Mistlers Abschied erzählt die Geschichte eines Mannes in den frühen Sechzigern, dem der Arzt soeben den schrecklichen Befund mitgeteilt hat: Krebs. Mistler verschweigt seiner Frau Clara und seinem Sohn Sam die Lage, er reist vielmehr – für ein paar Tage – in das von ihm geliebte Venedig. Eine junge Frau taucht auf, eine stürmische, zugleich melancholische und bittere Affäre beginnt, dauert nicht lange, die Frau verläßt ihn. Ein Mann taucht auf, ein Mann von früher, eine andere Frau, ebenfalls eine Erscheinung aus alten Tagen, Bella oder Bunny mit Namen, in die Mistler einmal ungemein verliebt war und die er jetzt »haben« will – für eine letzte amour fou. Dazwischen meldet sich das normale Leben zu Wort: Mistler, Chef einer großen Werbeagentur, will seine Firma verkaufen, telefoniert unablässig mit seinem Anwalt, führt Gespräche mit Clara und Sam, dem er am Ende schreibt, daß er nur noch kurz zu leben hat – und immer wieder holen Erinnerungen Mistler ein, Erinnerungen, die ihn mit sich und seiner Situation konfrontieren.

Louis Begley, 1933 in Polen geboren, arbeitete bis 2004 als Anwalt in New York. Als Schriftsteller wurde er mit seinem Roman Lügen in Zeiten des Krieges weltweit bekannt. Seine Bücher wurden in 18 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet.

Christa Krüger hat neben Louis Begleys Werken u. a. David Gutersons Schnee, der auf Zedern fällt ins Deutsche übertragen, zudem hat sie eine Biografie über Louis Begley verfasst. Sie wurde 2009 mit dem C. H. Beck-Übersetzerpreis ausgezeichnet.

Zuletzt sind von Louis Begley im Suhrkamp Verlag erschienen: Schmidts Einsicht (st 4415), Erinnerungen an eine Ehe (st 4549) und Zeig dich, Mörder (st 4682).

Louis
Begley

Mistlers
Abschied

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch
von Christa Krüger

Suhrkamp

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel

Mistler’s Exit bei Ballantine Books, New York.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4683.

© Suhrkamp Verlag Berlin 1998

© Louis Begley 2007 Revocable Trust

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Umschlagfoto: juniongyang / RooM / Getty Images

Umschlag: hißmann, heilmann, hamburg

eISBN 978-3-518-74542-7

www.suhrkamp.de

Für Anka, immer

Ce que les hommes vont perdre, tant pis; ils ne s’en apercevront pas; tout finit bien puisque tout finit.

Chardonne, Demi-Jour

I

Ich verstehe, sagte Mistler.

Hektische Eile war bei diesem Gespräch wirklich nicht nötig. Im Wartezimmer saß niemand mehr. Seit fünfzehn Jahren war Bill Hurley Mistlers Hausarzt; damals hatte er die Praxis eines Onkels übernommen, der auf dem Tennisplatz an einer Aneurismaruptur gestorben war, als ihm während des Turniers um die Clubmeisterschaft im Seniorendoppel im vierten Spiel des vierten Satzes beim Stand von 40:0 ein Doppelfehler unterlief. Mittlerweile war Bill auch ein Freund. Die Sekretärin hatte Mistler ausdrücklich gebeten, erst gegen Ende des Nachmittags vorbeizukommen, wenn die anderen Patienten abgefertigt wären. Kaum war Mistler jedoch da, begann sie sich zu entschuldigen, daß der Doktor sich verspätet habe.

Keine Sorge, beruhigte er sie. Diesmal ist mir das Warten ganz lieb.

Das war die Wahrheit. Er hatte den Eindruck, eine leere Zwischenzeit sei dem, was folgen würde, bei weitem vorzuziehen. Dann war es soweit: Mistler legte widerstrebend die zwei Jahre alte Ausgabe der Illustrierten Glamour weg und fand sich in Hurleys Sprechzimmer ein, dem Raum, in dem Hurley befragte und verordnete, nachdem in der Untersuchungskabine nebenan – dort standen eine Liege und eine zuverlässige Waage, das einzige Stück von Hurleys Einrichtung, das Mistler gefiel – das widerstrebende Fleisch bis zur Preisgabe seiner Geheimnisse gepiekt und geknetet worden war. Wenn er überhaupt einen Grund zur Eile hatte, dann den, daß das Zimmer so häßlich war. Die Stapel von braunen Umschlägen – sie enthielten, so vermutete Mistler, Röntgenaufnahmen und EKG-Aufzeichnungen und sahen aus, als wären sie seit dem Tod von Hurleys Onkel nicht mehr angefaßt worden (wenn der Onkel oder der Neffe sie überhaupt je genauer betrachtet hatten, was Mistler keineswegs für selbstverständlich hielt) –; der pseudoantike Schreibtisch, klein genug für ein Schlafzimmer im Studentenwohnheim, vollgestellt mit Kinkerlitzchen der Pharmaindustrie; die Wände bepflastert mit Entenbildern nebst Zeugnissen und Diplomen, einer vollständigen Dokumentation von Hurleys Aufstieg, angefangen von seiner Internatszeit in New Jersey bis hin zur jüngsten Urkunde der Ärztekammer; die gesamte Einrichtung verriet Gleichgültigkeit und Knauserigkeit. So etwas hätte man in keinem anderen vergleichbar kostspieligen Dienstleistungsbetrieb hingenommen. Kamen Ärzte wohl je auf die Idee, Gespräche, die dem Patienten das Herz brachen, wenigstens außerhalb der Praxis zu führen, bei einer Tasse Kaffee oder einem Drink zum Beispiel, wenn sie schon nicht bereit waren, Geld für Möbel auszugeben? Mit einem Minimum an Geschick konnte man sich doch wohl vom Patienten einladen lassen oder die Ausgabe als Position in der Rechnung aufführen, beispielsweise als Stuhluntersuchung oder dergleichen. Die meisten Rechtsanwälte, mit denen Mistler zu tun hatte, würden das eine wie das andere für selbstverständlich halten.

