1

 

»Tjaaa ... Gesina, Sie sind also heute zum zweiten Mal bei mir, obwohl wir uns doch einig waren ...« Die Frau mit dem praktischen grauen Kurzhaarschnitt hob seufzend die Schultern und machte eine routinierte Kunstpause. Dann deutete sie auf den hässlich braun gepolsterten Besucherstuhl und lächelte Sina auffordernd an.

Sina setzte sich und lächelte zurück. »Sie haben Lippenstift auf den Schneidezähnen«, versetzte sie mit artigem Gesichtsausdruck und genoss es, dass Frau Haberlandt errötete und hastig ein Kosmetiktüchlein aus dem Behälter zupfte, der griffbereit auf ihrem Schreibtisch stand.

Sina kannte das schon: Die Kleenex-Box stand da für all die armen Hascherln, die unter Frau Haberlandts professioneller Güte und Barmherzigkeit zusammenklappten und in Tränen ausbrachen. Nicht mit mir, versicherte sie sich innerlich, diesmal nicht! Und überhaupt »verhaltensauffällig«? Was heißt das schon? Ein bisschen Klauen hier, ein bisschen Schuleschwänzen da: Was war denn schon dabei? Okay, man hatte sie einmal zu viel erwischt, und der Kaufhausdetektiv hatte es sich diesmal nicht nehmen lassen, die Polizei einzuschalten, aber im Grunde ...

»Im Grunde machen Sie doch alle nur so ’ne Welle, weil ich als Kind-aus-gutem-Hause einfach nicht in Ihr Konzept passe!«

Oje, hatte sie das tatsächlich laut gesagt? Dabei hatte Sina sich fest vorgenommem, sich diesmal auf keine Diskussionen einzulassen. Sie biss sich auf die Lippen.

Zu spät! Denn prompt setzte Frau Haberlandt zu dem an, was Sina insgeheim Textbaustein B-47/13 nannte: »Sina, ich fürchte, Sie machen es sich zu einfach.«

Hast du ’ne Ahnung, dachte Sina und schaltete auf Durchzug.

Das erste Mal, als man sie zum Schulpsychologischen Dienst geschleppt hatte, war wenigstens ihre Mutter noch dabei gewesen. Das war kurz nachdem Papa und seine Neue das schicke Haus in Zehlendorf gekauft hatten und alle behaupteten, sie wäre dort am besten aufgehoben. »Eine in jeder Beziehung optimale Lösung«, hatte Papa gesagt, und Mama und Tricia hatten strahlend dazu genickt.

Überhaupt waren in den letzten anderthalb Jahren alle immerzu und dauernd glücklich und zufrieden, stellte Sina grimmig fest: ihre Eltern, als sie die ach-so-einvernehmliche, friedliche Scheidung verkündeten, Tricia Myers, als sie als Gattin Nummer zwei ganz in Weiß an Papas Seite zum Traualtar schritt, und Mama, als sie kurz danach beschloss, wieder zu studieren.

»Ihre Eltern machen sich wirklich große Sorgen ...«

Aha, Frau Haberlandt war an der Stelle angelangt, an der an den Zusammenhalt der frisch gebackenen Patchworkfamilie appelliert wurde.

»Na toll!« Sina schnaubte verächtlich.

»Warum sehen Sie das denn so negativ?«, hakte Frau Haberlandt nach, offensichtlich erfreut, endlich eine Reaktion hervorzurufen. Doch Sina schwieg. Sich Sorgen machen stand schließlich in der Jobbeschreibung für Eltern, oder? Und überhaupt: Was heißt schon »Familienzusammenhalt«? Echt blöd, dass mich nie einer gefragt hat, was ich darunter verstehe. Wütend rekapitulierte Sina die jeweilige Einschätzung ihrer neuerdings Vater, Mutter, Papas-Neue und Papas-neues-Kind umfassenden Familie: Papa versteht darunter, dass alle sich immer und ununterbrochen lieb haben, damit er in Ruhe arbeiten kann. Mama versteht darunter, dass jeder sich individuell entfalten können muss und dass sie jetzt mal an der Reihe ist. Tricia versteht darunter eine Art locker-flockige Wohngemeinschaft mit Putzfrau, Kindermädchen und Designermöbeln, und Laura-Joy, das neue Superbaby, versteht darunter offenbar, dass alle beständig um sie herumtanzen, »ah« und »oh« seufzen und sich vor Begeisterung gar nicht mehr einkriegen.

Im Sinne dieser allzeit glücklichen Patchworkfamilie hatten die Erwachsenen, kaum dass Papas und Tricias Traumbaby zur Welt gekommen war, das halslose, zerknitterte Etwas als »Sinas Schwesterchen« bezeichnet. Offenbar erwarteten alle, dass dieses Zauberwort irgendeinen eingebauten Mechanismus auslöste, der zu uneingeschränkter Begeisterung für ein abwechselnd schreiendes oder selbstzufrieden vor sich hin dösendes Wesen in rosa Rüschendeckchen führen würde. Nein, da regte sich gar nichts in Sina. Und dann dieses grässliche, pünktlich zur Geburt des Kleinchens fertiggestellte Babyparadies! Tricia hatte ihren Ami-Geschmack erfolgreich von San Diego nach Berlin exportiert: Laura-Joys Zimmer hätte Barbie vor Neid erblassen lassen! Und egal ob rosa, schneeweiß oder pink: immer alles vom Feinsten. Selbst Uromas schöne, abgewetzte Sitzgruppe, die im alten Haus das Wohnzimmer beherrscht hatte, war Tricias Stylingfimmel zum Opfer gefallen. Statt der behäbigen dunkelgrauen Plüsch-Dinger war ein riesiges cremefarbenes Ledersofa angeschafft worden.

Dass Sina wirklich nur aus Versehen ein dicker, blauer Permanentfilzer darauf gekullert war – natürlich ohne Verschlusskappe –, wollte ihr keiner so recht glauben.

Dabei war es tatsächlich keine Absicht gewesen, das schicke, neue Sofa gleich am ersten Tag mit Filzstift zu versauen. Aber als Sina merkte, dass ihr das keiner so recht abnahm, fand sie die Sache am Ende ganz in Ordnung.

Ihr war sowieso schleierhaft, wie Papa und seine Neue auf die Idee kommen konnten, ein Death-Punk-Fan könne sich in ihrem durchgestylten Designerambiente wohlfühlen.

Okay, sie hatten ihr, was die Einrichtung ihres Zimmers betraf, freie Hand gelassen, aber irgendwie konnten sie sich dann angesichts der schwarzen Pannesamtvorhänge und des Rattenkäfigs auf der Fensterbank ihre Kritik nicht verkneifen.

Zum Einzug der als neues Haustier geplanten Laborratte war es leider nicht mehr gekommen, weil Tricia in Tränen ausgebrochen war und Papa sich – vor die Wahl zwischen dem Zusammenleben mit seiner jungen Frau oder einer Laborratte gestellt – für seine Angetraute entschieden hatte.

»Die zweite Frau Ihres Vaters ist mit Ihrer Erziehung schlicht und ergreifend überfordert«, stellte Frau Haberlandt wie aufs Stichwort fest. Sina hätte beinahe laut aufgelacht. Erziehung? Na, das sollte die sich mal trauen!

