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Monika Felten

Geheimnisvolle Reiterin

Band 2:
Shadow in Gefahr

Roman

hockebooks

Überraschendes Wiedersehen

Pock! Pock! Pock!

Mit rhythmischen Schlägen trieb der Schmied die Nägel in Spikeys Huf.

Pock! Pock! Pock!

Das Klopfen wurde lauter. Julia bekam allmählich Angst, dass er Spikey wehtun würde, wenn er weiter so auf dem Huf herumhämmerte.

Pock! Pock! Pock!

Spikey wieherte ärgerlich und trat mit dem Hinterbein aus, doch der Schmied hielt die Fesselbeuge mit eisernem Griff umklammert. Inzwischen schlug er wie wild auf den Huf des armen Spikey ein.

Julia konnte das nicht länger mit ansehen. »Aufhören!«, schrie sie den Mann an und trat vor, um ihm den Hammer aus der Hand zu reißen.

Im gleichen Augenblick waren der Schmied und Spikey verschwunden. Es war dunkel. Julia fühlte die weichen Daunen ihres Kopfkissens und die wohlige Wärme der Bettdecke.

Pock! Pock! Pock!

Das Klopfen war immer noch da! Verschlafen tastete sie nach dem Lichtschalter und sah auf den Wecker. Fast zwei Uhr. Wer um alles in der Welt klopfte zu dieser nachtschlafenden Zeit an ihr Fenster?

Pock! Pock! Pock!

Die Schläge kamen in sehr kurzen Abständen. Etwas Dringendes schwang darin mit. Julia schlug die Decke zurück und schlüpfte aus dem Bett. Angst hatte sie keine. Svea und Carolin machten sich oft einen Spaß daraus, ihr über die Äste des großen alten Apfelbaums vor ihrem Schlafzimmerfenster einen Besuch abzustatten. Mitten in der Nacht waren sie allerdings noch nie gekommen.

Julia zog die Vorhänge zurück und spähte in die Dunkelheit hinaus. Der Mond verwandelte den Garten in eine verwunschene Landschaft aus Licht und Schatten, aber vor dem Fenster war niemand zu sehen. Die kahlen Äste des Apfelbaums waren leer und ragten wie knorrige Finger in den sternenübersäten Himmel.

Jetzt wurde ihr doch etwas mulmig zumute. Das Klopfen war eindeutig vom Fenster gekommen – oder hatte sie geträumt?

Eine winzige Bewegung, die Julia aus dem Augenwinkel sah, ließ sie erschrocken zusammenzucken. Da versteckte sich doch jemand in der Dunkelheit. Ja, wirklich!

Wieder bewegte sich etwas am Rande des Lichtscheins, der vom Fenster aus in die Äste des Apfelbaums fiel. Etwas Großes, Hellgekleidetes, das sich gleich darauf als ein Mädchen mit langen, fast weißen Haaren entpuppte und sie anlächelte.

Julia rieb sich die Augen. »Mailin?«, fragte sie ungläubig und erfreut zugleich. Dann fiel ihr ein, dass das Elfenmädchen sie gar nicht hören konnte, und sie öffnete hastig das Fenster. »Mailin?« Julia konnte nicht glauben, dass es wirklich das Elfenmädchen war, das da vor ihr stand.

»Hallo, Julia!«, sagte Mailin, als sei ihr nächtlicher Besuch ganz selbstverständlich, und kletterte durch das geöffnete Fenster ins Schlafzimmer. »Oh, hier ist es aber schön warm. Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.« Fröstelnd schlang sie die Arme um den Körper und blickte sich um. »Hier hat sich sehr viel verändert. Die ganzen Kisten sind weg und alles ist so schön eingerichtet. Ihr wart wirklich fleißig in den paar Tagen.«

»Paar Tage?« Julia lachte und schloss das Fenster, um die kalte Luft auszusperren. »Es ist fast neun Monate her, seit wir uns getroffen haben.«

»Neun Monate!« Mailin staunte. Enid hatte ihr erklärt, dass die Zeit in der Menschen- und Elfenwelt sehr unterschiedlich verlief, doch erst jetzt wurde ihr bewusst, was das bedeutete. »Bei uns sind nur wenige Tage vergangen.«