Mehr wollte Bill Hurley offenbar nicht sagen, ohne eigens aufgefordert zu werden. Die Entscheidung überließ er Mistler.

Na gut. Wieviel Zeit bleibt mir?

Wofür?

Bis ich sterbe, natürlich. Was denn sonst?

Bis wir uns an die Arbeit machen, zum Beispiel. Mel Klein hat dir erklärt, daß wir dieses Ding operativ angehen können. Und zwar sofort. Es ist ein Primärtumor. Das ist die günstige Nachricht. Und wenn alles gutgeht, wirst du vielleicht nachbehandelt werden. Das muß Mel entscheiden. Letzten Endes mußt du dann auf ein Spenderorgan warten. Die gibt es.

Aber er hat mir auch gesagt, daß Dr. Steele sich von einer Operation dieser Art nicht viel verspricht. Habt ihr, du oder Dr. Klein oder Dr. Steele, euch anders besonnen?

Nein. Das Gewächs ist groß, und es kann gestreut haben. Das weiß Dr. Steele erst, wenn er dich aufmacht.

Und wenn es gestreut hat?

Dann näht er dich wieder zu, und wir tun, was wir können, um dir das Leben zu erleichtern.

Im Krankenhaus?

Zuerst. Und wahrscheinlich auch zum Schluß. Hurleys Gesicht blieb fröhlich.

Ich glaube, da mach ich nicht mit. Was schätzt du, wieviel Zeit ich noch habe, wenn ich gar nichts tue? Außerdem möchte ich wissen, wie schlimm es wird.

Das hängt ganz davon ab, was wirklich in deinen inneren Organen vorgeht. Wenn das Problem noch lokal begrenzt ist, du jedoch keine Behandlung bekommst, nicht mal Bestrahlungen zur Verkleinerung des Tumors, dann hast du vielleicht noch ein halbes Jahr. Vielleicht auch weniger. Die nächsten Monate werden nur unangenehm sein. Nicht schlimmer als jetzt. Du wirst müder und anämischer werden und abnehmen. Später wirst du kämpfen müssen wie ein Löwe, besonders wenn Absiedlungen an anderen Organen entstehen. Die Wahrscheinlichkeit dafür wächst mit jedem Tag. Durch Bestrahlung und Chemotherapie könntest du auch ohne Operation Zeit gewinnen. Das solltest du mit Mel besprechen. Wenn aber schon der ganze Körper betroffen ist, kann ich für gar nichts garantieren. Diese Dinge richten sich nicht nach Fahrplan wie Mussolini-Züge. Hä! Hä! Du weißt das.

Aber du wirst doch dafür sorgen, daß ich nicht dahin komme, wo ich – wie hast du gesagt? – kämpfen muß wie ein Löwe. Ich baue darauf.

Wenn du mir damit nahelegen willst, daß ich dich umbringen soll, dann kann ich dir gleich sagen, das werde ich nicht tun. Ich bin hier, um Patienten zu behandeln. Selbstverständlich hast du das Recht, eine Behandlung abzulehnen. Wir werden dir jedes Schmerzmittel geben, das du brauchst, aber mach dir nichts vor. Der Zeitpunkt wird kommen, da Medikamente nichts mehr nützen.

Ist das schlimmer als das, was passieren wird, wenn ich Operation und Nachbehandlung über mich ergehen lasse?

Du hast eine Chance, daß der Tumor noch nicht gestreut hat und herausgenommen werden kann. Und mit Nachbehandlung und Glück kannst du dann ein normales Leben führen – vor allem, wenn du ein Spenderorgan bekommst. Im anderen Fall wird es ziemlich auf dasselbe hinauslaufen, da hast du recht.

Bis darauf, daß ich die Operation und Nachbehandlung und alles, was dranhängt, noch zusätzlich mitgemacht hätte. Ich glaube, ich lasse es, wie es ist. Wenn du mir nur verschreibst, was du für das beste hältst: Vitamine, Ginseng, Stärkungsmittel – irgendwas, das mir Kraft gibt. Das muß doch möglich sein.

Hurley kritzelte eifrig. Hier, sagte er, dies tut dir vielleicht gut, schaden wird es jedenfalls nicht. Dann bedachte er Mistler mit dem mannhaft herzlichen Blick, den er sonst nur zeigte, wenn er dem Freund dringend riet, den Genuß von Rotwein und Meeresfrüchten und natürlich auch den Zigarrenkonsum einzuschränken, falls er den nächsten Gichtanfall vermeiden wolle, und fuhr fort: Du solltest nichts entscheiden, bevor du mit Clara und Sam gesprochen hast. Wenn du den Kampf aufnehmen willst und sie mithelfen läßt, wird es ihnen leichter fallen, das Ergebnis zu akzeptieren. Es ist extrem schwer, zusehen zu müssen, wie ein Ehemann und Vater dahinschwindet – besonders dann, wenn es vielleicht früher geschieht als nötig, weil er beschlossen hat zu sterben, ohne sich von seinen Ärzten behandeln zu lassen.

Aber ich habe es mir doch nicht ausgesucht, so und jetzt schon zu sterben – viel früher als gedacht. Die Entscheidung trifft seine Majestät, der Körper von Mistler. Ich entscheide nur, wie ich die nächsten paar Monate zubringen will. Alles, nur kein Krankenhausbett auf Rollen, nur nicht an Maschinen angeschlossen, die Geräusche machen wie Geräte aus einem Science-Fiction-Film. Ich kann auch nicht glauben, daß Clara oder Sam das gern sähen.