»Andererseits wäre es Ihrer Mutter gegenüber einfach nicht fair, sie dazu zu zwingen, ihr gerade erst wieder aufgenommenes Studium zu unterbrechen und nach Deutschland zurückzukehren. Das verstehen Sie doch, oder?«

»Mama?« Jetzt wurde Sina hellhörig. »Was hat denn das mit meiner Mutter zu tun? Meine Mama hat es sich redlich verdient, mal aus allem rauszukommen. Und in Cambridge studieren? Mit Anfang vierzig? Ist doch irre! Also was gibt’s denn daran nicht zu verstehen?«

»Na, dann sind wir uns ja einig«, stellte Frau Haberlandt zufrieden fest und zog einen Aktenordner aus dem Regal.

»Über was sind wir uns einig?« In Sinas Kopf begannen laut und vernehmlich sämtliche Alarmglocken zu schrillen.

Sanft tadelnd schüttelte Frau Haberlandt den Kopf. »Haben Sie mir denn nicht zugehört?«

»Ich ... äh ... nein ... doch, natürlich!«, stotterte Sina.

»Na prima! So, hier haben wir’s!«, erklärte Frau Haberlandt zufrieden und hielt Sina einen bunten Prospekt unter die Nase. »Dann werfen Sie mal einen Blick darauf.« Und wieder dieses professionell aufmunternde Lächeln, mitsamt erneut die Schneidezähne verunzierender Lippenstiftreste.

»Schlossinternat Granzow an der Müritz«, stand auf dem Prospekt. Ein schneeweißes Barockschlösschen, davor, auf einem klatschgrünen, wohlgepflegten Rasen, eine Gruppe schick frisierter Jungen und Mädchen.

Tennis, Golf und Reiten inklusive.

Sina wurde schlecht. »Die wollen mich abschieben?«, stammelte sie ungläubig. »Weg von Berlin? In ein Internat?«

»So dürfen Sie das nicht sehen, Sina.« Frau Haberlandt legte mit mildem Lächeln die Hand auf Sinas Schulter. »Die finanziellen Möglichkeiten Ihrer Eltern erlauben es Ihnen, den Rest Ihrer Schulzeit in einer der schönsten Ecken Mecklenburg-Vorpommerns zu verbringen. Das Angebot, das die für den Freizeitbereich haben, stellt ja sogar mein Lieblingshotel in Hammamet in den Schatten!« Sie lachte über ihren kleinen, privaten Scherz.

Sina merkte, wie ihr langsam die Tränen in die Augen stiegen. »Wann?«, brachte sie mühsam hervor.

»Sofort!« Frau Haberlandt strahlte, und das Lippenstiftrot auf ihren Zähnen glänzte.

Vampirblut, dachte Sina. Dann ging sie hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.

 

Vor dem Haus stand Tricia an der Beifahrertür ihres Cabrios: hübsch, groß, blond und langhaarig und von den Designerstiefelspitzen bis zum lässig hochgestellten Kragen ihrer klassisch weißen Hemdbluse absolut perfekt gestylt. »Na komm, ich lad dich zum Mittagessen im Café Luise ein, da können wir dann alles besprechen«, sagte sie und setzte ihr Betrachte-mich-doch-einfach-als-eine-Art-große-Schwester-Lächeln auf.

»Ich hab keinen Hunger«, erklärte Sina knapp, ließ Tricia stehen und trabte in Richtung U-Bahn.

»Wann kommst du denn nach Hause?«, rief Tricia ihr nach. Aha, dachte Sina, und schon ist wieder Schluss mit der Große-Schwester-Masche. Sie zuckte mit den Schultern, ohne sich auch nur umzudrehen. »Nach Hause? Ich hab doch sowieso kein Zuhause mehr!«

Die Fahrt vom Westen in den Osten Berlins dauerte fast eine Stunde. Gott sei Dank war die U-Bahn um diese Zeit fast leer. Sina startete ihren iPod, steckte sich die Earplugs in die Ohren, lehnte den Kopf an die zerkratzte Fensterscheibe und schickte sich an, die Umwelt auszublenden. Doch die übliche Gothic-Rock-Compilation versagte diesmal ihren Dienst. Sina wechselte zu Corvus Corax: Mittelalter-Metal, laut, wütend und archaisch. »Mille anni passi sunt ...« Sie wippte im Takt mit der Fußspitze. »Tausend Jahre sind vergangen ...« Nein, tausend Jahre waren es nicht gerade, aber zwei. Zwei Jahre, in denen sich ihr Leben so verändert hatte, als läge ein ganzer Äon dazwischen. Corvus Corax’ brachiale mittelhochdeutsche und lateinische Gesänge stellten quasi die Schnittmenge zwischen ihrem früheren und ihrem jetzigen Leben dar: Noch vor zwei Jahren war sie der Star des Schulchors gewesen, mit Agnus-Dei-Solo, blauem Samtkleidchen und braver Pferdeschwanzfrisur. Und den ersten Preis beim Literaturwettbewerb Schülerinnen und Schüler schreiben hatte sie auch gewonnen.

Aber das alles hatte nichts genützt. Ihre Eltern hatten sich getrennt. Sie nannten es »auseinandergelebt« und »gute Freunde bleiben« und erwarteten, dass ihnen ihre wohlgeratene Tochter eine Art Rundum-sorglos-Paket dafür ausstellte, dass sie von Stund an ihre eigenen Wege gingen: Mama zum Studieren nach Cambridge und Papa schnurstracks in eine neue, durchgestylte Familienidylle.

Das Ganze war in Sinas Augen schlicht und ergreifend absurd, und als sich ihre Mutter und Papas Neue dann auch noch wie die allerbesten Freundinnen aufführten, hätte sie am liebsten eine Bombe mittendrein geworfen.

Wenn ich damals Caro nicht gehabt hätte, dachte Sina.

Sie hatten sich nach einer Erster-Mai-Demo kennengelernt. Dabei hatte Sina da überhaupt nicht mitdemonstriert. Sie hatte nur mal gucken wollen, was rund um den Görlitzer Bahnhof – wo in der Walpurgisnacht traditionell Steine flogen – los war. Ein dünnes, leichenblass geschminktes Mädchen – nur ein paar Jahre älter als sie selbst und ganz in Schwarz – hatte dort direkt vor ihren Augen ein Auto in Brand gesteckt. Natürlich fand Sina das nicht in Ordnung. Aber nachdem sie später auf der Polizeiwache ein paar Worte mit der trotzigen jungen Frau gewechselt hatte, brachte Sina es einfach nicht fertig, sie zu verraten.

Von da an war sie Caro wie ein Schatten gefolgt, hatte sich ihre langen, roten Haare wie Caro pechschwarz gefärbt und sämtliche bunten Klamotten in die Altkleidersammlung gegeben. Caro hatte mit fünfzehn die Schule geschmissen und hielt sich seitdem mit Betteln, Schnorren und gelegentlichem Kaufhausdiebstahl über Wasser. Sina bewunderte sie maßlos und lernte in Windeseile alle einschlägigen Tricks. Ihre Transformation vom braven Mädchen zum Goth vollzog sich in weniger als drei Wochen.

Der Nebeneffekt, dass Mama, Papa und Tricia Myers von Stund an kein anderes Thema mehr hatten als »Sinas psychische Probleme«, war ihr gerade recht. Wenigstens bekam ihre penetrante Patchwork-Family-Idylle auf diese Weise endlich mal ein paar Kratzer und Beulen.