»Tatsächlich?« Julia griff nach ihrem Sweatshirt und zog es über den dünnen Schlafanzug. Dann ließ sie sich auf der Bettkante nieder und forderte Mailin auf, sich neben sie zu setzen. »Na, ich finde es jedenfalls Klasse, dass du wieder da bist«, sagte sie und strahlte das Elfenmädchen an. »Manchmal konnte ich selbst nicht mehr glauben, dass es dich wirklich gibt. Wenn ich das nicht gehabt hätte«, sie zeigte auf den Bogen und den Köcher an der Wand, »wäre ich vermutlich längst davon überzeugt, dass du nur in meiner Fantasie existierst.«

»Wie du siehst, bin ich ebenso wirklich wie du.« Mailin zupfte lachend an ihrem dünnen Lederhemd und deutete dann auf Köcher und Bogen. »Du hast hoffentlich niemandem von mir …«

»Nein, hab ich nicht. Ich hab dir versprochen zu schweigen, und daran halte ich mich auch. Die Geschichte hätte mir sowieso keiner geglaubt. Elfen! Die gibt es doch nicht.«

»Ich habe mich vorsichtshalber versteckt, als bei dir das Licht anging«, erklärte Mailin. »Hätte doch sein können, dass du in diese Klappmühle gekommen bist.«

»Klapsmühle?« Julia schmunzelte. »Hab ich das gesagt? Na, das ist nur so ein Spruch. Aber sag mal, warum bist du überhaupt gekommen? Willst du dich nur aufwärmen?«

»Aufwärmen schon, aber nicht nur.« Mailin wurde ernst. »Es ist wieder wegen Shadow.«

»Was ist mit ihm?«

»Er liegt im Sterben.«

»Was?« Bestürzt schlug Julia die Hände vor den Mund. Das niedliche schwarze Fohlen, das sie gemeinsam mit Mailin aus der Gefangenschaft befreit hatte, war todkrank? Das durfte nicht wahr sein. »Was hat er denn?«, fragte sie.

»Eine schreckliche Fieberkrankheit, die unsere Pferde bekommen, wenn sie sich zu lange in der Welt der Menschen aufhalten«, erklärte Mailin. »Es gibt zwar ein Heilmittel dagegen, doch die Pflanzen, aus denen das Mittel hergestellt werden kann, sind im Elfenreich ganz plötzlich alle verdorrt.«

»Ganz plötzlich? Und nur diese eine Pflanzensorte? Das ist aber sehr merkwürdig.«

»Das ist es. Enid vermutet wieder einen hinterhältigen Plan von Lavendra, aber wir haben jetzt keine Zeit, um uns darum zu kümmern. Wenn Shadow den Heiltrank nicht bis Sonnenaufgang bekommt, wird er sterben.«

»Und deshalb bist du hier?«

»Ja, die Pflanze, aus der das Mittel gebraut wird, wurde einst aus eurer Welt in das Elfenreich gebracht. Meine letzte Hoffnung ist es, sie hier zu finden.«

»Wie heißt sie denn?«

»Balsariskraut.«

»Balsariskraut? Nie gehört. Aber warte mal, wozu gibt es ein Lexikon!« Sie sprang vom Bett und trat vor ein Regal, das bis obenhin mit Büchern voll gestopft war. Gleich darauf kam sie mit einem besonders dicken Wälzer zurück und begann darin zu blättern. »Balsariskraut«, murmelte sie. »Ba…, Bak…, Bal…, Balmung …, Balsa, ah, hier. Oh nein, da steht nur was von Balsaholz, aber kein Balsariskraut.« Sie klappte das Buch zu und sah Mailin enttäuscht an. »Bist du sicher, dass es so heißt?«

»Ganz sicher.«

»Hm, mit dem Lexikon kommen wir also nicht weiter«, grübelte Julia. »Hast du denn wenigstens ein Bild von der Pflanze, oder kannst du mir beschreiben, wie sie aussieht?«

»Ein Bild nicht, aber ich habe ein paar von den vertrockneten Blättern mitgenommen, damit ich sie mit den Pflanzen hier vergleichen kann.« Mailin öffnete den kleinen Lederbeutel, den sie am Gürtel trug, und holte eine hölzerne Schachtel hervor. »Hier, das ist Balsariskraut«, sagte sie und reichte Julia die geöffnete Schachtel.

