cover-imageKostuem.png

Hermann Bauer

Kostümball

Ein Wiener Kaffeehauskrimi

390453.png

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

info@gmeiner-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Vitaliy Hrabar / Fotolia.com, © thomas58 / Fotolia.com, © RUZANNA ARUTYUNYAN / Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5178-2

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1

Nacht von Donnerstag, 31. Dezember auf Freitag, 1. Jänner

Es war deprimierend, den Jahreswechsel ohne die Frau feiern zu müssen, die man liebte. Der junge, schlanke blond gewellte Mann konnte und wollte deshalb die Freude und Ausgelassenheit der anderen Partygäste nicht teilen, sondern hockte nachdenklich vor seinem Glas. Schön langsam fragte er sich, weshalb er überhaupt hierher gekommen war. Er hätte sich genauso gut mit einer Flasche Wein zu Hause vor den Fernseher setzen können.

Verständnislos hatte er auf seine Freundin eingeredet: Weshalb sie ihm so wenig Sicherheit gebe? Ihn an einem solchen Tag nicht begleite? Sich von ihrem Vater tyrannisieren lasse? Schließlich lebe man im 21. Jahrhundert. Da könne ein erwachsener Mensch von seinen Eltern zu nichts mehr gezwungen werden.

Aber er hatte gewusst, dass alles vergeblich sein und ihm nichts anderes übrig bleiben würde, als allein zu der Silvesterparty zu kommen. Man durfte ihren Vater nicht unterschätzen, er konnte ihnen beiden das Leben zur Hölle machen. Wahrscheinlich war es deshalb von ihrer Seite aus klug gewesen, ihm nachzugeben. Aber was hatte der junge Mann jetzt von ihrer Klugheit? Und wie lange würde das so weitergehen? Es war an der Zeit, der väterlichen Gewalt ein Ende zu bereiten, ein für allemal.

»Was ist denn los mit dir? Du bist ja ganz in dich versunken«, hörte er eine leicht beschwipste weibliche Stimme neben sich. »Die anderen sind alle am Balkon, das Feuerwerk anschauen. Komm doch auch hinaus! Es ist gar nicht kalt!«

Er schüttelte bloß stumm seinen Kopf.

»Möchtest du tanzen? Den Donauwalzer?«, fragte ihn die junge attraktive Frau irritiert. Sie war, so wie er, allein da. Er kannte sie gerade einmal flüchtig.

Er schaute in ihre klaren, etwas ratlosen Augen. »Es ist lieb von dir, dass du dich um mich kümmerst«, vertröstete er sie. »Ich bin nur im Augenblick furchtbar müde.«

»Verstehe!« Sie klang ein wenig enttäuscht. Wahrscheinlich hatte sie gehofft, er würde sich auf einen kleinen Flirt mit ihr einlassen.

»Du kannst nichts dafür!«

»Mein Gott, es ist nicht jedermanns Sache, am Silvester auf Knopfdruck gut drauf zu sein«, zeigte sie Verständnis. Sie blies den Rauch ihrer Zigarette in die Luft, dann wechselte sie das Thema, als ob sie sich davon mehr versprechen würde. »Na, hast du irgendwelche guten Vorsätze fürs neue Jahr?«, fragte sie.

Er antwortete nicht sofort. Offenbar hatte sie damit gerechnet, denn sie redete nach einer kurzen Pause gleich weiter: »Ich habe mir vorgenommen, ein wenig gesünder zu leben. Nicht mit dem Rauchen aufzuhören, nein, das ist sinnlos, das bringe ich nicht zusammen. Aber ich möchte es echt einmal ein paar Tage ohne Fleisch probieren. Bin schon gespannt, ob ich es aushalte.«

»Und ich werde heiraten«, sagte er mit einem Mal. »Jawohl, das werde ich!« Dabei verengten sich seine Augen zu einem schmalen Schlitz und fokussierten ein unbekanntes Ziel in weiter Ferne.

*

Leider bin ich nur ein schwaches Geschöpf. Denn eigentlich ist es mein großer Traum, auf einer Bühne vor vielen Menschen zu stehen, die mir alle zuhören, festlich gekleidet. Sie schweigen, und niemand spricht außer mir. Ich erzähle ihnen aus meinem Leben, von Dingen, die mir wichtig sind. Ich halte einen richtigen Monolog, so wie es die Hauptfiguren in Theaterstücken immer tun.

Aber der Traum platzt schnell. Meine Vorstellungen enden stets damit, dass die Leute unruhig werden, sich miteinander unterhalten, sodass ich meine Konzentration verliere, und mich schließlich gar nicht mehr beachten. Am Ende möchte mir keiner mehr zuhören. Ich stehe immer noch auf der Bühne, doch ich bin allein. Der Zuschauerraum ist leer geworden.

Warum bist du so schwach, frage ich mich dann. Warum traust du dich nicht? Es muss ja nicht so schlimm werden. Aber die großen Reden sind eben offenbar nur ein Teil meiner Fantasie. In Wahrheit teile ich mich niemandem mit. Ich schreibe meine Monologe nur für mich allein auf. Ich veröffentliche sie nicht, weder als Blog noch sonst irgendwie. Sie sind meine Privatsache. Niemand soll sich über eine junge Frau wie mich lustig machen.

Und so beginne ich dieses neue Jahr mit Aufzeichnungen über das alte. Die Mitternacht ist kurz vorüber, ich sitze da und denke über Vergangenes nach. Dabei ist klar, was mir als Erstes in den Sinn kommt: der Tod meiner Mutter. Es ist schon über zwei Monate her, dennoch habe ich ihn noch nicht richtig verarbeitet. Alles war schnell und überraschend gekommen. Eine Krankheit hatte sich in sie hineingefressen, die man viel zu spät erkannte, eine kurze Krise, aus. Seither quälen mich Schuldgefühle, denn irgendetwas hat man bei einem nahestehenden Menschen immer zu tun oder zu sagen verabsäumt, wenn es so rasch geht. Aber ich muss mich davon befreien. Ich kann nichts mehr ändern.

