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Monika Felten

Geheimnisvolle Reiterin

Band 4:
Rätsel um White Lady

Roman

hockebooks

Was davor geschah in Band 3

Gefangen im Elfenreich

Julia und ihre Freundinnen Svea und Carolin von der Danauer Mühle sind völlig aus dem Häuschen: Gut Schleen veranstaltet Mounted Games. Begeistert beginnen sie mit der Vorbereitung, doch zehn Tage vor dem Turnier passiert das große Unglück: Julia stürzt bei einem riskanten Manöver mit Spikey und bricht sich den Arm. Damit sind die Mounted Games für sie gelaufen. In ihrer Verzweiflung bittet Julia ihre Freundin Mailin um Hilfe. Kann das Elfenmädchen ihr mit einem Genesungszauber helfen? Doch dafür müssen die beiden die Elfenwelt betreten.

Ches Dalton

»Da ist er!« Vorsichtig spähte Julia zum Pausenhof der Realschule hinüber, wo sich ein hoch gewachsener Junge mit schulterlangem schwarzem Haar auffällig unauffällig den Fahrradständern des Albert-Schweitzer-Gymnasiums näherte.

Die beiden Schulen waren nur durch einen schmalen, asphaltierten Weg voneinander getrennt und die Schüler beider Seiten nutzten häufig die große Pause, um Freunde zu besuchen.

»Cool!« Svea seufzte. »Sieht der gut aus. Der ist doch mindestens sechzehn. Kein Wunder, dass Carolin sich in letzter Zeit auf der Danauer Mühle so rar macht. Für den würde ich meine Yasmin auch in der Box lassen.«

»Svea!« Julia schüttelte tadelnd den Kopf. »Das hätte ich aber nicht von dir gedacht. Wo du doch so auf Ches Dalton stehst.« Sie grinste. Sveas Zimmer war seit den Weihnachtsferien über und über mit Postern des umschwärmten Popstars tapeziert, ihr Discman spielte nur noch seine Hits und sie kaufte jede Zeitschrift, in der ein Artikel ihres Schwarms zu finden war. »Ich dachte immer, gegen den hätte kein normaler Sterblicher eine Chance.«

»Das ist gemein«, schmollte Svea. »Du bist ja bloß neidisch, weil …«

In diesem Augenblick knuffte ihr Julia mit dem Ellenbogen in die Seite. »Psst, da ist Carolin!«

Die beiden beobachteten, was geschah. Der Junge hatte die Fahrradständer inzwischen erreicht und lehnte lässig an einem Baum.

Carolin schien ihn zunächst nicht zu sehen, aber dann entdeckte sie ihn. Ihre Miene hellte sich auf, sie eilte lächelnd auf ihn zu und rief eine kurze Begrüßung. Er nahm sie in die Arme und küsste sie leidenschaftlich. »Wow!«, entfuhr es Julia.

Svea verschlug es glatt die Sprache.

Die beiden hatten schon vermutet, dass es seit Kurzem etwas in Carolins Leben gab, das ihr sogar wichtiger war als Pferde. Bisher hatten sie aber immer geglaubt, dass es sich dabei nur um eine Schwärmerei handelte.

»Sie geht mit ihm«, stellte Svea schließlich halb entrüstet, halb neidisch fest. »So richtig! Mit Küssen und so.« Sie seufzte und warf einen schwer zu deutenden Blick auf das eng umschlungene Pärchen, das die Welt um sich herum offensichtlich total vergessen hatte.

»Komm, lass uns gehen«, meinte Julia, die ein blödes Gefühl dabei hatte, die Verliebten noch länger zu beobachten. Sie wandte sich um und zupfte Svea am Ärmel. »Wir haben genug gesehen.«

»Das hätte sie mir aber wirklich sagen können«, schimpfte Svea auf dem Rückweg zum Schulgebäude. »Ich meine, immerhin bin ich ihre beste Freundin. Der kann man so etwas doch erzählen, oder? Gefragt habe ich sie schließlich oft genug, da muss sie mich doch nicht anlügen. Also, ich finde es total bescheuert, dass wir erst Detektiv spielen müssen, um herauszufinden, warum sie plötzlich kaum noch auf der Danauer Mühle anzutreffen ist. Dabei …«

»Vielleicht wollte sie erst einmal abwarten, ob es was Ernstes ist«, unterbrach Julia den Redefluss ihrer Freundin.