»So eine Pflanze habe ich noch nie gesehen«, murmelte Julia und fügte, als sie Mailins enttäuschte Miene sah, rasch hinzu: »Aber das will nichts heißen. Es gibt sicher Tausende von Pflanzen, die ich nicht kenne.« Plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf. »Weißt du was? Ich nehme das Blatt morgen mit in die Schule und zeige es Frau Schmidt-Malter, meiner Biolehrerin. Die weiß bestimmt, was das ist. Aber hast du überhaupt so viel Zeit?«

»Nach eurer Zeitrechnung habe ich drei Tage, um die Pflanze zu suchen«, erklärte Mailin. »Ich wäre sehr froh, wenn du jemanden finden würdest, der uns weiterhelfen kann.«

»Gut, dann machen wir es so. Wenn Frau Schmidt-Malter es nicht weiß, dann keiner. In Pflanzenkunde ist sie megaschlau.« Man konnte ihr ansehen, wie glücklich sie über den Einfall war. »Wir treffen uns morgen Nachmittag wieder im Wald. Am besten an der Stelle, an der du mich gefunden hast, als ich vom Pferd gefallen bin.«

»Das ist gut. Ich hoffe nur, deine Lehrmeisterin kennt die Pflanze.«

»Und ich hoffe, dass sie hier schon zu finden ist. Immerhin haben wir erst Frühling und es gibt immer noch Schnee und Frost. Allzu viel Grünes traut sich da nicht aus der Erde und …« Julia verstummte, weil Mailin ganz bestürzt dreinblickte. Offensichtlich hatte das Elfenmädchen nicht daran gedacht, dass die Vegetation in der Menschenwelt zum Teil noch im Winterschlaf war. »Mach dir keine Sorgen«, fügte sie hinzu und lächelte aufmunternd. »Hier in der Nähe gibt es große Gärtnereien mit Gewächshäusern, da wachsen sogar exotische Pflanzen. Wenn wir wissen, was das für ein Kraut ist, finden wir bestimmt auch eine Lösung.« Trotz aller Zweifel bemühte sie sich zuversichtlich zu klingen. Und tatsächlich hellte sich Mailins Miene etwas auf.

»So«, erklärte Julia und stand auf, »und jetzt schaue ich mal nach, ob ich was Warmes zum Anziehen für dich finde, sonst wird Shadow womöglich gesund und du liegst mit Fieber im Bett.« Sie zwinkerte ihrer Freundin zu, öffnete die Schranktüren, suchte ein T-Shirt und einen dicken Pulli, eine Thermohose, eine Strickmütze und eine warme Jacke heraus und reichte es Mailin. »Probier mal, ob es dir passt. Socken und Boots hole ich gleich.«

Sie warf einen Blick auf die Uhr. Fast halb drei. Das würde ein langer Tag werden, aber inzwischen war sie hellwach. An Schlaf war nicht mehr zu denken. »Wenn die Kleiderfrage geklärt ist, schleiche ich in die Küche und stibitze uns etwas zu essen aus dem Kühlschrank«, sagte sie gut gelaunt. »Zwei bis drei Stunden kannst du gern noch hier bleiben und dich aufwärmen. Meine Eltern stehen erst um sechs auf. Da haben wir noch genug Zeit, um zu quatschen.«

Ein langer Vormittag

»Julia!« Melanie stieß ihrer Tischnachbarin den Ellenbogen in die Rippen und Julia zuckte erschrocken zusammen. »Herr Schönborn hat dich etwas gefragt«, zischte Melanie so unauffällig wie möglich. Doch es war zu spät, der grauhaarige Mathelehrer stand bereits vor ihrem Tisch. »Mir scheint, der Sandmann hat unser Fräulein Wiegand vergangene Nacht völlig vergessen«, lästerte er. »Und jetzt muss sie den versäumten Schlaf in der Schule nachholen.«

»Das …, das stimmt nicht«, stammelte Julia und blinzelte Herrn Schönborn aus geröteten Augen an. »Ich bin nur etwas müde.«

»So, nur etwas müde.« Der Mathelehrer hob unheilvoll eine Augenbraue. »Dann hast du sicher mitbekommen, welch wichtige geometrische Lehre uns der griechische Philosoph Thales hinterlassen hat.«

Thales? Julia überlegte fieberhaft. Der Name sagte ihr gar nichts. Hatten sie gerade darüber gesprochen oder erlaubte sich Herr Schönborn mit ihr nur wieder einen seiner berüchtigten Scherze, um sie vor den anderen lächerlich zu machen?

