Sidmawuk

von K.Y. Laval

 

Impressum

Sidmawuk

K.Y. Laval

Copyright: 2016 K.Y. Laval

published by: BookRix GmbH & Co. KG, München

Deutschland

 

K.Y. Laval: tanateros69@gmail.com

 

Lizenzerklärung

Ich möchte Sie freundlich darauf hinweisen, dass dieses eBook ausschließlich für Ihre persönliche Nutzung lizensiert ist. Das eBook darf nicht an Dritte weitergegeben oder weiterverkauft werden. Wenn Sie das Buch an eine andere Person weitergeben wollen, kaufen Sie bitte eine zusätzliche Lizenz für jeden weiteren Rezipienten. Wenn Sie dieses Buch lesen, es aber nicht gekauft haben oder es nicht für Ihre persönliche Nutzung lizensiert ist, kaufen Sie bitte Ihre eigene Kopie.

 

Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit des Autors respektieren und würdigen!

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Sidmawuk

Impressum

Lizenzerklärung

Inhaltsverzeichnis

Quellen

Widmung

Neunzehn Jahre vor Obvicioun

Prolog

Sidmawuk

Die drei Teufel

Sieben Wochen später

Einen Monat später

Das Konzert

Sechs Wochen später

Epilog

Neuerscheinungen

Empfehlungen

Leseprobe aus der Neuerscheinung Kehre um und werfe Schatten

Leseprobe aus der Neuerscheinung Fleischrequiem

Besonderheit an diesem eBook

 

Quellen

Einige Verse stammen aus dem Handbuch der Chaosmagie - verfasst von Frater .717, erschienen im Bohmeier Verlag. Diese wurden der Handlung des Buches entsprechend angepasst.

Einige Verse stammen von der Autorin.

 

 

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Widmung

Für meine Leser.

 

 

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Neunzehn Jahre vor Obvicioun

Dezember 2008

 

Prolog

Als Sylvian zu sich kommt, findet er sich zusammen mit Jared in einer Gefängniszelle wieder. Er runzelt besorgt die Stirn, dann kriecht er auf Knien zu Jared. Mit zitternden Händen löst er den Gürtel von dessen Hals. Tiefe, dunkel verfärbte Furchen bleiben zurück. Sylvian legt sein Ohr auf Jareds Brust. Er kann seinen Herzschlag spüren und hören, wenn auch nur sehr schwach. „Jared“, flüstert er. Zärtlich streicht er ihm über den Kopf, legt seine Hände an Jareds Schläfen und Wangen. „Jared“, flüstert er wieder. Er streicht ihm über die verschwitzte Stirn und das Haar aus dem Gesicht. „Was haben sie nur mit dir gemacht? Was haben sie dir nur angetan?“ In Wahrheit aber weiß er es sehr genau. Doch Jared hätte er diese Erfahrung gerne erspart. Er fühlt - weiß, dass Jared nach alledem nicht mehr derselbe sein wird, und ihn lässt das Gefühl nicht los, dass Jared die Vergewaltigung später mehr zusetzen wird als ihm. Sylvian atmet tief ein und laut seufzend wieder aus. Das, was er gesehen hat, hat ihn zutiefst erschüttert. Sylvian war ein kleiner Junge gewesen, als es ihm passiert war. Mit elf widerfuhr es ihm immer noch, und bis zu diesem Zeitpunkt sieht er sich selbst als den kleinen Jungen. Doch wenn dem großen, breiten, kräftigen Jared dasselbe passieren kann wie ihm, wie kann Sylvian sich dann jemals wieder sicher fühlen? Tränen laufen ihm über die Wangen. Er legt sich neben Jared auf den Boden, legt seinen Arm um ihn, drückt sich an ihn…

 