Da wäre ich mir nicht so sicher. Alle Welt, auch deine Familie, liebt Kämpfernaturen.

Ich habe mein Soll an Kämpfen erfüllt, Bill. Glaub mir. Vielleicht weiß ich deshalb so genau, daß ich jetzt kapitulieren muß. Bedingungslos!

Du hast versprochen, nichts ohne Clara zu entscheiden.

Mistler registrierte Hurleys wachsenden Unwillen.

Daran halte ich mich auch. Gib mir nur etwas Zeit. Gönne ihr ein paar sorglose Wochen. Schließlich gibt es doch jetzt nichts, das sie mittragen müßte, jedenfalls nicht sofort.

Danach rang er sich ein freundliches Lächeln ab und schüttelte Hurley die Hand.

Schon sechs Uhr? Sein Fahrer wartete in der 71st Street, sah ihn kommen, stieg aus und stellte sich neben die Wagentür.

Danke, Vince. Ich fahre nicht mehr ins Büro, und ich gehe zu Fuß nach Hause. Rufen Sie bitte Miss Tuck an und sagen Sie ihr Bescheid, daß sie nicht auf mich warten soll. Und holen Sie mich doch bitte um acht Uhr zu Hause ab. Ich gehe zum Essen aus.

Der Frühling hatte Mistler überrascht, es war plötzlich so lange hell, daß er noch einmal ungläubig auf die Uhr sah. Er ging nach Westen, auf den Park zu, vorbei an den Fachgeschäften mit Hilfsmitteln für Bettlägerige und Lahme, und vorbei an den Bars, die sich im Lauf des Abends mit dienstfreien Krankenschwestern, Medizinstudenten und Assistenzärzten füllen würden. Erstaunlich, wie sauber die Stadt aussah. In der Seitenstraße hatten die Hunde die Einfassungen aus Fleißigen Lieschen und Stiefmütterchen rings um die Ginkgobäume respektiert. Auf der Insel, die die Park Avenue teilt, standen makellose hohe Tulpen in leuchtendem Gelb. Als er zum Central Park kam, nahmen ihm die blühenden Kirsch- und Pflaumenbäume den Atem. Ein Jammer, daß sie so viele Wochenenden auf dem Land verpaßt hatten. Man verlor die Natur ganz aus dem Blick, sogar die Mondphasen. Der Frühling kam dort draußen später, aber die Tulpen und Forsythien in Crow Hill standen jetzt sicher in voller Blüte. Nächstes Jahr sollte Clara ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen in der Stadt besser einteilen, und er würde dann langsamer treten. Es war wirklich nicht nötig, sich auf Sitzungstermine an Samstagen oder Sonntagen einzulassen, und wenn sie nicht zu verschieben waren, würde er jedenfalls nicht selbst hingehen. Andere Leute konnten ihn vertreten. Dann fiel ihm Bill Hurleys Prognose wieder ein. Es war klar, daß ihn das Problem, Zeit für Crow Hill zu finden, nicht mehr lange beschäftigen würde. Ganz widersinnig überfiel ihn plötzlich und unverkennbar eine große Freude. Der Horizont würde nicht länger in unbestimmter Ferne verschwimmen. Was ihm an Raum und Zeit noch blieb, war klar umrissen – eine Befreiung für ihn.