»Ernst oder nicht, sie hätte es mir sagen müssen«, beharrte Svea, holte zwei Kaubonbons aus der Tasche und reichte Julia einen davon. »Schließlich wollen wir bald wieder mit dem Training für die Mounted-Games beginnen. Aber ohne Carolin sind wir keine Mannschaft. Wenn sie nicht mehr reiten will, könnte sie sich wenigstens schon mal dazu äußern, wie es ohne sie weitergehen soll.«

»Carolin lässt die Mannschaft nicht hängen, da bin ich mir ganz sicher«, erklärte Julia. »Bis wir wieder auf die Wiesen können, dauert es sowieso noch ein paar Wochen. Ich war gestern dort und habe mit Frau Deller gesprochen. Sie sagt, im Februar habe es so viel geregnet, dass an ein Training im Freien vor Ende April nicht zu denken ist.«

»So spät erst?« Svea machte ein langes Gesicht.

»Wie es aussieht, ja.« Julia nickte und lächelte viel sagend. »Also ich würde mir wegen Carolin nicht den Kopf zerbrechen. Immerhin wissen wir jetzt, warum sie in letzter Zeit so beschäftigt ist. Das muss aber noch lange nicht heißen, dass sie in ein paar Wochen immer noch mit dem Typen geht.« Sie zwinkerte Svea zu. »Du weißt doch, Pferde sind bei Liebeskummer die beste Ablenkung.«

»Uih, wie gemein.« Nun lachte auch Svea. »Nicht dass wir Carolin ihr Glück nicht gönnen, aber …«

»Svea, Julia – wartet mal!« Von hinten näherten sich Schritte. Es war Moni. Die sommersprossige Vierzehnjährige besuchte zwar die benachbarte Realschule, ließ sich aber nur selten auf dem Pausenhof des Gymnasiums blicken.

»Hallo Moni«, riefen Svea und Julia fast gleichzeitig und Svea fügte hinzu: »Was hast du denn mit deinen Haaren gemacht?«

»Abgeschnitten!« Lachend schüttelte Moni den fransigen Kurzhaarschnitt. »Lange Haare brauchen so ewig, bis sie nach dem Waschen trocken sind. Jetzt ist es besser. Mit dem Fön geht es ruck, zuck.« Sie fuhr sich mit den Fingern durch die kurzen roten Locken und fügte hinzu: »Außerdem sieht das viel modischer aus.«

»Stimmt, das ist ein super Schnitt.« Julia strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Sie hatte auch schon mit dem Gedanken gespielt, ihre langen braunen Haare abschneiden zu lassen, sich aber bisher nicht getraut. Es hatte so viele Jahre gedauert, sie wachsen zu lassen! Und vielleicht standen ihr kurze Haare gar nicht … Insgeheim bewunderte sie Moni für ihren Mut. Der neue Haarschnitt war frech und sportlich und passte super zu Monis neuer Brille.

»Ich hab hier was für dich«, hörte sie Moni sagen und sah, wie diese Svea einen Zeitungsausschnitt reichte.

»Was ist das?«, fragte Svea.

»Ein Artikel aus dem Zwissauer Tageblatt«, erklärte Moni und fügte hinzu: »Von gestern. Lies mal. Das interessiert dich bestimmt.« Sie machte ein wichtiges Gesicht und beobachtete, wie Svea sich in den Artikel vertiefte.