Ich muss mich vielmehr um die Dinge kümmern, auf die ich noch Einfluss nehmen kann. In der Zeit vor ihrem Tod habe ich kaum mehr mit meiner Mutter gesprochen. Sie hätte mir in ihrem Zustand wahrscheinlich auch nicht mehr viel verraten können, was ich nicht ohnehin schon wusste. Doch in den letzten Tagen und Wochen war ich damit beschäftigt, ihren Haushalt aufzulösen. Ich kramte in den alten Sachen. Die Erinnerungen stiegen in mir hoch. Ich entdeckte dabei auch viel Neues, mir Unbekanntes. Ich muss hier festhalten, dass ich nie nach etwas Bestimmtem gesucht habe. Dennoch habe ich alles gefunden. Es ist schon ein eigenartiges Gefühl, wenn man plötzlich sein Schicksal in Händen hält.

Jetzt habe ich nur einen Wunsch, und es ist zugleich mein größter Vorsatz für das neue Jahr: Ich muss ihren ehemaligen Freund von ihrem Tod in Kenntnis setzen.

*

Lang nach Mitternacht saßen die drei Freunde – zwei Männer und eine Frau – noch immer in der Wohnung beisammen. Fernseher und Musik hatten sie bereits abgedreht. Es war ruhig geworden. Nur hie und da hörte man von draußen durch die Fensterscheiben noch das Krachen eines einsamen Böllers, mit dem jemand das neue Jahr begrüßte. Auf dem Tisch standen eine Flasche Rotwein und drei Gläser, aus denen ab und zu einer der drei nippte.

Der dickliche Mann mit der bereits sehr hohen Stirn führte das Wort. »Heuer muss einmal etwas passieren, aber etwas Richtiges«, sagte er. Seine Stimme klang ständig so, als ob er verkühlt wäre und einen entzündeten Hals hätte. »Nichts mehr rauchen, nichts mehr essen, nichts mehr trinken – jedes Jahr dieselbe Masche! Wir schwören, uns in irgendeiner Form zu kasteien, und wenn wir uns das nächste Mal wiedersehen, hat jeder von uns seinen Eid schon längst wieder gebrochen. Ich werde mir nur mehr etwas vornehmen, was ich auch einhalte. Sonst hat es keinen Sinn!«

»Niemand verlangt von dir, dass du dir überhaupt etwas vornimmst«, verwies ihn der andere, dünnere Mann mit bleicher ungesunder Gesichtsfarbe. »Ich werde wieder einmal versuchen, mit dem Rauchen aufzuhören. Aber nicht jetzt, erst wenn ich in ein paar Stunden wieder aufwache. Ein paar Tage halte ich es meistens aus, und das ist doch immerhin schon etwas, oder?« Dabei zündete er sich eine Zigarette an.

»Mach dich nicht lächerlich. Du denkst nicht einmal im Traum daran, es wirklich bleiben zu lassen«, spottete die Frau.

»Ich denke, auch eine kurzzeitige Entgiftung macht einen gewissen Sinn. Und das Päckchen muss ich noch ausrauchen und wegwerfen, damit ich nicht so schnell wieder in Versuchung komme«, entgegnete der Dünne.

Die Frau: »Bevor ich so etwas tue, tue ich gar nichts!«

»Wie ich gesagt habe: Alles nur blödes Gefasel, keiner hält sich an solche Vorsätze«, krächzte der Dicke. »Und warum? Weil wir im Inneren gegen sie rebellieren, weil sie gegen unsere wahre Natur sind. Deshalb muss es eine richtige Herausforderung sein, etwas, das man noch nicht getan hat, das aber nicht gleich nach einer Selbstkasteiung verlangt.«

»Ein Buch schreiben? Einen Baum pflanzen? Ein Haus bauen? Ein Kind zeugen?«, zählte die Frau spöttisch auf.

»So ähnlich, aber etwas schräger, ungewöhnlicher.«

»Und wie schräg?«

»Lass ihn, er redet nur mehr unzusammenhängendes Zeug«, mischte sich der Dünne ein.

»Unzusammenhängendes Zeug? Weit davon entfernt. Die ganze Zeit denke ich schon darüber nach, und es gefällt mir immer besser«, rechtfertigte sich der Dicke.

»Dann sag endlich, was du meinst, und sprich nicht in Rätseln«, forderte ihn die Frau auf.

Der Dicke weidete sich an ihrer Ungeduld. »Ein schönes Verbrechen begehen, ohne dass einem jemand draufkommt, das wär’s doch, oder?«, ließ er schließlich die Katze aus dem Sack. »Sich dann zurücklehnen und mitverfolgen, wie sie einen vergeblich suchen. Und wenn man spürt, dass der eigene Tod nahe ist, einer erstaunten Öffentlichkeit alles gestehen und seinen Spaß daran haben.«

Die beiden anderen sahen ihn verblüfft an. »Du bist ja total übergeschnappt«, bemerkte die Frau nur kopfschüttelnd. »Irre! Crazy!«

»Es ist offenbar ein Tick von ihm, uns jedes Jahr mit einer so wirren Neujahrsgeschichte aus der Reserve locken zu wollen«, beruhigte der Dünne sie. »Voriges Jahr war es die sich selbst erhaltende Gemeinschaft auf dem Land, die ihm vorgeschwebt ist, jetzt eben das.«

»Es ist kein Tick. Ich gebe zu, dass meine Ideen im Vorjahr etwas unausgegoren waren. Aber diesmal meine ich es ernst«, verteidigte sich der Dicke. »Ich denke sogar an einen Mord.«

»Mord? Das bringst du nicht zuwege. Dazu sind nicht alle geschaffen. Die meisten haben Skrupel«, gab der Dünne zu bedenken.