Sina suchte auf ihrem iPod nach einem ihrer Lieblingslieder.

»Ich hab mich in dein rotes Haar verliebt«, sang Teufel, der rot gehörnte Sänger von Corvus Corax. Der Text war von François Villon, einem Dichter, Kriminellen und Herumtreiber des 15. Jahrhunderts. Der hatte sich so doll in ein rothaariges Mädchen verknallt, dass er ein Gedicht darüber geschrieben hatte. Und mehr als vierhunderthundertfünfzig Jahre später sang denselben Text ein umwerfend sexy aussehender Typ in feuerroten Lederklamotten: »... da schmolz er auch schon hin, der harte Mann, weil’s solche Liebe nicht tagtäglich gibt. Ich hab mich in dein rotes Haar verliebt ...«

Vielleicht sollte ich damit aufhören, mir die Haare schwarz zu färben, dachte Sina.

»Nächster Halt: Eberswalder Straße«, verkündete eine unpersönliche Tonbandstimme. Sina stieg aus.

Caro stand wie immer mit einem Plastikbecher in der Hand am U-Bahnhof Kastanienallee und quatschte die Leute an der Ampel mit »Haste mal ’n bisschen Kleingeld?« an. Ihre zottelige Mischlingshündin Köta lag friedlich vor sich hin dösend auf der schmutzig grau karierten Wolldecke zu ihren Füßen.

»Hallo, Lieblingshund!«, rief Sina. Sie hielt die Namensgebung »Köta« für ziemlich daneben und vermied es, die Hündin in der Öffentlichkeit so zu nennen. Köta interessierte das wenig. Sie schaute mit ihren klugen braunen Hundeaugen zu Sina empor und gab ein zufriedenes Brummen von sich, als Sina sie hinter ihren Schlappohren kraulte.

Caro hatte im Verlauf des Vormittags knapp zwölf Euro zusammengebettelt und lud Sina großherzig zu Konoppkes sagenhafter Currywurst ein.

Während sie in der Schlange standen und warteten, schaute Sina sich um: ein paar Neo-Ossis in Ethnopullis und Ökolatschen, ein paar Uralt-Ossis mit Vokuhila-Dauerwelle und Fantasiemuster-Anoraks und jede Menge junge Leute, denen man die Herkunft Ost oder West nicht mehr ansah – Punks, Emos, Goths und dazwischen ein paar durchgestylte Anzugtypen mit Trilby-Hut und Sonnenbrille.

Sina ballte unbewusst die Fäuste. Stattdessen schnarchlangweilige Schlossidylle in Meckpomm? Das konnten die ihr doch nicht antun! Das hier war doch genau ihre Welt: bunt, spannend und ein bisschen abgeranzt, aber immer in Bewegung und voller interessanter Menschen auf der Suche nach Neuem, Ungewohntem und vielleicht sogar Verbotenem.

Caro rückte weiter in der Schlange und wandte sich zu Sina um. »Die wollen dich also in so’n Nobelschuppen einknasten«, stellte sie ohne erkennbare Gemütsregung fest. »Na dann: viel Spaß!«

»Spinnst du?«, versetzte Sina. »Meinst du, ich geh da freiwillig hin?«

»Ach, nicht?« Caro wandte sie sich der Imbissfrau zu: »Zwei Curry scharf und zwei Pommes ohne.«

Sina fasste es nicht. »Mensch, Caro! Ich kann doch überhaupt nichts dagegen machen! Ich bin noch keine sechzehn!« Wie konnte Caro ihr nur unterstellen, dass sie aus freien Stücken in irgend so ein gottverlassenes Kaff ziehen würde?

»Dann hau doch ab von zu Hause«, meinte Caro und schüttete der Imbissfrau einen ganzen Berg Kleingeld auf den Tresen. Genervt zählte die den Betrag ab.

Sina wusste, dass Caro schon mit knapp dreizehn das erste Mal von zu Hause weggelaufen war. Prügelnder Vater, alkoholkranke Mutter: Verwunderlich war es nicht, dass Caro versucht hatte, ihrem lieblosen Elternhaus zu entkommen. Nur: Bei mir ist das was anderes, dachte Sina, bei mir sind alle lieb und nett und besorgt um mich und keiner kapiert, wieso es mir trotzdem tierisch mies geht.

»Hast du was gesagt?«, fragte Caro.

»Nee, Abhauen bringt doch nichts«, brummte Sina. Ihr einziger Versuch hatte bereits nach weniger als vierundzwanzig Stunden auf dem Polizeirevier geendet. Im Gegensatz zu Caro hatte sie weder das Know-how noch die Nerven für ein Überleben auf der Straße.

Die Imbissfrau wischte sich mit einer routinierten Armbewegung den Schweiß von der Stirn. »So, bitte sehr, die Damen: zwei scharf, zwei ohne!«

Sina und Caro verzogen sich, je ein Schälchen mit Currywurst und herrlich ungesund duftenden Fritten in den Händen, an einen der wachstuchüberzogenen Holztische zurück.

»Tja, dann heißt das wohl bye-bye«, erklärte Caro trocken und machte sich über ihre Pommes her.

»Aber ...« Sina wollte nicht glauben, dass ihre Freundin die Trennung so leicht nahm. »Aber ... macht dir das denn gar nichts aus?«

»Wieso?« Caro schlang gierig ein Stück Currywurst herunter und ließ ein zweites für Köta unter den Tisch fallen. »Du warst doch letzten Endes eh nur so ’ne Art Touri hier im Kiez: kleiner Abstecher ins wahre Leben und dann nichts wie zurück ins Schickimicki-Haus in Zehlendorf. Für euereins ist unsereins doch so was wie ’n Affe im Zoo.«

»Quatsch! Bloß wegen deiner Piercings und so?« Caro zog in dieser Hinsicht wirklich sämtliche Blicke auf sich. Augenbrauen, Nase, Zunge, Mundwinkel, Ohren: Es gab so gut wie keine Stelle, an der sie sich nicht irgendein Metallteil hatte einsetzen lassen. Und dazu diese zotteligen, pechschwarz gefärbten Haare: Das sah schon alles reichlich freakig aus.

»Aber du willst doch auffallen mit deinem Outfit ...«, wandte Sina ein.

Caro schüttelte gespielt ungläubig den Kopf. »Du raffst echt überhaupt nichts, was? Mann, wo unsereins in ’n Jugendknast wandert, schickt man euereins ins Nobelinternat und fertig. Was gibt’s ’n da zu jammern? Abi kriegste gratis hinterhergeschmissen, Studieren zahlt der Papa und – bums! – haste ausgesorgt! Also verzieh dich, werd glücklich und geh mir nicht weiter mit deinem Genöle aufn Keks!«

»Heißt das, du schreibst mir nicht mal?«, fragte Sina kleinlaut.

Caros Blick sprach Bände.

Na gut, Caro war schon fast achtzehn und gerade wieder frisch verliebt und entsprechend abgelenkt, aber ein bisschen Trost oder wenigstens ein kleines bisschen Abschiedsschmerz hatte Sina sich denn doch erhofft.

»Ja, ciao dann mal, okay?« Caro wischte sich die Currysoße vom Kinn und stand auf.

»Wo gehst du denn hin?«, fragte Sina, die immer noch nicht fassen konnte, dass Caro sich so gar nichts aus ihrer Trennung machte.