»Worum geht es denn?«, fragte Julia und schaute Svea über die Schulter. »Oh, die Westerntage in Selkau.« Sie runzelte die Stirn und überflog die ersten Zeilen. Was war daran so wichtig? Die Westerntage waren doch nichts Besonderes. Sie fanden in jedem Sommer in Selkau statt. Vor der Kulisse eines alten Steinbruchs wurden auf einer Freilichtbühne kleine Episoden aus bekannten Wildwestabenteuern nachgespielt. Die Schauspieler waren stilecht kostümiert und ritten sogar auf echten Pferden. Das Spektakel dauerte eine ganze Woche. Jeden Tag gab es zwei Aufführungen und zahlreiche andere Aktivitäten, die das Herz eines jeden Country- und Westernfans höher schlagen ließen. Zuschauer aus ganz Deutschland kamen busweise angereist, um die Show zu sehen. Julia war auch schon einmal dort gewesen. Vor allem die halsbrecherischen Stunts zu Pferde und die Indianer, die ohne Sattel im Galopp gekonnt durch die Arena preschten, hatten es ihr angetan. Aber warum …?

»Ches Dalton!«, rief Svea in diesem Augenblick begeistert aus. »Ches Dalton kommt nach Selkau!« Sie ließ die Zeitung sinken und schaute Moni mit leuchtenden Augen an. »Das ist ja Wahnsinn«, stieß sie entzückt hervor. »Einfach Wahnsinn. Ich kann es gar nicht glauben. Da muss ich in diesem Jahr unbedingt hin. Vielleicht bekomme ich ja ein Autogramm oder …«

»Jetzt lies doch erst mal weiter.« Moni lachte, weil Sveas Gesicht plötzlich einen so verklärten Ausdruck angenommen hatte. »Das war noch nicht alles.«

»Nicht alles?«

»Nein! Lies mal den letzten Absatz.« Moni war die Ungeduld nun deutlich anzumerken. Damit es schneller ging, nahm sie die Zeitung kurz an sich, suchte die besagte Stelle heraus und drückte sie Svea dann wieder in die Hand, während sie mit dem Finger auf den Text tippte. »Da!«

Jetzt wurde auch Julia neugierig. Sie schob sich dichter an Svea heran und versuchte über deren Schulter hinweg den letzten Absatz des Berichts zu lesen.

»… suchen die Initiatoren der Westerntage noch engagierte Reiter und Reiterinnen mit Ponys, die Lust haben, als Reiterstatisten bei den Aufführungen mitzuwirken. Nähere Informationen erhalten interessierte Reiter und Reiterinnen ab vierzehn Jahren unter der Nummer …«

»Das glaube ich nicht«, stieß Svea fassungslos hervor. »Das ist doch bestimmt ein Scherz – oder? Der 1. April ist doch erst in drei Wochen!« Sie ließ die Zeitung sinken und sah Julia mit glänzenden Augen an. »Stell dir mal vor«, schwärmte sie. »Ches Dalton kommt nach Selkau. Für einen ganzen Monat! Und ausgerechnet jetzt suchen sie dort Reiterstatisten mit Ponys.« Plötzlich nahm ihr Gesicht einen entschlossenen Ausdruck an. »Da rufe ich gleich heute Nachmittag an und bewerbe mich als Reiterstatist«, sagte sie. Doch dann fügte sie etwas unsicher hinzu: »Hoffentlich ist es dafür nicht schon zu spät. Von wann war die Zeitung noch mal?« Sie betrachtete den Zeitungsauschnitt eingehend und suchte nach dem Datum.

»Von gestern.« Moni schüttelte lachend den Kopf. So aufgeregt hatte sie Svea noch nie erlebt. »Du kannst aber ganz beruhigt sein. Da steht, dass sie zunächst alle Anrufe sammeln. Alle, die ihnen am besten geeignet erscheinen, werden dann in zwei Wochen zu einem Casting eingeladen.«

In diesem Augenblick verkündete die Pausenglocke den Unterrichtsbeginn.

»Oh, jetzt aber schnell.« Moni wandte sich um und machte sich auf den Rückweg.

»Kann ich den Artikel behalten?«, rief Svea ihr hinterher.

»Na, klar!«, erwiderte Moni. »Ich hab ihn doch extra für dich mitgebracht!«

Mailins Geheimnis

Der abnehmende Mond warf sein silbernes Licht auf die Wiesen und Wälder des Auetals, jener wildromantischen Landschaft aus saftigen Weiden, hoch aufragenden Erlenhainen und murmelnd dahinfließenden Bächen, in der die Pferde des Elfenkönigs die Sommermonate verbrachten.

