten sollten.

Da keine Antwort kam, erstarb das Lachen des Rechtsmediziners, und er fuhr fort: »Dann schauen wir uns den Schadenfall an. Ein Herr Kurt Arnold aus Kandersteg soll es sein, meldet die örtliche Polizei. Jedenfalls wurde dieser Herr Anfang Januar als abgängig gemeldet. Identifiziert hat ihn noch niemand. Die Leiche ist zwar direkt nach der Bergung Mitte März bei uns eingegangen, aber der Familie haben wir noch keinen Zugang gewährt. Sie werden gleich selber sehen, warum.«

Nicole erbleichte vorsorglich, Heinrich tastete in seiner Hosentasche nach dem Plastikbeutel, den er für Übelkeitsanfälle stets mit sich führte, obwohl er sich vor mehr als 30 Jahren zum letzten Mal hatte übergeben müssen. Sicher war sicher. Einzig der Polizist schien von den Vorgängen unberührt.

»Wenn ich etwas fragen dürfte …«, begann Nicole Himmel.

»Aber sicher«, sagte Augsburger.

»Arbeitet man bei einem Tötungsdelikt nicht etwas schneller?«

Der Rechtsmediziner erklärte gelassen: »Bei einem eben geschehenen Mord würde man alle Hebel in Bewegung setzen, denn die besten Fahndungserfolge hat man bis 24 Stunden nach der Tat. Diese Voraussetzung entfällt in diesem Fall. Ein Täter hätte alle Zeit der Welt gehabt, seine Spuren zu verwischen. Ich möchte nicht despektierlich gegenüber einer Eisleiche erscheinen … aber wir hatten dringendere Fälle.«

Nicole hakte nach: »Aber es besteht doch bestimmt auch ein gewisser Druck von der Familie her.«

»Das schon. Auch die Behörden haben bereits nachgehakt, und natürlich Ihre Kollegen aus Kandersteg. Aber es ist so: Vor den Toten kommen die Lebenden.«

Nicoles Augen weiteten sich.

»So viele ungeklärte Todesfälle gibt es glücklicherweise nicht, dass ein ganzes Team stets beschäftigt wäre. Wir arbeiten auch bei Ermittlungen mit, wenn es um schwere Körperverletzung, Kindesmisshandlung oder Vergewaltigung geht, aber auch bei Unfällen, bei denen der Tathergang nicht klar ist oder sich Behauptungen gegenüberstehen, von denen nur die eine stimmen kann. Selbst DNA-Analysen sowie Gutachten bei Streitigkeiten um ärztliche Fehler fallen in unsere Zuständigkeit. Sie sehen, es gibt viel zu tun.«

Er holte eine Statistik aus dem Schrank und zeigte sie den Anwesenden.

»Außerdem«, schloss er, »mussten wir unseren Klienten erst auf Betriebstemperatur bringen.«

Alle drei starrten ihn an.

»Eine Eisleiche muss sehr langsam auf Kühlschranktemperatur gebracht werden. Bis alle Eispartikel in einem erwachsenen Mann geschmolzen sind, dauert es ein paar Tage.«

Nicole schluckte leer und sagte: »Ich hatte mir vorgestellt, dass Sie die Leiche erwärmen.«

Der Rechtsmediziner lachte und strahlte übers ganze Gesicht.

»Und wie? Etwa mit Infrarotlampen? Aber nein, wir wollen den Mann ja nicht kochen, wir wollen ihn obduzieren.«

Dr. Augsburger trat zum Seziertisch und deckte die Leiche ab. Der Körper lag in einer seltsamen Position vor ihnen, wie in einer liegenden Hockerstellung.

»Folgendermaßen«, begann der Rechtsmediziner, »der Tote lag mit dem Oberkörper auf dem gefrorenen Oeschinensee, die Beine hingegen steckten im Eis fest. Er musste mit einer Motorsäge aus seinem kalten Grab befreit werden. Ich versuche, die Position möglichst der Fundstelle anzugleichen, um die Ermittlungsergebnisse nicht zu verfälschen. Er passt allerdings kaum mehr in die Kühlbox.« Er räusperte sich.

