Dieses Buch ist den Tausenden von ehrenamtlichen Mitarbeitern gewidmet, die die Arbeit der Vogelwarte Radolfzell/Rossitten 115 Jahre lang tatkräftig unterstützt haben.

Das große Los

Wenigen ist vergönnt, über 60 Jahre in einem weltberühmten Institut tätig zu sein und zudem gut die Hälfte dieser Zeit – 37 Jahre, so lange wie kein anderer – dessen Geschicke mitbestimmen zu können. Ich habe dieses große Los mit der Vogelwarte Radolfzell gezogen. Die Vogelwarte Rossitten/Radolfzell wird heuer 115 Jahre alt. Nach erstem Kontakt mit diesem Institut 1952 als 13-Jähriger wurde ich 1955 ehrenamtlicher Mitarbeiter („Beringer“), danach studentische Hilfskraft, Doktorand, Postdoc-Stipendiat, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Örtlicher Leiter und schließlich Direktor, 2005 bekam ich einen Emeritus-Arbeitsplatz, auch für meinen „neuen Beruf“ als „Landschaftsgestalter für Naturschutzzwecke“.

Seit langem werde ich gedrängt, die „alte“ und die miterlebte Geschichte dieses altehrwürdigen Instituts darzustellen. Der Kosmos-Verlag hat mir dazu einen idealen Vorschlag gemacht: eine Kombination aus meinem Lebenslauf und der Geschichte der Vogelwarte. Dieses Werk halten Sie nun in den Händen. Was ich niedergeschrieben habe, soll keine erschöpfende Chronik sein, sondern eine „farbige“ Darstellung der wichtigsten Ereignisse und Entwicklungen.

Dabei bezwecke ich: Zum einen möchte ich dem einzigartigen Institut ein bleibendes Denkmal setzen. Zum anderen will ich meine ganz außergewöhnliche Arbeitsgruppe würdigen, mit der wir rund 30 Jahre lang umfangreich, vielseitig und richtungsweisend in einer Form forschten, wie es wohl nie mehr möglich sein wird. Und schließlich möchte ich Freunden des Instituts und allen Interessierten gern zeigen, wie nahezu unglaublich wechselvoll die Geschicke eines so langlebigen Instituts sein können – wie gute und schlechte Zeiten, Höhenflug und tiefer Fall, besondere Umstände oder auch gute und weniger gute Freunde und vieles mehr seinen Werdegang bestimmten, so wie im Leben vieler Menschen.

Und dann muss ich natürlich schildern, wie mich schon zu Beginn meiner Schulzeit im fernen Osten unseres Landes eine beringte Kohlmeise auf die Vogelwarte aufmerksam machte, wie mich bald danach eine schicksalhafte Fügung in deren Nähe brachte und ich beginnen konnte, mich an das „Ornithologen-Paradies im Märchenschloss“ anzupirschen. Und wie es schließlich nach einer ganzen Kaskade von Strategien und manch glücklichem Umstand möglich wurde, das Ziel zu erreichen – bis zum „Schlossherrn auf Zeit“.

Beim Schreiben habe ich mich bemüht: so wahrhaft und ehrlich wie möglich, ungeschminkt und nicht glorifizierend, auch herzhaft kritisch, aber eher milde als nachtragend – ich hoffe, es ist mir gelungen. Und dann möchte ich mich ganz herzlich bedanken bei Frau Dipl.-Biol. Bärbel Oftring, Böblingen, und Frau Dipl.-Biol. Stefanie Tommes vom Kosmos-Verlag für die außergewöhnlich gute Zusammenarbeit bei der Herstellung des Buches, die durchweg Freude bereitet hat.

Peter Berthold

Vom Waldschrat zur Wissenschaft

Mein langer Weg zur Vogelwarte

Ich bin nicht nur Ornithologe – also Vogelliebhaber, Vogelkundler oder Zoologe mit Schwerpunkt in der Tierklasse Aves –, sondern auch Ornithomane, vielleicht sogar Ornithopath, also den Piepmätzen regelrecht verfallen. Woher das kommt, ist letztlich nicht zu klären, aber ich kann beschreiben, wie es begann und schlimmer wurde.

Vorweg aber noch ein Wort an diejenigen, denen es ähnlich geht: Wir befinden uns mit unserer Manie oder Passion in riesiger Gesellschaft. Vögel sind nämlich die beliebtesten Mitlebewesen, die wir kennen. Keine andere Gruppe von Tieren oder Pflanzen hat so viele Forscher, Liebhaber und Naturschützer in ihren Bann gezogen wie die Vögel – ihre Anzahl beträgt weltweit viele Millionen. Die Ursachen dafür: Vögel sind nicht nur wegen ihrer Farbenpracht in oftmals bizarrem Gefieder herrlich anzuschauen, sondern betören zudem durch eine ganze Klangwelt an Rufen und Gesängen, faszinieren durch bewundernswerten Flug und vielfältiges Verhalten. Außerdem sind sie uns tagtäglich Kumpane, wo immer wir leben – im Urwald, in Wüsten, Hochgebirgen, auf Weltmeeren und in arktischen Tundren bis in unsere Hausgärten und aufs Fensterbrett.