»Nun? Ich warte.« Herr Schönborn klopfte ungeduldig mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte. In der Klasse war es totenstill. Alle starrten sie an.

Wie peinlich! Julia spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Was sollte sie nur sagen? Sie hatte keine Ahnung. Dabei waren ihr nur ganz kurz die Augen zugefallen.

»Im Halbkreis ist …«, wisperte Melanie, verstummte aber, als sie Herrn Schönborns Blick bemerkte.

»Du tätest gut daran, dein Wissen anzuwenden, wenn du gefragt bist, Melanie«, sagte er tadelnd und wandte sich seufzend wieder an Julia. »Gehe ich recht in der Annahme, dass dir der Name Thales völlig unbekannt ist?«, fragte er.

Julia nickte stumm und blickte betreten zu Boden. Wie hatte ihr das nur passieren können? Gut, Geometrie war langweilig, aber Herr Schönborn war an der Schule seit Generationen für seine Strenge bekannt, da durfte man sich keinen Patzer erlauben. »Na, dann wirst du deine Bildungslücke mit einem Referat über diesen wichtigen griechischen Philosophen und die Grundregeln der Geometrie schließen«, hörte sie Herrn Schönborn sagen. »Morgen kennst du dich auf dem Gebiet sicher bestens aus und wirst uns einiges darüber berichten können.« Mit diesen Worten ging er wieder zur Tafel.

»Mist!« Julia kamen fast die Tränen. Ausgerechnet heute, wo sie mit Mailin die Balsariskrautpflanze suchen wollte, bekam sie eine Strafarbeit aufgebrummt.

Die folgenden vier Schulstunden brachte sie mehr schlecht als recht hinter sich. Bloß nicht wieder einnicken, ermahnte sie sich immer wieder. Bloß nicht noch eine Strafarbeit kassieren.

Endlich läutete es zur letzten Stunde – Biologie! Darauf hatte Julia schon den ganzen Vormittag gewartet. Gleich nach dem Unterricht wollte sie Frau Schmidt-Malter das getrocknete Blatt zeigen, doch der Zeiger ihrer Armbanduhr schien sich überhaupt nicht vorwärts bewegen zu wollen.

Ohne echtes Interesse verfolgte sie, wie die Lehrerin anhand von Dias das Ökosystem Regenwald erklärte und dabei immer wieder kleine Erlebnisse von der Amazonas-Expedition zum Besten gab, an der sie vor fünfzehn Jahren teilgenommen hatte.

12.30 Uhr. Noch eine halbe Stunde.

»… faszinierend zu sehen, wenn sich eine neun Meter lange Anakonda …«, hörte Julia Frau Schmidt-Malter sagen.

Tick! 12.31 Uhr. Wieder eine Minute. Julia seufzte. Das würde die längste Biostunde ihres Lebens werden. Sie gähnte. Das Dämmerlicht im Klassenzimmer trug nicht gerade dazu bei, ihre Müdigkeit zu vertreiben. Um sich abzulenken, fing Julia an, die Kästchen des Karopapiers auf dem Notizblock rautenförmig auszumalen. Erst eine Raute aus vier Kästchen, dann eine aus zwölf drum herum. Als sie mit der Achtundzwanziger-Raute anfangen wollte, erlöste sie die Pausenglocke. Schulschluss!

Frau Schmidt-Malter erklärte noch rasch das letzte Dia – eine Luftaufnahme, auf der die Windungen des Amazonas besonders gut zu sehen waren. Endlich schaltete sie den Projektor aus und die Mädchen und Jungen der siebten Klasse packten ihre Sachen zusammen.

Julia ließ sich Zeit damit. Ungeduldig wartete sie, bis auch der letzte Schüler den Biologieraum verlassen hatte, dann nahm sie die Schachtel mit dem trockenen Blatt zur Hand und ging zur Lehrerin.

»Ich würde Sie gern etwas fragen«, sagte sie höflich.

»Julia!« Frau Schmidt-Malter zog den Stecker des Diaprojektors aus der Steckdose, rückte die verrutschte Brille gerade und lächelte. »Was gibt es denn? Möchtest du noch etwas über den Amazonas wissen? Eben hatte ich nicht den Eindruck, dass dich das Thema sonderlich interessiert.«

»Ähm, es geht um etwas anderes. Ich wollte Sie fragen, ob Sie mir sagen können, zu welcher Pflanze dieses Blatt gehört?« Julia öffnete die Schachtel und reichte sie der Lehrerin.

