Andreas H. Schmachtl

Die ganz und gar abenteuerliche
Reise zu den Nebelinseln

Inhalt

Vorwort des Verfassers

Teil eins: Das Tal

1. Kapitel, in dem wir Snöfrid zum ersten Mal (wieder) begegnen

2. Kapitel, in dem Snöfrid etwas tut, was Snöfride sonst weder tun noch tun wollen

3. Kapitel, in dem die Kunde von Snöfrids neuem Abenteuer schneller vorankommt als er

4. Kapitel, in dem Snöfrid zwei überraschende Begegnungen hat

5. Kapitel, in dem zunächst einige Verständnisschwierigkeiten ausgeräumt werden müssen

6. Kapitel, in dem gleich aus mehreren Gründen getuschelt wird

7. Kapitel, in dem Snöfrid einerseits jede Menge, andererseits aber gar nichts erfährt

8. Kapitel, in dem es eher flach zugeht

9. Kapitel, in dem zwar die Landschaft ansteigt, die Laune aber nicht

10. Kapitel, in dem Snöfrid endlich einen brauchbaren Fingerzeig bekommt

Teil zwei: Das Nordmeer

11. Kapitel, in dem Snöfrid auf Gegenwind stößt

12. Kapitel, in dem Snöfrid seinen Retter retten muss

13. Kapitel, in dem Snöfrid Fähigkeiten entdeckt, von denen er keinen Schimmer hatte

14. Kapitel, in dem Snöfrid nicht lesen kann

15. Kapitel, in dem es fischig zugeht und auch so riecht

16. Kapitel, in dem die Geschichte eine maritime Wendung nimmt

17. Kapitel, in dem Snöfrid nicht nur das Essen madig gemacht wird

18. Kapitel, in dem Snöfrid trotz Nebel klarer sieht

19. Kapitel, in dem Snöfrid ahnt, dass er tiefgründiger forschen muss

20. Kapitel, in dem es womöglich ein bisschen zu nass wird

Teil drei: Die Inselwelten

21. Kapitel, in dem Snöfrid das Ziel ansteuert, obwohl er nicht steuern kann

22. Kapitel, in dem Snöfrid gleichermaßen falsch- und richtigliegt

23. Kapitel, in dem schon wieder sagenhafte Gestalten auftauchen

24. Kapitel, in dem Snöfrid gehörig verwirrt werden soll

25. Kapitel, in dem es zu einem unerfreulichen Wiedersehen kommt

26. Kapitel, in dem nicht nur Snöfrid mal richtig tief Luft holt

27. Kapitel, in dem Snöfrid in die Luft gehen könnte

28. Kapitel, in dem Snöfrid feststellt, dass es mehr als ein Ziel zu erreichen gibt

29. Kapitel, in dem Snöfrid erfährt, dass die snöfridschen Tage bald zu Ende sein könnten

30. Kapitel, in dem Snöfrid beschließt, dass das zweite sein letztes Abenteuer war, sich aber selbst nicht glaubt

Hochverehrte Leser,

womöglich erinnert ihr euch daran, dass ich vor einiger Zeit eine Reise in den hohen Norden unternommen hatte, um Spuren jenes legendären Wesens zu finden, das unter dem Namen „Snöfrid“ bekannt ist. Es war nicht leicht, überhaupt irgendetwas herauszufinden, da die Leute dort beileibe nicht sehr gesprächig waren.

Und sie sind es immer noch nicht, wie ich jetzt feststellen musste. Denn ich war erneut im Norden, um nach weiteren Snöfrid-Spuren zu suchen.

Die ganz und gar unglaubliche Rettung von Nordland, also Snöfrids erstes Abenteuer, ist inzwischen wohl in der ganzen Welt bekannt.

Aber Hinweise auf ein zweites Abenteuer hatte bisher kein Forscher entdecken können.

Ich begab mich also zunächst ins Wiesental, Snöfrids angestammte, wunderschöne und über alles geliebte Heimat. Da die snöfridschen Tage aber schon lange, ach, sehr lange zurückliegen, war es so gut wie unmöglich, unter dem Staub der Jahre eine brauchbare Spur zu finden.

Kurzum, ich erfuhr im Wiesental nicht mehr, als ich ohnehin schon wusste.

Nämlich, dass Snöfrid bei seinem ersten Abenteuer aufgebrochen war, um die Feenprinzessin Gunilla zu retten, den Trollen Benehmen beizubringen, den bösen Asgrimur zu entlarven und auf diese Weise mal eben schnell das gesamte Nordland zu retten.

Snöfrid war damals ganz unfreiwillig und quasi gegen seinen Willen zum Helden geworden. Denn was er ja eigentlich wollte, war seine Ruhe!