Die Begeisterung für die Vogelwelt ist mir nicht unmittelbar in die Wiege gelegt worden – keiner meiner Vorfahren war Ornithologe –, wohl aber der Nährboden dafür: Meine Großeltern und Eltern waren ungemein naturbegeistert. Von meinem Großvater väterlicherseits, der bereits im Ersten Weltkrieg fiel, erzählte man: Von Beruf Schlosser fand er in der Natur Entspannung von seiner harten Arbeit. Ähnlich mein Großvater mütterlicherseits: Nach sechs Tagen Lärm, Hitze und Gestank in einer Werkstatt, die er als Schreinermeister leitete, pflegte er sonntags häufig eine Vorliebe: In aller Herrgottsfrühe aufzustehen, um dann im nahen Stadtpark von Zittau, meiner Geburtsstadt, den Sonnenaufgang zu erleben, die herrliche Morgenluft einzuatmen und vor allem im Frühjahr das Vogelkonzert zu genießen, auch wenn er nur wenige Vogelarten kannte.

Beide Großeltern – und im Gefolge auch meine Mutter – waren begeisterte Schrebergärtner, so dass auch ich von 1945 bis 1952 im Sommerhalbjahr jeden Nachmittag mit in den Garten pilgerte. Wenn dort auch ordentlich eingespannt, ist mir Gartenarbeit nie lästig geworden, im Gegenteil. Mich begeisterte nicht nur, dass wir in jenen schlechten Zeiten neben Kartoffeln, Kürbissen, Gurken, Äpfeln und Birnen auch „exotische“ gelbe Tomaten oder schwarze Himbeeren hatten, die meine Klassenkameraden nicht einmal vom Hörensagen kannten – für mich war der Garten zudem auch Privatzoo. Dort konnte ich Meerschweinchen halten, im Brunnen Schmerlen und Moderlieschen, eine Zeitlang einen im Feld ergriffenen jungen Feldhasen sowie Rebhuhnküken, die ich in der städtischen Brutanstalt abholen konnte, nachdem ein in einem Gebüsch entdecktes und dorthin gebrachtes Gelege Transport und Brutapparat überstanden hatte.

Mein Vater hat mich schon als Kind in den Wald mitgenommen, etwa wenn er zur Jagd ging, aber davon ist mir wenig in Erinnerung geblieben, da wir – kriegsbedingt – erst ab 1953 Gelegenheit hatten, gemeinsame Naturfreunde zu werden. Und so wurde meine „Großmuttel“ väterlicherseits – die „Kartoffelgroßmutter“, wie ich sie nannte – zur wichtigsten prägenden Persönlichkeit für mich, vor allem für das Leben in und den Umgang mit der Natur. Sie lebte seinerzeit verwitwet allein in Olbersdorf, dem Nachbarort von Zittau in Richtung Zittauer Gebirge, unweit des idyllischen Ferienortes Oybin. Dort wohnte sie in einem Siedlerhäuschen neben einer Reihe von Bauernhöfen, also richtig auf dem Lande, wo neben einfachen Dörflern Rinder, Pferde, Schweine, Schafe, Ziegen, Karnickel, Hühner, Gänse, Enten, Tauben, Bienen und sogar Fasane, Pfauen u. a. lebten – alles Tiere, die mein Herz höher schlagen ließen. Dorthin marschierte ich – etwa zwei Stunden zu Fuß –, sooft ich nur durfte – am Samstagnachmittag, um das Wochenende bei ihr zu verbringen, und Sonntagabend ging’s wieder zurück.

Kartoffelgroßmutter hatte ich sie genannt, weil sie sich ganz überwiegend von Kartoffeln ernährte – in jeglicher Form, am liebsten von „Mauke“, also Kartoffelpüree, das dadurch noch heute Götterspeise für mich ist. Lange Zeit hatte ich sogar geglaubt, sie lebe ausschließlich von Kartoffeln und hätte dadurch die etwas knollenförmige Verdickung ihrer Nase bekommen …

Adalbert Stifter hätte sie ganz anders benannt: die Waldlerin. Sie war dem Walde in den Zittauer Bergen bis in die entlegensten Winkel an der tschechischen Grenze so verbunden, ja fast mit ihm verwoben, dass sie meiner Fantasie nach in Skandinavien als Norne hätte leben können, und in ihrer Begleitung fühlte ich mich im Walde als der geborene kleine Waldschrat. Der Wald war ihr wie Lebensraum und Lebensquell. In ihn tauchten wir ein, sooft es Zeit und Wetter erlaubten, sammelten Leseholz, Zapfen, kämmten Heidel- und Preiselbeeren von den Sträuchern und füllten ganze Körbe voller Speisepilze vieler verschiedener Arten, die sie sehr wohl kannte. Darauf aufbauend kann ich heute weit über 100 essbare Pilzarten unserer Wälder gefahrlos verwenden.