»Ein Blatt?« Frau Schmidt-Malter nahm die Schachtel in Empfang. »Es ist ja ganz vertrocknet«, stellte sie fest. Sie betätigte den Schalter, der die Jalousien nach oben fahren ließ. »Erst einmal brauche ich Tageslicht«, sagte sie. »Bei Neonlicht sieht man nicht so gut.« Sie trat ans Fenster. »Ah, das Blatt hat fünf Finger. Sie sind zwar aufgerollt, aber noch gut zu erkennen.« Frau Schmidt-Malter ergriff das Blatt vorsichtig am Stiel und betrachtete es prüfend. »Das könnte …«, murmelte sie nachdenklich. »Das sieht aus wie …« Plötzlich riss sie die Augen auf. »Julia, wo hast du das her?«

»Das hab ich …, also das war …, das hat meine Mutter beim Laubharken im Garten gefunden.« Auf so eine Frage war Julia nicht vorbereitet. Die Reaktion ihrer Lehrerin überraschte sie. Warum war sie plötzlich so außer sich? Es war doch nur ein ganz gewöhnliches Blatt. »Was ist damit?«, fragte sie, bemüht, sich die Aufregung nicht anmerken zu lassen. »Wissen Sie, von welcher Pflanze es stammt?«

»Oh ja, das weiß ich. Jedenfalls bin ich mir ziemlich sicher.« Frau Schmidt-Malter drehte das Blatt in der Hand und betrachtete es von allen Seiten. »Beim Laubharken im Garten gefunden, sagst du?«

»Ja. Bestimmt hat es der Wind dorthin geweht. Meine Mutter und ich haben den ganzen Sonntag gerätselt, woher es stammt«, log Julia. »Wir haben so eine Pflanze noch nie gesehen.« Sie konnte es kaum abwarten, mehr über die geheimnisvolle Pflanze zu erfahren, doch die Lehrerin ließ sich Zeit.

»Das wundert mich nicht«, sagte sie und gab Julia die Schachtel zurück.

»Wieso?«

»Weil es verboten ist, solche Gewächse anzubauen«, erklärte Frau Schmidt-Malter. »Das ist Cannabis, oder auch Hanf. In Deutschland ist der Anbau weitgehend verboten. Die Pflanze enthält berauschende Stoffe und fällt unter das Betäubungsmittelgesetz.« Sie zwinkerte Julia zu. »Da habt ihr wohl einen Nachbarn mit einer ganz besonderen Vorliebe.«

»Hanf?« In Julias Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wenn der Anbau verboten war, dann war Mailin vergeblich gekommen. Und wenn sie auch hier keine Pflanze fand, dann …, dann … Julia weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu denken. Nein, das konnte nicht sein. Shadow durfte nicht sterben. »Aber vielleicht gibt es sie in einer Gärtnerei«, überlegte sie laut. »Oder …«

»Das halte ich für unwahrscheinlich. Hanfanbau ist bei uns nur in Ausnahmefällen erlaubt und auch dann nur unter sehr strengen Auflagen«, sagte die Lehrerin. »Ich kann mir eher vorstellen, dass das Blatt aus dem Fenster eines heimlichen Hobbygärtners geweht wurde.«

»Und wilden Hanf gibt es hier gar nicht?« Julia war maßlos enttäuscht und total unglücklich. Warum musste Mailin ausgerechnet nach einer Pflanze suchen, deren Anbau verboten war?

»So weit ich weiß, nicht. Obwohl …« Frau Schmidt-Malter lächelte. »Im vergangenen Sommer war ein Bericht im Zwissauer Tageblatt: Ein auf Drogensuche abgerichteter Polizeihund hatte tatsächlich eine Hanfpflanze unmittelbar vor dem Zwissauer Polizeirevier entdeckt.« Sie nahm die Dias aus dem Projektor und packte sie ein. »Mit viel Glück kann man sie vielleicht in freier Natur finden – wenn man einen Drogenhund hat.«

… einen Drogenhund hat. Die Worte erinnerten Julia an etwas. Dann hatte sie eine Idee. Es war zwar nur eine winzige Hoffnung mit wenig Aussicht auf Erfolg, aber Julia war entschlossen, alles zu versuchen, um Mailin zu helfen. Plötzlich hatte sie es sehr eilig. »Danke, Frau Schmidt-Malter«, sagte sie, griff nach ihrer Schultasche und hastete zur Tür. Sie musste jetzt ganz schnell nach Hause und Svea anrufen.