Befreiung wovon? Die Frage, die er sich sofort stellte, zog beunruhigende Kreise, da Mistler sich eigentlich für einen rundum glücklichen Mann hielt. Bei den großen Ehemaligentreffen hatte er sich in Interviews und in vorbereiteten Ansprachen zu der Überzeugung bekannt, sein Leben gut genutzt zu haben. Er fühlte sich zu dieser Einschätzung berechtigt, obwohl sie auf einer Voraussetzung beruhte, die er geheimhielt, um sich nicht zum Gespött zu machen. Er verstand sich als Selfmademan und sah seine Erfolge weitgehend unabhängig von dem ansonsten ganz angenehmen Umstand, daß er vor gut sechzig Jahren in dem Krankenhaus neben Bill Hurleys Praxis mit einem silbernen Löffel im Mund geboren worden war. Nein, es gab nichts, wovor er hätte fliehen wollen. In seiner Ehe herrschte seit langer Zeit Frieden. Er liebte seinen einzigen Sohn. Im Gegensatz zu Peter Berry, dem Vetter und ehemals besten Freund, den er aus der Firma Mistler, Berry & Lovett hinausgedrängt hatte – eine häßliche Angelegenheit, die er fast bedauerte, auch wenn sie längst überfällig gewesen war und für Peter letzten Endes kein Unglück bedeutete, da er wahrscheinlich ganz froh war, seine Morgan-Pferdezucht nun vollberuflich betreiben zu können –, machte ihm seine Arbeit so viel Spaß wie eh und je. Peter und er hatten Mistler Berry gegründet, als sie kaum dreißig waren; sie gaben die Stellen auf, die sie gleich nach dem Militärdienst in der damals größten New Yorker Werbeagentur bekommen hatten; diese war nach den Maßstäben der Zeit ein Riesenunternehmen und dermaßen gewinnbringend und einflußreich, daß Leute, die in solchen Dingen nicht ganz so penibel waren wie Mistlers Vater, eine Anstellung dort durchaus für achtbar hielten. Dieser Herr allerdings, der leitende Seniorpartner einer Wall Street Investmentbank, deren Anfänge sich bis ins Philadelphia des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen ließen, hielt jedwede Werbung und Öffentlichkeitsarbeit für eine unsolide Tätigkeit, passend für Banausen und die schmarotzenden Söhne seiner weniger angenehmen Bekannten. Mr. Mistler senior trug sogar eine gewisse Verantwortung dafür, daß sein eigener ansonsten ganz untadeliger Sohn sich ausgerechnet für diesen Arbeitsbereich entschieden hatte. Dessen Entscheidung war nämlich die Reaktion auf die stichelnden Bemerkungen des Vaters, der sich über die jungen Herren mit Schreibhemmungen mokierte, die, von väterlichen Überweisungen lebend, in Paris oder auf einer griechischen Insel versackten. Ihm gehe es nicht ums Geld, sondern ums Prinzip, pflegte er zu sagen: Die Trusts der Familie Mistler, über die der Vater mit unbeschränkter Vollmacht verfügen konnte, seien nicht eingerichtet worden, um Dilettanten oder Möchtegern-Literaten, die auf Inspiration warteten, über Wasser zu halten. Wenn sein Sohn Thomas nachts kritzeln wolle, dann sei das seine Sache, aber bis er sich einen Namen gemacht habe, könne er sich doch wohl tagsüber einer erkennbaren Beschäftigung und Disziplin unterwerfen. Er wies gern darauf hin, daß Wallace Stevens, den der ältere Mr. Mistler zu seinen Freunden zählte, seine Stellung bei einer Versicherungsgesellschaft nie aufgegeben habe. Diese Gespräche wurden stets in ruhigem Ton geführt, und weder Vater noch Sohn fanden es angebracht, darauf aufmerksam zu machen, daß dem Jüngeren von mütterlicher Seite genug Geld zufließe, um ihm genau die Existenz zu ermöglichen, die der ältere Mr. Mistler so mißbilligte. Thomas hatte genug eigene Gründe, sich davor zu fürchten, daß er herumsitzen und auf den Kuß der Muse warten müsse. In der Wall Street zu arbeiten kam für ihn nicht in Frage, das fand er einfach albern, es sei denn, er nahm die Stellung in seines Vaters Bank ein, die ihm nach Geburtsrecht zustand. Daß er über sie verfügen könne, hatte man ihm deutlich gemacht. Aber er wollte nicht für seinen Vater arbeiten. Die Aussicht, in einem Verlag die Manuskripte anderer Leute zu korrigieren, war freilich noch weniger einladend.

Ein Mann namens Barney Fine, Student im selben Semester wie Mistler, aber mehrere Jahre älter, weil er im Krieg gewesen war – Mistler hatte ihn in der Redaktion des Harvard Advocate kennengelernt –, arbeitete als Texter in einer Werbeagentur. Barney behauptete, das sei der beste Job in der Stadt: Er bekomme ziemlich viel Geld dafür, daß er tagsüber Reklamesprüche für Seife verfasse. Die Sprüche verstopften ihm nicht das Hirn und kämen ihm nachts nicht beim Dichten in die Quere. Außerdem könne, wer gut sei, sich ohne Schwierigkeiten beurlauben lassen. Mistler solle es doch genauso machen. Er wolle ihn gern empfehlen. Das war ein guter Plan: Mistler hatte das Gefühl, Texte über die Vorzüge von Handcreme und Abführmittel mindestens so gut wie jeder beliebige Teilzeitästhet verfassen zu können. Schreiben wollte er dann nach Feierabend, an den Wochenenden würde er sich in dem Häuschen verkriechen, das ihm sein Vater zum Examen geschenkt hatte – es lag unmittelbar neben dem Rasenplatz von Crow Hill, wo eine ganze Menge Mistlers und Abthorps begraben waren –, und seine Ferien oder in Gottes Namen diese fabelhaften Beurlaubungen würde er in einem weißgekalkten Haus auf einem Felsen in der Ägäis zubringen. Er fragte Barney, ob man Peter Berry vielleicht auch noch unterbringen könne, da sich Peter seinen Lebensunterhalt wirklich verdienen mußte.

Mistler war selbst am meisten überrascht, als er sofort feststellte, daß Werbung ihm Spaß machte. Drei Jahre später zog er das Fazit, daß ihm die Sache noch mehr Spaß machen würde, wenn er sein eigener Arbeitgeber wäre. Dem stand eigentlich nichts im Wege; er hatte inzwischen anderweitig unter Beweis gestellt, daß er ein ausgezeichneter Unternehmer sein konnte. Er überredete Peter Berry und Harry Lovett zum Mitmachen, Harry war wichtig, da man zur Beruhigung potentieller Kunden dringend einen Mann in seinem reifen Alter und mit seiner Erfahrung brauchte. Harry war der Vizepräsident der großen Agentur, hatte aber, wie die meisten Vizepräsidenten früher oder später, einsehen müssen, daß er es nie bis zum Präsidenten bringen würde, und das kränkte ihn. Wie Mistler hatte auch er Geld; er war sogar besser gestellt, da sein Geld nicht in Trusts festlag. Peter schloß sich an. Das ergab sich ganz von selbst. Ein Neu-England-Zigeuner – so hatte Mistler eine nach dem Modell Peters erfundene Figur in dem Roman genannt, den er im Jahr zuvor veröffentlicht hatte; diese Romangestalt war ein junger Mann ohne die trockene Bedachtsamkeit der Hauptperson, willens, alles oder auch nichts zu tun. Mistler und Harry waren entschlossen, die Agentur fünf Jahre lang in Gang zu halten, auch wenn sie dabei von Wasser und Brot leben müßten. Als das fünfte Jahr anbrach, hatte die Firma mehr als vierzig Angestellte und eine Filiale in London, aber Harry Lovett war inzwischen an einem Herzanfall gestorben, in seiner Loge in der Metropolitan Opera, während des zweiten Akts der »Walküre«.

