Für meinen Freund Michael.
Weil er mir jeden Tag zeigt, was Genesung wirklich bedeutet.
»So es denn einen Weg zum Besseren gibt, erfordert er einen Blick auf das Schlechteste.«
– Thomas Hardy
»Ich hätte nicht gedacht, dass ich Sie noch mal wiedersehe«, sagt der Gefangene. Kaum Platz genommen, hatte er angefangen, sich eine Zigarette zu drehen, jetzt leckt er den Papierrand an und lässt die Person auf dem Stuhl gegenüber dabei nicht aus den Augen.
»Ich musste eine Menge erledigen.«
»Ach ja?«
»Etwas Detektivarbeit – nach allem, was Sie mir erzählt haben.«
Er gibt sich große Mühe, nicht interessiert oder gar nervös zu wirken, während er sich das Hirn zermartert, was er vor Wochen gesagt, was er preisgegeben haben könnte. »Das war Schwachsinn, oder?«, sagt er. »Was Sie in diesem ersten Brief geschrieben haben. Der Grund, weshalb Sie hier sind.«
»Ja, tut mir leid.«
Er schlägt mit der Hand auf den Tisch, aber nicht aus Wut. Er freut sich nur, dass er richtigliegt. »Ich wusste es.«
»Was kümmert Sie das? Sie sind doch sowieso bald draußen.«
»Ich wusste es schon, als ich Sie das erste Mal gesehen habe.«
»Tatsächlich?«
»Sie sehen nicht aus, als würden Sie studieren.«
»Wie sehe ich denn aus?«
Er klemmt sich seine Zigarette hinters Ohr und zuckt mit den Schultern. »Offensichtlich sind Sie irgendwie irre.«
Ein zustimmendes Nicken. »Da kann ich nicht widersprechen. Irgendwie schon.«
»Nur damit Sie es wissen: Wenn wir uns draußen begegnen, bin ich nicht mehr so freundlich.«
»Dazu kommt es sicher nicht.«
»Nur, damit wir uns verstehen.«
»Ihr Temperament ist ja bekannt.« Ein Lächeln. »Ich bin nur noch mal gekommen, um mich zu bedanken.«
»Wofür?«
»Dafür, dass Sie mir gegeben haben, was ich brauchte. Dass Sie mich auf den rechten Weg geführt haben.«
Auf einmal ist es ihm egal, ob er nervös wirkt oder nicht. All die Jahre hat er nichts gesagt, nicht einmal damals, unmittelbar danach.
Ihm war nichts herausgerutscht, oder doch?
Nein, so dumm kann er nicht gewesen sein.
Er setzt sich gerade hin und legt die Hände flach auf den Tisch. »Hier drin hört man Geschichten über Leute wie Sie«, sagt er.
»Ehrlich? Und was für Leute sind das?«
»Leute, die … das alles anmacht. Die ganz nah dran sein wollen.« Jetzt beugt er sich vor und ist sicher, dass er einen Nerv getroffen hat, wieder Herr der Lage ist. »Den ganzen Mist, den Sie mir erzählt haben, die vielen Fragen … und dabei wollten Sie wohl nur wissen, wie es ist.«
»Wie was ist?«
»Jemanden zu töten.«
Ein breites Grinsen. »Machen Sie sich keine Sorgen. Das werde ich schon bald selbst wissen.«
Damals und dort Tony De Silva steht da und beobachtet Robin und Heather, die sich Kaffee aus der großen Thermoskanne einschenken, die er jede Woche hinstellt. Sie plaudern ungezwungen, während Robin sich wie üblich den Löwenanteil der Kekse genehmigt. Tony beschließt, ihn darauf anzusprechen. Diana steht ein paar Schritte entfernt, sie blickt in den Garten und wärmt ihre Hände an einem Becher Kräutertee, während Chris schon auf seinem Platz sitzt und sein Smartphone mit den Daumen bearbeitet. Tony schlendert zu Chris, sieht ihm über die Schulter und vergewissert sich, dass es kein für Chris verbotenes Ballerspiel ist.
Sobald sie angefangen haben, sind Handys sowieso nicht mehr erlaubt.
Tony sieht auf die Uhr. Sechs, und es ist schon seit einer Stunde dunkel, vor dem Fenster des Wintergartens sieht man im Licht der Außenbeleuchtung Raureif auf dem Rasen und den kahlen Beeten.
»Sieht so aus, als hätte sie es vergeigt«, sagt Chris, der ganz genau weiß, dass Tony hinter ihm steht und ein Auge darauf hat, was er gerade treibt.
»Wir warten noch ein oder zwei Minuten«, sagt Tony.
»Du bist der Boss.«
Tony trinkt einen Schluck aus einer kleinen Flasche Mineralwasser. »Falsches Wort«, sagt er.
Sie sind nützlich, denkt er, diese zehn oder fünfzehn Minuten, bevor sie anfangen. Während der Sitzungen gibt es keine Pausen, deshalb ist es gut, Plaudereien und Erfrischungen vorher abzuhaken. Wer muss, geht noch zur Toilette – der Toilette unten, natürlich –, und es beginnen Gespräche, von denen die Sitzungen, wie er findet, stets profitieren.
Diana wendet sich vom Fenster ab und lächelt ihn an. Auch in diesen zwanglosen Augenblicken bleibt sie gern für sich, obwohl sie heute schon nicht mehr ganz so angespannt zu sein scheint, was Tony freut. Auf der anderen Seite des Wintergartens sagt Heather etwas, das Robin zum Lachen bringt, er hustet ein paar Krümel aus, Heather bückt sich und sammelt sie auf.
»Vielleicht sollten wir uns setzen«, sagt Tony.
Er versucht, die Melodie einzuordnen, die von oben zu hören ist, und sieht zu, wie Robin, Heather und Diana die Tassen auf das Tablett zurückstellen und ihre Plätze im Kreis einnehmen. Alle Stühle sind gleich, trotzdem ist die Sitzordnung Woche für Woche dieselbe – jeder hat seinen Bereich abgesteckt und verteidigt ihn wachsam. Tony geht zu seinem gewohnten Platz, hängt das Jackett über die Rückenlehne, wirft einen Blick auf den einzig freien Stuhl im Kreis.
»Soll ich aufrücken?«, fragt Heather.
So halten sie es, wenn jemand nicht kommt. Lieber ein kleinerer Kreis als ein freier Platz. Tony nickt. Heather schiebt gerade den Stuhl zur Wand, als es klingelt. »Murphys Gesetz«, sagt sie und zieht den Stuhl in den Kreis zurück.
»Auf die Minute«, sagt Chris. »Da legt offensichtlich jemand großen Wert auf Pünktlichkeit …«
Tony steht auf, geht schnell durch die Küche zur Eingangstür und öffnet einer Frau, die ziemlich genau so aussieht, wie er es nach dem Telefongespräch vor wenigen Tagen erwartet hatte. Sie sagt ihren Namen. Sie geben sich die Hand, bevor er sie hereinbittet und in den Wintergarten führt.
Alle außer Chris sehen sie an, als sie hereinkommt.
Tony nimmt der Neuen den Mantel ab und zeigt auf ihren Platz. Als sie sich setzt, rücken Diana und Robin, ihre rechten und linken Sitznachbarn, unmerklich ein wenig zur Seite, nur zwei oder drei Zentimeter.