»Einen Ausritt? Mit Filko? Heute Nachmittag?« Svea war ehrlich überrascht. »Das sieht schlecht aus. Ich schreib morgen eine Vokabelarbeit. Du weißt doch, mit Englisch stehe ich ziemlich auf Kriegsfuß. Ich muss den ganzen Nachmittag lernen.«

»Bitte komm mit, Svea!«, flehte Julia. »Es ist wirklich sehr wichtig.«

»Nanu? Das klingt ja, als gehe es um Leben und Tod. Und warum willst du Filko mitnehmen?«

»Dienstgeheimnis!«, erwiderte Julia wichtig.

»Oh, so ist das. Du brauchst also Filkos Spürnase. Wer wurde denn entführt?« Svea kicherte.

»Entführt! Wie kommst du denn da drauf? Sondereinsatz der Drogenfahndung!«

»Drogen? Jetzt machst du mich aber neugierig. Für Drogen ist Filko natürlich genau der Richtige.« Svea legte den Hörer beiseite und Julia vernahm undeutlich, wie sie sich mit ihrer Mutter unterhielt. Dann meldete sich Svea wieder. »Geht klar!«, sagte sie fröhlich. »Meine Mutter ist zwar noch krank, aber sie fährt mich. Ich darf allerdings nicht so lange wegbleiben, weil ich noch lernen muss.«

»Also um drei auf der Danauer Mühle?«, fragte Julia. »Drei Uhr, verstanden. Oberwachtmeisterin Svea und ihr Diensthund sind rechtzeitig zur Stelle.«

So schnell wie an diesem Tag hatte Julia ihre Spaghetti schon lange nicht mehr verputzt. Es war schon fast zwei Uhr und sie musste sich noch mit Mailin treffen, bevor sie zur Danauer Mühle fuhr.

»Du hast es aber eilig«, wunderte sich Anette Wiegand mit einem Blick auf den blitzblanken Teller ihrer Tochter. »Oder bist du am Verhungern? In der Küche gibt’s noch Nachschub.«

»Keine Zeit!« Julia raffte das Geschirr zusammen und trug es zur Spülmaschine. »Ich muss ganz schnell zum Reiterhof«, sagte sie im Hinausgehen. »Svea und ich wollen ausreiten.«

»Hast du denn keine Hausaufgaben auf?«, erkundigte sich ihre Mutter.

»Nicht viel, die mach ich später!«, rief Julia aus der Küche. »Es ist so schönes Wetter. Das wollen wir unbedingt ausnutzen.«

»Aber komm nicht so spät nach Hause. Vati und ich wollen heute Abend ins Konzert nach Zwissau. Um halb sieben fahren wir los. Es wäre schön, wenn du bis dahin wieder zu Hause sein könntest.«

»Ich kann nichts versprechen.« Mit der Reitkappe auf dem Kopf schaute Julia durch die Tür zum Esszimmer. »Svea muss heute Abend für eine Vokabelarbeit büffeln, vielleicht helfe ich ihr dabei. Ich nehme sicherheitshalber meinen Haustürschlüssel, falls ich später komme. Tschüss, ich muss los!«

»Viel Spaß!«, rief Anette Wiegand ihrer Tochter noch nach, doch da fiel die Haustür bereits klackend ins Schloss.

Als Julia wenig später den Schotterweg erreichte, der zum Reiterhof führte, war sie völlig außer Atem. Seit dem Wochenende hatte sich die Luft deutlich erwärmt und die Sonne schien von einem fast wolkenlosen Himmel. Ihre Wangen waren gerötet und sie schwitzte unter der Reitkappe. Durst hatte sie auch, aber nichts zum Trinken mitgenommen, weil ihre Daunenjacke nur kleine Taschen besaß und sie reichlich Essen für Mailin eingepackt hatte. Auf der Danauer Mühle gab es einen Getränkeautomaten, doch bevor sie zum Reiterhof fuhr, musste sie erst mit Mailin sprechen.