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Als Kyla zu sich kommt, blickt sie in einen hochmodernen schwarzen Plasma-Bildschirm, in dem sie sich spiegelt - und nicht nur sie. Zögernd fällt ihr Blick nach links, wo sie eine Frau und ein kleines Mädchen erblickt. Beide sitzen sie aufrecht, die Arme ruhen auf den dafür vorgesehenen Lehnen. Ihre Augen sind starr und geradeaus gerichtet. Kyla blickt an sich herab. Ihre Unterarme sind mit Stricken an die Armlehnen gefesselt, ihre Beine an die des Stuhls. Langsam dreht sie den Kopf nach rechts, und erst als sie den kleinen Jungen, in derselben Haltung sitzend, jedoch mit gesenktem Kopf, erblickt, bemerkt sie den leichten Verwesungsgeruch, der in der Luft hängt, der aber von einem stärkeren Geruch überdeckt wird. Es ist der intensive Geruch einer Chemikalie. Kyla wird übel. Ein schmaler Strahl Erbrochenes schießt zwischen ihren Lippen hervor. Reflexartig will sie die Hand zum Mund führen, was aber natürlich nicht klappt. Sie schluckt mehrmals hintereinander, bemüht darum, den anhaltenden Brechreiz zu unterdrücken. Irgendetwas sagt ihr, dass es nicht ratsam wäre, sich jetzt und hier zu übergeben. Hier übt sich jemand im Präparieren von Leichnamen, und du warst wohl das erste Versuchsobjekt… Die Haut des Jungen ist grau und eingefallen. Sein Kinn ist ihm auf die Brust gesunken. Etwas von seinem Gesicht ist wiederhergestellt worden. Aber nicht merklich, stellt Kyla fest. Sie wendet den Blick von dem Leichnam ab, sieht wieder auf den Bildschirm. Ihre Augen wandern tiefer, wo sie eine Krippe bemerkt. Sie mustert die Figuren. Sie sind nicht im traditionellen Stil angeordnet. Die Mutter und das Jesuskindlein stehen so, wie man es erwarten würde. Josef und Esel aber stehen in einem anderen Verhältnis zueinander. Josef ist dem Esel zum Opfer gefallen. Der Esel besteigt ihn von hinten. Kyla schüttelt angewidert den Kopf. Sie hält nicht viel vom christlichen Glauben, dennoch ist ihr der Anblick zuwider. Plötzlich vernimmt sie Schritte. Ein kleiner Mann erscheint in der Tür links von ihr. Als sein Blick auf Kyla fällt, verfinstert sich sein Gesicht. Sie ist ihm zu schnell aufgewacht.

„Was hast du mit meinen Freunden gemacht? Wo sind sie“, fragt Kyla ihn zornig, obwohl sie nicht mit Sicherheit weiß, ob dieser Mann zu deren Kidnappern gehört.

Der kleine Mann blickt aus dem Fenster, dann auf seine Armbanduhr und Kyla schließlich missmutig an. Für einen Moment steht er ratlos da. Scheinbar überfordert mit der Situation, beginnt er sich um die eigene Achse zu drehen. Die Show fängt gleich an, kreist es in seinem Kopf. Er muss einen Entschluss fassen.

Kyla sieht ihm stirnrunzelnd bei seinem Kreistanz zu. Nach einer Weile beruhigt sich der kleine Mann etwas. Er verlässt den Raum und kehrt mit einer Schatulle zurück. Er klemmt sie sich unter den Arm und greift sich mit der anderen Hand den Eispickel und den Löffel von dem Tisch, der hinter seiner Familie steht. Dann kommt er wieder nach vorn zu Kyla, hockt sich vor ihr nieder, stellt die Schatulle neben sich auf den schmutzigen Boden und legt die rostigen Werkzeuge daneben. Wieder wirft er einen hektischen Blick auf seine Armbanduhr. „Die Show fängt gleich an“, murmelt er vor sich hin, während er versucht, das Lid von Kylas linkem Auge zu fassen zu bekommen, doch er schafft es nicht. Kyla zieht den Kopf ständig von ihm zurück. T.D. blickt sie zornig an. Er steht auf, kramt in einer Kiste, die rechts von ihm an der Wand steht, holt einen Strick daraus hervor. Er legt ihn Kyla um den Hals, zieht die Enden durch die beiden senkrechten Spalten der Stuhllehne und knotet Kyla mit dem Hals an der Lehne fest. Kyla blickt ihn steinern an. T.D. startet einen neuen Versuch, und so sehr Kyla ihren Kopf auch gegen die Lehne presst, T.D. bekommt das Lid zu fassen und zieht es nach oben. Mit der anderen Hand greift er sich den Eispickel. Kyla blickt starr auf das spitze Ende, das erbarmungslos näher kommt, und wimmert lang gezogen. Als der Pickel ihr Auge durchstößt, entweicht ihr der Atem mit einem kurzen Pfeifen. Rasch legt T.D. den Pickel beiseite, öffnet die Schatulle, holt ein mit altem Blut verschmiertes Likör-Glas daraus hervor, hält es Kyla unter das Auge. Die gallertartige Flüssigkeit, die dabei ist, auszutreten, und sich mit dem Blut vermischt, läuft Kyla auf die Wange. Rasch fängt T.D. das Gemisch mit dem schmutzigen Glas auf. Kyla beißt die Zähne aufeinander. Während T.D. mit dem Löffel das, was von Kylas Auge noch übrig ist, sorgfältig aus dessen Höhle schält, fällt der Blick ihres noch heilen rechten Auges auf das weiße Ziffernblatt von T.D.s runder Uhr. Kyla fokussiert das verkehrte, schwarze Dreieck mit den nach innen geschwungenen Seiten auf der Zwölf und die beiden schwarzen Kleckse, die fünf und sieben Uhr darstellen sollen. Plötzlich geht der Bildschirm hinter T.D. an. T.D. zuckt zusammen, und der Löffel rutscht an Kylas verschmierter Augenhöhle ab.