»Willkommen«, sagt Tony.
Nicken und Lächeln im Kreis, fast alle murmeln einen kurzen Gruß. Die Neue nickt und lächelt freundlich zurück, wenn auch etwas aufgeregt.
»Bringen wir zuerst die Formalitäten hinter uns«, sagt Tony. Er sieht zum ältesten Mitglied der Gruppe, einem Mann in Anzug und gestreiftem Hemd mit offenem Kragen. »Kleine Vorstellungsrunde. Machst du den Anfang?«
»Ich bin Robin«, sagt der Mann. Er lächelt der Neuen zu und schaut dann zu seiner Sitznachbarin.
»Heather …«
»Meinen Namen kennst du ja schon«, sagt Tony. »Trotzdem noch mal: Willkommen.« Er blickt zu seinem Nachbarn, doch Chris starrt ins Leere, als würde ihn die Sache nicht im Geringsten interessieren. Tony wartet ein paar Sekunden. »Chris?«
»Herrgott noch mal!« Die Frau links von Chris schüttelt den Kopf und wendet sich an ihre neue Nachbarin. »Ich bin Diana«, sagt sie. »Und wenn ich dir gleich einen Rat geben darf: Beachte ihn am besten überhaupt nicht. Manche haben es nötiger als andere.«
»Meint ihr mich?«, fragt Chris. Mit einem strahlenden Lächeln dreht er sich der Neuen zu. »Ich bin Chris.« Er lehnt sich zurück und verschränkt die Hände hinter dem Kopf. »Tennisprofi, Model, Teilzeit-Rennfahrer.«
»›Stricher‹ steht nicht mehr im Lebenslauf?«, fragt Heather.
Tiefes, heiseres Lachen von Robin.
Chris strahlt. Und zeigt Heather beiläufig den Mittelfinger.
Tony wartet.
Als die Frau ihm gegenüber begreift, dass sie an der Reihe ist, drückt sie den Rücken durch und rutscht auf ihrem Stuhl etwas nach vorn. »Caroline«, sagt sie. Ein nervöses Lachen. »Ich hoffe, dass ich mir alle Namen merken kann …«
Tony weiß, dass die Namen nicht das Problem sind. Diese Männer und Frauen, mit denen sie eine so entscheidende Gemeinsamkeit verbindet, kennenzulernen und ihnen zu vertrauen, wird dagegen ein langer und schwieriger Prozess sein.
Ein angesehener Arzt Anfang sechzig, der in den letzten Jahren von einer Vielzahl leicht zugänglicher Medikamente abhängig war. Eine zweiunddreißigjährige, früher drogen- und spielsüchtige Frau. Ein junger Homosexueller, der in wechselnden Wohnheimen und anderen Unterkünften haust und seine Drogenabhängigkeit mit der Sucht nach Computerspielen und Internetpornografie ersetzt hat. Eine wohlhabende Hausfrau, die dem Alkohol verfiel, als ihre Ehe in die Brüche ging, und heute zwanghaft einkauft, statt schon zum Frühstück eine Flasche Wein zu entkorken.
Es gibt viele verschiedene Wege der Besserung.
»Gut.« Tony holt unter seinem Stuhl ein laminiertes Blatt Papier hervor und reicht es nach links weiter. »Würdest du uns die Ehre erweisen, Chris?«
Chris schnappt sich das Blatt Papier.
Tony blickt zu Caroline. »Wir sind hier eine eingeschränkt offene Gruppe, okay? Das bedeutet, dass ich nur ab und zu neue Mitglieder in den Kreis holen kann und einige Leute schon länger in der Gruppe sind als andere. Manche sind sogar schon sehr viel länger in Therapie als andere.« Er sieht zuerst Heather an.
»Ich bin seit fast zweieinhalb Jahren clean«, sagt sie. Sie blickt nach rechts.
»Vier Jahre«, sagt Robin nickend, »sieben Monate und zweiundzwanzig Tage.«
»Neun Wochen nüchtern«, sagt Diana.
Alle warten auf Chris. Der grinst wölfisch. »Fragt sich nur, in welchem Jahr«, sagt er.
Tony schüttelt den Kopf. Denselben Spruch hat er von Chris schon bei der letzten Begrüßung eines Neuankömmlings gehört. Er sieht wieder zu Caroline. »Wir widmen uns hier vor allem der Rückfallprävention und arbeiten mit einem breiten Spektrum an therapeutischen Maßnahmen. Es spielt keine Rolle, ob du seit drei Monaten oder fünf Minuten zur Gruppe gehörst, alle haben den gleichen Status, es gelten für alle gleiche Rechte und der gleiche Schutz.« Er nickt Chris zu.
Chris muss keinen Blick auf das bedruckte Blatt Papier werfen, offenbar hat er das alles schon mal zum Besten gegeben oder es von den anderen gehört. Er leiert den Text so monoton herunter wie Mitarbeiter eines Callcenters eine vorgeschriebene Rechtsbelehrung. »Dieser Kreis ist ein sicherer Ort. Seine Regeln gelten uneingeschränkt. Was auch immer in diesem Kreis besprochen wird, dringt niemals nach außen.« Er bläst als Ausdruck seiner Langeweile die Wangen auf. »Vertraulichkeit ist die Voraussetzung und das fundamentale Prinzip dieser Sitzungen. Ausgenommen davon sind nur das Geständnis einer schweren Straftat oder die erkennbare Absicht eines Mitglieds, sich oder anderen Schaden zuzufügen. Dann ist der Therapeut moralisch dazu verpflichtet, ausschließlich die erforderlichen Informationen preiszugeben. Bla, bla, bla.« Er hält Tony das Blatt Papier hin, ohne den Blick zu heben.
»Danke, Chris.« Tony sieht Caroline an. »Alles klar?«
Sie nickt, blickt sich im Kreis um. »Alle hier scheinen irgendwie … ziemlich unterschiedlich zu sein. Das ist gut.«
»Das ist wirklich gut«, sagt Heather.
»Und warum seid ihr …? Darf ich das fragen?«
»Du darfst fragen, was immer du willst«, sagt Tony.
Caroline nickt noch einmal und sieht dann abgelenkt nach oben. »Wer spielt denn da Klavier?«
Tony sieht sie erstaunt an, braucht ein paar Sekunden. »Warum ist das wichtig?«
»Deine Frau? Freundin?« Sie wartet, bekommt jedoch keine Antwort. »Du willst es mir nicht sagen. Macht nichts.«
»Also … ich glaube nur, wenn ich deine Frage nicht beantworte, erfahre ich wahrscheinlich mehr über dich.«
Sie zuckt scheinbar unbekümmert mit den Schultern, dann grinst sie. »Ist es dein schwuler Lover?«
Tony lehnt sich zurück. »Siehst du, was ich meine?«
»Treffer!« Chris zeigt mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Tony. »Eins zu null.«
Caroline sieht ihn an, kaum in der Lage, ihre Verärgerung zu verbergen. »Wie bitte?«
»Das ist kein Spiel«, sagt Tony. »Hier gibt es keine Punkte.«
»Man legt sich nicht mit Tony an«, sagt Chris. »Der hat’s einfach drauf.«
»Ich habe eingeworfen, was mir in die Finger kam«, sagt Robin plötzlich. »Um deine ursprüngliche Frage zu beantworten. Und ich bin Arzt, deshalb ist mir so ziemlich alles in die Finger gekommen. Diazepam, Morphium, Pethidin. Am liebsten Fentanyl…«
»Bei mir Wodka und Weißwein«, sagt Diana. »Und gegen Ende einfach alles, was mich besoffen gemacht hat. Allerdings hat zum Schluss kaum noch was gewirkt, und das war das Problem.«
»Und bei dir?«, fragt Heather. Sie sieht Caroline an.