Da seinerzeit in Zittau Pilze als Nahrungsmittel sehr begehrt waren, nahm ich bisweilen einen großen Korb voll mit in die Stadt und verkaufte sie auf dem Schulweg an ein Lebensmittelgeschäft. Das verdiente Geld und weiteres, das ich mir durch Kräutersammeln für die Stadtapotheke erwarb sowie durch den Verkauf von Kräuterbüscheln und Seerosenblüten beim Hausieren, summierte sich bis 1952 auf 250 Ostmark – und davon konnte ich mir bereits als Schulbub die Spiegelreflexkamera „Exa“ kaufen, also die kleine Schwester der berühmten „Exakta Varex“.

Bei so viel ständig erlebter Natur waren natürlich auch Vögel in ihrer ganzen Vielfalt meine tagtäglichen Begleiter, und sie schlugen mich mehr und mehr in ihren Bann, bis ich ihnen über einige Schlüsselerlebnisse schließlich gänzlich verfallen war – bis zum heutigen Tag.

Eine beringte Kohlmeise

Im Alter von zehn Jahren begeisterten mich unter den vielen Vögeln, die ich beobachtete und wozu mich ein Fernglas von meinem Großvater aus dem Ersten Weltkrieg besonders privilegierte, vor allem drei Vogelarten, die mich wegen ihrer grazilen Gestalt und exotischen Farbenpracht zutiefst faszinierten. Die Erstbegegnungen mit ihnen sind mir noch in so lebendiger Erinnerung, als wären sie gerade erst erfolgt: Schwanzmeisen – Federbällchen mit langem Schwanz, auch „Pfannenstielchen“ genannt –, geschickt durch ein Stachelbeerbäumchen in einem Hausgarten in Olbersdorf turnend, der „fliegende Edelstein“ Eisvogel über dem Burgmühlgraben am Stadtrand von Zittau, dessen aufblitzendes Blau fast blendete, sowie etwa zehn Dompfaffen-Männchen – karminrot leuchtende Federkugeln – vor dem Hintergrund weiß verschneiter Büsche im Stadtpark an der Weberkirche.

Nachdem mir mit viel Mühe auch noch gelang herauszufinden, was ich beobachtet hatte – ein erstes Vogelbüchlein erhielt ich erst zwei Jahre später –, ließen mich die Vögel nicht mehr los. Ich begann alsbald Vogeleier zu sammeln und, wie das unter sächsischen Vogelliebhabern nicht selten vorkam, auch „schwarz“ Vögel zu fangen. Mit einer ausgedienten Zigarrenschachtel mit Schlagnetz versehen – von einem alten Vogelfänger organisiert –, ließen sich auf dem Fensterbrett Meisen, Finken, Ammern und andere Vögel fangen. So bekam ich Vögel auch in die Hand und konnte sie aus nächster Nähe betrachten, bevor ich sie wieder fliegen ließ.

Einen märchenhaft gelbgrün leuchtenden Grünling gewöhnte ich jedoch in einen Käfig ein und schenkte ihn meiner Kartoffelgroßmutter, bei der er jahrelang im Freiflug in der Küche lebte. Ich durfte mir im Zoofachgeschäft am Rathausplatz einen wunderschön singenden Girlitz kaufen. Was ich damals noch nicht ahnen konnte: Mit der dadurch erweckten Leidenschaft für Käfigvögel wurde der Grundstein gelegt für spätere so ausgeklügelte Vogelhaltung und -zucht, dass wir damit die Spitzenforschung erreichten.

Unter den Fensterbrett-Zigarrenkisten-Fänglingen war dann am 19. November 1952 das absolute „Highlight“: eine Kohlmeise mit einem Aluminiumring am Bein. Er trug die Prägung: „H69870 Radolfzell Germania“. Auf mein großes Erstaunen, dass eine Kohlmeise von Radolfzell am Bodensee bis nach Zittau gewandert sein sollte, folgte alsbald eine gewisse Ernüchterung: Die Meise war von einem Herrn Heinz Knobloch, Lehrer und wohnhaft in unserer Nachbarschaft, in Zittau unweit von meinem Fangplatz „für wissenschaftliche Zwecke“ beringt worden. So etwas durfte er, denn er war ehrenamtlicher Mitarbeiter und Beringer der Vogelwarte Radolfzell, die damals für Ostdeutschland zuständig war.

Damit hatte ich durch die beringte Meise zwei wichtige Dinge erfahren: Es gibt also eine Vogelwarte, und für die kann man – ganz legal für wissenschaftliche Zwecke – Vögel fangen! Das war faszinierend, und die Vorstellung, so etwas auch einmal machen zu können, ließ mich nicht mehr los.

Als es das Schicksal wollte, dass meine Mutter mit mir 1953 nach Württemberg übersiedelte, wo wir uns mit meinem aus englischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten Vater wieder zusammenfinden konnten, galt eine meiner ersten Fahrradtouren der Vogelwarte Radolfzell. Sie war in dem herrlichen Wasserschloss Möggingen bei Radolfzell am Bodensee untergebracht, und damals begnügte ich mich natürlich damit, sie zunächst nur aus der Ferne zu beäugen. Danach überlegte ich, wie ich mich diesem „Ornithologen-Olymp“ meiner Träume nähern konnte, ohne aufdringlich zu sein oder gar eine Abfuhr für allmählich aufkommende Pläne zu riskieren.