»Ach was! Wir leben doch in einer Zeit, in der die Hemmschwelle ständig sinkt. Schaut euch einmal um! Jeder arbeitet heutzutage gegen jeden, und den Leuten ist dabei jedes Mittel recht. Man nimmt den Menschen ihr Geld weg, diffamiert sie in aller Öffentlichkeit und betrügt sie hinten und vorn. Damit werden genug Existenzen zerstört. Da brauche ich mir wegen eines kleinen Mordes nicht viel Kopfzerbrechen zu machen. Ich habe auch schon ziemlich konkrete Vorstellungen, wie ich alles angehen werde.«

»Würdest du uns das vielleicht bitte verraten?«, ersuchte ihn die Frau süffisant.

Jetzt zeigte sich die Spur eines Lächelns auf dem Gesicht des Dicken. »Für so dumm, dass ich euch das mitteile, haltet ihr mich hoffentlich nicht, oder? Das würde ja die ganze Überraschung verderben.«

»Und wer …«

»Aus, Schluss, keine Auskünfte mehr.« Sichtlich zufrieden, dass es ihm gelungen war, seine Freunde zu verblüffen, nahm der Dicke die Rotweinflasche, schenkte sich reichlich nach und machte einen großen Schluck. »Jetzt seid ihr wieder dran. Wie war das mit dem Rauchen?«

Der Dünne hustete, sonst schien es ihm aber die Sprache verschlagen zu haben. Auch die Frau zeigte keine Lust mehr, einen Beitrag zum Gespräch zu leisten. So wurde es wieder sehr ruhig. Draußen krachte es noch in unregelmäßigen Abständen, und allmählich löste sich die kleine intime Silvesterfeier auf.

*

»Prosit Neujahr, Mutter! Prosit Neujahr, Schnucki!« In ihrer Wohnung in der Taborstraße im 2. Wiener Gemeindebezirk prostete Erika Haller ihrer Mama und ihrem Lebensgefährten Leopold, dem Oberkellner des Café Heller, zu. Alle drei stießen um Mitternacht mit einem Sektglas an. Leopold bekam dann von seiner Liebsten noch einen dicken Kuss.

Aus dem Fernsehapparat läutete die Pummerin, die mächtige Glocke des Wiener Stephansdoms, das neue Jahr ein, begleitet vom Knallen der zahllosen Feuerwerkskörper, die draußen abgeschossen wurden. »Du weißt, was jetzt kommt?«, schnurrte Erika Leopold ins Ohr.

»Die Glücksbringer? Ich hole sie sofort, mein Schatz«, gab er ebenso sanft zurück.

»Die Glücksbringer haben noch etwas Zeit«, wurde sie etwas deutlicher. »Zuerst kommt der Donauwalzer! Und den möchte ich mit dir tanzen!«

Leopold schluckte. Er hatte etwas Ähnliches befürchtet. Nachdem ihm Erika bei der Aufklärung eines besonders schwierigen Mordfalls geholfen hatte, hatte er ihr versprechen müssen, mit ihr einen Tanzkurs zu besuchen. So hatten sie im Herbst eine große Zahl von Leopolds freien Abenden in der Tanzschule verbracht und immerhin das Bronzeabzeichen errungen. Weitere Kurse im Frühjahr drohten. Und Erika nutzte natürlich jede Gelegenheit, das bisher Gelernte mit ihm zu perfektionieren.

Er sah sich verlegen um. »Hier? Du hast zwar ein schönes und geräumiges Wohnzimmer, aber es ist doch nur ein Wohnzimmer, kein Tanzsaal. Ich sehe schon, da haben wir viel zu wenig Platz. Außerdem habe ich meine Patschen an, da derstess ich mich ja in einer Tour.«

Ein strafender Blick Erikas streifte ihn. »Hast du schon wieder alles vergessen, was du in der Tanzschule gelernt hast? Ein Mann, der gut führt, kann seine Partnerin auch auf engstem Raum drehen und bewegen. Was glaubst du, wie viel Platz wir auf dem Tanzschulball haben werden, Schnuckilein? Und vorher, beim Hausball in eurem Café Heller, wird’s erst recht eng werden. Also müssen wir üben, damit wir den anderen geschmeidig ausweichen können.«

»Bei unserem Hausball kann ich nicht tanzen, da muss ich arbeiten«, entfuhr es Leopold.

»Bitte spiel jetzt nicht den Dummen, sonst machst du mich ernstlich böse«, ermahnte Erika ihn. »Wir haben das alles genau mit Herrn und Frau Heller abgesprochen. Nach Mitternacht, wenn es ein wenig ruhiger wird, darfst du mir sehr wohl einen Tanz schenken.«

»Ist das vielleicht schon der erste Streit im neuen Jahr?«, kam es fragend von Martina Haller, Erikas Mutter. »Dann seid ihr ja auf dem besten Weg zu einem alten Ehepaar, noch bevor ihr verheiratet seid!«

»Was sich liebt, das neckt sich«, versuchte Leopold, die Situation herunterzuspielen.

»Was sich liebt, sollte vor allem tanzen, ehe der Walzer zu Ende ist!« Forsch packte Erika ihren Leopold, umfasste seine Linke mit ihrer Rechten und legte die andere Hand auf seine Schulter. »Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei …«, gab sie den Takt an.

Klarerweise war sie es, die führte. Das war auch in der Tanzschule immer so gewesen. Leopold ließ dies nicht ungern mit sich geschehen. Ihm gefiel der Gleichklang ihrer Bewegungen, das Gefühl, bei jeder Drehung mit Erika eins zu werden. Er war ja kein absoluter Anfänger. In seiner Jugend, als es um erste zielgerichtete Erkundungen in Richtung weibliches Geschlecht gegangen war, hatte er sehr wohl eifrig das Tanzbein geschwungen. Natürlich war es, trotz aller offenen Variationen, auch damals wichtig gewesen, miteinander in Berührung zu kommen. Leopold hatte dabei einiges an Rhythmusgefühl entwickelt, was ihm in seiner jetzigen Situation zugute kam.