»Oh, bitte!« Chris beugt sich vor. »Dazu muss man kein Sherlock Holmes sein, oder? Seht sie euch doch an.«
»Du bist so ein Arsch«, sagt Heather.
»Das bin ich gewohnt«, sagt Caroline. »Das ist mir egal.«
»Sehr gut«, sagt Tony.
»Ja … ich hatte ein Problem mit zwanghaftem Essen. Schon immer … Fressattacken, Gewichtsprobleme. Als das Gewicht meine Knie zu stark belastete, kamen Schmerzmitteln dazu. Und so …«
»Klar«, sagt Chris. »Aber eigentlich geht es nur darum, warum deine Knie schlappgemacht haben, oder? Dein eigentliches Problem sind die Fressgelage nach Feierabend. Die ganzen Chips und der Kuchen.«
»Richtig«, sagt Caroline. »Bist du etwa auch Therapeut? Ich bin beeindruckt.«
Robin sieht Heather an, dann Tony. »Ich bin nicht sicher, ob er überhaupt weiß, was das Wort Unterstützung bedeutet.«
Tony hat sich schon Chris zugewandt. »Ich frage mich, warum es dir ein Bedürfnis ist, Caroline derart anzugreifen.«
Falls Chris überhaupt zugehört hat, lässt er es sich nicht anmerken. »In Wahrheit ist das doch eine ziemlich lächerliche Sucht, oder? Essen. Ich bin nicht mal sicher, ob es überhaupt eine Sucht ist.«
»Du kennst die Regeln«, sagt Tony. »Wenn jemand sagt, dass er süchtig ist, dann ist er süchtig. So einfach ist das.«
Chris beachtet ihn nicht. »Das ist doch was für Amateure, meint ihr nicht auch?« Seine Stimme wird höher und schriller, als er sich in das Thema hineinsteigert. »Es ist doch so: Du musst essen, oder etwa nicht? Du drückst nicht, du hängst nicht an der Flasche. Also mal ehrlich, ein bisschen Nachschlag bringt niemanden um.«
»Hast du auch nur die geringste Ahnung, wie gefährlich Fettleibigkeit sein kann?«, fragt Robin. »Bist du wirklich so ein Idiot, oder tust du nur so?«
Chris lässt sich nicht beirren. »Sorry, aber für mich ist das ein Witz, ehrlich. Weight Watchers, Süße, die wären das Richtige für dich.« Er sieht sich um, bereit für die finale Pointe. »Ich würde ja sogar sagen, unsere Neue ist ein richtiges Leichtgewicht, aber dann denkt sie noch, ich wollte sie verarschen.«
Caroline starrt auf ihre Schuhe, die Gruppe schweigt. Chris saugt zischend Luft durch die Zähne, unzufrieden mit der Reaktion auf seinen Scharfsinn und seine Schlagfertigkeit. Tony wartet, eine Faustregel, die er vor Jahren gelernt hat, als er selbst noch als Therapieteilnehmer in einem Kreis saß. Der Therapeut darf das Schweigen der Gruppe niemals als Erster brechen.
Es ist Diana, die sich nach etwa einer Minute zu Wort meldet. »Vielleicht sollten wir noch mal von vorn anfangen.«
»Gute Idee«, sagt Tony. »Ich glaube, wir sind etwas vom Thema abgekommen. Also … hattet ihr eine gute Woche?«
Nicken, gegrummelte Zustimmung, jajaja. Fünf der sechs im Kreis wissen, was die Frage wirklich bedeutet. Und Caroline wird schnell genug dahinterkommen.
»Gut«, sagt Tony. »Ich möchte gern ein Thema ansprechen, über das ich mich mit Caroline schon am Telefon unterhalten habe.«
»Über Scham«, sagt Caroline.
»Genau.«
»Scham?«, sagt Heather. »Was ist damit?«
»Ich finde, wir sollten uns darüber unterhalten und ein wenig davon preisgeben, wofür wir uns schämen.«
»Wer sagt, dass wir uns für irgendetwas schämen?«, fragt Chris.
»Natürlich schämen wir uns«, sagt Robin. »Ich finde, das ist eine gute Idee. In Highfields haben wir oft darüber geredet.«
Highfields House ist eine Entzugsklinik, in der Robin einige Zeit verbracht hat. Viele von Tonys Patienten kamen in den letzten Jahren von dort, einige in der Gruppe aber auch auf ganz anderen Wegen, wie zum Beispiel Chris. Er stöhnt. »Komm uns bloß nicht wieder mit diesem Zwölf-Schritte-Blödsinn.«
»Das hilft«, sagt Robin.
»Dir vielleicht.«
»Ich bin dabei«, sagt Diana.
»Gut.« Tony öffnet einen Knopf seines Hemdes. Die Fußbodenheizung ist etwas zu weit aufgedreht, und es wird warm im Wintergarten. »Ich denke auch, dass es helfen wird«, sagt er. »Ich bin fest davon überzeugt, dass Scham die Wurzel sehr vieler Suchtprobleme ist.« Er schaut sich um und bemüht sich wie immer, wenn möglich mit jedem Mitglied der Gruppe Blickkontakt herzustellen. »Wegen der Schande, die wir über andere gebracht haben. Und der Schande, die andere uns spüren lassen. Ich glaube, wenn wir uns dem stellen, ist das ein entscheidender Schritt der Genesung.«
»Ich schäme mich, dass ich ein Junkie und Alkoholikerin war«, sagt Heather. »Ganz einfach. Vermutlich trifft das auf fast alle hier zu.« Robin, der neben Heather sitzt, nickt begeistert. »Ich glaube, jeder halbwegs anständige Mensch würde sich dafür schämen, oder nicht? Ich schäme mich, dass ich dauernd stehlen und lügen musste. Ich schäme mich, weil ich auf Leute geschissen habe, die sich um mich sorgten.«
»Das ist alles wirklich positiv«, sagt Tony. »Aber ich spreche von der Scham, die euch in die Sucht getrieben hat.«
Heather macht den Mund auf und wieder zu.
»Wir müssen das Thema nicht gleich vertiefen. Ich fände es schön, wenn wir alle bis nächste Woche darüber nachdenken und bei der nächsten Sitzung vielleicht etwas ausführlicher darüber reden könnten.«
»Und wer macht den Anfang?« Caroline wirkt nervös.
»Keine Sorge, du nicht«, sagt Diana. »Es sei denn, du willst. Aber du bist ja gerade erst dazugekommen, also …«
»Seht nicht mich an«, sagt Chris.