Caro tippte auf ihre rechte Schulter. »Was Keltisches in Farbe oder so. Olly muss üben, da krieg ich’s umsonst.«

Olly, das war Caros neuer Lover. Er ließ sich gerade in einem Piercing- und Tattoo-Studio in der Oderberger Straße anlernen. Sina schluckte. Was Keltisches in Farbe ... Das mit den Piercings hatte sie sich nie getraut, aber eine Tätowierung? Sie dachte an die braven Jungs und Mädels auf dem klatschgrünen Rasen in Meckpomm, an Tricias makellosen, blütenweißen Hemdblusenkragen und Frau Haberlandts Vampirblutschneidezähne.

»Ich komm mit!«, verkündete sie kurzentschlossen.

»Zugucken oder selber?«, fragte Caro skeptisch.

»Selber!«, erklärte Sina.

»Tut aber weh«, stellte Caro pragmatisch fest, »und bei dir kostet’s dann auch. Schätze, ’n Fuffi.«

»Schon klar.« Sina nickte ergeben. Fünfzig Euro waren auch bei ihrem großzügig bemessenen Taschengeld kein Pappenstiel, aber allein der Gedanke an die entsetzten Gesichter von Papa und Tricia war ihr das Ganze wert.

»Such dir was aus«, meinte Olly, als sie im Bloody-Ink–Studio ankamen. Er warf Sina einen speckigen Katalog mit verschiedenen Motiven zu und machte sich daran, seiner Caro ein brennendes Herz mit der Aufschrift Love kills slowly in die rechte Schulter zu sticheln.

»Ich nehm den Totenschädel mit den gekreuzten Unterschenkelknochen«, entschied Sina ohne langes Nachdenken.

Caro prustete. »Den To-ten-Schädel mit den ge-kreuz-ten Un-ter-schen-kel-knochen«, äffte sie Sina affektiert nach und wollte sich vor Lachen schier ausschütten. »Ham wir’s nich ’ne Nummer kleiner?!«

»Das heißt skull and bones«, erklärte Olly trocken und wischte konzentriert ein Blutströpfchen von Caros Schulter. Er schwitzte vor Anstrengung.

Caro lachte noch immer über Sinas Unkenntnis.

Sina starrte auf den Katalog mit all den Monstern und Mutanten. Caro hat mich nie wirklich gemocht, stellte sie nüchtern fest. Komisch, dass ich das bis heute nicht gemerkt habe.

Als sie aufstand, um zu gehen, drehte Caro sich grinsend zu ihr um.

»Dacht ich mir, dass du kneifst«, meinte sie spöttisch.

»Ach wo, ich muss nur pinkeln«, konterte Sina.

Eine knappe Stunde später saß sie auf Caros Platz, und Olly setzte in ihrem Nacken die Tätowiernadel an.

Es tat höllisch weh.

Als Sina kurz nach Mitternacht nach Hause kam, erwartete sie zu ihrer Verblüffung nicht das übliche Donnerwetter.

Stattdessen saßen ihr Vater und Tricia in trauter Zweisamkeit im Kaminzimmer beieinander. Die Filzstiftspur auf dem schicken, neuen Ledersofa wurde mittlerweile gnädig von einem himmelblauen Kaschmirplaid verdeckt, und auf dem Glastisch stand eine Flasche Rotwein mit drei Gläsern.

»Have a seat«, sagte Tricia. »Setz dich.«

»Wir möchten mit dir ein paar Sachen besprechen«, begann Sinas Vater und goss allen ein Glas Rotwein ein.

»Aua!«, entfuhr es Sina.

»Bitte?«, fragte ihr Vater irritiert.

»Nichts-nichts.« Verstohlen fuhr sich Sina mit der Hand in den Nacken. Das Tattoo war nicht größer als vielleicht fünf, sechs Zentimeter im Quadrat, aber es puckerte und brannte, als ob ihr jemand glühende Kohlen auf die nackte Haut gelegt hätte.

»Frau Haberlandt hat uns Schloss Granzow empfohlen, weil es derzeit das mit Abstand schönste und bestausgestattete Internat weit und breit ist«, fuhr Johann Terbeek fort. »Und ich möchte, dass du dir darüber klar bist, dass sich keiner von uns die Entscheidung leicht gemacht hat.«

»Nein, natürlich nicht«, versetzte Sina. »Nur: Allzu schwer kann euch die Entscheidung ja nicht gefallen sein. Denn nach meiner Meinung hat ja keiner gefragt.«

Tricia beugte sich vor und versuchte, ihre Hand auf Sinas Hand zu legen. »Nein, gefragt hat dich keiner«, sagte sie sanft und ignorierte geflissentlich, dass Sina demonstrativ ihre Hand wegzog, »aber gebeten haben wir dich, x-mal. Dass du zur Schule gehst, dass du deine Hausaufgaben machst und aufhörst, dich mit dieser Caro rumzutreiben.«

Das hat sich nach dem heutigen Nachmittag eh erledigt, dachte Sina und versuchte eisern, den brennenden Schmerz im Nacken zu ignorieren. Sie hatte das Gefühl, dass es von Minute zu Minute schlimmer wurde.

»Eigentlich ist es nicht üblich, dass mitten im laufenden Schuljahr neue Schüler aufgenommen werden, aber wir haben mit der Schulleiterin, Frau Dr. Jung, gesprochen, und sie ist bereit, in deinem Fall eine Ausnahme zu machen. Eine Schülerin ist nämlich ...« Johann Terbeek unterbrach sich erschrocken und sprang auf. »Aber ... Sinchen! Das ist doch kein Grund zu weinen!«

»Ach was!«, fauchte Sina. »Wegen dem blöden Internat heul ich doch nicht!« Sie biss die Zähne zusammen, aber es nützte nichts. Trotzdem liefen ihr die Tränen die Wangen herunter. Da, wo sich das Tattoo befand, musste mittlerweile das gesamte Fleisch vom Knochen weggeätzt sein. Jedenfalls fühlte es sich so an. Alles, was sie jetzt noch wollte, war wegrennen: rauf in ihr Zimmer, die Tür von innen abschließen und ab unter die Bettdecke.

Aber dazu kam es gar nicht erst, denn als ihr Vater fürsorglich den Arm um ihre Schultern legte und dabei ihren Nacken berührte, schrie sie so laut auf, das Tricia mit vor Schreck geweiteten Augen auf sie zugestürzt kam. Innerhalb von Sekunden hatte sie das Pflaster entdeckt.

»Oh my God«, murmelte sie, als sie es abgelöst hatte.

Sina wimmerte leise vor sich hin. Ihr war jetzt alles egal, sie wollte nur, dass das Brennen aufhörte.

Von da an liefen im Terbeek’schen Kaminzimmer zwei verschiedene Filme parallel: Tricia wurde zur Protagonistin einer Krankenhausserie und agierte so klar, kühl und effizient wie im Emergency Room von Sacred Heart.

Johann Terbeek mutierte zu einer Art Jack-Nicholson-Verschnitt, der den Teufel und sein gesamtes Höllenpersonal auf denjenigen herabbeschwor, der seiner Tochter das angetan hatte.

Zum ersten Mal war Sina froh, eine angehende Ärztin im Haus zu haben.

»Eine heftige allergische Reaktion«, erklärte Tricia, »und das anscheinend gleich doppelt: auf das Pflaster und auf die Farben. Wer weiß, was da alles drin war.«

»Aber Olly hat gesagt, er nimmt Biofarben ...«, wandte Sina kleinlaut ein.