Gegen das Tanzen an sich sträubte er sich ja gar nicht. Der Haken lag in der Beständigkeit, mit der Erika es neuerdings von ihm forderte. Die Tanzkurse, die Perfektion am Samstagabend, jetzt auch noch die Aussicht, auf alle möglichen Bälle geschleppt zu werden – das widerstrebte ihm gehörig. Vor allem der Tanzschulball, wo es darum ging, möglichst viele Figuren und Schrittvariationen zu beherrschen, war ihm ein Dorn im Auge. Aber auch Frau Hellers Idee, mit einem Hausball, einem Kostümball noch dazu, im Kaffeehaus in die Ballsaison zu starten, goutierte er keineswegs. Jahrelang hatte man sich einer solch närrischen Veranstaltung enthalten und war gut gefahren damit. Jetzt auf einmal bildete sich seine Chefin dieses Spektakel ein – natürlich auf Betreiben Herrn Wondratscheks, des künstlerischen Beraters für alle kulturellen Aktivitäten im Café Heller, der auch verantwortlich für die Umgestaltung des Lokals samt Errichtung einer kleinen Bühne gewesen war. Bei dem Gedanken daran verkrampften sich Leopolds Beine sofort.

»Nun komm, Schnucki, ein bisschen hältst du es schon noch aus! Nur keine Müdigkeit vorschützen«, munterte Erika ihn auf. Sie merkte natürlich, dass er sich der tänzerischen Übung schnell wieder entziehen wollte.

»Der Boden ist nicht so glatt wie in der Tanzschule. Da bleibt man hängen«, rechtfertigte Leopold sich.

»Lass deine Kommentare und schau lieber, dass du nicht aus dem Takt kommst!«

»Ich bemühe mich ja. Aber wir dürfen deine Mutter nicht so lang allein lassen. Das ist unhöflich. Ich glaube, sie möchte jetzt die Glücksbringer tauschen.«

Erika seufzte. Leopold zeigte ihr nur zu deutlich, dass er nicht vorhatte, sich noch länger mit ihr im Kreis zu drehen. Wahrscheinlich war es doch besser, den Neujahrswalzer zu beenden, bevor er ihr auf die Zehen stieg.

Martina Haller hatte bereits zwei dicke Marzipanschweinchen auf dem Tisch platziert. Von Erika kamen zwei Pilze aus Schokolade dazu. Leopold packte schließlich seine Rauchfangkehrer aus und bemerkte, dass er einen zu viel hatte. Der war für Thomas Korber gedacht gewesen. Doch Thomas, Lehrer für Deutsch und Englisch im dem Café Heller benachbarten Floridsdorfer Gymnasium und Leopolds bester Freund, war nicht da.

Korber machte nämlich gerade eine schlimme Phase durch. Nachdem er einige Jahre lang in einer problematischen Beziehung zu Geli Bauer gestanden war, in der es ständig an allen Ecken und Enden gekriselt hatte, hatte Geli die Sache kurzerhand beendet. Obwohl er es nicht zugab, hatte diese Trennung Korber schwer zugesetzt. Sie hatte ihm den Halt genommen, den er als labiler Typ dringend brauchte. Er begann, mit beängstigender Regelmäßigkeit zu trinken. Dabei trieb er sich in allen möglichen Lokalen herum, kam immer seltener ins Heller und wenn, dann war mit ihm kaum mehr etwas Vernünftiges anzufangen. In der Schule vernachlässigte er seine Aufgaben zusehends, sodass man auch von dort nicht allzu viel Gutes über ihn hörte. Früher hatte Leopold versucht, Korber in solch kritischen Situationen ins Gewissen zu reden und ihn wieder zurück auf den rechten Weg zu führen. Nun ließ Korber solche Versuche gar nicht mehr zu. Er blockte einfach ab und zerfraß sich in Selbstmitleid.

Für Erika war Leopolds Freund längst zum Reizthema geworden. »Es ist besser für ihn und für uns, dass er deine Einladung nicht angenommen hat, glaube mir, Schnucki«, hatte sie das Ganze nur kurz kommentiert. Leopold hingegen ärgerte sich, weil Thomas Korber so ganz und gar nicht zu helfen war. Was tun? Abwarten? Die Erfahrung lehrte leider, dass es in solchen Fällen eher schlimmer als besser wurde.

»Denk nicht ständig an deinen Thomas, wir sind auch noch da«, riss Erika Leopold aus seinen Gedanken.

»Wollten wir nicht noch die Gulaschsuppe essen, bevor ich nach Hause fahre?«, erkundigte sich Martina Haller beinahe gleichzeitig.

Damit sprach sie ein weiteres Reizthema für Erika an. Leopold hatte von Frau Heller einen ganzen Topf selbst gemachter Gulaschsuppe mitbekommen und lautstark verkündet, dass er diese nach Mitternacht zur allgemeinen Stärkung aufwärmen wollte. Doch Erika war das gar nicht recht. Ihre Mutter hatte in den letzten Wochen wieder einige Kilogramm zugenommen, da sie sich im Winter noch weniger bewegte als sonst, dafür aber beim Essen kaum Zurückhaltung an den Tag legte. Spürte sie dann ein gewisses Unwohlsein, rief sie ihre Tochter an und diskutierte ihre Beschwerden ausführlich mit ihr. Dabei wollte sie eigentlich weder auf Erikas Ratschläge noch auf die ihres Arztes hören. Für Erika bestand kein Zweifel: Ihre Mutter war auf ihre Art derselbe hoffnungslose Fall wie Thomas Korber. Unterstützen wollte sie diese Schwäche jedoch keinesfalls.

»Möchtest du die Suppe nicht mitnehmen und zu Mittag zu Hause essen? Da hättest du gleich das perfekte Neujahrsmenü«, schlug sie vor.

»Ich habe jetzt Hunger! Außerdem ist das Essen in der Gemeinschaft viel gemütlicher als allein«, widersetzte Martina Haller sich.