»Hat auch keiner«, sagt Heather. »Sorry, Süßer.«
»Ich mach’s.« Robin errötet ein wenig, als sich alle Blicke auf ihn richten. »Na ja, einer muss ja anfangen, oder nicht?«
»Danke, Robin.« Tony kritzelt etwas in das Notizbuch auf seinem Schoß. »Wie gesagt, denkt darüber nach, dann sehen wir, was dabei herauskommt. Es ist keine Vorgabe, nur ein Vorschlag.«
»Kann ich etwas über das ›Hier und Jetzt‹ sagen?«, fragt Diana.
Tony nickt und unterdrückt ein Lächeln. Wann immer es ihm möglich ist, versucht er, seine Patienten vom »Damals und Dort« ins »Hier und Jetzt« zu führen, sie dazu anzuleiten, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren, auf ihr aktuelles Leben als ehemalige Süchtige. Diana ist in vielerlei Hinsicht eine Musterpatientin und versucht ständig, das unter Beweis zu stellen. Sie hat die auffällige Angewohnheit, Tonys Worte wie ein Papagei nachzuplappern.
»Also, wenn ›hier und jetzt‹ auch mal gestern heißen darf, gibt es da einen Vorfall im Supermarkt, über den ich gern reden möchte, sofern niemand etwas dagegen hat.«
Heather, Caroline und Robin sind einverstanden. Chris schlägt sich die Hand auf die Brust. »Mein Gott, sind bei Waitrose wieder die Mangos ausgegangen?«, fragt er.
»Meine Freundin hat mich angerufen, als ich dort war«, sagt Diana, ohne ihn zu beachten. »Sie ist die Erste gewesen, die mir erzählt hat, was mein Mann so treibt. Sie hat ihn mit seiner Kleinen in einem Restaurant gesehen, wisst ihr?« Ihr Mund verengt sich für einen Moment zu einer Linie. »Egal … jedenfalls muss es diese Assoziation oder was auch immer gewesen sein. Oder ein unterbewusstes Verhaltensmuster oder so etwas, denn ohne dass ich es wollte, stand ich plötzlich vor dem Spirituosenregal …«
… Damals Caroline, Heather und Diana sind unterwegs zum Muswell Hill Broadway. Caroline hatte das Starbucks in der Nähe vorgeschlagen, aber zu ihrer großen Überraschung erzählten ihr die beiden anderen, dass sie nach jeder Sitzung in ein Pub gingen, ein Ritual, das ihnen wichtig ist. »Es gibt Gruppen, in denen es absolut verboten ist, mal ein ›Wasserloch‹ aufzusuchen«, sagte Heather zu ihr. »Ein Pub, meine ich. Tony sieht das etwas entspannter, jedenfalls solange wir nicht allein unterwegs sind.«
»Ich könnte niemals allein in ein Pub gehen«, sagte Diana.
Obwohl Caroline nie ein Alkoholproblem hatte und die beiden anderen ihr erklären, dass es ihnen nichts ausmachen würde, wenn sie ein Glas Wein oder so trinkt, besteht Caroline darauf, eine Runde Softdrinks auszugeben.
»Ich weiß, wie ich mich manchmal fühle, wenn ich sehe, wie jemand einen Teller Fisch und Chips verputzt«, sagt sie.
Sie sitzen an einem kleinen Tisch in der Ecke. Heather zeigt zu einem größeren und erklärt Caroline, dass sie für gewöhnlich dort sitzen, wenn sie mit der ganzen Gruppe hier sind. »Robin und Chris sind meistens mit von der Partie«, sagt sie. »Robin vermutlich öfter als Chris.« Fünfzehn Minuten zuvor hatte sich Robin vor Tonys Haus verabschiedet und von einer Verabredung erzählt, während Chris sich Ohrstöpsel eingesteckt und sofort auf den Weg gemacht hatte, unverkennbar nicht in der Stimmung für eine gesellige Runde.
»Was hat der eigentlich für ein Problem?«, fragt Caroline. »Chris.«
Heather verdreht die Augen und sieht Diana an. »Großer Gott, wo sollen wir da anfangen?«
»Ihr hattet recht, er hat es irgendwie nötig«, sagt Caroline.
»Er muss ständig im Mittelpunkt stehen«, sagt Heather. »Und seine Show abziehen.«
»Das entschuldigt aber noch nicht, sich so aufzuführen.« Diana streicht sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Die teure Frisur und Tönung entsprechen dem extravaganten Make-up, das sie auf dem Weg von Tony hierher aufgefrischt hat. Ihr taubengrauer Trainingsanzug fällt nicht nur deutlich kleiner aus, sondern sieht obendrein auch sehr viel teurer aus als der, den sich Caroline bei Sports Direct gekauft hat. »Allerdings würde er niemals zugeben, ein Arschloch zu sein, sondern sagen, er sei halt sehr direkt und würde kein Blatt vor den Mund nehmen.«
»Er ist schwul, oder?«, sagt Caroline.
»Natürlich. Und wie.«
»Warte mal ab«, sagt Heather. »Noch ein paar Sitzungen, dann hängen dir die Geschichten über Chris’ Liebesleben zum Hals raus. Er erzählt gern in den leuchtendsten Farben davon.«
»Er denkt, es würde uns schockieren«, sagt Diana und gähnt übertrieben. »Dabei geht es ihm nur um Aufmerksamkeit. Aber so sehr er mir auf die Nerven geht, ich glaube, es ist nur ein Schutzmechanismus. Eine Mauer, mit der er sich umgibt, ihr wisst schon.«
»Er hat dich nur angemacht, weil du neu bist«, sagt Heather. »Der wollte sehen, ob du was abkannst.«
Caroline trinkt von ihrem Mineralwasser. »Ich kann schon auf mich aufpassen. In den letzten Jahren musste ich eine Menge einstecken.«
»Kann ich mir vorstellen«, sagt Heather.
Es wird voller und lauter im Pub, Caroline muss sich nach vorn beugen, damit man sie noch versteht. »Aber Robin scheint ganz nett zu sein.«
»Das ist er«, sagt Diana. »Er ist ziemlich … entschlossen.«
»Genau wie du«, sagt Heather.
Diana errötet. »Du weißt, was ich meine. Zum Beispiel, sich freiwillig für diese Sache mit der Scham zu melden.«
»Ja, klar.« Heather wirft Diana einen vielsagenden Blick zu.
»Was für ein Akzent ist das denn, Südafrika?«, fragt Caroline.
Heather nickt. »Ich glaube, er ist schon als Jugendlicher hergekommen. Hat hier studiert.«
»Ist er Arzt oder war er Arzt?«
»Er ist es noch«, sagt Diana. »Hat aber eine Weile pausiert.«
»Was er gesagt hat, ich meine, dass es so einfach war, an Drogen ranzukommen …« Caroline nickt nur, Heather rührt langsam mit einem Strohhalm die Eiswürfel in ihrem Glas, während sie erzählt. »Je schlimmer es wurde, desto mehr hat er abgezweigt, hat seinen Patienten etwas verabreicht, unter einem Vorwand das Zimmer verlassen, sich selbst was in den Arm gedrückt, ist wieder zurückgekommen und hat dem Patienten den Rest gegeben.« Sie sieht Caroline die Bestürzung an. »Ich kannte das schon, eine Spritze für mehrere Leute und so, aber laut Robin passiert das auch im Krankenhaus ständig. Besonders in der Anästhesie. Egal, jedenfalls hat er einige seiner Patienten mit Hepatitis C angesteckt. Daran kann man sterben, wie ihr sicher wisst, und da wurde ihm klar, dass er etwas unternehmen muss.«
»Er wurde nicht erwischt?«
»Nein, aber er wusste, dass das nur eine Frage der Zeit war, also hat er ein Sabbatjahr eingelegt, um sein Leben wieder auf die Reihe zu kriegen. Eigentlich erstaunlich.«
Diana nickt zustimmend. »Robin ist mit Leib und Seele dabei, er ist hoch motiviert und besucht noch eine Menge anderer Treffen. Anonyme Suchtkranke und so weiter.«
»Und du?«
Diana schüttelt den Kopf.