Besonders nah verwandt waren Peter Berry und Mistler nicht, Peter war nur der Sohn einer Kusine von Mistlers Mutter. Sie hatten sich im College angefreundet und sich beide um den Platz für Erstsemester in der Redaktion des Advocate beworben. Vom folgenden Jahr an wohnten sie zusammen. Beide nahmen sich vor, den nächsten großen amerikanischen Roman zu schreiben. Auch wenn der ältere Mr. Mistler vom Gegenteil überzeugt war, ist nicht auszuschließen, daß der Literatur mit einem Gammelleben in Paris und Athen besser gedient gewesen wäre. Peter hatte im College angefangen, Kurzgeschichten zu schreiben, und bei der Navy weiter daran gearbeitet. Sie blieben in ihrer Keksdose aus Blech liegen. Mistler brachte seinen Roman zu Ende, wie er sich vorgenommen hatte, das Buch wurde aber in Rezensionen nur am Rande erwähnt: »noch eine Geschichte von Unordnung und frühem Leid in einem neuenglischen Internat«. Mistler konnte den Rezensenten eigentlich nicht unrecht geben. Seinem Roman fehlte es an Ehrgeiz und Energie. Und doch hatte er gehofft, daß ein oder zwei Freunde aus dem College, deren Erstlingswerke auch gerade erschienen und besser besprochen worden waren, ihm Mut machten und Sympathie bekundeten. Statt dessen kamen Kollegen in der Agentur und farblose Bekannte mit der Bitte um eine Widmung zu ihm und versprachen, das »großartige Buch« ganz bestimmt in den nächsten Ferien zu lesen. Halb so schlimm: Das Schicksal hatte ihn nicht dazu verurteilt, schreibend sich zu verzehren.

Als Harry Lovett starb, beschlossen Mistler und Peter Berry, den Firmennamen beizubehalten; sie wollten als Duumvirat agieren. Sehr bald stellte sich heraus, daß es aussichtslos war, sich auf einer Stufe mit Mistler halten zu wollen, aber Peter forderte ihn weder heraus, noch ging er. Und so wurde Mistler, noch bevor er fünfunddreißig war, der Autokrat der Agentur; und dabei blieb es, nicht weil er so viele Firmenanteile besaß, sondern weil er ohne jeden Zweifel weit besser und belastbarer war als alle anderen. Peter Berry leider nicht ausgenommen. Das lag nicht einfach an Mistlers Begabung für einnehmende Worte, Bilder, Werbekampagnen. Er verstand es, auch hartgesottene Kunden zu bezaubern oder einzuschüchtern, und er wählte den richtigen Zeitpunkt für die Expansion der Firma in den Vereinigten Staaten und in Übersee, ohne den Charakter ihrer Arbeit zu ändern. Die Presse sprach mehr und mehr von dem kaum faßbaren Mistler-Element, einem Werbestil, den er erfunden habe. Das Wunderkind aus der Madison Avenue hatte sich zum internationalen Star gemausert.

Warum nur dieses freudige Hochgefühl beim Gedanken an das rechteckige Loch, das schon in wenigen Monaten in dem saftigen Boden von Crow Hill zur Rechten seines Vaters und seiner Mutter für ihn ausgehoben würde? Es gab wohl keine Erklärung dafür. Wenn unbedingt eine sein mußte, dann fand Mistler Gefallen an der Vorstellung, daß sein Unbewußtes, vielleicht vorauseilend oder durch einen ahnungsvollen Kristallisationsprozeß, ausgelöst durch die Eröffnung des Onkologen Dr. Klein, die auf dem Ultraschallbild seiner Leber sichtbare Aktivität gefalle ihm nicht, eine Bestandsaufnahme der Situation gemacht hatte und zu dem Ergebnis gekommen sein mochte, daß, falls Kleins Vermutung sich bestätigte, die meisten Probleme, denen er soviel Aufmerksamkeit und Anstrengung gewidmet hatte, nun nicht mehr so wichtig waren – nicht mehr für ihn. Daraus ergab sich nicht nur ein Nachlassen der Anspannung; seine Erleichterung glich der Gleichgültigkeit, gefolgt von Heiterkeit, die er immer zu Beginn langer Flüge empfand, wenn er allein, zum Beispiel nach Japan, reiste. Er nahm dann seinen Platz ein – das Reisebüro hatte Anweisung, ihm einen Sitz in der ersten Reihe der ersten Klasse zu reservieren, wo er nur die Kanzel vor sich hatte, und möglichst dafür zu sorgen, daß der Nachbarsitz leer blieb. Dann hatte er vierzehn Stunden vor sich, in denen nichts geschah. Keine Störung, nur das gedämpfte Dröhnen des Flugzeugs und die bedeutungslosen Durchsagen der Crew, aber keine Möglichkeit zum Handeln. Draußen ein Himmel, der nicht dunkel werden wollte. Schon beim Start schlief Mistler so fest ein, daß der Steward gar nicht erst versuchte, ihm das Essen zu servieren. Wenn er später aufwachte, war seine Hochstimmung gemischt mit einer Prise Sentimentalität, Dankbarkeit für alles, was während der vergangenen Woche gutgegangen war, und mit Gedanken an seinen Sohn Sam. Im Augenblick jedoch überkam ihn keine Nostalgie, nichts, das auch nur im entferntesten sentimental gewesen wäre. Wie lange konnte er in diesem Zustand der Gnade verharren? Die Regenbogenpresse läßt uns wissen, daß hinter jedem Busch an der Ramble des Central Parks ein gewaltsamer Tod lauern kann, auf der Straße, die man nimmt, um im Bogen zurück zur Park Avenue zu gehen, in den Augen des Halbwüchsigen, der dein Geld will. Der Tod gewinnt erst nach verzweifelter Gegenwehr die Oberhand. Diesmal fand er zur Abwechslung ein williges Opfer. Warum mußte das wilde Wuchern in dessen durcheinandergeratenen Zellen immer weitergehen? Aber was war der Krebs schon! Nur ein besonders häßliches Detail, nur eine Bestätigung dessen, was Mistler jeden Tag erblickte, wenn er sich umsah und bemerkte, was aus den Zeitgenossen seiner Jugend, einst Jüngling und Jungfer goldgehaart, geworden war. Ein beschissenes Jahrzehnt lag vor ihm, ganz gleich was geschah. Ein Enkelkind, falls Sam sich je entschloß, für Nachwuchs zu sorgen, das war das einzig Erfreuliche, was die Zukunft noch bieten mochte, aber sonst war nichts Gutes mehr zu erwarten.