»Ja, gerade die enthalten manchmal jede Menge Nickel«, erklärte Tricia und tupfte vorsichtig Cortisonsalbe auf Sinas Nacken.

»Olly-wie?«, fragte Sinas Vater und tippte auf die Schnellwahlnummer seines Rechtsanwalts. Natürlich war um die Zeit niemand in der Kanzlei.

»Ich weiß nicht, wie er mit Nachnamen heißt«, erklärte Sina wahrheitsgemäß. »Und ein richtiger Tätowierer ist er auch noch nicht.«

Sie würde Olly nicht verraten, um keinen Preis! Sina war klar, dass sie sich das Ganze selbst zuzuschreiben hatte. Schließlich hatte sie sich diesen quietschbunten Totenkopf nur stechen lassen, um Caro ein letztes Mal zu imponieren. Dabei hätte sie doch wissen müssen, dass Caro außer von sich selbst von niemandem zu beeindrucken war.

Als Sina mit keinerlei Vernunftappellen dazu zu bewegen war, die Adresse des Tattoo-Studios zu verraten, gab Johann Terbeek schließlich auf.

Seltsam, dachte Sina. Weder Papa noch Tricia sind auf die Idee gekommen, mit mir zu schimpfen. Stattdessen werd ich getröstet und ins Bett gebracht wie ein Kleinkind. Das fühlte sich gar nicht so schlecht an. Und sie musste es ja auch niemandem weitererzählen.

»Sleep well, sweetie«, sagte Tricia, bevor sie das Licht ausmachte.

Sina lag auf dem Bauch – Hals und Nacken mit Mull bandagiert – und seufzte erleichtert. Der Schmerz hatte deutlich nachgelassen. Und bis alles abgeheilt war, durfte sie sicher noch zu Hause bleiben. Eine Galgenfrist, aber besser als nichts.

2

 

Das Schloss war beinahe noch weißer als auf Frau Haberlandts Hochglanzprospekt. Auf dem Rasen neben der kiesbestreuten Auffahrt saß allerdings kein einziger schick gestylter Schüler und keine einzige hübsch frisierte Schülerin.

Kunststück: Erstens war es dazu noch viel zu kalt und zweitens war es gerade mal halb elf. Die Reichen, Schönen und Begabten von Schloss Granzow hockten also allesamt in ihren Klassenräumen und paukten Mathe, Chemie oder Latein.

Sina hatte Tricia, Laura-Joy und ihren Vater im Hotel Am Yachthafen zurückgelassen und war mit dem Taxi zum Internat gefahren. Es war lieb, dass die drei einen Tag vorher mit ihr hergefahren waren, um ihr die Gegend zu zeigen, und Sina hatte zähneknirschend zugeben müssen, dass die mecklenburgische Fluss- und Seenlandschaft sie tatsächlich beeindruckt hatte. Aber wenn dieses weiße Schnörkelschlösschen nun mal für die nächsten vier Jahre ihr Zuhause sein sollte, dann wollte sie es auch im Alleingang für sich erobern und sich erst mal alles in Ruhe von außen angucken.

Doch daraus wurde nichts, denn kaum war das Taxi über den verräterisch knirschenden Kiesweg zurückgefahren, wurde im Seitenflügel des Schlösschens ein Fenster aufgerissen, und eine Stimme rief aufgekratzt: »Halli-Halloooo!«

Sina schaute hoch: Ein Mädchen mit roter Wollmütze winkte wild mit beiden Händen wedelnd zu ihr herunter.

Halli-Hallo?, dachte Sina. Das klingt ja wie in den alten Heimatfilmen, die in den Oster- und Weihnachtsferien immer im Nachmittagsprogramm laufen.

Doch bevor sie sich weiter über die altbackene Begrüßung mokieren konnte, wurde die Tür aufgerissen und ein sommersprossiges Mädchen mit langen braunen Haaren kam auf sie zugestürzt: »Hallo, du musst die Sina sein!«

Das Wollmützenmädchen stutzte nur einen winzigen Moment angesichts Sinas Goth-Outfits und der pandamäßig schwarz umrandeten Augen. Dann sprudelte es ohne Punkt und Komma los: »Herzlich willkommen auf Schloss Granzow! Ich bin die Nora, deine Patin! Wir wohnen zusammen!«

Ehe Sina sich versah, war das Wollmützenmädchen ihr um den Hals gefallen. Dann griff sich ihre »Patin« kurzerhand den Koffertrolley und trabte – Sina strahlend zum Mitgehen auffordernd – in Richtung Schlosspark. »Weißt du, die Lili ist nämlich seit nach den Ferien ’ne Exi«, plapperte sie weiter, »weil ihre Mutti doch nach Waren gezogen ist, und deshalb ist der zweite Platz bei mir im Zimmer frei!«

Mutti?!, dachte Sina. Wer sagt denn heute noch Mutti?

Während Nora ohne Luft zu holen weiterredete und ihr erklärte, dass es auf Schloss Granzow Innis und Exis gab – Schüler, die intern in einem der Wohngebäude auf dem Schlossareal lebten, und solche, die nur hier zur Schule gingen und ansonsten extern, also zu Hause wohnten –, musterte Sina ihre Zimmergenossin von oben bis unten: Die rote Strickmütze passte farblich genau zu einem Häkelschal, der aus lauter bunten Quadraten zusammengesetzt war. Dann ging es weiter mit einer offensichtlich handgestrickten Ringelmusterjacke und einem Wildledermini aus den Siebzigern.

»Was trägst’n du für’n komischen Deckel? Ist in eurem Nobelschuppen hier nicht geheizt?«, unterbrach Sina Noras Redefluss.

»Handarbeits-AG«, antwortete Nora strahlend, »hab ich gerade fertig gekriegt. Musst du unbedingt auch mitmachen!«

Ach du Schande, dachte Sina, eine leibhaftige Strickliesel, und zu allem Überfluss in Muttis altem Lederröckchen. Na, das kann ja heiter werden!

Als sie an einem der modernen, zweistöckigen Wohngebäude im Schlosspark angekommen waren, hatte Sina bereits erfahren, dass Noras »Mutti« von Beruf Hebamme war und Noras »Vati« Tierarzt, und dass die beiden sich vor drei Jahren entschlossen hatten, in irgendeinem Kaff an der polnischen Grenze ein Reiter-Hotel aufzumachen.

»... mit Wellnessbereichen für Mensch und Tier«, fügte Nora stolz hinzu.

»Aha, und dich haben sie dafür ins Internat gesteckt«, stellte Sina trocken fest.

»Quatsch! Ich hatte einfach keine Lust, jeden Tag ’ne Stunde hin zu meinem Gymnasium zu fahren und ’ne Stunde wieder zurück«, erklärte Nora weiterhin übers ganze Gesicht strahlend. Dann riss sie mit »Taddaaaa!« die zweite Tür links vom Eingang auf.

Sina sog verdattert die Luft ein: Das Zimmer war riesig und nach hinten raus gab es sogar eine eigene kleine Terrasse! Die beiden Schlaf- und Arbeitsplätze rechts und links waren mit halbhohen, offenen Regalen voneinander abgegrenzt.

»Wow«, entfuhr es Sina wider Willen.