»Ich auch nicht«, sagt Heather. »Nur Tonys Sitzungen. Und ich meditiere …«
Caroline überlegt ein paar Sekunden. »Was du da über den Augenblick gesagt hast, als Robin klar wurde, dass er reinen Tisch machen muss … Bei mir war ein bestimmtes Foto der Auslöser. Ich fand es unerträglich. Und natürlich, dass ich Tramadol wie Smarties eingeworfen habe.«
»Ich denke, es ist bei jedem was anderes«, sagt Diana. »Bei mir war es eine absolut miese Woche, nach der ich den Deckel der Mülltonne nicht mehr schließen konnte. Zu viele leere Flaschen …«
Heather legt eine Hand auf die von Diana, nur ganz kurz. »Ich kenne einen Junkie, der beschlossen hat, clean zu werden, als seine Mutter starb und die Familie ihn den Leichnam nicht sehen ließ.«
Verdutzt sieht Caroline sie an. »Und warum nicht?«
»Sie dachten, er würde den Schmuck stehlen, mit dem sie beerdigt werden sollte. Tja … das ist vermutlich das Schlimmste, was ich je gehört habe.«
»O Gott …«
Heather trinkt ihr Glas leer, geht zur Bar und bestellt noch eine Runde. Sie ist klein und noch zierlicher als Diana, kaum geschminkt und versucht nicht, das Grau in ihrem streng nach hinten gekämmten Haar zu verbergen. Sie trägt eine hautenge Jeans, Turnschuhe und ein Sweatshirt unter der grellorangeroten Daunenjacke.
»Hast du Kinder?«, fragt Caroline.
»Eins«, sagt Diana. »Mehr oder weniger erwachsen.« Sie sucht in der Handtasche nach dem Handy. Sie tippt, scrollt, beugt sich vor und zeigt Caroline einige Bilder. »Sie ist im zweiten Jahr in Exeter.«
»Dann ist das Nest jetzt leer«, sagt Caroline.
»Sehr.« Ein paar Augenblicke kratzt Diana mit einem scharlachroten Fingernagel an einem Fleck auf der Tischplatte. »Was ist mit dir?«
»Nein, noch keine Kinder, aber ich will welche.«
»Na, du hast ja noch viel Zeit.«
»Ja.«
»Wie alt bist du … dreißig?«
»Siebenundzwanzig.«
»Oh … entschuldige.«
»Macht nichts, und du hast recht, ich habe wirklich noch jede Menge Zeit …«
Heather kommt mit den Getränken zurück und grummelt etwas über den Barkeeper, der sich mit der Bedienung Zeit ließ, weil sie keinen Alkohol bestellte. Sie schiebt Caroline ihre Cola light rüber. »Und, wo seid ihr jetzt?«, fragt sie.
»Kinder«, sagt Caroline. »Hast du welche?«
Heather blinzelt und reicht Diana ein Glas. »Ich wollte immer, aber das ist natürlich nicht leicht, wenn die einzige große Liebe im Leben Drogen sind.« Sie setzt sich. »Es wäre toll, aber die Uhr tickt, und ich weiß wirklich nicht, ob irgendeine Samenspende eine so gute Idee wäre.« Sie zieht zwei Tüten Chips aus der Tasche und wirft sie auf den Tisch. »Ich hoffe, das stört euch nicht. Ich bin am Verhungern.«
»Sei nicht albern«, sagt Caroline. »Für dich wäre es ja auch okay gewesen, wenn ich Alkohol getrunken hätte.«
»Sicher?«
»Ich glaube, ich kann es verkraften, wenn hier ein paar Chips gefuttert werden.«
Heather lächelt und zeigt ihre Zähne, die unnatürlich weiß und gleichmäßig sind. Sie reißt die Chipstüten der Länge nach auf und schiebt Diana eine hin.
Caroline sieht zu, wie die beiden zugreifen. »Ich habe mich gefragt, also … wenn man dieses Prinzip ernst nimmt, dass niemals nach außen dringen darf, was im Kreis gesagt wird, ist es dann überhaupt okay, wenn wir darüber reden? Ihr wisst schon, was ihr über Chris und Robin gesagt habt.«
Diana kaut hastig zu Ende. »Solange es innerhalb der Gruppe bleibt, geht das schon klar.« Sie sieht Heather an. »Es ist nur nicht erlaubt, mit Fremden über die Gruppe zu reden.«
»Robin würde das alles auch mit dem größten Vergnügen selbst erzählen«, sagt Heather.
Caroline nickt. »Das ist ein bisschen so wie bei Big Brother, wo die Regeln manchmal auch etwas freier ausgelegt werden, oder? Man darf zwar nicht mit jemand anderem über die Nominierungen reden, ihr wisst schon, also darüber, warum man jemanden nominiert hat, aber man kann … allgemeine Aussagen dazu machen.«
»Habe ich nie gesehen«, sagte Diana. »Ich hab gehört, das ist ein bisschen wie Käfigexperimente mit Ratten oder so.«
Caroline lacht. »Glaub mir, verglichen mit der Sitzung heute kommt einem das Big-Brother-Haus wie das einer glücklichen Familie vor.«
»Ich fand es heute ganz entspannt«, sagt Heather. »Abgesehen von der Sache mit Chris natürlich.«
»Na dann erzähl mir doch mal alles über unseren Big Brother.« Caroline grinst und greift sich eine Handvoll Chips.
»Tony?« Diana lehnt sich zurück, denkt nach. »Er ist ein interessanter Typ, erzählt aber nicht viel von sich. Mit seinem Job kann man das wohl auch nicht. Ich denke, da muss man irgendwo eine Grenze ziehen und darf Patienten nicht zu nahe an sich ranlassen.« Sie wendet sich wieder an Heather. »Du bist schon am längsten dabei. Wie siehst du das?«
»Seine Familie stammt aus Sri Lanka«, sagt Heather. »Aber er ist in Schottland aufgewachsen, das hört man ja auch, oder? Soweit ich weiß, hat er früher mal Songs geschrieben und macht es möglicherweise heute noch. Deshalb das Klavier.«
»Damit wissen wir aber immer noch nicht, wer darauf spielt, oder?«, fragt Caroline.
»Doch. Wir wissen, dass er verheiratet ist oder zumindest eine Freundin hat. Wir haben sie einmal gesehen, als sie in die Küche gekommen ist, weißt du noch?« Diana nickt. »Ich denke, Tony war nicht gerade begeistert.«
»Er ist ziemlich still geworden«, sagt Diana.