Und so sah es aus, als hätte Snöfrid, jenes ungemein unauffällige Wesen, von dem jeder gehört, das aber noch kaum einer tatsächlich gesehen hatte, nach seiner ersten großen Heldentat ebenso zurückgezogen und beschaulich im Wiesental gelebt wie zuvor.

Nur konnte ich mir das beim besten Willen nicht vorstellen.

Nun spielt, wenn man der Geschichte ihre Geheimnisse zu entreißen versucht, der gute alte Zufall bisweilen eine große Rolle. Womöglich auch das reine Glück, denn die beiden können einander recht ähnlich sehen.

Jedenfalls verließ ich das Wiesental einigermaßen enttäuscht und gelangte auf Umwegen in eine kleine Hafenstadt. Dort schickte man mich ratlos zu einem uralten Gemäuer, welches sich als Bibliothek entpuppte. Und jetzt kam besagter Zufall ins Spiel. Denn ich stöberte eher pflichtbewusst als hoffnungsvoll in hohen Regalen voller ledergebundener Bände, handschriftlicher Dokumente und prächtiger Folianten, als mir urplötzlich ein winziges Manuskript buchstäblich in die Hände fiel.

Es hatte keinen Einband, machte alles in allem wenig Eindruck und hatte auf den ersten Blick nichts mit meiner Suche zu tun. Von Drachenbooten war darin die Rede. Von Inseln im Nordmeer, die vollständig nebelumwoben und deshalb allenfalls zufällig zu finden waren.

Und dann berichtete der Text von gigantischen Meeresungeheuern in unergründlich tiefen Gewässern. Um ehrlich zu sein, war ich anfangs nicht sehr interessiert. Schließlich hatte die Wissenschaft inzwischen zweifelsfrei nachgewiesen, dass es derlei Ungeheuer gar nicht gab. Oder? Doch dann las ich einen Satz, der mein Herz rasen ließ:

Mit nichts als einem Schal, einer Tasche und einer Hand voll Haferflocken machte er sich auf den Weg.

Das, es konnte nicht anders sein, das beschrieb Snöfrid! Er hatte also doch noch ein zweites Abenteuer erlebt. Und irgendein Schriftkundiger jener snöfridschen Tage hatte dankenswerterweise ebendiesen Bericht darüber verfasst.

Und hier ist sie nun. Snöfrids zweite Heldentat. Unfassbar neblig, stürmisch, manchmal kalt und vor allem recht wagemutig. Aber lest selbst und seid, wie schon einmal, gewarnt. Es wird abenteuerlich.

Hochachtungsvoll

A.H.S

In dem wir Snöfrid zum ersten Mal nach der großen Nordlandrettung wieder begegnen. Oder zum ersten Mal überhaupt, falls ihr womöglich gar nicht wusstet, dass das Nordland einmal hat gerettet werden müssen.

Es mag, so kann man es sich jedenfalls vorstellen, ein strahlend schöner Tag gewesen sein. Die Hänge des Wiesentals breiteten sich mit ihren sattgrünen Schafweiden und waldigen Flächen majestätisch im Sonnenschein aus. Am Talboden reihten sich zu beiden Seiten des Flusses Dörfer und einzelne Höfe in loser Folge aneinander. Und wo gewöhnlich sprudelnde, gurgelnde Bächlein aus den Bergen herabtanzten, rauschten jetzt reißende Ströme zu Tal. Der Winter war vorüber, und sogar in den höheren Regionen verwandelten sich die Schneemassen in Schmelzwasser.

Das war nicht ganz ungefährlich. Denn es war schon sehr viel Wasser, das da seinen Weg ins Tal suchte. Und was ihm im Wege stand, wurde womöglich fortgespült.

Die Talbewohner waren in dieser Zeit des Jahres also ständig darauf bedacht, die riesenhaften Wasserfälle genau im Blick zu behalten. Trotz der Gefahr war das Wasser aber auch ein Grund zur Freude, zeigte es doch, dass der Winter tatsächlich vorüber war. Und es war ein langer und harter Winter gewesen, den die Bewohner des Wiesentals hinter sich hatten. Mit Stürmen, die einem den Atem nahmen, und mit unerbittlich frostigen Nächten. Mit Schnee und Schnee und noch mehr Schnee, der einfach alles bedeckte und das ganze Tal in tiefes Schweigen hüllte. Viele Bewohner hatten fürchterlich gefroren, andere hatten nach dem Aufbrauchen ihrer Vorräte Hunger gelitten. Und wieder andere hatten sich spätestens mit der ersten vom klaren Nordhimmel herabtaumelnden Schneeflocke in ihr Heim zurückgezogen, um dort den Winter einfach zu verschlafen.