Seit letztem Herbst hatte er noch härter als sonst gearbeitet. Überall wollten die Kunden weniger Geld ausgeben. Wie die Agentur, in der sie angefangen hatten und deren Einzugsbereich ihnen damals so unglaublich groß vorgekommen war, so zählten auch Mistler, Berry & Lovett eine Fluggesellschaft und einen ausländischen Autohersteller zu ihren Kunden. Als deren Aufträge zur Revision anstanden, bekam Mistler im voraus eine vertrauliche Mitteilung: Verstehen Sie dies als eine notwendige Maßnahme zur Beruhigung des Aufsichtsrates, daß jede Möglichkeit, den Gürtel enger zu schnallen, in Betracht gezogen wurde. Von Unzufriedenheit mit der Arbeit seiner Firma könnte keine Rede sein. Aber wieweit durfte man sich darauf verlassen? Er leitete die Präsentationen vor den Revisionsausschüssen seiner Kunden selbst; die Aufträge blieben bei seiner Agentur, und die Verbindung zu den Kunden schien so fest geknüpft wie eh und je. Man mußte nur noch die finanziellen Probleme unter Kontrolle bringen, die mit Peters erzwungenem Ausscheiden aus der Firma verbunden waren, insbesondere die Konsequenzen aus dem Rückkauf seiner Anteile, und diese Arbeit hatte Mistler so schnell wie möglich erledigen wollen, damit es in der Firma nicht zu Rissen und Brüchen kam und das Ereignis nicht dramatisiert wurde. Im Januar machte dann Jock Burns, Präsident von Omnium, der einzigen Werbeagentur außer seiner eigenen, die Mistler ehrlich bewunderte – aber sie war fast viermal so groß –, ihm bei einem Arbeitsessen ein zwar verschleiertes und doch für ihn klares Angebot, die Firma Mistler Berry zu kaufen. Im Gegenzug nannte Mistler einen absurd hohen Multiplikator der Firmeneinnahmen und erklärte Jock, daraus könne man den Kaufpreis für eine Agentur dieser Art ableiten. Darauf hörte er Jock zustimmend murmeln. Nur mit Mühe bewahrte er einen neutralen Gesichtsausdruck und schnitt das unangenehme Problem der Kundenkonflikte an: Neuere Abschlüsse waren fehlgeschlagen. Jock hatte seine Hausaufgaben gemacht. Seiner Meinung nach konnte man mit den Schwierigkeiten fertig werden, und er erläuterte seinen Plan; im Grunde kaufe er sowieso das »Mistler-Element«. In den Monaten danach handelte Mistler, mit Hilfe des Firmenanwalts Mike Voorhis, die Einzelheiten des Kaufvertrags so diskret aus, daß außer zwei Vorstandsmitgliedern niemand in der Agentur davon erfuhr; erst am Wochenende vor Ostern, nachdem er den gesamten Vorstand unter dem Vorwand einer Tagung zur Revision der Gesamtstrategie nach Bermuda geholt hatte, gab er den geplanten Verkauf bekannt. Er hatte mit der Möglichkeit gerechnet, daß der Vorstand ihm die Zustimmung verweigerte. Nichts davon. Es hatte ihm über alle Erwartungen gut getan zu hören, wie sie nach Luft schnappten, als er am Samstagmorgen die Sitzung mit den Worten eröffnete, er empfehle den Verkauf der Firma, und wie sie noch einmal und noch ungläubiger ächzten, als er den Preis nannte.

Natürlich mußte der Preis exorbitant sein, erklärte er ihnen. Sonst würde ich doch gar nicht daran denken zu verkaufen.

Am nächsten Tag beim Abschlußessen erhoben sie sich alle, tranken auf seine Gesundheit und sangen zweimal »Hoch soll er leben«, bevor er sich Gehör verschaffen konnte und seine Kollegen daran erinnerte, daß es bei der gegenwärtigen Instabilität der Wirtschaftslage nur klug sei, zu verkaufen und Geld auf die hohe Kante zu legen.

Am Abend, als er wieder in New York war, sagte er Clara nach dem Essen in ihrem italienischen Stammlokal gleich nebenan, er würde gern sofort schlafen gehen.

Gott sei Dank! Sie hatte ihr Bad schon vor dem Ausgehen genommen und wartete nun lesend im Bett, während er in der Wanne lag. Für ihn war dies ganz selbstverständlich ein Abend für Sex, sehr spontan, so wie es nur noch selten vorkam. Aber als er den Arm nach ihr ausstreckte, wendete sie sich ab und schob seine Hand auf ihre Brust. Nicht willens, die Gelegenheit vorbeigehen zu lassen, streichelte er sie weiter, bis sie ihn ganz wegstieß und sagte, sie sollten beide lieber schlafen.