»Wenn man will, kann man auch mal ganz für sich alleine sein«, erklärte Nora und zog an einem Nesselvorhang, der oberhalb der Regale quer durchs Zimmer lief.

»Den kannste gleich zulassen«, erklärte Sina und hievte ihren Koffertrolley auf das Fußende ihres Bettes.

Nora schwieg. Nach ein, zwei Minuten wurde es Sina leicht mulmig. Es tat ihr leid, Nora so vor den Kopf gestoßen zu haben. Die Strickliesel hatte das alles ja nett gemeint und sicher ergab sich in den nächsten Tagen die Möglichkeit, zu einer anderen Zimmergenossin zu wechseln. Einer, die weder ständig von Mutti und Vati schwärmte noch kunterbunte, selbst gestrickte Ringeljäckchen trug.

»Sorry, ist nicht böse gemeint«, erklärte Sina durch den geschlossenen Nesselvorhang hindurch, »aber ich glaube, wir passen einfach nicht zusammen.«

Sie öffnete den Reißverschluss ihres Trolleys und schickte sich an, ihre Sachen auszupacken, als der Vorhang zwischen ihrer und Noras Zimmerhälfte mit einem scharfen Rrritsch wieder aufgezogen wurde. »Ich bin deine Patin, schon vergessen?«

Nora funkelte sie an.

»Das heißt, ich bin für die nächsten vier Wochen dafür verantwortlich, dass du dich hier auf Granzow zurechtfindest und integrierst. Es ist völlig in Ordnung und normal, dass du dich erst mal abschotten und deine Ruhe haben willst. Aber ob wir nun zusammenpassen oder nicht: Du bist mir zugeteilt worden und damit basta. Also mach kein Theater und lass mich dir helfen.«

Und damit riss sie den Kleiderschrank auf und schnippste auffordernd mit den Fingern: »Solange es noch kalt ist, Pullis am besten griffbereit im Mittelfach.«

Alle Achtung, dachte Sina und reichte Nora einen Stapel schwarzer Secondhandpullover herüber: Die Strickliesel ist unter ihren kuscheligen bunten Wollklamöttchen ganz schön tough.

Eine Weile werkelten die beiden stumm vor sich hin. Als Letztes nahm Sina ihren Computer und die Lautsprecherboxen für den iPod aus dem Koffer.

»Was hörst ’n du so?«, fragte Nora, während sie geschickt die Geräte verkabelte.

Sina zuckte die Achseln. »Metal, Horrorpunk, Death Rock«, antwortete sie und schickte sich an, ein Corvus-Corax-Plakat mit Post-it zu versehen und über ihr Bett zu hängen.

»Und wer ist das?«, fragte Nora weiter.

»’ne Band. Aus Berlin. Mittelalter-Metal und so. Der Dünne hier ist Ardor und das sind Hatz, Castus, Jordon ...«

Nora legte den Kopf schief und musterte die martialisch kostümierten, halb nackten Männer. »Der da ist ja süß«, meinte sie und tippte auf den weiß blondierten jungen Mann im Hintergrund.

»Das ist Wim, genannt Venustus«, erklärte Sina. Natürlich hatte sich die Strickliesel den am harmlosesten aussehenden der sieben Musiker ausgeguckt. »Der hat die Band mitgegründet und baut die ganzen mittelalterlichen Instrumente nach. Magst du mal hören?«

Nora nickte. Sina stellte die Lautstärke auf Höchststufe und Nora zuckte erschrocken zusammen, als sieben wütende Männerstimmen, begleitet von wilden Trommel- und Schalmeienklängen, den Raum erfüllten.

»Was hörst ’n du so?«, rief Sina über den ohrenbetäubenden Lärm hinweg Nora zu.

»Oldies«, brüllte Nora zurück, »Pink Floyd, Clapton, Dire Straits und so.«

Als ob ich’s geahnt hätte!, dachte Sina. Aber die vier Wochen Stricklieselpatenschaft stehst du schon durch und dann wird man weitersehen.

»Ich hoffe, du hast ’n paar gute Kopfhörer dabei«, brüllte Nora, als das einsetzende Trommelsolo schier die Wände erzittern ließ, »sonst kriegste echt Stress mit Maren und Jenny nebenan!«

Sie griff in das Seitenfach des Koffertrolleys, zog ein mit einem schwarzwollenen Tuch umhülltes Etwas daraus hervor und wickelte es aus: Ein in Silber gerahmtes Foto kam zum Vorschein.

»Das hab ich nicht eingepackt!«, rief Sina erschrocken, stellte die Musik ab und versuchte vergeblich, Nora das Bild wegzunehmen.

»Ist das deine Schwester?«, fragte Nora ungerührt und tippte auf Tricia mit dem Baby auf dem Arm.

»Nein, das ist die neue Frau von meinem Vater«, erklärte Sina knapp, »und das da ist mein Vater und das da meine Mutter und das da bin ich und das Ganze ist bei der Taufe von meiner Halbschwester – das ist das pinke Teil da – aufgenommen worden. Zufrieden?«

Und damit riss sie Nora das Foto weg und knallte es, die Vorderseite nach unten, auf den Schreibtisch. »Die spinnt doch wohl!«, fauchte sie und wandte sich zu Nora um. »Das muss mir Tricia heimlich in die Außentasche gesteckt haben! Als ob ich hier vor Heimweh ...«

»Mensch, Kaschmir mit Seide«, unterbrach Nora ihre Schimpftirade und schmiegte das schwarze Tuch, in das das Bild eingewickelt war, mit verzücktem Gesichtsausdruck an ihre Wange. »Und Mitsouko von Guerlain ...« fügte sie hingerissen schnuppernd hinzu.

Jetzt erkannte Sina das schwarze Etwas: Es war der Lieblingsschal ihrer Mutter. Ein kleines Zettelchen war auf den Boden geflattert. »Ich bin stolz auf dich und hab dich lieb! Mama«, stand darauf. Offensichtlich hatte ihre Mutter das Bild und den Schal aus England nach Berlin geschickt und Tricia damit beauftragt, beides in ihrem Koffer zu deponieren.

Sina schossen Tränen in die Augen. Mit hängenden Schultern stand sie da und schluchzte erbärmlich. Und das vor den Augen der Strickliesel. Sie hätte in den Boden versinken können vor Scham.

Doch Nora legte ihr den Schal um die Schultern und drückte sie sanft in einen der beiden Korbsessel. »Wir weinen alle am ersten Tag«, erklärte sie leise. Dann ging sie zur Terrassentür und schaute schweigend eine Weile hinaus, bis Sinas vernehmliches Naseputzen darauf hinwies, dass der erste Tränenfluss versiegt war.

»Guck mal, das hier sind meine Eltern«, erklärte Nora und nahm ein gerahmtes Foto vom Wandregal über ihrem Bett, »zusammen mit Bruno, unserem Hund.« Das Foto zeigte eine sympathische kleine Frau und einen sie um mindestens anderthalb Köpfe überragenden Mann, der mit ihr um die Wette grinste. Zu ihren Füßen saß ein schlappohriger Basset-Hound und lächelte genau wie Noras Eltern freundlich in die Kamera.

»Soll ich dein Bild auf dein Wandregal stellen?«, fragte Nora.

Sina schniefte und nickte ergeben.