Angestrengt bemüht, nicht ständig an Limo oder kühlen Orangensaft zu denken, bog sie vom Schotterweg auf den schmalen Pfad ein, der an einem Feld entlang in den Danauer Forst führte. Unzählige Huftritte hatten sich tief in den weichen Boden gedrückt und machten den Pfad für Radfahrer und Wanderer unpassierbar. Julia musste mit ihrem Mountainbike auf den Acker ausweichen und schieben.

Im Wald kam sie auch nicht besser vorwärts. Zum Glück war es nicht mehr weit bis zu der kleinen Lichtung, auf der sich Svea und Carolin vor einigen Monaten einen behelfsmäßigen Springgarten aufgebaut hatten. Inzwischen war der Platz auf dem Reiterhof allgemein bekannt und viele Mädchen machten auf ihren Ausritten einen Abstecher dorthin. Zu Julias Erleichterung war der Platz heute frei.

Sie lehnte ihr Mountainbike an einen Baum und wartete. Im Wald war es sehr still. Außer dem munteren Gesang der Vögel, die lautstark ihre Reviergrenzen verkündeten, war nicht viel zu hören. Julia war sicher, dass Mailin sie längst bemerkt hatte.

»Endlich! Ich dachte schon, du hättest mich vergessen.« Trockenes Laub am Boden raschelte und plötzlich stand das Elfenmädchen vor ihr. Obwohl Julia Mailins Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, schon kannte, zuckte sie erschrocken zusammen, als die Elfe so überraschend vor ihr auftauchte.

Julia deutete auf ein paar Büsche etwas weiter entfernt, die schon die ersten grünen Blätter trugen. »Wir gehen besser dorthin«, sagte sie leise. »Es kommen neuerdings häufiger Reiter hierher. Hinter den Büschen wird man uns nicht so leicht entdecken.«

»Hast du etwas herausgefunden?«, fragte Mailin, während sie neben Julia herging, die ihr Mountainbike durch das Laub schob.

»Ja, etwas schon, aber leider nichts Erfreuliches.« Julia legte ihr Rad auf den Boden und setzte sich im Schutz der Büsche hin. »Meine Lehrerin kannte die Pflanze, doch was sie mir erzählt hat, ist nicht gerade ermutigend.«

»Erzähl es mir.« Mailin setzte sich ebenfalls und sah ihre Freundin gespannt an.

Julia holte tief Luft und sagte: »Also, die Pflanze, die du Balsariskraut nennst, heißt bei uns Cannabis oder Hanf. Leider ist ihr Anbau verboten …«

Als sie Mailin alles erzählt hatte, blickte das Elfenmädchen betroffen zu Boden. »Das ist nicht wahr. Das darf einfach nicht wahr sein! Ach, Shadow!« Sie griff nach einem Ast und schleuderte ihn in die Büsche. »Dann ist also alles umsonst gewesen.«

»Wir haben noch mehr als zwei Tage«, bemerkte Julia mitfühlend. »Ich verspreche dir, dass ich alles versuchen werde, um eine Cannabispflanze für dich aufzutreiben. Wenn wir heute nichts finden, kann ich meinen Vater bestimmt überreden mal im Internet nachzusehen. Da gibt es jede Menge Informationen über alles Mögliche.«

»Internet?«

»Ja. Das ist ein weltweites Datennetz. Man kann zu Hause vom Computer aus …« Julia brach den Erklärungsversuch ab und sagte: »Ach, das ist viel zu kompliziert zu erklären. Heute suchen wir erst mal mit Filko.«

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass dieser Hund was findet?«

»Warum nicht? Schließlich ist er dafür ausgebildet worden.«

»Aber der Wald ist riesig. Wo willst du anfangen?«

»Ich hab schon eine Idee«, erklärte Julia eifrig und deutete in den Wald hinein. »Dahinten, eine knappe halbe Stunde von hier, gibt es eine alte Gärtnerei, die vor drei Jahren geschlossen wurde. Da stehen mindestens ein Dutzend großer Gewächshäuser und alles ist ganz verwildert. Vielleicht hat sich dort eine Cannabispflanze ausgesät.«

»Ja, vielleicht.«

Das klang wenig zuversichtlich, aber Julia war von ihrer Idee so angetan, dass sie nicht darauf einging. »Ich werde gleich mit Svea dorthin reiten. Mir fällt kein anderer Ort ein, an dem wir sonst suchen könnten.« Sie stand auf und schnappte sich ihr Fahrrad. »In spätestens zweieinhalb Stunden bin ich wieder hier, dann werden wir ja sehen.«