Ein Mekka für Ornithologen

Vogelwarte Rossitten: Welterstgeburt

Im Jahre 1884 gab es einen „Wiener Kongress“ – nicht den, natürlich, um Fürst Metternich, aber einen für die Wissenschaft höchst bedeutsamen: Es war der „Erste Internationale Ornithologen-Congress“ – im Turnus von meist vier Jahren bis heute fortgeführt, zuletzt 2014 Nummer 26 in Tokio. Er fand am Hofe des Vogelliebhabers Kronprinz Erzherzog Rudolf statt und versammelte rund 140 namhafte Ornithologen Europas.

Damals war die Zeit reif für Überlegungen zur Einrichtung einer „Vogelwarte“. Zwar glaubte kaum mehr jemand ernsthaft an die Vorstellungen des Altertums, Zugvögel wie unsere Schwalben würden wie Frösche im Schlamm von Gewässern überwintern. Aber den Berichten von Reisenden, Störche, Schwalben u. a., die sich während unseres Winters bis in Südafrika tummeln, könnten aus unseren Breiten stammen, wurde auch mit großer Skepsis begegnet. Störche – vielleicht, aber 20 Gramm leichte Schwalben bis Südafrika? So verwundert es nicht, dass auf dem Congress lang über die „Einrichtung von Beobachtungsstationen über die ganze bewohnte Erde“ beraten wurde und wie man den Rätseln des Vogelzugs auf den Leib rücken könnte.

Von dieser Idee von „Vogelwarten“ – Sternwarten entsprechend – berichtete zuhause der deutsche Congress-Gesandte, der Ornithologe August Wilhelm Thienemann, Pfarrer in Thüringen, und begeisterte seinen 21-jährigen Sohn Johannes. Der Filius war damals, seiner Familie entsprechend, in der u. a. der durch „Brehms Tierleben“ berühmte Zoologe Alfred Edmund Brehm verkehrte, bereits Naturfreund und der Jagd zugetan. Aber er studierte seinerzeit, der Mutter zuliebe, etwas „Ordentliches“ – nämlich Theologie. Pastor Dr. Friedrich Lindner, damaliger Studienkamerad, erzählte ihm von dem Vogelparadies Kurische Nehrung in Ostpreußen, im Volksmund „Preußische Wüste“ genannt, in die er 1888 vorgedrungen war. Und er ermunterte ihn – mit der neuen „Vogelwarte“-Idee im Kopf – zu einer Reise dorthin. Dazu Thienemann später: „… und so besuchte ich am 8. Juli 1896 zum ersten Male Rossitten – und kam nicht wieder davon los. Ich sah … einen regelmäßig verlaufenden Vogelzug, so gewaltig, wie er bisher noch nie in Deutschland beobachtet worden war … und ich wurde den Gedanken nicht los: ob sich hier nicht auf irgendeine Weise etwas Bleibendes schaffen ließe.“

Thienemann hielt dann 1900 auf der Jahrestagung der Deutschen Ornithologen-Gesellschaft (DOG) einen zündenden Vortrag über „Zwecke und Ziele einer ornithologischen Beobachtungsstation in Rossitten“. Die Idee begeisterte, und Thienemann erhielt von der DOG den Auftrag, zum 1. Januar 1901 die „Vogelwarte Rossitten“ zu gründen. Damit hatten die hochtrabenden Gedankenspiele auf dem Wiener Congress von einem Netz von Beobachtungsstationen über die ganze Erde immerhin zu einer Erstgeburt geführt – zur ersten Vogelwarte weltweit. Die nächsten folgten 1910 auf Helgoland und bald auch in anderen Ländern.

Der Anfang in Rossitten war unbeschreiblich schwer. Unter „unsäglichen Mühen“ wurde ein erstes Institutsgebäude im ehemaligen Atelier des Malers Heinrich Krüger – einer fensterlosen Bretterhütte – installiert, und ein erster Beobachtungsstand wurde aus Treibholz errichtet. Thienemann musste in seinem neuen Wirkungskreis rasch der Theologie abschwören und sich den Naturwissenschaften an der Universität Königsberg zuwenden. Dort promovierte er 1906 (über Bandwürmer) zum Dr. phil. und erhielt 1910 eine Professur. Inzwischen hatte er in seinem Einmannbetrieb in Rossitten längst begonnen, neun Hauptuntersuchungsgebiete zu beackern, die durch eine Satzung der DOG unter „Zweck der Vogelwarte“ vorgegeben waren:

  1. Beobachtung des Vogelzuges, untergliedert in neun Teilgebiete wie Zugzeit der einzelnen Arten, Richtung der Wanderzüge oder Höhe und Schnelligkeit des Wanderfluges
  2. Beobachtung der Lebensweise der Vögel
  3. Untersuchung von Mauser und Verfärbung
  4. Abschätzung des wirtschaftlichen Wertes der Vögel
  5. Untersuchungen über zweckmäßigen Vogelschutz
  6. Einrichtung einer Vogelsammlung
  7. Beschaffung von Untersuchungsmaterial für wissenschaftliche Staatinstitute
  8. Ausweitung einzelner Punkte auf andere Tierklassen
  9. Verbreitung der Kenntnis des heimatlichen Vogellebens