»Etwas schwieriger gestaltete sich das Entfernen der Kleidung. Der Mann trug unter anderem eine leuchtend rote Windjacke. Seltsam, dass man ihn nicht früher bemerkt hat. Wahrscheinlich war er zugeschneit und ist erst nach einem Frühlingssturm wieder zum Vorschein gekommen. Dann allerdings hat man ihn schnell gefunden.«

»Kurt Arnold, haben Sie gesagt?«

Nicole hatte sich offensichtlich erholt.

»Ja.«

»Verschwunden im Januar?«

»Genau.«

»Sieht aber eher aus wie ein alter Ägypter. Kein Wunder, dass ihn keiner aus der Verwandtschaft erkennen würde. Wie ist so etwas möglich?«

Dr. Augsburger strahlte aus glasblauen Augen, die hinter dicken Brillengläsern steckten. Er wurde gebraucht. Sein Wissen war gefragt!

»Wenn eine Leiche bei großer Kälte Sonne und Wind ausgesetzt ist, trocknet sie schneller aus als bei wärmerem Wetter. Dazu kommt, dass Bakterien und Schimmelpilze bei Dauerfrost überhaupt nicht tätig werden. Die Konservierung setzt also rasch ein. Noch besser ist es allerdings, wenn der Körper von Eis und Schnee bedeckt ist. Erstaunlicherweise geht unter diesen Umständen die Entwässerung schneller vor sich, die Mumifizierung erfolgt in ein paar Wochen. Die Zeit von Anfang Januar bis Mitte März ist also völlig ausreichend.«

»Nichts mit der schönen Leiche im Gletschereis«, folgerte Heinrich.

»Jedenfalls nicht, was den Erhalt der Schönheit im Leben betrifft. Es sei denn, man erkennt die Ästhetik des geschwärzten, eingeschrumpften Körpers an, wie wir ihn aus altägyptischen Grabkammern kennen. Da gibt es durchaus die eine oder andere bezaubernde Prinzessin …«

Die Vorstellungskraft trug Dr. Augsburger mit sich fort.

»Habt ihr euch den Toten angesehen?«, fragte er schließlich. »Er muss bald zurück in die Kühlbox. Denn die einzige Substanz, die bei einer Mumie Schaden anrichten kann, ist Sauerstoff. Durch ihn löst sie sich in ihre Bestandteile auf.«

»Über die Todesursache können Sie noch nichts sagen?«, fragte Markus Forrer.

»Nein. Je mehr Zeit vergeht, desto komplexer werden die Untersuchungen, desto unzuverlässiger die Zeugenaussagen. Zeugen hatten wir ohnehin keine, oder, Herr Arnold?«

Er tätschelte die verschrumpelte Schulter, als ob er »seine« Leiche als einen Komplizen ansah.

»Sie können ja ein bisschen spekulieren«, schlug der Rechtsmediziner vor. »Vielleicht zeigt es mir eine zusätzliche Richtung auf, in die ich forschen sollte.«

Nicole versuchte es: »Er ist beim Fischen im Eis eingebrochen und erfroren. Das soll sehr schnell gehen, wenn der Körper nass und die Temperatur tief ist.«

»Wäre möglich«, entgegnete Augsburger, »aber die Tatortermittler haben keine Fischerutensilien gefunden. Außerdem hatte er ein funktionierendes Handy dabei. Er hätte Hilfe holen können.«

»Weshalb hat man ihn mit einer Handyortung nicht schneller gefunden?«, wunderte sich Müller.

»Als man sein Verschwinden bemerkt hat, war der Akku wohl schon leer.«

»Das ist aber nicht sehr unterstützend, wenn Sie solche wichtigen Beweise unterschlagen«, reklamierte Nicole.

»Entschuldigung.«

»Zweiter Versuch: vergiftet. Es gibt bestimmt eine Reihe von Giften, die nach so langer Zeit nicht mehr nachzuweisen sind.«

»Unwahrscheinlich«, erwiderte Heinrich. »Wenn die Leiche in einem derart guten Zustand ist, dürften alle Fremdstoffe nachweisbar sein. Und ein Täter kann nicht davon ausgehen, dass die Leiche so lange nicht entdeckt wird.«

»Es sei denn«, meldete sich der Polizist, »das Gift ist wasserlöslich und wird ausgeschwemmt.«

»Oder?«, fragte Augsburger.