»Dein Vater sieht ja toll aus«, meinte Nora, »total wie Richard Gere.«

»Richard Gere?!«, schrie Sina auf und schüttelte sich demonstrativ. »Igitt-igitt! Was hast du denn für’n fiesen Geschmack?« Und dann brachen beide in einvernehmliches Gelächter aus.

»Na, ihr seid ja gut drauf!« Ein rundliches Mädchen mit dunklem Pagenkopf und braunen Knopfaugen steckte den Kopf durch die Terrassentür. »Hi! Maren Volz. Und das ist Jenny. Jenny Reinders.« Das Knopfauge winkte eine kleine, spillerige Blondine mit Nickelbrille zu sich heran und legte ihr den Arm um die Schultern. »Wir sind die Horror-Sisters!«

»Quatsch!« Nora lachte und wandte sich Sina zu. »Die beiden sind weder Horror noch Geschwister. Aber sie können sich hier an der Schule so gut wie alles erlauben, weil sie sozusagen die Superstars sind: Maren wird garantiert mal Bundeskanzlerin, und Jenny kriegt den Nobelpreis in Chemie.«

»Ach was! Ist doch viel zu viel Stress! Wir werden einfach Germany’s Next Topmodel und heiraten ’nen Multimilliardär«, grinste Jenny und marschierte mit ausgestreckten Händen auf Sina zu. Ihre Zahnspange blitzte mit ihren graublauen Augen um die Wette.

»Sina«, sagte Sina und schüttelte den beiden Zimmernachbarinnen etwas befangen die Hand. Die Bundeskanzlerin und die Nobelpreisträgerin nahm man den beiden sofort ab. Sina schluckte und fragte sich, was sie zwischen den Elitekids auf Schloss Granzow wohl zu suchen hatte. Nicht mal Stricken hatte sie gelernt.

»Kommt, jetzt ist gerade Pause. Ist doch besser, du lernst die anderen erst mal so ganz nebenbei kennen«, erklärte Maren resolut und zog Sina über die Terrasse hinaus in den hinteren Teil des Schlossparks. Hier wurde das leicht hügelige Gelände von einer riesigen Rasenfläche mit kunstvoll integrierten Inseln aus Rhododendronbüschen beherrscht.

Mädchen und Jungen schlenderten in kleinen Grüppchen den Hauptweg entlang, der das Schlossgebäude mit den verschiedenen Sporteinrichtungen des Internats verband. Ein bisschen wie der Campus einer Fantasieuniversität in irgendeiner amerikanischen Fernsehserie, dachte Sina, alles glatt und wie geleckt. Und pupslangweilig.

»Du ... du ... Versager! Du widerst mich an! Ich hab dich vom ersten Tag an gehasst!«, klang es plötzlich hinter einem der Rhododendronsträucher hervor.

»Das wirst du bereuen, du Schlampe!«, drohte eine männliche Stimme. Dann folgten Schlaggeräusche und wildes Geschrei und Gestöhne. Irritiert schaute Sina von einem zum anderen: Niemand schien von dem ganz offensichtlich eskalierenden Streit Notiz zu nehmen.

»Tilman dreht«, erklärte Nora trocken und bog hinter einem der Büsche um die Ecke.

Dort stand eine leibhaftige Braut mit Schleier und Rüschenkleid und drosch mit ihrem Blumenstrauß auf den Bräutigam ein, während dieser ungeschickt versuchte, eine Plastikpistole aus der Tasche seines etwas zu groß geratenen Smokings zu zerren. Ein Junge mit einer Videokamera vor der Nase filmte das Ganze und wedelte der wütenden Braut mit der freien Hand ermunternd zu. Hinter dem Brautpaar standen zwei lila gewandete Brautjungfern – ganz offensichtlich Geschwister – und zückten ihre Taschentücher, offenbar, um angesichts der Szene, die sich vor ihren Augen abspielte, in Tränen auszubrechen. Doch die beiden unterbrachen sofort ihr Spiel, als sie Sina auftauchen sahen.

»Da kommt die Neue!«, wisperte die ältere der beiden ihrer kleinen Schwester ins Ohr. Die Kleine kicherte und flüsterte etwas zurück, ohne dabei den Blick von Sina zu lassen.

Wenn Sina später an diese erste Begegnung mit den Merges-Schwestern dachte, schämte sie sich jedes Mal in Grund und Boden. Sie hatte die elfenhaft-zarte, ewig lächelnde Lili von Anfang an nicht gemocht. Und neben ihrer älteren, ebenfalls flachsblonden Schwester Vivi mit ihren riesigen, bernsteinfarbenen Feenaugen war Sina sich sofort wie ein hässliches, fettes Trampel vorgekommen. Der weitere Verlauf dieser ersten Begegnung trug ebenfalls nicht dazu bei, die beiden zu mögen.

»Mensch, wer latscht mir denn da wieder mal in die Aufnahme«, fauchte der Junge und ließ frustriert die Videokamera sinken. Dann brüllte er »Cut!« und wandte sich Nora, Jenny, Maren und Sina zu: »Sagt mal, seid ihr bescheuert, oder was?!«

»Menno, jetzt können wir noch mal von vorne anfangen«, maulte die Braut und warf genervt den bereits reichlich zerfledderten Blumenstrauß auf den Boden. Der Bräutigam zupfte sich Rosenblätter aus den verwuschelten Haaren, und die beiden zuckersüßen, fliederfarbenen Brautjungfern schauten schuldbewusst zu Boden.

»Entschuldigung«, piepste Sina und kam sich reichlich dämlich vor, »ich wusste ja nicht, was hier ...«

»Kamera!«, unterbrach sie der Junge und hielt ihr demonstrativ die Kamera unter die Nase. »Darsteller!«, fuhr er fort und deutete exzessiv auf Braut, Bräutigam und Brautjungfern. Dann tippte er sich mit dem Zeigefinger auf die Brust: »Regisseur! Schon mal was von Filmaufnahmen gehört?!«

»Ja, ich hab’s ja kapiert!«, fauchte Sina zurück.

»Es war meine Schuld«, unterbrach die jüngere der beiden elfenhaften Schwestern den sich anbahnenden Streit, »tut mir leid, Till ...« Und dann klimperte sie mit ihren langen, dunklen Bambiwimpern, als wolle sie gleich losheulen.

Sofort entspannten sich die Züge des Jung-Regisseurs. »Schon okay, Lilifee«, sagte er lächelnd, »wir hätten’s sowieso noch mal machen müssen.«

Lilifee?!, dachte Sina. Typisch: Einen auf Alfred Hitchcock machen und sich von so ’ner billigen Bambimasche einwickeln lassen!

Trotzdem kam Sina nicht umhin festzustellen, dass der Angeber mit der Kamera in der Hand ausgesprochen schöne lange, indianerglatte schwarze Haare hatte und dazu tiefblaue Augen. Doch bevor sie sich weiter mit diesem Thema befassen konnte, drängelte sich Maren rigoros zwischen die beiden Gruppen. »Till, jetzt halt mal die Luft an und gib Pfötchen«, sagte sie zu dem Jungen mit der Kamera. »Das hier ist Sina, unsere Neue, und bevor du’s dir mit ’ner potenziellen Hauptdarstellerin verdirbst, sei einfach artig und sag Hallo.«

»Hallo«, sagte Till und nickte Sina höflich zu. Sina nickte höflich zurück. Alle Achtung, dachte Sina, das macht die künftige Kanzlerin aber echt prima.