Da hieß es schuften, improvisieren, kämpfen, auch überleben. Weil eine regelmäßige Vergütung trotz vielerlei Anfragen bei den zuständigen Ministerien jahrelang ausblieb, nahm Thienemann neben seinem ornithologischen Wirken „jede Tätigkeit an, die sich mir bot, um mich erst einmal in Rossitten fest- und durchzusetzen“. Aber er schaffte es, mit der richtigen Einstellung: „Ein dürftiger Sammlungsraum, ein Schrank mit ein paar ausgestopften Vögeln und ein Herz voll glühender Begeisterung für die Sache – das waren die Dinge, mit denen ich im Jahre 1901 ans Werk zu gehen versuchte.“ Und es lohnte sich! Die Arbeit in Rossitten machte rasante Fortschritte – und mit einer Pioniertat wurde das Institut alsbald weltberühmt: dem „Vogelberingungsexperiment“.

Thienemann führte die 1890 von dem dänischen Lehrer Christian Mortensen begonnene Beringung – Kennzeichnung mit Metallringen am Bein (Lauf) – 1903 als Großversuch ein. Schon bald erhielt er viele spektakuläre Rückmeldungen zu Störchen, Staren und anderen Arten. Damit erhellten sich schlagartig die bislang vermuteten Zugwege bis in fernste Winterquartiere in Afrika. Thienemann berichtete begeistert „in Wort, Lichtbild und Film“ in allen Medien in Deutschland und auch im Ausland über die neuen Erkenntnisse.

Wie sehr ihn die Beringung begeisterte, beschreibt er in köstlichen Worten: „Es gibt ja so viel Poesie, so viel Geheimnisvolles um diesen Versuch! Das spüre ich jetzt noch, obgleich ich schon so lange in dieser Arbeit stehe. Wenn so ein Stückchen Metall, von meinem Schreibtisch ausgegangen, über Länder und Meere getragen, in Nilwasser getaucht, in der Kalahari-Wüste getrocknet, von schwarzen wilden Menschen begafft oder mit heiliger Scheu betrachtet, dann plötzlich wieder vor mir auf meinem Schreibtisch liegt, dann strömt mir stets ein eigenartiger Zauber von diesem Ringlein entgegen. Mit diesem Zauber kann Interesse für unsere Vogelwelt geweckt werden, namentlich bei der Jugend. Ich mache mich anheischig, eine große Klasse voll der unbändigsten Jungen in einer Geografie- oder einer Naturgeschichtsstunde, in der das Beringungsexperiment zur Behandlung steht, zum unbedingten Stillsitzen und zu angespanntester Aufmerksamkeit zu zwingen. Gerne denke ich daran zurück, als ich einmal vor 800 Kindern sprach. Zunächst war mir etwas bange um die Disziplin, denn gegen 800 angesammelte Kinder ist noch kein Zuchtmittel gewachsen. Die kann man nur durch den zu behandelnden Gegenstand selbst zwingen, aber siehe da, sie saßen von Anfang bis zum Ende mäuschenstill.“

So wurde der „Vogelprofessor“ zum populärsten Ornithologen Deutschlands, über den Erwin Stresemann schrieb: „Es hat in unserem Jahrhundert keinen Vogelkundigen gegeben, der es so wie Thienemann verstanden hätte, die Herzen für seine Sache zu gewinnen …“

Kein Wunder, dass die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) die weltberühmte Vogelwarte 1923 mit Freuden übernahm. Damit bekam das Institut eine solide wirtschaftliche Grundlage, und auch sein späterer Weg in die Max-Planck-Gesellschaft war vorgezeichnet.

Bevor Thienemann 1929 in den Ruhestand ging, begann er noch durch Rückhalte- und Auflassversuche mit Störchen und anderen Arten die experimentelle Orientierungsforschung, die vor allem Werner Rüppell fortsetzte.

Die Vogelwarte war zum „Mekka der Ornithologen“ avanciert und zog jährlich etwa 25 000 Besucher an. Nach Thienemann leitete sie zunächst Oskar Heinroth von Berlin aus, bis 1936 der wissenschaftliche Mitarbeiter Dr. Ernst Schüz Direktor vor Ort wurde. Er konnte noch zugphysiologische Studien (zusammen mit Paul Putzig) und populationsbiologische Untersuchungen einführen, bevor 1944 die Kriegsfront Rossitten erreichte und Schlimmes bevorstand: die Rettung wertvoller Bücher und Unterlagen, vor allem von über einer Million beringter Vögel, die angesichts des nahen Endes des einst als tausendjährig proklamierten Reiches dringend geboten, aber durch den vorgeschriebenen Glauben an den Endsieg streng verboten war.