»Es ist äußerst ungesund, vor dem Schlafengehen noch eine derart ausgiebige Mahlzeit zu sich zu nehmen!«

»Woher willst du wissen, wann ich schlafen gehe?«

»Du wirst sehen, es zwickt und drückt dich wieder an allen Ecken und Enden. Aber lass mich dann bitte mit deinen Wehwehchen in Ruhe!«

»Meine Wehwehchen sind meine Sache!«

»Dann behalt sie auch bitte für dich und erzähl mir nicht stundenlang am Telefon davon.«

»Ich hätte mir von meiner Tochter mehr Toleranz erhofft. Welche Freuden bleiben einer armen alten Frau denn noch, die leider auch schon seit einigen Jahren Witwe ist?«

»Denk mehr an die geistigen Freuden, die Kultur!«

»Das Essen ist ein wesentlicher Bestandteil jeder Kultur. Und in unseren Breiten gehört eine Gulaschsuppe um Mitternacht eben zu dieser Kultur dazu!«

Leopold hörte sich diese Diskussion von der Küche aus an, wo er bereits eifrig mit dem Heißmachen des nächtlichen Imbisses beschäftigt war. Egal, was seine Erika davon hielt: Frau Hellers Gulaschsuppe gehörte zu jenen Köstlichkeiten, die man sich zur Begrüßung des neuen Jahres einfach nicht entgehen lassen durfte. Die Debatte überzeugte ihn nur davon, dass sich gegenüber dem alten Jahr nichts geändert hatte. Das beruhigte ihn. Denn solche kleinen Zwistigkeiten stellten für ihn wesentliche Beiträge zur Stabilität und Konstanz in seinen Beziehungen dar. Man musste auch heuer wieder mit ihnen rechnen. Und das war gut so.

Kapitel 2

Freitag, 1. Jänner

Er taumelte durch eine eisige Winterlandschaft. Durst! Nein, nicht nur unter der sengenden Wüstensonne konnte man austrocknen, sondern auch im ewigen Polareis. Wasser! Oder gab es in dieser frostigen Einöde etwa gar so etwas wie Bier?

Er musste wo dagegen gerannt sein. In seinem Gesicht spürte er einen Schlag. Thomas Korber wachte auf. Es war dunkel. Er saß im Freien auf einer Bank. Vor sich nahm er undeutlich die Umrisse einer Frau wahr. Jetzt sah er auch ihre Hand, die ihm einen weiteren Klaps auf die Wange gab.

»Au! Was … was tun Sie da?«, fragte er verwirrt.

»Ich habe versucht, Sie aufzuwecken. Gott sei Dank ist es mir gelungen«, antwortete die Frau.

Korber schaute sich um. »Wo bin ich?«

»Sie sind im Wasserpark bei der Alten Donau. Sie müssen hier auf der Bank eingeschlafen sein. Das ist sehr gefährlich, immerhin hat es einige Minusgrade. Sie hätten erfrieren können«, erklärte ihm die Frau.

Korber fühlte sich träge, und seine Füße waren etwas taub. »Unsinn«, murmelte er.

»So reden alle Betrunkenen, aber wenn Sie wieder nüchtern sind, werden Sie feststellen, dass ich recht habe. Wissen Sie noch, wie Sie hierher gekommen sind?«

Korber tastete sein Hirn nach Erinnerungen ab. »Welcher Tag ist heute?«, wollte er wissen.

»Neujahr! Aber noch relativ früh am Morgen. Sieben Uhr«, gab die Frau Auskunft.

Neujahr! Korber beutelte sich einmal ordentlich ab, suchte weiter nach Eindrücken, die ihm seine jetzige Situation begreiflich machten. Er war in der vorigen Nacht gemeinsam mit Tausenden anderen Menschen auf dem Silvesterpfad in der Wiener Innenstadt unterwegs gewesen. Nach dem Konsum verschiedener heißer alkoholischer Getränke unterschiedlichster Stärke bei den zahlreichen Ständen im Freien hatte er nach Mitternacht noch einige Lokale aufgesucht. Von da an ließ sein Gedächtnis nach. Einen Streit hatte es gegeben, aber wo und mit wem? Wohl am ehesten mit dem Taxifahrer auf dem Nachhauseweg. Er musste frühzeitig aus dem Taxi ausgestiegen sein. Denn das nächste Bild in seinem Kopf zeigte ihn, wie er auf der Floridsdorfer Brücke über die Donau in Richtung seines Heimatbezirks wankte. Wahrscheinlich war er dann in den gleich nach der Brücke gelegenen Park abgebogen, um sich ein wenig von der Anstrengung zu erholen. Dabei hatte ihn auf einer Bank der Schlaf übermannt – ein sanfter, heimtückischer Schlaf, der schlimm für ihn hätte enden können.

»Ich war auf dem Heimweg von einer Silvesterfeier«, antwortete Korber schließlich vorsichtig.

»Und dabei wohl schon sehr unsicher auf den Beinen«, stellte die Frau mitleidlos fest.

»Wie kommen Sie zu so einer Behauptung?«

Sie deutete mit dem Zeigefinger auf seine Knie: »Sie haben da ein Loch in der Hose, und geblutet haben Sie offensichtlich auch ein bisschen. Sie müssen gestürzt sein. Ihre Hände sehen ebenfalls schmutzig und aufgeschunden aus.«

Korber wurde die Sache unangenehm. »Hören Sie, wer sind Sie eigentlich?«, protestierte er. »Und wie reden Sie mit mir? Ich muss mir das nicht gefallen lassen! Ich werde jetzt gehen!«

Die Frau blickte ihn mit einem entwaffnenden Lächeln an. »Ich bin eine gütige Fee«, sagte sie nur. »Und Sie bleiben da!«

»Ich habe schon bessere Witze gehört«, schnauzte Korber sie an. Er nahm alles, was er im Augenblick an Kraft besaß, zusammen und stand auf. Er fühlte sich zwar gar nicht wohl und hatte immer noch das taube Gefühl in den Füßen, aber er musste hier weg. Vielleicht gab es in Bahnhofsnähe ein Lokal, das bereits offen hatte.