Es war eine laue Sommernacht, warm und still. Mit Beginn der Abenddämmerung hatte sich eine fast andächtige Ruhe eingestellt. Eine Ruhe, die nur hin und wieder vom leisen Schnauben der Schimmel oder den gedämpften Geräuschen der Hufe unterbrochen wurde.

Fion lag auf einem Hügel im hohen Gras, hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und kaute gedankenverloren auf einem langen Halm, während er über die Herde des Elfenkönigs und den Schlaf des Elfenmädchens wachte, das zusammengerollt neben ihm lag. Mailin.

Er richtete sich ein wenig auf und sah sie an, aber die junge Pferdehüterin hatte ihm den Rücken zugewandt. Die langen weißblonden Haare verdeckten ihr Gesicht und sie rührte sich nicht, doch die gleichmäßigen Atemzüge verrieten, dass sie tief und fest schlief.

Fion seufzte und ließ sich wieder ins Gras sinken. Mailin war seine beste Freundin. Gemeinsam waren sie vor drei Jahren in den Kreis der königlichen Pferdehüter aufgenommen worden und seitdem unzertrennlich.

Wie Mailin hatte auch er seine Familie aus Liebe zu den Pferden verlassen, um sich um die königlichen Schimmel zu kümmern, die schönsten und stolzesten Pferde im Elfenreich. Und wie Mailin hatte er diesen Entschluss nicht bereut.

Wie Mailin? Fion runzelte nachdenklich die Stirn. Inzwischen war er sich gar nicht mehr so sicher, dass Mailin nicht doch von Heimweh geplagt wurde. Das Elfenmädchen hatte sich in den letzten Wochen sehr verändert. Seit Staja Ame, das schwarze Fohlen des Prinzen Liameel, das Mailin so liebevoll Shadow nannte, eines Nachts von den Weiden entführt worden war, hatte Mailin sich mehr und mehr von ihm zurückgezogen. Und obwohl sie versuchte so zu tun, als wäre nichts, spürte er doch, dass sie etwas vor ihm verbarg.

Dreimal schon war sie einfach verschwunden, ohne ihm zu sagen, wohin sie ritt. Schlimmer noch, sie vernachlässigte sogar ihre Pflichten am Hofe und er hatte sich schon mehrfach eine Ausrede einfallen lassen müssen, um sie vor einer Strafe zu schützen. Wenn sie dann am Hofe weilte, war sie mit den Gedanken oft abwesend. Zunächst hatte Fion es noch auf Shadow zurückgeführt. Das Fohlen war schwer erkrankt, nachdem es auf wundersame Weise plötzlich wieder aufgetaucht war, aber selbst nachdem Mailin – mal wieder unter sehr mysteriösen Umständen – das dringend erforderliche Balsariskraut herbeigeschafft und Shadow damit gerettet hatte, war es mit ihr nicht besser geworden.

Und obwohl der König sie vor wenigen Tagen zur »Beria's roche« – Beschützerin der Pferde – ernannt und ihr die ehrenvolle Aufgabe übertragen hatte, für das Fohlen des Prinzen Liameel zu sorgen, bis dieser alt genug sein würde, sich selbst um sein Pferd zu kümmern, war sie ständig mit anderen Dingen beschäftigt. Inzwischen war Fion ganz sicher, dass sie ein Geheimnis hatte, aber jedes Mal, wenn er versuchte mit ihr darüber zu reden, wich sie ihm aus und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung. Mailins beharrliches Schweigen machte Fion sehr zu schaffen, so sehr, dass er manchmal sogar schon an ihrer Freundschaft zweifelte …

»Ah! … Nein! … Zurück!«

Mailin warf sich herum und schlug Fion mit der Hand ins Gesicht.

»Au!« Der junge Pferdehüter sprang auf und rieb sich die Nase, doch als er mit Mailin schimpfen wollte, bemerkte er, dass sie immer noch schlief.