Zudem musste mit Ende des Zweiten Weltkrieges das Institut zu neuen Ufern überführt werden. Dafür – und für die spätere Arbeit am Bodensee – waren die Visionen Thienemanns 1927 wie geschaffen: „Ist die Technik nicht gerade jetzt dabei, Raum und Zeit zu überwinden? Und sollte das in absehbarer Zeit der Forschung nicht zugutekommen? Alle die großartigen neuen Errungenschaften der Technik: Radio, Telefon, Auto, Luftschiff, eigens in den Dienst der Vogelzugforschung gestellt, und ferner den dunklen Fragen mit allen möglichen Versuchen und Experimenten zu Leibe gegangen! O, das würde bald ungeahnte Fortschritte bringen. Ich pflege oft zu sagen, dass die Lösung so mancher Rätsel im Vogelzuge eigentlich nur eine Geldfrage ist, wie bei so vielen anderen Dingen im Leben auch.“

Wie wahr! Und alles sollte später so kommen – experimentelle Forschung mit allen Schikanen und reichem Geldsegen –, aber bis dahin war es ein weiter Weg!

Wieso nach Radolfzell?

Betrachtet man eine Karte des ehemaligen Großdeutschen Reiches, dann hat die Vogelwarte Rossitten bei ihrem Werdegang zur „Vogelwarte Radolfzell“ ab 1946 von der Kurischen Nehrung bis zum Bodensee nahezu die größtmögliche Diagonale durch das Land bewältigt. Wie kam es zu einer derart weiträumigen Umsiedlung? Vor allem durch die Wunschvorstellungen zweier Persönlichkeiten. Ernst Schüz, der letzte Direktor von Rossitten, der die Kriegswirren überlebte, war äußerst daran interessiert, dass das geliebte Institut an einem neuen, günstigen Ort rasch wiederaufgebaut werden konnte.

Schüz war zudem Schwabe und stammte aus dem lieblichen Markgröningen bei Stuttgart. Wie er mir später als mein Doktorvater erzählte, hatte er sich bei den rauen „Krajebietern“ (den Krähenfängern der Kurischen Nehrung, die in Netzen erbeutete Vögel durch Biss in den Hinterschädel töteten) nicht unbedingt wohlgefühlt. Und auch Thienemann war ihm, dem eher feinsinnigen Gelehrten, alles andere als wesensverwandt, indem der mehr als derbe Geselle Schüz völlig abwegigen Leidenschaften frönte wie der Jagd und Falknerei oder in dem von ihm begründeten „schießfreudigen“ Kentucky-Club derbem „Ulk“.

Und so war Schüz willkommen, dass das Angebot für eine neue Bleibe für die Vogelwarte zwar nicht aus seinem „Schwoabeländle“, aber aus dem benachbarten Baden kam: von Schloss Möggingen bei Radolfzell am Bodensee, von dem dortigen Schlossherrn Baron Nikolaus von und zu Bodman. Und das aus gutem Grunde: Er – Spross der berühmten Familie, auf deren Namen auch der des Bodensees zurückgeht – war der Vogelwarte Rossitten schon lange verbunden und hatte sich schon früher ein solches Institut in Süddeutschland gewünscht.

Der Baron schreibt dazu selbst: „Im Elternhaus in Bodman lernte ich schon, Tiere zu beobachten und Pflanzen zu studieren … Stets war mein besonderes Interesse die Vogelwelt.“ Vor allem über die Beobachtungen an Wasservögeln und den praktischen Vogelschutz, der im auflebenden Obstbau am Bodensee wichtig wurde, kam Baron von Bodman Anfang der 1920er Jahre mit dem Verein „Süddeutsche Vogelwarte e. V.“ in Stuttgart in Verbindung, damals von Dr. Kurt Flöricke geleitet. Ihm trat er alsbald bei und übernahm 1931 dessen Vorsitz. 1924 publizierte er einen ersten längeren Bericht über die Vogelwelt bei Bodman, und zusammen mit Flöricke galt sein besonderes Augenmerk dem Vogelparadies Halbinsel Mettnau, das ab 1926 als Naturschutzgebiet „Vogelfreistätte Mettnau“ ausgewiesen wurde. Beiden schwebte vor, mit Hilfe einer 1926 gegründeten Kommission des oben genannten Vereins auf der Mettnau eine Beobachtungsstation – letztlich eine „Vogelwarte“ – einzurichten, zum Studium der zahlreichen Brutvögel und des Vogelzugs.

An diesem Projekt war auch Frau Lina Hähnle beteiligt – die berühmte Gründerin und damalige Vorsitzende vom 1899 in Stuttgart ins Leben gerufenen „Deutschen Bund für Vogelschutz“ (DBV, heute NABU: „Naturschutzbund Deutschland“). Eine bescheidene „Beobachtungsstation Mettnau der Süddeutschen Vogelwarte“ konnte dann in der Tat 1928 im Scheffelschlösschen eingeweiht werden. Sie hielt sich aber nur bis 1938. Flöricke starb 1934, und mit Einführung des Reichsnaturschutzgesetzes 1936 war die Bezeichnung „Vogelwarte“ ausschließlich den drei großen Instituten dieser Art in Rossitten, auf Helgoland und Hiddensee erlaubt. So beschloss der Verein „Süddeutsche Vogelwarte“ 1938 seine Auflösung.