»Wenn’s dich interessiert, findest du ein bisschen was mit Google, aber nicht viel. Die verschiedenen Therapeutenverbände, bei denen er Mitglied ist, und so.« Heather nickt. »Ich hab einen seiner Songs auf YouTube gefunden.«
»War er gut?«
»Ganz okay, würde ich sagen.«
»Oh, mir hat er gefallen«, sagt Diana.
Heather verzieht das Gesicht. »Für meinen Geschmack war das zu hippiemäßig. Ein bisschen zu sehr James Blunt.«
»Kuschelrock?«, fragt Caroline.
Diana prustet Mineralwasser über die Tischplatte, worüber Heather noch mehr lachen muss. Als Heather endlich wieder aufhört, sagt sie: »Du passt wirklich gut bei uns rein …«
Eine Stunde später, als sie Diana nachsieht, die zu ihrem Auto geht, sagt Caroline: »Hat sie gut gemacht, oder? Diese Versuchung im Supermarkt oder wie man es nennen will. Sie ist stark geblieben.«
Heather zuckt mit den Schultern. »Jeder schwankt mal.«
»Kann sein.«
Als sich herausstellt, dass sie ungefähr in dieselbe Richtung müssen, gehen sie zusammen zur Bushaltestelle.
»Leute oder Orte, die einem zu schaffen machen, du weißt schon«, sagt Heather. »Stress ist mit am schlimmsten, Geldprobleme oder so. Oder es passiert einem einfach was Doofes.« Sie hört das vertraute Brummen eines Dieselmotors, dreht sich um und sieht den Bus kommen. »Scheiße.« Die Haltestelle ist noch fünfzig Meter entfernt. Sie sieht Caroline an, aber es liegt auf der Hand, dass eine von ihnen nicht zum Bus rennen kann.
»Geh nur«, sagt Caroline.
»Nein, schon gut.«
Sie gehen weiter und sehen schweigend zu, wie der Bus an ihnen vorbeifährt.
»Danke«, sagt Caroline.
»Keine Ursache. Macht mir nichts aus, zu warten.«
»Nein, ich meine, dass du so nett bist. Dass ich reinpasse und so.«
»Na ja, stimmt doch.«
»Hoffentlich.« Caroline lächelt. »Ich freue mich wirklich darauf, dich besser kennenzulernen.«
Heather brummt, wirkt auf einmal zurückhaltend.
»Was ist denn?«
»Vermutlich keine so gute Idee.« Heather schüttelt den Kopf und geht mit gesenktem Kopf weiter. »Wenn du mich kennen würdest, könntest du mich bestimmt nicht mehr ausstehen.«
… Damals Es ist nicht zum ersten Mal eine andere Frau als die, deren Bild er ausgewählt hatte, aber sie ist hübsch genug, also lässt er die Sache auf sich beruhen. Etwas verärgert ist er dann aber doch, als sie – in typisch gebrochenem Englisch – für ein paar Gefälligkeiten mehr Geld verlangt, obwohl sie diese Dienste ausdrücklich auf der Webseite ihrer Agentur anbietet. Es amüsiert ihn immer wieder, dass diese Dinge in verschleiernden Umschreibungen angeboten werden. Gab es allen Ernstes Leute, die glaubten, dass »Französisch mit Aufnahme« etwas mit einem Sprachkurs zu tun haben könnte oder »Natursekt« mit Schampus?
Als sie fort ist, duscht Robin, es ist das zweite Mal innerhalb einer Stunde, nachdem schon die junge Frau darauf bestanden hatte, dass er duschen müsste, bevor es zur Sache ging. Auch das war durchaus üblich. Er wechselt die Bettwäsche, damit er sich später nicht so blitzsauber in das besudelte Bett legen muss. Er wärmt sich eine Lasagne in der Mikrowelle auf, danach macht er es sich im Bademantel auf dem Sofa bequem, hört Duke Ellington und versucht, nicht daran zu denken, wie gern er jetzt ein großes Glas Rotwein hätte.
Und eine schöne Dosis Fentanyl oder Methadon.
Die Sitzung mit Tony heute ist gut gelaufen, denkt er. Die Neue macht einen netten Eindruck, und während er so auf dem Sofa liegt, fragt er sich, wie sie reagieren würde, wenn er sie, natürlich unter vier Augen, über einige medizinisch anerkannte Möglichkeiten der Gewichtsreduktion informieren würde, die er empfehlen kann. Aber vermutlich wäre das keine gute Idee. Mit Sicherheit macht sie die eine oder andere Diät, und sollte sie beleidigt reagieren, könnte das zukünftige Sitzungen etwas schwierig gestalten. Er möchte auch weiterhin mit jedem gut auskommen, auch wenn das manchmal nicht leicht ist.
Ein wenig nervös ist er jetzt doch, dass er sich als Erster für die Scham-Sitzung nächste Woche gemeldet hat. Er wollte eigentlich nur Tony helfen, denn offensichtlich hatte es keiner eilig, freiwillig den Anfang zu machen. Er ermahnt sich, ruhig zu bleiben. Er kann eine ganze Woche darüber nachdenken, wie er seine Geschichte am besten erzählt, alles wird gut. Außerdem hatte er sich gemeldet, weil er wusste, es würde Chris ärgern, und das machte eigentlich immer Spaß. Der kleine Giftzwerg kann ihn nicht ausstehen und hat ein Problem damit, wie offen Robin über seine Genesung spricht. Chris ist kein Fan des Zwölf-Stufen-Programms, der Selbstkasteiung und Missionierung. Robin fragt sich, weshalb er an so jemanden überhaupt einen Gedanken verschwendet. Man musste schließlich tun, was gut für einen war, und auf jeden pfeifen, dem das nicht gefiel. Wie hätte Robin das anders sehen können, wenn man bedachte, was er hinter sich hatte und wo er jetzt war? Dass er um Haaresbreite alles verloren hätte.
Nicht, dass er dafür keinen hohen Preis bezahlt hätte.
Sein Beruf war ihm gerade noch geblieben, aber alles andere hatte er verloren. Nach fast dreißig Jahren Ehe merkte seine Frau natürlich recht schnell, was mit ihm los war, und stellte ihn vor die Wahl: entweder sie oder die Drogen. Es schien eine einfache Wahl zu sein, sie begriff jedoch nicht, dass sie diesen Wettstreit unmöglich gewinnen konnte. Eine hässliche Schlammschlacht war die Folge, doch was hätte er anderes erwarten können?
Sie hatten schon so viel zusammen durchgemacht.
Als er begriff, wie viel Geld er verlor, wurde er wütend, aber zwischen den Zeilen der Anwaltsbriefe und in den Pausen der frostigen Telefongespräche blieb stets die Sorge, seine Frau könnte, wann immer ihr danach war, einen Brief an die Ärztekammer schreiben und ihn im Handumdrehen aus dem Verkehr ziehen lassen. So blieb ihm am Ende nichts anderes übrig, als sämtlichen Forderungen ihres gnadenlosen Scheidungsanwalts nachzugeben. Zum Glück war es ihm gelungen, mit letzter Kraft an seinem Job festzuhalten und sich von seinen letzten Ersparnissen eine Einzimmerwohnung in einer nicht ganz und gar heruntergekommenen Gegend zu leisten.