»Oder was?« Nicole wurde die Fragerei zu bunt.

»Oder man verwendet ein Gift, das im Körper enthalten sein kann, einfach in einer höheren Dosis.«

»Arsen?«, versuchte es Forrer.

»Zu auffällig. Man würde danach suchen«, sagte der Rechtsmediziner. »Wie wäre es mit Nikotin?«

»Nikotin?«, fragte Nicole verblüfft.

»Für einen Mann mit dem Gewicht des Herrn Arnold müssten Sie aus höchstens zehn starken Zigaretten das Nikotin extrahieren. Das ist tödlich. Es gibt nur zwei Probleme: Wie bringen Sie es fertig, dass er diese Menge Nikotin zu sich nimmt? Und: Arnold müsste ein sehr starker Raucher gewesen sein, damit dies bei einer Obduktion nicht auffällt.«

»Bleibt also was?«, fragte Müller.

»Entweder etwas Banales. Ein simpler plötzlicher Herztod oder ein Schlaganfall. Soll bei heftiger Kälte vorkommen. Beides lässt sich aber leicht feststellen.«

»Ich bin sicher, jetzt kommt die Überraschung«, flüsterte Nicole so laut, dass es im ganzen Raum zu hören war.

Augsburger war einen Augenblick lang irritiert, dann sagte er: »Eine Kugel!«

Nicole war perplex.

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Reine Wahrscheinlichkeitsrechnung.« Der Rechtsmediziner zuckte die Schultern. »Wir müssen stets vom Wahrscheinlichen ausgehen und diese möglichen Ursachen zuerst berücksichtigen. Das liefert die meisten Treffer. Bei den wenigen exotischen Fällen benötigen wir etwas mehr Zeit. Aber wenn wir bei jeder Leiche sämtliche Untersuchungen durchführen wollten, nur um ja nichts auszuschließen, kämen wir kaum zu Ergebnissen.«

Er zeigte auf ein paar Regale, in denen sich Fläschchen aneinanderreihten, und fuhr fort: »Hier sehen Sie eine Auswahl an Giften. Stellen Sie sich die Analysen vor, die Sie machen müssten, um eines davon zu finden. Meist Zeitverschwendung. Gift ist eine langweilige Methode bei Beziehungsdelikten.«

»In unserem Fall bestand bestimmt auch eine Beziehung zwischen Opfer und Täter, wenn wir einmal davon ausgehen, dass im tiefsten Winter zwei Menschen miteinander auf dem Oeschinensee standen, auf 1.578 Metern. Das macht man nicht mit einem Fremden«, wandte Heinrich ein.

»Sie haben recht«, beschwichtigte der Rechtsmediziner. »Allerdings würde ich darauf wetten, dass es kein amouröses Abenteuer war. Wahrscheinlich haben sich zwei Männer getroffen. Und dann hatte eben der eine die Schusswaffe dabei.«

Er hob entschuldigend die Achseln.

»Im Übrigen haben die Ermittler in der rechten Hand des Toten eine Pistole gefunden.«

Nicole stöhnte laut auf.

Augsburger ignorierte sie und sagte zur Leiche: »Bald schieben wir dich in den Computertomografen. Das bildgebende Verfahren wird uns zeigen, wo wir die Bahn der Kugel zu suchen haben. Aber ich wette«, meinte er zu den Anwesenden, »sie steckt im Schädel drin. Denn wenn das Objekt aus dem Körper ausgetreten wäre, hätte es eine größere Blutlache gegeben. So etwa wie rotes Wassereis.«

»Er wettet ein bisschen viel«, murrte Müller.

»Und er bringt unpassende Vergleiche«, gab Nicole zurück.

»Der tägliche Umgang mit Verbrechen und Tod zeugt in ihm einen gesunden Zynismus«, gab Augsburger zu bedenken.