Für Baron von Bodman aber kein Beinbruch – er hatte vorgesorgt. Er schreibt: „Im Jahre 1935 kam meine Verheiratung …“, und: „Unsere anschließende Hochzeitsreise ging nach Ostpreußen … Ich erlebte den Vogelzug und sah aus nächster Nähe mit Dr. Schüz Elche, sah auch dem Krähenfang mit Netzen zu und konnte Prof. Thienemann kennenlernen.“ Und nach der Hochzeitsreise zog das frisch verheiratete Paar am 27. Oktober in Schloss Möggingen bei Radolfzell ein, das später auch für fast 67 Jahre Heimat der Vogelwarte werden sollte. Aber auch bis dahin war es noch ein weiter Weg.

Baron von Bodman war also mit seiner frisch angetrauten Gattin, Monika Gräfin von Spee, zum Honigmond in die „Preußische Wüste“ gereist, um neben den „herrlichen Masurischen Seen“ das „Mekka der Ornithologen“ kennenzulernen. Das hatte wohl Nachwirkungen. Denn – obwohl sie uns sehr gewogen war – hatte ich, wenn ich mich später mit ihr unterhielt, oft das Gefühl, sie dächte: Das ist auch so ein Mensch, der sicher – wäre es möglich gewesen – seine Angetraute selbst auf der Hochzeitsreise in eine „Preußische Wüste“ geschleppt hätte, wenn nur genügend Vögel dort gewesen wären.

Für Baron von Bodman begann nach Einzug in Schloss Möggingen ornithologisch eine interessante Zeit mit gutem Ausgleich für das Ende der Süddeutschen Vogelwarte. Da die Vogelwarte Rossitten von Gesetzes wegen auch für die Beringung im süddeutschen Raum zuständig, aber für Zusammenarbeit schrecklich weit weg war, wurde in Schloss Möggingen eine Zweigstelle eingerichtet: die „Beringungszentrale für Baden und Württemberg“.

Damit ist schon zu ahnen, wie es nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Hinblick auf die Fortführung der Vogelwarte weiterging. Dazu nochmals Baron von Bodman: „Als wir die Besatzungszeit (durch die Franzosen) hier im Hause hinter uns hatten, meldete sich zu meiner großen Freude Dr. Schüz bei mir und gab ein Lebenszeichen von sich. Er frug bei mir an, ob eventuell in unserem Bodenseeraum ein Neuaufleben der Vogelwarte Rossitten möglich wäre. Ich bejahte dies und schlug vor, die Tätigkeit der Vogelwarte hier im Hause … neu zu beginnen. Mein Vorschlag fand Anklang. Dr. Schüz kam hierher, um für die künftige Arbeit einer Vogelwarte alle Möglichkeiten zu besprechen.“

Die Freundschaft und Zusammenarbeit von zwei großen Vogelfreunden hatte somit der Vogelwarte Wege für einen baldigen Neuanfang geebnet, von dem andere Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft noch lange träumen mussten. Bevor dieser Neubeginn näher beleuchtet wird, noch eine köstliche Geschichte um die beschriebene zeitweilige Partnerschaft von Flöricke mit Baron von Bodman.

Auch Flöricke hatte einst – wie Thienemann – versucht, in Rossitten Fuß zu fassen, musste aber wegen schwerwiegender Probleme die Nehrung wieder verlassen. Dabei verlor er seine Verlobte, die Tochter eines ostpreußischen Unternehmers, an: Thienemann! Dem wurde sie 1901 „die richtige Lebens- und Berufsgefährtin“. Flöricke, wohl zutiefst verletzt, bezeichnete daher später – ähnlich wie Hermann Löns – die von Thienemann eingeführten Beringungsversuche als „eitle wissenschaftliche Spielerei“ und setzte zudem alles daran, im Verein „Süddeutsche Vogelwarte“ ein Gegenstück zu Rossitten zu schaffen. Dabei wurde ihm Baron von Bodman ein höchst willkommener „Kampfgefährte“, der aus ganz anderer Motivation heraus mitwirkte. Das Unternehmen war jedoch auch deshalb zum Scheitern verurteilt, weil Flöricke in seinen wissenschaftlichen Arbeiten durchaus Wahrheit mit Dichtung vermischte, wie sich z. B. bei Studien an Grasmücken Madeiras herausstellte. Er hat nie davon abgelassen, sich gegen die Vogelwartenarbeit zu stellen, was lange nachwirkte. Als um 1965 ein Verwandter Flörickes im Stuttgarter Raum das Zeitliche segnete, ließ sich mein überaus feinfühliger, christlicher und menschenfreundlicher Doktorvater Schüz zu meinem blanken Entsetzen zu den Worten hinreißen: „So, so, no isch der Kerle endlich au verreckt.“ Das lässt ahnen, wie tief das Zerwürfnis zwischen der Vogelwarte und Flörickes Wirken gewesen sein muss.