»Julia, pass auf!« Mailins Atem ging schnell und ihre Lider flatterten. Offensichtlich durchlebte sie gerade einen sehr heftigen Alptraum. Sie bewegte sich auf dem Boden hin und her und schlug um sich, als wehre sie einen unsichtbaren Feind ab. Dabei stöhnte und keuchte sie wie unter großer Anstrengung und rief: »Julia, pass auf! Da ist … Lavendra! … Ah, nein … sie hat Enid …« Für Bruchteile von Sekunden überlegte Fion, ob er Mailin wecken sollte, doch dann entschied er sich anders. Lavendra, Enid, Julia … Der Traum hatte vielleicht etwas mit Mailins Geheimnis zu tun. Obwohl er sich dabei wie ein Schuft vorkam, beobachtete Fion Mailin weiter und verhielt sich ganz ruhig.

»Gohin, lauf!«, rief Mailin in diesem Augenblick. Sie war völlig außer Atem und ihre Stimme klang ängstlich.

»Wir müssen hier weg … schnell … lauf, Gohin!« Wieder warf sie sich herum. Ihre Beine zuckten. »Zurück, du musst zurück. Da ist der Weiher … Lavendra … Nein, oh nein …!« Mailin richtete sich ruckartig auf, öffnete die Augen und sah sich um, als wisse sie nicht, wo sie sich befand. Ihr Atem ging stoßweise und ihre ganze Haltung zeugte von großer Furcht. Mit einer fast beiläufigen Bewegung strich sie sich ein paar wirre Haarsträhnen aus dem Gesicht, doch es war offensichtlich, dass der Albtraum sie noch nicht gänzlich aus seinen Fängen entlassen hatte.

»Es ist alles gut, Mailin!« Fürsorglich legte Fion ihr den Arm um die Schultern.

»Fion?« Mailins Blick schien aus weiter Ferne zu kommen, als sie ihn ansah. »Was …?«

»Es ist alles gut«, wiederholte Fion noch einmal sanft. »Du hattest einen schlimmen Traum, aber nun ist er vorbei.«

»Einen Traum!« Mailin seufzte tief und endlich beruhigte sich auch ihr Atem. »Einen Traum, ja. Ich erinnere mich.« Plötzlich riss sie die Augen auf und starrte Fion an. »Habe ich gesprochen?«, fragte sie fast ängstlich. Fion nickte.

Mailin zuckte erschrocken zusammen, als könne sie sich noch lebhaft an den Traum erinnern. »Was habe ich gesagt?«, stieß sie hervor.

»Nicht viel!« Fion schüttelte den Kopf. »Nur kurze Sätze, ein paar Worte. Aber ich spürte, dass du große Angst hattest.«

»Was waren das für Worte?«, forschte Mailin weiter. »Hast du sie verstanden?«

»Es waren Namen. Du sprachst von Lavendra, von der verbannten Priesterin Enid und von Gohin. Und dann war da noch ein ganz seltsamer Name, der klang wie Julia.«

»Was noch?«

»Du riefst pass auf und lauf weg.« Fion zog die Schultern in die Höhe. »Mehr konnte ich nicht verstehen, du hast sehr schnell gesprochen.«

»Puh.« Mailin ließ sich erleichtert ins Gras zurücksinken, blickte zum Himmel hinauf und schwieg.

Fion sah sie von der Seite her an. Eine Weile sagte er nichts, dann nahm er allen Mut zusammen und sprach aus, was ihn schon seit Tagen bewegte: »Du verheimlichst mir etwas, Mailin.«

»Unsinn!« Mailins Antwort kam eine Spur zu schnell, und ohne dass sie Fion dabei ansah. »Wie kommst du denn darauf?«

»Wie ich darauf komme?« Fion versuchte ruhig zu bleiben, aber er spürte, wie der aufgestaute Ärger langsam in ihm hochstieg. »Nach all dem, was seit Shadows Entführung geschehen ist, würde selbst ein Blinder darauf kommen. Ständig verschwindest du, ohne mir zu sagen, wohin. Ich habe für dich gelogen, um dich vor einer Strafe zu bewahren, und freiwillig deine Arbeit gemacht, damit keine Fragen aufkommen. Ich bringe mich für dich in Schwierigkeiten und was machst du? Kein Dank, keine Erklärungen – Nichts. Du nimmst es als völlig selbstverständlich hin, dass ich für dich einspringe und dich schütze. Du …«