Er machte ein paar Schritte, doch irgendetwas haute nicht hin. Er kam nicht so recht von der Stelle. Hilflos rutschte er in seinen Schuhen hin und her, bis er schließlich am Boden lag. Entgeistert sah er, wie ihm die Frau triumphierend seine beiden Schnürsenkel entgegenhielt. »Die habe ich sicherheitshalber einmal ausgefädelt, damit Sie keine Dummheiten machen«, teilte sie ihm mit.

»Und Sie wollen eine Fee sein?« Korber schüttelte den Kopf.

»Kommen Sie, ich helfe Ihnen auf!« Sie reichte ihm ihre Hand. »Wir gehen gemeinsam zu meinem Wagen, der ist jetzt das bessere Transportmittel.«

Korber schaute sich die Dame einmal etwas genauer an, so gut er mit seinem Brummschädel dazu in der Lage war. Sie war etwas kleiner als er, unter ihrem dicken Mantel wahrscheinlich relativ schlank und trug das Haar offen. Auf ihrer spitzen Nase saß eine Brille, die das Gesicht zusammen mit dem schmalen Mund streng wirken ließ. Das Alter traute er sich nicht zu schätzen. Es lag wohl so Mitte der 40. Sexuell strahlte sie auf ihn keine sonderliche Attraktivität aus. Sie wirkte eher wie eine übereifrige Krankenschwester.

Krankenschwester? Panik überfiel Korber. »Wollen Sie mich etwa ins Spital bringen?«, fuhr er die Frau genervt an.

»Nein«, beruhigte sie ihn. »Das habe ich nicht vor. Sie kommen ja einigermaßen zurecht.«

Der ironische Unterton in ihrer Stimme war ihm nicht entgangen. »Dann fahren Sie mich bitte nach Hause«, ersuchte er sie. »Ich wohne nicht weit, in Groß Jedlersdorf.«

Sie schüttelte den Kopf. »Noch nicht! Wir fahren zuerst zu mir. Das ist näher, gleich vorn auf der Floridsdorfer Hauptstraße.«

»Sie werden mich jetzt auf der Stelle meiner Wege gehen lassen«, forderte Korber.

»Wohnen Sie allein?«

»Ja«, brummte er.

»Dann ist das höchst unvernünftig, Herr Korber«, mahnte sie ihn.

»Woher … woher wissen Sie meinen Namen?«, stotterte er verblüfft.

»Stand in Ihrem Ausweis. Sie haben ja geschlafen wie ein Murmeltier«, erklärte sie. »Ich heiße übrigens Christa Wohlfahrt. Und ich werde Ihnen jetzt sagen, warum das unvernünftig ist. Männer wie Sie haben für gewöhnlich nicht viel zu essen in ihrem Kühlschrank, dafür jede Menge alkoholischer Getränke im Haus. Sie würden Ihre beginnende Verwahrlosung nur weitertreiben. Das wäre kontraproduktiv. Ich muss zumindest versuchen, Sie ein wenig zu stabilisieren. Mit einem ordentlichen Frühstück.«

Korber fühlte sich immer noch miserabel. Wenngleich er es vorgezogen hätte, seinen irritierten Magen im nächstbesten Gasthaus mit einer Flasche Bier zu beruhigen, folgte er Christa Wohlfahrt brav zu ihrem Auto. Irgendwie schien es ihm im Augenblick die beste Option zu sein, die er hatte.

*

Markus König erwachte an diesem Neujahrsmorgen zeitig, so wie an jedem anderen Tag auch. Er hatte am Vortag nicht viel gefeiert. Es war gegen seine Gewohnheit. Wenn es ein lebendes Beispiel für nüchternes Pflichtbewusstsein gab, dann war er es.

Das neue Jahr steckte schließlich voller Herausforderungen. Schon in einigen Tagen würde seine Theatertruppe, die Alpengeister, ein zweiwöchiges Gastspiel im Floridsdorfer Haus der Begegnung beginnen. Da musste er, der wegen seines väterlichen Einsatzes für die Schauspieler und wegen seines Familiennamens liebevoll »Alpenkönig« genannt wurde, dazusehen, dass alles lief wie am Schnürchen.

König ließ seine Gedanken kreisen, während er ein paar Liegestütze machte. Die Proben zum Stück Der Bauer als Millionär von Ferdinand Raimund gingen in die Endphase. Richtige Koordination und professionelles Zeitmanagement waren deshalb jetzt von äußerster Wichtigkeit. Eine wesentliche Eigenschaft der Alpengeister bestand nämlich darin, dass sie allesamt von auswärts, also außerhalb Wiens, kamen. Entweder stammten sie aus einem anderen Bundesland – Niederösterreich, Burgenland oder der Steiermark – oder sie waren als gebürtige Wiener mittlerweile ins nördliche Umland der Hauptstadt – Gerasdorf, Korneuburg oder Wolkersdorf – gezogen. Die Disziplin eines derart zerrissenen Haufens wurde mit jedem Gastspiel erneut auf die Probe gestellt – am meisten die Disziplin und Durchsetzungskraft von Markus König.

Ihre Aufführungen der Zaubermärchen des österreichischen Dramatikers Ferdinand Raimund aus der Biedermeierzeit waren allerdings weithin bekannt und beliebt. Vor allem im Raum Wien kam es immer wieder zu Engagements des halbprofessionellen Ensembles. Es gab ein Basisrepertoire an Stücken – Der Verschwender, Der Alpenkönig und der Menschenfeind, Der Diamant des Geisterkönigs, oder so wie jetzt Der Bauer als Millionär – mit dem die Schauspieler so vertraut waren, dass man keine langen Probenzeiten einplanen musste. Im Wesentlichen wurden nur einige Änderungen an der Inszenierung vorgenommen und ein paar zusätzliche technische Tricks eingeübt. Das funktionierte meistens hervorragend und vereinfachte die Organisation.