Till legte seine Kamera ab und wandte sich an das Brautpaar und die beiden Brautjungfern. »Schluss für heute. Wir machen das Ganze morgen noch mal.«

Maulend zogen Braut und Bräutigam davon. Lili und Vivi tuschelten miteinander.

»Ist noch was?«, fragte Till.

»Nein-nein«, beeilte Vivi sich zu sagen. Dann streckte sie Sina ihre kleine weiße Hand entgegen. »Ich heiße Viviane Merges, aber alle sagen Vivi zu mir. Wir gehen in dieselbe Klasse. Und das ist meine Schwester Liliane. Sie wird Lili genannt und sie ist amtierende Juniorenmeisterin im Geräteturnen.«

»Hi ...«, brummte Sina. Langsam gingen ihr die Rekorde der Musterschüler von Schloss Granzow wirklich auf die Nerven. »... und ich heiß’ Gesina Aglaia Terbeek, werde Sina genannt und bin Weltmeisterin im Unterwasserapfelkuchenessen.«

Lili riss ihre Rehaugen auf. »Echt?«

Sina blies die Backen auf, doch bevor sie etwas auf Lilis offensichtlich ernst gemeinte Frage erwidern konnte, mischte sich Maren, die Bundeskanzlerin, erneut ein: »Till dreht ’ne Telenovela. Schloss Granzow: Grauen, Glück und gelbe Rosen. Wird in den letzten Wochen vor den Ferien immer nachmittags in der Aula gezeigt.«

»Wow«, sagte Sina und war gegen ihren Willen beeindruckt.

»Er leitet die Videogruppe hier im Internat«, fügte Jenny hinzu. »Na, Till, brauchst du nicht noch ’ne Schauspielerin?«, fragte sie dann und legte Sina demonstrativ den Arm um die Schultern.

»Ich dreh ’ne Daily und kein Horrormovie«, erklärte Till und musterte offenbar nicht gerade begeistert Sinas Gothic-Outfit. Dann grinste er plötzlich und sagte: »Obwohl ... na ja, mal sehen. Man sollte schließlich ab und zu mal das Genre wechseln.«

Ein grässlich arroganter Machotyp, dachte Sina. Da sind die schönen blauen Augen reine Verschwendung. Und die winnetoumäßig schwarzen Haare auch.

Trotzdem ließ sie die Begegnung im Park den ganzen Tag über nicht in Ruhe. Am Abend schaute sie sich schließlich kritisch im Spiegel an. Die dicken Kajalbalken um die Augen und die zentimeterweit herausgewachsene schwarze Haarfarbe waren eigentlich nichts weiter als der Versuch, wie eine 1:1-Kopie von Caro auszusehen. Und Caro rangierte nach der unterkühlten Abschiedsarie neulich nicht gerade auf den ersten Plätzen von Sinas Beliebtheitsliste. Entschlossen wusch sich Sina den Kajal herunter und zuppelte anschließend ein wenig ratlos an den rot-schwarzen Haarsträhnen herum. »Du, Nora, kannst du mal kommen?«

»Kann ich dir was helfen?« Nora steckte den Kopf durch die offen stehende Badezimmertür und begriff offenbar sofort, worum es ging. Kritisch begutachtete sie die vom vielen Färben ausgelaugten Haarspitzen. »Wenn du das weiter rauswachsen lässt, sieht es grauenvoll aus, und wenn du’s bleichst und dann für den Übergang mit Rotblond überfärbst, wird’s wahrscheinlich grün und fühlt sich anschließend an wie ’ne alte Kokosmatte«, erklärte sie.

Sina seufzte. »Okay. Runter damit.«

Damit war die Sache ausgemacht: Caro raus, Sina rein!

Nora holte die Stickschere aus ihrem Handarbeitskorb und schnibbelte los. Als sie das Tattoo im Nacken entdeckte, schluckte sie erschrocken. »Tut das nicht weh?«

»Nicht mehr«, erklärte Sina trocken und dann erzählte sie Nora die ganze Geschichte. Von Caro, Tricia, dem Baby und der glücklichen Scheidung ihrer Eltern. Nora schnibbelte vor sich hin und hörte zu. Es tat gut, sich einfach mal alles von der Seele zu reden, ohne dass gleich jemand mit guten Ratschlägen dazwischenfuhr.

Überhaupt war der Tag viel besser verlaufen, als Sina es sich vorgestellt hatte. Frau Rücker, die Klassenlehrerin, war überraschend jung und hübsch und hatte Sina jedwede peinliche Vorstellungsarie erspart. »Hallo, Sina, willkommen in der 9 a«, hatte sie gesagt und war in aller Selbstverständlichkeit zu Shakespeares Sonetten übergegangen: »Shall I compare thee to a summer’s day ...?«

Das verhinderte zwar nicht den ein oder anderen neugierigen Blick, aber wenigstens musste Sina weder lang und breit erzählen, woher sie kam, noch was ihre Hobbys oder Interessen oder gar ihre Lieblingsfächer waren.

Vivi, die ältere der beiden Merges-Schwestern, saß ein paar Reihen weiter neben einem fülligen, mürrisch dreinblickenden Jungen. Er hatte sein widerspenstiges braunes Kraushaar im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und war Sina als »Kostian Borisenko, unser Schachgenie« vorgestellt worden. Noch ein Genie, hatte Sina genervt festgestellt. Und dann noch Russe und Schach? Das wandelnde Klischee! Kostian war als Sohn des Hausmeisters eine Art Mischung aus Inni und Exi: Er wohnte zwar im Internat, aber nicht in einer der Schülerunterkünfte, sondern zusammen mit seinem Vater im Torhaus, direkt neben dem Eingang. Obwohl Kostian kaum etwas sagte, war offensichtlich, dass er schwer in Vivi verknallt war. Er sah mit seinen breiten Schultern und den spießigen Klamotten aus wie ihr ergebener, zum Äußersten entschlossener Bodyguard.

Lili, Vivis jüngere Schwester, saß allein in der letzten Reihe. Hinter ihr an der Wand lehnte eine zusammengeklappte Campingliege. »Lili wird in letzter Zeit öfter mal schwindelig«, hatte Vivi erklärt und so getan, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt.

Wenn ich das durchziehen würde, was die beiden treiben, würd ich auch irgendwann zusammenklappen, dachte Sina. Lili ging offenbar in jeder freien Minute trainieren, und statt der leckeren Vollkornbrötchen, die es in der kleinen Pause in der Mensa gab, hatten die beiden Schwestern irgendeinen eklig braunen Brei aus einer mitgebrachten Tupperdose gegessen. Sina hatte sich geschüttelt, als sie die braune Pampe sah, aber Vivi hatte was von Aufbaukost gefaselt, und dass man das als Sportler in der Wachstumsphase brauchen würde. Tapfer aß sie ebenfalls das fiese Zeug. Scheinbar machte sie aus schwesterlicher Solidarität alles mit.

Dabei hatte Sina nicht den Eindruck, dass die Aufbaukost irgendetwas aufbaute. Eher im Gegenteil. Am Nachmittag musste Lili sogar den Unterricht verlassen, um zu einem ihrer – wie Nora es nannte – »hunderttausend sinnlosen Arzttermine« zu gehen. »Meine Schwester hat eben eine zarte Kondition«, hatte Vivi erklärt, als sei das was besonders Schickes, »das liegt bei uns in der Familie.«

Zarte Kondition, dachte Sina,