»Oh Fion, das wusste ich nicht.« Mailin richtete sich auf und sah den jungen Pferdehüter bestürzt und gerührt zugleich an. »Das wusste ich wirklich nicht. Ich bin doch immer nur dann fortgeritten, wenn ich keinen Dienst hatte. Ich hatte keine Ahnung, dass man mich suchen würde, und ich … ich wusste auch nicht, dass du …« Sie ergriff Fions Hand und lächelte. »… dass du mir geholfen hast.«

»Nein, natürlich wusstest du das nicht.« Immer noch schwang eine Spur Ärger in Fions Stimme mit. »Du hast ja schon seit Tagen keine Zeit mehr, mit mir zu sprechen. Immer bist du beschäftigt und mit deinen Gedanken woanders. Nichts ist mehr, wie es noch vor ein paar Wochen war. Du bist … Du hast …« Er verstummte und suchte Hände ringend nach den richtigen Worten. »Du hast dich sehr verändert, Mailin. Nichts ist mehr wie früher. Wir unternehmen kaum noch etwas gemeinsam. Und wenn, dann schweifen deine Gedanken ständig ab.« Er seufzte, dann hob er einen kleinen Stein vom Boden auf, warf ihn fort und fügte hinzu: »Manchmal glaube ich fast, dass wir keine Freunde mehr sind.«

»Fion!« Mailin war ehrlich erschrocken. »Fion, das stimmt nicht«, erklärte sie nachdrücklich. »Natürlich sind wir noch Freunde. Richtige Freunde. Es hat sich nichts geändert.«

»Richtige Freunde?« Fion schüttelte den Kopf. »Das kann ich kaum glauben. Richtige Freunde haben keine Geheimnisse voreinander – sie vertrauen sich!«

»Das ist nicht fair«, stieß Mailin hervor. »Du … du hast ja keine Ahnung, was ich alles …« Sie verstummte, weil sie spürte, dass sie fast zu viel gesagt hätte.

»Keine Ahnung! Natürlich habe ich keine Ahnung. Woher auch? Du erzählst mir ja nichts.« Fion lachte bitter. Er spürte, dass er zu heftig reagierte. Er wollte sich nicht mit Mailin streiten, aber er hatte das Gespräch begonnen und nun nahm es seinen Lauf, ohne dass er es verhindern konnte. »Ich weiß nicht, was du so treibst, wenn du mal wieder unauffindbar bist«, sagte er. »Aber eines weiß ich gewiss: Das nächste Mal werde ich nicht mehr für dich schwindeln.« Er schlang die Arme um die Knie, wandte Mailin den Rücken zu und schaute über die mondbeschienene Wiese, auf der die Elfenpferde grasten.

Mailin erwiderte nichts. Fion hörte ihre Atemzüge und spürte ihre Blicke, aber auch er schwieg. Insgeheim ärgerte er sich, dass er überhaupt etwas gesagt hatte, andererseits war er aber auch froh seinem Ärger endlich Luft gemacht zu haben.

»Fion!« Es raschelte hinter ihm, als Mailin sich erhob und zu ihm kam. »Fion, es tut mir leid.« Ihre Stimme war sanft und versöhnlich, und als er sie ansah, bemerkte er Tränen in ihren Augen. »Verzeih mir, Fion«, bat sie von ganzem Herzen. »Ich habe mich dir gegenüber nicht richtig benommen und schäme mich für mein Verhalten. Aber …« Sie verstummte, als müsse sie ihre Worte erst genau abwägen. Dann fuhr sie fort: »Aber ich habe meine Gründe! Dass ich dir nichts gesagt habe, bedeutet nicht, dass ich dir nicht vertraue, im Gegenteil. Du bist mein Freund und ich wollte dich da nicht mit hineinziehen.«

»Mit hineinziehen?« Fion zog erstaunt eine Augenbraue hoch.

Mailin seufzte. Einen Augenblick lang zögerte sie noch, dann fasste sie Fion an der Schulter und sagte: »Also gut, ich erzähle es dir. Weil du mein Freund, mein allerbester Freund bist. Aber du musst schwören, es niemandem weiterzusagen.«

»Ich schwöre!« Fion machte ein feierliches Gesicht und legte die rechte Hand aufs Herz.