Der Bauer als Millionär war dabei immer noch eines der populärsten Volksstücke beim Wiener Publikum. Es mochte offenbar auch in der Gegenwart diese Mischung aus überirdischem Spektakel, Besserungsstück und volkstümlicher Komik, die Raimunds Zaubermärchen ausmachte. Da war einerseits die Feenkönigin Lakrimosa in die Bredouille geraten, da sie ihre Macht nur dann wiedergewinnen sollte, wenn ihre Tochter noch vor dem 18. Geburtstag einen armen Mann zum Gemahl nahm. Da war andererseits der Bauer Fortunatus Wurzel, der dadurch zum Spielball verschiedener Mächte wurde. Zum Ziehvater von Lakrimosas Tochter Lottchen ausersehen, wurde er vom Neid reich beschenkt und quasi zum Millionär gemacht. Der Reichtum ließ ihn hochmütig werden: Nicht eher möchte er der Heirat Lottchens mit dem armen Fischer Karl zustimmen, bis er so alt und schwach war, dass er auf den Aschenmarkt1 hinaus gehörte. Mit Hilfe der Lakrimosa unterstützenden Geister geschah dies auch. Glanzszene des Stücks war hierbei das berühmte Duett Brüderlein fein, in welchem die Jugend Wurzel trotz seiner Bitten und seines Flehens für immer verließ und dem Hohen Alter Platz machte. Am Schluss wendete sich aber alles zum Guten: Karl und Lottchen heirateten, Lakrimosa erhielt ihre Feenmacht zurück, und der bekehrte Wurzel wurde wieder zum zufriedenen und rüstigen Bauern.

König atmete tief durch. Noch ein paar Dehnübungen, dann der gewohnte Morgenlauf vor dem Frühstück. Was ihn doch wunderte, war, dass sich die Menschen auch in der heutigen Zeit mit Begeisterung ein Theaterstück ansahen, dessen Handlung auf ein genügsames Biedermeierpublikum zugeschnitten war und beim modernen Betrachter eigentlich nur ein mitleidiges Kopfschütteln auslösen dürfte. Aber es gab ja Leute, die behaupteten, der österreichische Mensch habe nie vollständig aus seiner biedermeierlichen Weltflucht und Realitätsferne herausgefunden. Er lebe auch in der Gegenwart stets in dem Glauben, dass sich sämtliche Probleme auch ohne sein Zutun in Wohlgefallen auflösten. Die logische Erklärung dafür sah besonders der Wiener in der Reduktion sämtlicher Zaubergeister auf einen einzigen: den wohlgefälligen Herrgott, mit dem er sich aus diesem Grund zur Sicherheit weinselig verbrüderte, wo immer sich ein Anlass dafür bot.

König konnte es recht sein. Der Kartenvorverkauf lief gut. Er schaute auf die Uhr, wie er es aus Gewohnheit alle paar Minuten tat. Zum Laufen, Duschen und Frühstücken blieb ihm noch genügend Zeit. Dann gab es eine Besprechung mit dem Techniker im Haus der Begegnung, anschließend Probe. Hoffentlich hatten seine Darsteller nur mäßig gefeiert und beherrschten ihren Text halbwegs. König hasste es, Zeit wegen Unkonzentriertheiten zu opfern, deren Grund an den roten Augen und der Fahne aus dem Mund der Betreffenden leicht erkennbar war. Und was kam am Nachmittag? Ach ja, richtig! Gespräch mit Wondratschek. Eine Kaffeehausbesitzerin wollte als Einlage bei ihrem Hausball die berühmtesten Lieder aus den Raimund-Stücken von Schauspielern seiner Truppe vorgetragen bekommen. Eine lästige Angelegenheit. Aber es war schwer, Wondratschek eine Bitte abzuschlagen. Man konnte nur Vorkehrungen treffen, dass sich die Sache wenigstens finanziell einigermaßen auszahlte.

Was stand noch in seinem Terminkalender? »Siegfried« war für die nächsten Tage mit einem großen Fragezeichen eingetragen. Es handelte sich um Siegfried Streitenberger, seinen alten Schulfreund, der nach wie vor in Floridsdorf wohnte. Er hatte König vor Weihnachten mit einer Mail alles Gute gewünscht und ein Treffen anlässlich des Gastspiels angeregt. Aber König und er hatten sich auseinandergelebt. Ihre Zusammenkünfte brachten meist Hader und Zank mit sich. Eigentlich wollte er ihn nicht sehen. Streitenberger war ein weltfremder Einzelgänger geworden, der sich aufgrund von weit hergeholten Vermutungen und Verdachtsmomenten Feindbildszenarios in seinem Kopf schuf und darauf mit wachsender Aggressivität reagierte.

Sich mit so jemandem auf ein Gespräch einzulassen, würde anstrengend werden. Und doch handelte es sich um einen früheren Freund. König würde wohl in den sauren Apfel beißen und sich mit Streitenberger verabreden müssen.

*

Thomas Korber biss mit unerwartetem Appetit in sein Schinkenbrot und löffelte dazu ein weiches Ei aus. Dazu trank er starken, wärmenden Tee – keinen Kaffee, den Christa Wohlfahrt in dieser Situation für äußerst ungeeignet hielt.

Gleich nach der Ankunft in ihrer Wohnung in der Floridsdorfer Hauptstraße hatte sie Korber zu einem Bad verdonnert. Nach anfänglichen Protesten hatte er nachgegeben. Das Badesalz und die angenehme Temperatur hatten ihre belebende Wirkung nicht verfehlt. Danach hatte sie ihn in einen Trainingsanzug gesteckt, der ihm leidlich passte. »Bei der Hose wird leider nicht mehr viel zu machen sein«, hatte sie ihm mitgeteilt. »Die anderen Sachen werde ich reinigen lassen und demnächst bei Ihnen vorbeibringen.«

»Und ich soll jetzt die ganze Zeit in diesem Trainingsgewand bleiben?«, hatte Korber gemotzt.