Er hatte das Beste daraus gemacht und von vorne angefangen.
Er sieht sich um. Die Wohnung ist sauber und ordentlich, aber, Herrgott, so jämmerlich klein. Natürlich trägt er selbst die Schuld an allem, aber die Erinnerungen quälen ihn. Es wäre unnatürlich, würden ihm sein Arbeitszimmer, sein Garten, sein Hund nicht fehlen.
Manchmal ist es ein Kampf, nicht verbittert zu sein, auch wenn das allem widerspricht, was er über den Heilungsprozess gelernt hat und glaubt. Er hat immer versucht, dem Programm zu folgen, schummelt jedoch in wenigstens einem Punkt. Alle um Verzeihung zu bitten, denen man Schaden zugefügt hat, ist ein wichtiger Schritt, und es scheint auch ganz einfach zu sein, wenn es an einer Tafel oder in einem Sitzungsprotokoll geschrieben steht, aber bisher hat er nicht den Mut aufgebracht, nach den Patienten zu forschen, die er angesteckt hat. Er hat zu große Angst vor dem, was er erfahren könnte.
Für ihn hatte ein Todesfall die Abwärtsspirale in Gang gesetzt, noch heute muss er jeden Tag daran denken. Der Gedanke an mögliche weitere Tote ist unerträglich.
Robin schließt die Augen. Als er sie eine Stunde später wieder öffnet, hat die Musik aufgehört, er atmet schwer und ist völlig verschwitzt in seinem Bademantel. Als er zu Bett geht, schmeckt er die junge Frau noch, riecht ihr Parfüm am Kopfteil des Bettes, liegt lange wach und fragt sich, warum er sich die Mühe gemacht hat, die Bettwäsche zu wechseln.
… Damals Gruppensitzung: 16. Februar
Neue Klientin (Caroline) heute Abend erstmals dabei. Wirkt selbstsicher, könnte aber auch eine verständliche Nervosität kaschieren. Blieb standhaft gegenüber Chris, der seltsam aggressiv war. Werde das nächste Woche näher beobachten.
Andere in der Gruppe wohlwollend, wie zu erwarten. Besonders Robin und Heather.
Vermute, dass Chris noch mit sekundärer Sucht kämpft. Wie Diana mit ihrem Kaufzwang. Muss das genau im Auge behalten.
Robin hat sich freiwillig gemeldet, bei der nächsten Sitzung als Erster über Scham als Ursache von Sucht zu reden. Denke, das wird sehr hilfreich sein. Die anderen sind zurückhaltender, tauen aber vielleicht auf, wenn Robin die Sache angestoßen hat. Bin fest überzeugt, mit dieser Herangehensweise gute Ergebnisse zu erzielen. Heimliche Scham = Schuld/Nervosität/selbstzerstörerisches Verhalten (sexuelle Gewalt, Zwangsneurosen, Sucht). Wichtig: Empathie in wohlwollender Gruppenatmosphäre erzeugen.
*LEKTÜRE FÜR NÄCHSTE SITZUNG*
Scham: Der dunkle Kern der Sucht (Hughes, Larner)
Heimliche Scham und Therapie (Psych Review 2011)
Tony schließt die Datei auf seinem Computer und dreht sich in seinem Bürostuhl einem großen Kalender an der Wand über dem Bücherregal zu. Eine arbeitsreiche Woche liegt vor ihm. Zwei weitere Gruppensitzungen, mehrere Einzelgespräche und ein halber Tag in einem Wohnheim in Sussex. Das ist nicht ungewöhnlich, aber er freut sich schon auf besseres Wetter und ein paar völlig andere Wochen.
In drei Monaten wird er durch Europa reisen, eine Tournee durch zehn Städte als »Lifestyle-Berater« eines bekannten Musikers, mit dem er schon seit einigen Jahren arbeitet. Im engsten Umfeld des Stars wissen natürlich alle, warum Tony dabei ist, aber für alle anderen gehört er neben dem Diätspezialisten, Ernährungsberater und Personal Trainer einfach dazu. Das bedeutet gutes Essen und Fünf-Sterne-Luxus in den besten Hotels. Es wäre gelogen, dass er sich nach einer Reihe von Sitzungen in trostlosen Krankenhäusern und unterfinanzierten Wohnheimen nicht darauf freute.
Was nicht heißt, es sei einfach, mit einem so besonderen Klienten zu arbeiten: sicherzustellen, dass er auf der Tour clean bleibt, rund um die Uhr ansprechbar zu sein – bereit, einzuschreiten, wenn es ein Problem gibt oder auch nur wenn der Klient mit jemandem reden möchte –, kann ziemlich anstrengend sein. Und es hat Tony über die Jahre einige unerwünschte Aufmerksamkeit beschert. Sein Name taucht online im Zusammenhang mit verschiedenen Prominenten auf, was zu häufigen Anrufen von Journalisten geführt hat und zu sehr direkten Fragen anderer Klienten.
»Sag schon, Tony, ist es tatsächlich Du-weißt-schon-wer? Wie ist er denn so? Ich wette, bei diesen Tourneen geht es heftig zu …«
Tony sagt nichts, bestätigt nichts, streitet nichts ab. Mit manchen Geschichten könnte er einen Haufen Geld verdienen, aber würde er auch nur ein Sterbenswörtchen ausplaudern, wäre es das Ende dieses sehr lukrativen Jobs.
Das Geld ist ihm wichtig. Die Selbstachtung, die untrennbar damit verbunden ist.
Er steht auf, schließt die Tür hinter sich und geht nach oben zu Emmas Zimmer unterm Dach. Die Musik ist so laut, dass sie seine Schritte auf der Treppe übertönt, aber er braucht gar nicht reinzugehen. Der Geruch sticht ihm in die Nase.
Auf dem Weg zurück ins Erdgeschoss erinnert er sich an eine Nacht in Toronto vor zwei Jahren. Er saß in den frühen Morgenstunden auf dem Boden einer Penthouse-Suite, spielte auf einer geliehenen Gitarre und hörte zu, wie ein gelangweilter, schlafloser Popstar mit Platinstatus einen seiner Songs sang. Mit falschem Text, aber dennoch …
A sliver of moon that bleeds through the blind,
Cannot light up the darkness in his mind,
A past unnatural and people unkind,
It’s time to leave the world behind.
Er überlegt einen Augenblick, ob er zum Klavier im Wohnzimmer gehen soll, um auszuprobieren, ob er den Song noch selbst spielen kann. Schließlich entscheidet er sich, dass es dafür etwas zu spät ist.
»Das ist echt gut, Mann. Nein, ehrlich. Du hättest dabeibleiben sollen …«
Die Erinnerung verblasst umgehend, als er die Küche betritt und Nina an der Frühstückstheke sitzen sieht. Sie hat ein großes Glas Weißwein in der Hand, ihre Füße, die in einer Strumpfhose stecken, hat sie auf einem Hocker neben sich hochgelegt. Sie blättert langsam die Seiten einer Zeitung um und behält dabei den Fernsehbildschirm in der Tür des irrsinnig teuren Kühlschranks im Auge, den sie unbedingt haben musste.