Neu am Bodensee: „Des mache mer“

Der Neubeginn des Instituts als „Vogelwarte Radolfzell (vormals Vogelwarte Rossitten)“ kam schnell in Gang. Schon vom 19. bis 22. März 1946 besuchte Dr. Schüz Baron von Bodman in Schloss Möggingen zur Lagebesprechung, und beide wurden sich rasch einig. Als „Keimzelle“ für das neue Institut stand im damals stark belegten Schloss zunächst ein Raum im zweiten Stock zur Verfügung mit Aussicht auf baldige Erweiterung. So nahm Schüz Verbindung auf mit der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Göttingen, und der Baron fuhr nach Freiburg, um das Vorhaben Vogelwarte mit dem zuständigen Ministerium zu besprechen. Er konnte mit dem damaligen ihm gut bekannten badischen Staatspräsidenten und Kultusminister Leo Wohleb persönlich verhandeln, und der beschied ihn zum Schluss mit den „goldenen“ Worten: „Des mache mer!“ Schüz bekam Kontakt mit dem Generalsekretär der KWG, Dr. Ernst Telschow, der bereits am 25. Mai Schloss Möggingen inspizierte und seinen Segen zum Neubeginn der „Vogelwarte Radolfzell“ erteilte. Der Name Radolfzell wurde gewählt im Hinblick auf spätere Chancen auf Ringfundmeldungen. Eine Vogelwarte „Möggingen“ hätte zumindest damals in entfernten Regionen wie Afrika kaum jemand für Ringfundberichte lokalisieren können.

Dann ging alles weitere mit der Vogelwarte zunächst fast Schlag auf Schlag. Ab 10. bis 15. Oktober führte Schüz einen „örtlichen Leiter“ für das Institut ein: Dr. Rudolf Kuhk, nach Schüz’ Worten „einen erfahrenen Ornithologen“, den er für dieses Amt gewann. Ein Leiter vor Ort war nötig, da Schüz hauptamtlich andere Aufgaben in Stuttgart übernahm: „Ich selbst bin in dieser Übergangszeit in den württembergischen Staatdienst übernommen worden und hatte mich dem Wiederaufbau des zerstörten Staatlichen Museums für Naturkunde zu widmen.“ Als Museumsdirektor konnte er es einrichten, „nach Lage der Dinge … alle drei Wochen ein paar Tage“ an der Vogelwarte tätig zu sein, um die „wichtigsten Entscheidungen“ mitzutreffen. Im Klartext heißt das: Schüz versuchte, als Stuttgarter Museumsdirektor auch die Vogelwarte Radolfzell mit zu dirigieren, was im Laufe der Jahre zunehmend Schwierigkeiten bereitete.

Die Amtseinführung von Kuhk im Oktober 1946 war auch der offizielle Start des alten Instituts am neuen Platz. Dazu steht im Gästebuch von Schloss Möggingen: „Jetzt ist es so weit, wir dürfen nun im gastlichen Haus Baron von Bodmans mit der Vogelwarte Radolfzell anfangen und Rossitten hat wieder eine Heimstatt. Mit herzlichem Dank, Schüz und Kuhk.“ Bald kam auch noch etwas Personal hinzu, um den zunächst bescheidenen Betrieb anzukurbeln. Hans Sonnabend, einstiger Beringungsmitarbeiter von Rossitten und Heimatvertriebener aus Schlesien, leitete vor allem den technischen Bereich der Beringungszentrale – bis 1967. Die Büroarbeit versah Franz Nägele aus dem Nachbardorf Güttingen, bis ab den 1950er Jahren Schreibkräfte und Techniker hinzukamen, und mit Werner Rath auch ein erster Hausmeister und Chauffeur. Schon 1946 tauchte auch ein erster Vogelbeobachter auf – Gerhardt Zink. Er wurde als Verwandter von Schüz nach seiner Promotion nicht nur in die Vogelwarte „eingefädelt“, sondern auch wissenschaftlicher Leiter der Beringungszentrale – für diese wichtige Position eine wenig geglückte Besetzung, wie man noch sehen wird.

Somit war erstaunlicherweise beim Neuanfang in Radolfzell niemand vom Stammpersonal aus Rossitten mit dabei, aber immerhin fast: Im dritten Stock des Schlosses zog 1947 die heimatvertriebene Familie Posingis ein, die nicht nur aus Ostpreußen stammte, vielmehr war Michel Posingis Beringungsmitarbeiter in Rossitten gewesen und zudem Leuchtfeuerwärter auf der Windenburger Ecke der Kurischen Nehrung. Als begnadeter Schreiner stattete er die Vogelwarte aus einfachstem Material mit Mobiliar aus. Schlichte Schränke aus dunkel gebeizten Fichtenbrettern mit Fensterglasfüllungen – später vor dem Sperrmüll gerettet – zieren noch heute unsere Wohnung.

Damit war die Vogelwarte etabliert und wurde auch schnell wieder wichtiges Zentrum ornithologischer Aktivitäten in Deutschland. Im Mai und September 1947 fanden zwei erste Ornithologen-Tagungen der Nachkriegszeit statt, am 16. Oktober 1947 stattete der damalige Präsident der KWG, Professor Otto Hahn, der Vogelwarte einen Besuch ab, und 1949 wurde die Geburtsstunde der „Deutschen Ornithologen-Gesellschaft“ gefeiert. Und bereits ab 1947 konnte die Vogelwarte eigene Ringe mit der Gravur „Radolfzell Germania“ verwenden.