Darauf erwiderte er nichts, weil er annahm, sie habe bemerkt, wie schnell sein Impuls wieder verflogen war. Aber kurz danach sprach sie.

Hast du dich im Badezimmerspiegel betrachtet? Du siehst nicht bloß müde aus. Krank siehst du aus. Das ist mein Ernst. Nimm’s bitte nicht auf die leichte Schulter. Ich möchte, daß du dir gleich morgen früh einen Termin bei Bill Hurley geben läßt.

Das war das Eröffnungsfeuer. Nach dem Arztbesuch erzählte er ihr notgedrungen, daß Hurley Tests angeordnet habe, aber ihre Fragen, was für Tests das seien, überhörte er. Sie hatte längst gelernt, daß es keinen Sinn hatte zu insistieren, wenn er nicht reden wollte. Dann wurde er nur mürrisch. Als die Computertomographie und alles andere, was photographische und elektronische Tests offenbaren konnten, schließlich ausgewertet war und als Klein und Hurley beide sagten, eine Biopsie sei notwendig, blickte er in sein Notizbuch und teilte Hurley mit, diese Untersuchung könne am letzten Montag im April gemacht werden; Clara werde dann die ganze Woche verreist sein. Andernfalls wolle er den Eingriff außerhalb der Stadt, zum Beispiel in Boston, vornehmen lassen.

Ich trage keinen Schlafanzug, wenn ich mit meiner Frau ins Bett gehe. Solange sie verreist ist, kann sie nicht mit der Hand über Verbände und genähte Stellen streichen und mich fragen, was passiert ist.

Du darfst ihr so etwas doch nicht verschweigen, sagte Hurley. Das ist wirklich nicht richtig.

Das will ich auch nicht – wenn ich erst einmal weiß, was dieses Ding ist und was man dagegen unternehmen kann, werde ich es ihr natürlich erzählen. Ich werde auch zusehen, daß sie mit dir und Dr. Steele und Dr. Klein spricht.

Dir ist klar, daß die Wunde nicht in einer Woche verheilt.

Ja, aber der Verband ist dann kleiner, und wenn es nicht anders geht, erzähle ich ihr eine harmlose Lüge: daß ich endlich die Warze losgeworden sei, derentwegen du mir immer in den Ohren liegst. Übrigens können wir doch Dr. Steele bitten, das Ding wegzuschneiden, wenn er sowieso in der Gegend arbeitet. Die Ergebnisse der Biopsie habt ihr doch mit aller Wahrscheinlichkeit, wenn Clara wiederkommt.

Jetzt aber mußte er auf nichts mehr warten; er hatte alle Ergebnisse, die er oder sonst jemand brauchte. Es war Dienstag. Die Aufsichtsratsitzung der zoologischen Gesellschaft endete am Donnerstag, damit das Wochenende frei blieb. Sie konnte am Freitag wieder in New York sein, rechtzeitig für einen gemeinsamen Aufbruch nach Crow Hill. Aber dazu fühlte er sich noch nicht imstande. Es war wohl besser, wenn er sie anrief, sobald er von Anna Williams’ Dinner zurück war, und ihr zuredete, übers Wochenende bei Sam zu bleiben. Warum nicht die günstige Gelegenheit nutzen, Sam in Stanford zu besuchen, wenn sie schon bis nach San Diego gereist war? Sie konnten doch einen Ausflug machen und eine der Weinstraßen im Napa Valley entlangfahren. Praktisch alles war besser als ein Wochenende, an dem sie sich auf Mistlers Krebs einstellen müßte. Wenn sie es erst später von ihm hörte, hätte sie die noch frischen Bilder einer sorglos schönen Zeit vor Augen – Bilder, auf denen er nicht im Vordergrund stand; das würde ihr helfen. Und diese Frist, solange er noch am Rand des Niemandslandes, noch vor der Abkommandierung zur Krebspatrouille stand, konnte auch für ihn eine Gelegenheit sein, sich etwas Besonderes zu gönnen. Etwas ganz Köstliches mußte es sein, das lange vorhielt, damit er in den kommenden Monaten oder Wochen davon zehren konnte. Den guten Nachgeschmack von Köstlichem würde er brauchen.

Als er Rick Vernhagen ein paar Tage vor dessen Tod zum letzten Mal im Krankenhaus besucht hatte, zeigte Vernhagen ihm einen kleinen konischen Gegenstand, der an den Venentropf angeschlossen und mit einem Klebeband am Bettlaken befestigt war. Mistler hatte ihn nicht bemerkt, da Vernhagens Hand darüber lag. Unglaublich schwach sah Vernhagen aus. Der Drainageschlauch, der dunkelbraune Flüssigkeit in zähen Tropfen aus seinem Magen zog, war ihm durch ein Nasenloch und den Kehlkopf gelegt worden und hatte die Stimmbänder wundgescheuert. Mistler rückte seinen Stuhl so nah wie möglich an die Kissen, auf denen Vernhagens Kopf lag, und gab sich Mühe, ihn zu verstehen.

Sieh mal hier, krächzte Vernhagen aufgeregt und schob einen Gegenstand hin und her, an dessen Ende ein weißer Plastikknopf saß. Wundervoll, wundervoll! Du drückst auf den Knopf, wie beim Zimmerservice, und das Nirwana kommt. Mußt nicht mit dem Kellner reden und kein Trinkgeld geben!

Die Privatpflegerin bemerkte, daß Mistler nicht verstand, und erklärte ihm, dies sei eine neue Technik, mit dem Schmerz umzugehen. Wenn der Patient den Schmerz nicht ertrug, konnte er drücken, und Morphin wurde freigesetzt. Es mischte sich mit der Nährlösung und floß direkt in die Vene.