Snöfrid war solch ein Jemand. Und bei Snöfrids speziellem Heim handelte es sich um eine Höhle. Nun, streng genommen war es nicht viel mehr als ein Loch in der Erde und machte nicht viel her. Aber es lag unter einem großen Stein und war daher vor ungebetenen Besuchern recht sicher. Zudem war es im Sommer herrlich kühl, im Winter warm, das ganze Jahr hindurch wunderbar trocken und, wenn auch nicht sehr groß, alles, was Snöfrid brauchte. Vor dem einzigen Fenster hingen ein paar hübsche Gardinen. Dann gab es noch einen Tisch mit einer Kerze darauf. Der Tür genau gegenüber stand der große Ofen, auf dem Snöfrid seinen Haferbrei kochte. (Dazu kommen wir übrigens später noch.) Und gleich neben dem Ofen wiederum befand sich der robuste Weidenkorb, in dem Snöfrid schlief. Von Frühling bis Herbst schnarchte er die Nächte hindurch.

Den Winter verschlief er, wie erwähnt, vollständig. Sobald die Wetterzeichen unmissverständlich die kalte Jahreszeit ankündigten, verkrümelte sich Snöfrid in sein Heim. Er las ein bisschen, bis der Schnee das kleine Fenster verdeckte. Dann wurde er müder, müder und müder und schlief unter seinem gewaltigen Berg von Kissen und Decken einfach ein. Wenn der Ofen dann schließlich ausging, träumte Snöfrid längst von sonnengewärmtem Boden und herrlich duftenden Wiesenkräutern.

Auf diese oder doch ganz ähnliche Weise hatte Snöfrid also bislang alle Winter wohlbehalten überstanden. Sogar den letzen, eben sehr grimmigen.

Doch schließlich war Snöfrid, ganz im Sinne der Tradition, wieder aufgewacht. Das dauerte natürlich deutlich länger, als wenn ihr am Morgen aus dem Bett steigt, was ja nach nur einer einzigen Nacht schon schwer genug sein kann. Nun stellt euch vor, wie mühevoll so ein Erwachen nach all den Nächten eines ganzen Winters sein musste. Es brauchte also Zeit. Und dann, auch das war Tradition, streckte Snöfrid prüfend die Nase zur Tür hinaus und schnupperte, ob die Luft auch wirklich rein war. Was in diesem Falle hieß, ob der Winter tatsächlich vorüber war. So hoch im Norden konnte es zwar jederzeit noch einmal schneien. Nur war das dann kein Winter mehr, sondern ein sogenannter Wintereinbruch, der sich mit Kakao und heißem Haferbrei leicht überstehen ließ.

Oh richtig, ich wollte ja noch vom Haferbrei erzählen. Denn falls ihr es noch nicht wusstet, müsst ihr es schleunigst erfahren: Snöfrid liebte Haferbrei. Jeden Morgen holte er Wasser aus dem kleinen Bächlein vor seiner Haustür und kochte in einem groben Eisentopf seinen sämig süßen, dampfend heißen Haferbrei. Snöfrid hätte im Notfall so ziemlich auf alles verzichten können. Aber auf Haferbrei verzichtete er überhaupt nur, wenn er stattdessen einen anderen schmackhaften Brei vorgesetzt bekam. Fast so, wie es manchen Leuten beispielsweise mit köstlichem Hefegebäck ergeht. Und wieder irgendwer sich ein Leben ohne Brokkoli nicht vorstellen kann.

Snöfrid kannte natürlich auch alle Tipps, Kniffe und Tricks, um eine herkömmliche Schüssel Brei in eine wahre Köstlichkeit zu verwandeln. So behauptete er zum Beispiel immer, dass ein Tropfen Ziegenmilch im Brei wahre Wunder bewirke, von einem Tropfen Sahne ganz zu schweigen. Nur kam man an die Sahne nicht so leicht heran. Das war mit der Ziegenmilch schon einfacher. Manchmal ließen die Bauern unten im Tal nämlich nach dem Melken einfach einen Eimer voll Milch vor der Stalltür stehen. Und diese Eimer waren dann sehr voll. Ja, randvoll mit bester Ziegenmilch, aus der die Bauern ihren guten Käse machten. Snöfrid konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie ihm einen kleinen Krug Milch nicht gönnen wollten, obwohl es schon ein bisschen merkwürdig war, dass die Hofhunde wirklich jedes Mal verrücktspielten, wenn Snöfrid vorbeischaute.

Nun, Snöfrid ging also nur zu den Menschen hinunter, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ. Denn dort war es alles in allem viel zu laut für seine hochempfindlichen Snöfridohren, und die gehörten schließlich zu den empfindlichsten und feinsten überhaupt.