»Ich bringe Sie dann nach Hause. Es scheint Ihnen ja wieder bedeutend besser zu gehen. Wie Sie wissen, steht der Wagen unten in der Garage. Auf dem Weg dorthin werden Sie sich schon nicht verkühlen. Im Park vorhin waren Sie auch nicht so zimperlich.«

Korber konnte sich nicht helfen, aber je mehr er wieder bei Sinnen war, desto größere Anerkennung musste er Christa Wohlfahrt zollen. Er hatte Respekt vor ihr, tat das, was sie von ihm wollte und begehrte dabei immer weniger auf.

»Zu Hause schlafen Sie sich hoffentlich aus«, trichterte sie ihm ein. »Sie sollten auch die nächsten Tage ein wenig ruhiger angehen. Sie sind ja Lehrer und haben frei!«

Natürlich hatte sie nicht nur Korbers Namen, sondern auch seine Berufsbezeichnung in seinem Ausweis gesehen. Jetzt wusste sie schon mehr über ihn, als ihm lieb war, er hingegen so gut wie nichts über sie. »Sie sind mir noch eine Antwort schuldig«, sprach er Christa deshalb an. »Wer sind Sie wirklich? Das mit der gütigen Fee ist doch eigentlich ein Scherz, oder?«

»Eigentlich nicht«, widersprach sie ihm. »Ich leite ein kleines Unternehmen, das sich Die Floridsdorfer Bezirksfee nennt. Wir tun mehr oder minder das, was größere Firmen, die sich ähnlich bezeichnen, auch tun: Wir unterstützen Menschen, die das möchten, bei der Organisation ihres Haushalts. Dabei sind wir nicht bloß Reinigungskräfte, sondern bieten auch zahlreiche persönliche Dienste an: Wir helfen beim Einkauf, halten Wohnung, Haus und Garten in Schuss, wenn der Eigentümer einmal verreist ist, kümmern uns in einem solchen Fall auch um Haustiere und so weiter. Selbstverständlich leisten wir vor allem alleinstehenden und älteren Menschen auch Gesellschaft und reden mit ihnen über ihre Probleme, wenn ihnen das wichtig erscheint. Wie Sie sehen, können unsere Kunden sehr viel von uns haben. Allerdings sind wir keine karitative Organisation. Für Behinderte, Süchtige, Obdachlose und so weiter sind andere Institutionen zuständig. Aber so kleine Problemfälle wie Sie passen durchaus in unser Konzept.«

Korber zog eine Augenbraue hoch. »Wenn ich Sie richtig verstehe, verlangen Sie Geld für Ihre Aktivitäten?«

Christa nickte eifrig. »Natürlich! Wie gesagt, bekommt man für den Betrag jedoch einiges geboten. Unser Preis- Leistungsverhältnis ist ausgezeichnet.«

»Heißt das, dass Sie mir beim Aussteigen einen Zahlschein in die Hand drücken und mich um Begleichung Ihrer heutigen Unkosten bitten werden?«

Jetzt musste Christa Wohlfahrt lachen. »Nein, da brauchen Sie sich selbstverständlich keine Sorgen zu machen. Im Augenblick sind Sie mein Hobby.«

»Wie meinen Sie das konkret?«, wollte Korber ein wenig verdattert wissen.

»Ich habe einmal gehört, dass die meisten Menschen in den Stunden vor dem Morgengrauen sterben«, antwortete Christa. »Seitdem gehe ich, besonders in der kalten Jahreszeit und an kritischen Tagen wie zu Weihnachten oder Neujahr, zeitig hinaus und drehe meine Runden. Sie sind nicht der Erste, den ich dabei aufgeklaubt habe. Die meisten sind keine hoffnungslosen Fälle, aber ein wenig labil wie Sie. Sie testen quasi, wie weit sie sich dem Abgrund nähern können, ohne dass sie hinunterfallen. Irgendwie ist es zu einer Leidenschaft von mir geworden, zu versuchen, diesen Menschen wieder mehr Halt zu geben. Man nennt mich deshalb auch die ›gütige Fee‹.«

»Und was haben Sie jetzt mit mir vor? Bin ich so eine Art Testperson für Sie, an der Sie verschiedene Methoden ausprobieren wollen? Dabei spiele ich nicht mit, das sage ich Ihnen gleich«, entrüstete sich Korber.

Christa seufzte. »Ich habe keinerlei Anlass, auch nur irgendetwas zu testen. Es reagieren sowieso alle ziemlich gleich. Wenn sie das Gefühl haben, es geht ihnen besser, werden sie aggressiv so wie Sie gerade, weil sie Angst haben, dass man sich in ihr Leben einmischt. Dabei ist alles halb so wild. Ich bringe Sie, wie gesagt, nach Hause. Wenn Sie Ihre Ruhe vor mir haben wollen, müssen Sie nur eins tun: sich gleich wieder betrinken. Ich komme nämlich am Abend noch einmal vorbei und schaue, wie es Ihnen geht. Sind Sie besoffen, hat sich mein Engagement erledigt. Dann bringe ich Ihnen in den nächsten Tagen Ihr Gewand, und das war’s.«

»Und wenn … nicht?«, kam es vorsichtig aus Korbers Mund.

»Würden Sie mir Ihre Telefonnummer geben?«

»Das … ja, das ginge!«

»Wir würden in Kontakt bleiben. Ich würde zunächst noch jeden Tag einmal kurz bei Ihnen vorbeischauen, später ab und zu, wenn es notwendig ist. Ich würde ein bisschen mithelfen, dass Sie gut mit sich zurechtkommen. Und ich würde warten.«

Das irritierte Korber nun wieder. »Worauf?«, wollte er wissen.

»Auf Ihre Geschichte. Wie es so weit gekommen ist. Irgendwann erzählt mir jeder seine Geschichte.«

1 Vermutlich große Aschenablagerungsstätte in Wien in der Nähe des heutigen Naschmarktes, wo zur Zeit Raimunds Holzasche zur Erzeugung von Lauge verkauft wurde.