»Gut!« Mailin setzte sich Fion gegenüber, vergewisserte sich mit einem raschen Blick in alle Richtungen, dass sie wirklich allein waren, und schaute Fion dann tief in die Augen. »Es ist vieles geschehen, von dem niemand etwas erfahren darf«, begann sie mit gedämpfter Stimme, schöpfte ein letztes Mal Atem und sagte dann: »Es begann in der Nacht, als Shadow von dieser Weide entführt wurde …«

Noch mehr Geheimnisse

»Zu den Westerntagen nach Selkau?« Annette Wiegand ließ die Gabel sinken und schaute Julia fragend an. »Du und Spikey?« Sie runzelte die Stirn. »Wie kommst du denn auf so eine verrückte Idee?«

»Moni hat uns, also mir und Svea, heute in der Pause einen Artikel aus dem Zwissauer Tageblatt gezeigt«, erklärte Julia mit vollem Mund. »Da stand«, schnell schluckte sie das Stück Salamipizza hinunter, »dass die Organisatoren der Westerntage noch Reiterstatisten für die Festspiele suchen. Svea und ich wollen unbedingt mitmachen – wenn wir dürfen.« Sie legte die Gabel ab und bedachte ihre Mutter mit dem herzerweichenden Bitte-sag-nicht-Nein-Blick, der ihr bei ausgefallenen Wünschen schon manches Mal weitergeholfen hatte.

»Julia, ihr seid erst vierzehn!«, gab ihre Mutter zu bedenken. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass man so junge Mädchen dort schon als Statisten mitreiten lässt.«

»Doch!«, trumpfte Julia auf. »Das stand auch in der Zeitung. Vierzehn ist das Mindestalter. Wir dürfen also beim Casting mitmachen.« Obwohl sie eigentlich viel zu aufgeregt war, um Mittag zu essen, schnitt sie ein weiteres Stück Pizza ab und schob es sich in den Mund. »Bitte, Mama!«, murmelte sie kauend.

»Selkau!« Annette Wiegand schüttelte den Kopf. »Das ist mehr als zwanzig Kilometer weit weg. Wie stellst du dir das vor? Wir haben doch gar keinen Hänger, um Spikey …«

»Frau Deller leiht uns bestimmt einen!«, warf Julia voller Vertrauen in die Leiterin des Reiterhofs ein. Auf dem Reiterhof »Danauer Mühle« verbrachten sie und Svea fast ihre gesamte Freizeit. »Das macht sie auch für andere, die keinen eigenen Pferdehänger haben.« Julia holte tief Luft und startete einen neuen Überredungsversuch. »Bitte Mama, nur das Casting. Lass mich wenigstens das Casting mitmachen. Vielleicht werden wir ja gar nicht genommen, dann müssen wir …«

»Wenn du zu diesem Casting fährst«, ihre Mutter hob mahnend den Zeigefinger, »immer vorausgesetzt, wir erlauben es dir, dann muss auch klar sein, wie es weitergehen könnte. Angenommen, du und Svea, ihr dürftet tatsächlich als Statisten bei den Aufführungen mitreiten, dann wird es doch sicher Proben geben. Hast du überhaupt eine Vorstellung, wie zeitaufwändig das werden kann? Vermutlich müssen wir euch dann zwei- bis dreimal in der Woche mit den Ponys nach Selkau fahren.« Sie schüttelte wieder den Kopf und seufzte. »Ihr Mädchen stellt euch das immer alles so einfach vor. Dabei vergesst ihr völlig, welchen Aufwand wir Erwachsenen betreiben müssen, um euch solche verrückten Wünsche zu erfüllen.«

»Die Proben mit den Statisten sind nur an den letzten beiden Wochenenden vor den Westerntagen«, erklärte Julia schnell. »Svea hat sich schon erkundigt. Die Pferde könnten über Nacht im Stall einer nahen Reitschule stehen, und Svea will ihre Tante in Selkau fragen, ob wir dann bei ihr schlafen könnten.«

»Oh. Das klingt ja, als hättet ihr schon alles genau durchdacht.« Die Mutter lächelte.