Sie würden sich über die Burschen wundern, fuhr sie fort. Keiner machts einfach, um high zu werden, das habe ich noch nie erlebt.

Nun ja, jetzt würde er bald selbst erfahren, wie sich Erinnerungen an ein glückliches Leben im Vergleich mit Morphin und Demerol ausnahmen. Wenn Clara ihn bat, nachzukommen und sich mit ihr und Sam zu treffen, würde er sagen, Hurley habe ihm Ruhe verordnet. Ein verlängertes Wochenende mit Clara und Sam, nein, das war nicht das Besondere, das er jetzt brauchte. Für solche Wochenenden blieb immer noch Zeit, vielleicht sogar für Ferien, sobald das Semester in Stanford zu Ende war, falls Sam es schaffte, seine Zeit nicht mit Examensprüfungen und Semesterarbeiten zu vertun, und falls er, Mistler, bestimmte organisatorische Dinge in der Agentur erledigt und sich Gewißheit verschafft hatte, daß der Abschluß mit Omnium gesichert war. Pluto sollte ihm zum Lohn für seine Frömmigkeit bescheidene zehn Tage gelassener Leere gewähren. Er wollte nach Venedig fahren. Das war der einzige Ort auf der Erde, an dem nichts ihn störte. Dazu benötigte er weder Erkundung noch Planung. Er wußte, in welchem Hotel er wohnen und welches Zimmer er bestellen wollte; er wußte ebenfalls, wie man die taubenfütterndenTouristen auf dem Markusplatz umging und auch die Horden, die wie ein häßliches Schiff im Schlepptau des Lotsen einem geschwätzigen, polyglotten Menschen mit grellbuntem aufgespannten Regenschirm folgen. Er brauchte kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn er dieses oder jenes Gemälde oder Monument von entscheidender Bedeutung nicht betrachtete. Vedi Napoli e mori! Ein Meisterwerk konnte man schließlich nicht auf der Netzhaut festhalten und gleichsam als Grabbeigabe mit in die Grube nehmen wie ein Pharao. Er hatte Venedig schon als Collegeschüler gründlich besichtigt, und ob er nun einen bestimmten Tizian oder Bellini noch einmal betrachtete oder nicht, war nur die Entscheidung zwischen einem förmlichen Abschied und grußlosem Verschwinden. Jemand, der sich zu sehr einmischt – wie die meisten Freunde, die ein Ehepaar hat – mochte meinen, Mistlers Reise ohne Clara sei unfair. Er wußte es besser. Außerdem konnte sie immer noch mit Sam wiederkommen, wenn Clara ihre Verärgerung zu erkennen gab. Es war für ihn selbstverständlich, daß Familienferien, und seien sie noch so anstrengend und schwierig, doch ein Ritual waren, das vollzogen werden mußte, und zwar bevor er das Stadium erreichte, in dem er wie ein Löwe würde kämpfen müssen. Venedig würde dann immer noch dasein und auf Mutter, Vater und Sohn warten. Und vielleicht auch auf die Zukünftige des Sohnes und deren Kind. Niemand sollte sich ausgeschlossen fühlen.

Es war leicht, seine Flucht zu inszenieren. Er konnte Sonntag spätabends abreisen, bevor Clara von der Westküste wiederkam – vorausgesetzt, sie folgte seinem Rat und verabredete sich mit Sam. Und falls sie ihn bat dazuzukommen, war eine Italienreise ein unverfänglicher Grund zur Ablehnung. An Vorwänden dafür fehlte es nicht: Das Mailänder Mode-Imperium, das er so aufmerksam umworben hatte – die Agentur hatte auch schon Aufträge bekommen –, habe ihn nun ganz ohne Vorankündigung zu einer Sitzung gebeten. Er konnte schlecht ablehnen und wolle sie auch gar nicht erst bitten mitzukommen; diese Mailänder Stippvisite sei der Inbegriff dessen, was sie mit gutem Grund am Geschäftsleben hasse: Mistler den ganzen Tag in Sitzungen, und sie an die Ehefrau des Geschäftsführers der Kundenfirma gekettet. Am Abend dann müßten sie beide wie Marionetten das übliche Small-talk-Repertoire durchspielen: Über Kinder, typische Kulturmerkmale und die wunderbaren funghi porcini oder sonstige einheimische Spezialitäten obenan auf der Speisekarte des pompösen Restaurants, in das sie geführt würden. Sie spielte bei solchen Anlässen ihre Rolle korrekt. Im allgemeinen haßte sie Menschen nicht so sehr wie er. Aber daß sie Mailand dankbar schwänzen würde, wenn er ihr sagte, sie werde nicht ausdrücklich erwartet, stand außer Zweifel. Den Umweg nach Venedig, nun ja, den würde sie entweder als neues Beispiel für sein scheußliches Benehmen auffassen, oder sie würde froh sein, daß er Bill Hurleys Mahnung beherzigte und langsamer trat; das hing ganz davon ab, wann und wie er ihr davon erzählte.

Mistler war entsetzt, daß er, obwohl die Ewigkeit ihm die Augen blendete wie eine Wüste, noch immer mühelos die Lügen planen konnte, die er auftischen wollte. In der Tat: Übung macht den Meister. Wenn er schon einmal dabei war, sich im Schnellverfahren von Plänen und Verpflichtungen zu befreien, konnte er doch gleich auch Anna anrufen und absagen. Halb acht. Um zu prüfen, wie aufmerksam die Haushälterin war, klingelte er, statt seinen Schlüssel zu benutzen. Madame Marie öffnete umgehend und erinnerte ihn daran, daß er eingeladen sei und bald aufbrechen Freude schöner Götterfunken