Am Sonntagmorgen aber begab sich Snöfrid auf jeden Fall ins Tal, sobald alle Menschen sich in der Kirche versammelt hatten. Dann lauschte er andächtig der wundervollen Musik, die leise durch die schwere Holztür klang.

Aber kommen wir zu jenem strahlenden Morgen zurück, mit dem dieses Kapitel begonnen hatte.

Snöfrid war langsam aus seinem Winterschlaf erwacht, hatte mit seiner Nase festgestellt, dass die Luft rein, der Winter also vorbei war, er hatte den ersten Brei des neuen Jahres verputzt und sogar schon das Geschirr gespült. Normalerweise hätte sich Snöfrid jetzt aufgemacht, um im nahe gelegenen Kiefernwald nach Brennholz zu suchen. Gelegentlich sammelte er dort auch ein paar Zapfen, weil diese im Ofen so herrlich knackten und noch viel wunderbarer dufteten.

Aber dies war kein Tag wie jeder andere. Das hatte Snöfrid gleich beim Wachwerden geahnt. Und nun konnte er nichts anderes tun, als dieser Ahnung nachzuspüren. Womit ich sagen möchte, dass der bedauernswerte Snöfrid zunächst einmal ungewohnt rastlos vor seiner Höhle auf und ab marschierte. Immer wieder hielt er an, kratzte sich grummelnd das Kinn und sagte: „Hm.“ Was in diesem Falle heißen sollte: „Irgendetwas stimmt hier doch nicht.“

Snöfrid war übrigens kein Freund vieler Worte. Daran werdet ihr euch, fürchte ich, wohl gewöhnen müssen. Er sagte nur, was er für nötig hielt. Und was nicht, das … äh … sagte er eben nicht.

Nachdenklich blickte Snöfrid zum Himmel empor. Und jetzt erst fiel ihm auf, dass dort Wildgänse entlangzogen. Auf ihrem Weg in den hohen Norden kamen sie jedes Frühjahr ganz zuverlässig über das Wiesental geflogen. Sie hatten den Winter irgendwo weiter südlich verbracht. Südwestlich, um ganz genau zu sein. Auf einer Landkarte müsstet ihr also nach links unten schauen. Von dort kamen sie nun, einem uralten Instinkt folgend, zurück und flogen dabei in der für Gänse typischen Keilform. Womöglich habt ihr das schon einmal gesehen? Und jetzt muss ich für einen Moment lang wissenschaftlich werden. Denn diese Flugformation hat ihren Sinn. So fliegen die hinteren Gänse nämlich im Windschatten der vorderen, und das spart Kraft. Sie wechseln regelmäßig ihre Position, und damit sie dabei nicht durcheinandergeraten oder sich bei Nebel und Dunkelheit verlieren, rufen sie in einem fort. Auch das habt ihr mit etwas Glück sicher schon einmal gehört.

Snöfrid hörte es jedenfalls. Und obwohl er erklärtermaßen kein Freund vieler Worte war, drängten sich ihm nun doch ein paar Worte in den Sinn. Und sie reimten sich sogar. Snöfrid musste sich ein bisschen über sich selbst wundern, brummte aber schließlich „Hm!“.

Womit er, da ist sich die Forschung inzwischen einig, sagen wollte:

„Ich höre oft, an stillen Tagen,

mit fernem, sehnsuchtsvollem Klagen,

die Gänse in den Norden ziehn.“

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, wie ganz und gar ungewöhnlich dies für einen Snöfrid war.

Oh, vielleicht sollte ich erwähnen, dass es zwar nur ausgesprochen wenige, aber eben doch mehr als einen Snöfrid gab. Aber weil sie so selten waren, dass sie einander nur in Ausnahmefällen begegneten, machten sie sich nicht die Mühe, sich irgendwelche komplizierten Namen zu geben. Sie waren Snöfride und nannten sich auch so. Allesamt waren sie eher wortkarg. Deshalb hatte wohl auch nie ein Snöfrid gedichtet. Bis zu diesem Tag.

Unser guter Snöfrid war also angemessen verdutzt, als er sich – und das auch noch laut – reimen hörte:

„Und ich denke, still und leise,

diese Tiere sind recht weise.

Ach, könnte ich mit ihnen fliehn!“

Womöglich hatte er das letzte Wort nur erdacht, weil es sich so gut auf ziehn reimte. Womöglich aber war auch der Grund, dass Snöfrid tief in seinem Innern ein sehr außergewöhnliches Gefühl spürte. Ein ganz und gar unsnöfridsches Gefühl. Ein Drängen und Ziehen. Ja, könnte das sein? War das, was Snöfrid spürte, tatsächlich … Fernweh!?