»Schon gegessen?«, fragt er. Als sie nicht antwortet, nimmt er die Fernbedienung und stellt den Fernseher leiser. Er bemerkt einen Anflug von Verärgerung, kurz bevor er die Frage wiederholt.
»Ich hab mir auf dem Heimweg was geholt«, sagt sie.
Es ist nach neun, aber Tony ist es gewohnt, dass seine Frau spät nach Hause kommt. Oft geht sie noch mit Kunden oder anderen Angestellten der Werbeagentur essen. Außerdem gibt es nächtliche Dreharbeiten, Preisverleihungen, manchmal Filmpremieren. Hin und wieder fragt sie Tony, ob er mitkommen möchte, aber er sagt immer Nein. Er glaubt, dass sie ihn nur fragt, weil sie weiß, dass er sowieso ablehnt.
Er macht den Kühlschrank auf, sieht hinein.
»Wie war deine Sitzung?«
»Ganz gut«, sagt er. Es ist etwas Salat da und jede Menge Eingemachtes: Gurken, Obst, Marmelade. Er nimmt sich eine vermutlich für seine Tochter bestimmte Pizza, die sie sowieso nicht essen würde. »Lief ganz okay.«
»Gut. Und wie war deine Freundin so drauf?«
Tony dreht sich um, lässt die Kühlschranktür zufallen. »Was?«
»Du weißt genau, wen ich meine«, sagt Nina. Sie streckt den Hals und sieht an ihm vorbei zum Fernseher. »Die Kleine, die wie ein Kind aussieht.«
»Das ist doch lächerlich.«
»Du hast ihren Blick nicht gesehen, als ich damals in die Küche gekommen bin.«
»Das ist doch absurd.«
»Okay.« Nina zuckt mit den Schultern. »Aber es ist ja nicht so, dass du auf dem Gebiet kein Experte wärst, oder?«
Tony seufzt, reißt die Pizzaverpackung auf.
»Sehr unprofessionell, wenn du mich fragst.«
»Falls es die Frau ist, von der ich denke, dass du sie meinen könntest, ist das lange her.« Er wirft Plastik und Pappe in den Recyclingmülleimer. »Sie hat eine Zuneigung entwickelt, mehr nicht.«
»Was du nicht verhindert hast.«
»Ich habe versucht, ihr zu helfen«, sagt Tony.
»Sie zu vögeln hätte ihr vermutlich sehr geholfen.« Nina trinkt winzige Schlucke aus ihrem Weinglas, maßvoll, gewissenhaft. »Du lässt dich zu sehr auf deine Klientinnen ein, das ist doch der Punkt.«
»Wie sollte ich nicht?«
»Und was ist mit der neuen Frau? Die heute Abend dabei war?« Sie dreht sich zu ihm um, lächelt. »Ist sie dein Typ?«
»Glaub mir, das ist sie absolut nicht.« Tony geht zum Herd und schaltet ihn ein. »Und selbst wenn sie es wäre …« Ninas Lachen unterbricht ihn. Entweder findet sie seine Beteuerungen wirklich witzig, oder sie macht sich nur über ihn lustig. Tony erkennt den Unterschied nicht mehr. Er öffnet einen Schrank nach dem anderen, sucht nach Olivenöl und einem neuen Thema. »Warst du schon oben?«
»Ich bin eben erst reingekommen.«
»Da oben riecht es … Meine Güte.«
»Tja.« Wieder ein zarter Schluck. »Das ist dein Fachgebiet, Tony, nicht meins.«
»Dann ist sie also nur meine Tochter?«
»Ich weiß nicht, warum du so ein Drama daraus machst. Das machen doch alle.«
»Es gerät außer Kontrolle.«
»Das ist das Rebellische in ihrem Alter, sonst nichts. Das weiß sogar ich. Wie war das, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm?«
Tony macht den Schrank zu. Er betrachtet seine Frau.
»Du wirst das regeln.« Nina nimmt die Fernbedienung und stellt den Fernseher wieder lauter. »Wenn du Zeit hast. Sie ist die Frau, die dir wichtig sein sollte, findest du nicht auch?«
Hier und Jetzt Nicola Tanner las die E-Mail zweimal, bevor sie den Anhang öffnete. Sie dachte daran, wie Tausende anderer Londoner auch gerade in schmucklosen Großraumbüros wie dem hier mit der Arbeit anfingen. Viele würden belanglose Floskeln mit Kollegen austauschen, über das Fernsehprogramm am Abend zuvor plaudern oder sich über den Tag beklagen, der vor ihnen lag, so wie einige ihrer Kollegen auch. Krawatten lockern, sinnlos Papierkram sortieren, den überteuerten Kaffee austrinken, den sie unterwegs gekauft hatten, weil sie die Brühe nicht ausstehen konnten, die zähflüssig aus der Maschine in der Ecke kam.
Sie klickte das erste Bild an und atmete tief durch.
Viele würden an Computern arbeiten, so wie sie auch, und die ersten zehn Minuten damit verbringen, Spam auszusortieren oder Twitter-Feeds zu checken. Manche würden sich vor der Plackerei noch mit einigen dieser witzigen Videoclips ablenken, von denen irgendwer meinte, sie könnten ihnen gefallen.
Sie bezweifelte jedoch, dass viele auf Bilder starren würden, die getrocknetes Blut zeigten und marmorierte Haut.
Das nächste Foto war eine Nahaufnahme von den entstellten Gesichtszügen des Opfers. Die Lippen fehlten, ein gelblicher Ausfluss lief aus der Nase.
»Alles klar, Nic?« Detective Chief Inspector Ditchburn legte Tanner seine fleischige Hand auf die Schulter. Er war auf dem Weg in sein Büro. Winzig, aber am allerwichtigsten war, dass es eine Tür hatte, mit der man das Tohuwabohu im Großraumbüro aussperren und sich ein paar kostbare Augenblicke Frieden und Normalität verschaffen konnte. Es war der Vorteil, den der Dienstgrad des Chief Inspectors mit sich brachte, um den ihn alle anderen am meisten beneideten. Im Weggehen rief Ditchburn ihr zu: »Bist du an dieser Victoria-Sache dran?«
»Ich sehe sie mir gerade an, Sir«, sagte Tanner.
Ein flüchtiger Blick, und Tanner sah, wie Ditchburn mit einem Lächeln sein Büro betrat, sie wusste genau, was ihr Boss so amüsant fand. Von einer bestimmten Sorte von Detectives wurde diese alltägliche Respektbezeugung gegenüber dem höheren Dienstgrad als etwas antiquiert angesehen. Tanner wusste, für manche war die Verwendung des Wortes Sir für einen Vorgesetzten bestenfalls unnötig und schlimmstenfalls lächerlich, aber das störte sie nicht weiter. Sie fand es … korrekt. Vielleicht war es albern, doch sie erwartete dasselbe von niedereren Dienstgraden, nur dass diese sich selten daran hielten. Wenn sie ganz besonders üble Laune hatte, fuhr sie Kollegen deswegen sogar an. Es war nicht oft vorgekommen, doch sie wusste, dass das der Anlass für einige Feindseligkeiten und als schlechter Witz getarnter Spott der Kollegen war, aber Tanner war schon zu lange dabei, um etwas darauf zu geben.
Direkt von der Universität in den Job. Und seit zwanzig Jahren dabei.