»Mama!« Julias Stimme wurde plötzlich sehr eindringlich. »Du verstehst das nicht. Wir müssen da unbedingt hin. Das ist eine einmalige Chance! Außerdem …« Sie hielt inne. Fast hätte sie zu viel verraten.

»Außerdem?« Annette Wiegand sah ihre Tochter fragend an.

Julia zögerte.

»Nun?«

Julia spürte, dass ihre Mutter keine Ruhe geben würde, bis sie eine Antwort bekam. In solchen Dingen konnte sie sehr hartnäckig sein. Verzweifelt suchte sie nach einer passenden Ausrede, aber ihr fiel einfach keine ein. »Also, was ist denn noch so furchtbar wichtig, dass ihr zwei unbedingt nach Selkau müsst?«, hakte ihre Mutter nach.

»Nichts. Das heißt, doch.« Julia wand sich innerlich und seufzte. Warum hatte sie nicht aufgepasst? Jetzt musste sie ihrer Mutter etwas erzählen, das sie lieber für sich behalten hätte.

»Was denn nun?«

»Ches Dalton!« Julia gab sich geschlagen. Irgendwann würde ihre Mutter es ja doch in der Zeitung lesen. »Ches Dalton hat in diesem Jahr eine der Hauptrollen bei der Aufführung übernommen.«

»Ches Dalton? Ist das nicht dieser Popsänger mit der gepiercten Augenbraue und den Bartzöpfen, der jetzt ständig im Fernsehen zu sehen ist?«

»Genau der!« Julias Herz klopfte heftig, aber das wollte sie sich auf keinen Fall anmerken lassen. Trotzdem spürte sie, wie sich ihre Wangen röteten. Weder ihre Mutter noch Svea ahnten, dass auch sie den umschwärmten Star heimlich anhimmelte.

»Ach, so ist das!« Ein wissendes Lächeln umspielte die Mundwinkel ihrer Mutter. »Ihr seid also in diesen …«

»Nicht ihr! Svea!« Julias Antwort war eine Spur zu heftig und kam viel zu schnell, um glaubhaft zu wirken, doch ihre Mutter tat, als bemerke sie es nicht.

»Ach so«, lenkte sie ein. »Svea schwärmt also für diesen Ches Dalton.« Sie nickte. »Das ist natürlich etwas anderes.«

»Und? Dürfen wir?«, platzte Julia heraus.

»Moment, Moment.« Ihre Mutter hob beschwichtigend die Hand. »Das kann und will ich nicht alleine entscheiden. Heute Abend spreche ich erst mal mit deinem Vater darüber und dann müssen wir auch noch die Erlaubnis von Susanne Meinert haben. Sie allein kann entscheiden, ob du Spikey mit zum Casting und zu den Aufführungen nehmen darfst. Immerhin ist er nur dein Pflegepony, nicht dein Eigentum.«

»Susanne hat sicher nichts dagegen«, erwiderte Julia. »Seit sie aus Paris zurück ist, hat sie Spikey noch nicht einmal besucht. Sie sucht ganz verzweifelt eine Au-pair-Stelle. Sie will nämlich so schnell wie möglich zurück nach Paris wegen ihres französischen Freundes. Wenn du mich fragst, hat sie das Interesse an Spikey längst verloren.«

»Ach, davon wusste ich gar nichts.« Annette Wiegand war überrascht. »Ich habe mich schon gewundert, warum sie sich nicht bei uns meldet. Wir müssten nämlich dringend mit ihr darüber sprechen, wie es mit dir und Spikey weitergeht. Ursprünglich solltest du dich ja nur so lange um das Pony kümmern, bis Susanne wieder Zeit hat.« Sie schien zu bemerken, wie sich Julias Miene bei diesen Worten verfinsterte, und wechselte schnell das Thema. »Aber sag mal, warum willst du eigentlich nur mit Svea zu diesem Casting?«, erkundigte sie sich. »Was ist denn mit Carolin? Ihr drei seid doch sonst unzertrennlich. Hat sie keine Lust oder gab es Streit?«