„Verdammt! Verdammt nochmal!“ Zornig blickt er auf Kyla. Doch Kyla erwidert seinen Blick nicht. Wie gebannt starrt sie auf die Uhr.

„Dann wirst du eben zusehen!“ Hastig schält er den blutigen Rest aus der Augenhöhle.

Kyla hört ihn nicht.

„Das hast du jetzt davon! Das ist die Strafe“, schreit er mit seiner hohen, verzogenen Stimme und erhebt sich. Seine Armbanduhr verschwindet aus Kylas Blickfeld. Kyla starrt ihn wutentbrannt mit einer blutverschmierten Augenhöhle und einem zornigen Auge an.

T.D. schiebt einen Stuhl zwischen Kyla und die Mutter. „Jetzt kannst du mich nicht sehen“, kichert er, als er sich darauf setzt.

Kyla hat keine Ahnung, wovon er spricht, bis sie zum ersten Mal die Gesichtsfeldeinschränkung bemerkt, außerdem kann sie den Kopf nicht drehen. Stattdessen fällt ihr Blick auf den Bildschirm, und Kyla erstarrt geradezu, als sie darauf mit ansehen muss, wie ein Mann, scheinbar völlig außer sich, zwei ihrer Freunde zerstückelt. Sie sieht es, und doch kann sie es nicht fassen. Zu schrecklich, zu unwirklich, um es ertragen zu können. Es ist eine DVD, und die DVD ist ein Fake. Es ist eine DVD, und die DVD ist… Neben ihr vernimmt sie Keuchen und Stöhnen. Sie muss es nicht sehen. Es sträubt ihr die Haare. Unzählige Falten sammeln sich auf ihrer Stirn. Tränen laufen ihr über die rechte Wange. Im nächsten Moment kommt T.D. mit einem abartigen gurgelnden Laut. Kylas Körper versteift sich. Unbändiger Hass steigt in ihr auf. Sie will den Kopf drehen, aber sie schafft es nicht, so sehr sie ihre Halsmuskeln auch anspannt. Du verdammtes Stück Scheiße! „Kannst du mir sagen, wie spät es ist“, fragt sie ihn aus einer Intuition heraus mit starr geradeaus gerichtetem Blick.

„Was? Wie bitte?“

„Wie spät ist es? Ich brauche die Uhrzeit“, sagt sie mit strenger Stimme.

Der kleine Mann erhebt sich langsam und beginnt sich hektisch im Kreis zu drehen. „Ich kann die Uhr nicht lesen“, gesteht er kleinlaut.

„Dann zeig sie mir!“

Hastig kommt er zu ihr getrippelt. Zu Kylas Schrecken hat er sich den Skalp der Mutter auf den Kopf gesetzt. Die Hose hat er sich ausgezogen. Nur mit einer übergroßen Windel bekleidet, steht er vor Kyla. T.D. streckt ihr seine vor Scham zitternde Hand mit der Uhr entgegen. Kyla fasst das Dreieck und die beiden Kleckse ins Auge, als ihr ein übel riechender Gestank in die Nase steigt. T.D. zieht die Hand mit der Uhr zurück. Kyla starrt ihn wutentbrannt an. „Du sollst mir die Uhr zeigen!“

„Hast du die Zeit denn noch nicht abgelesen?“

„Nein! Zeig sie mir nochmal!“

T.D. schüttelt langsam den Kopf. „Du müsstest die Zeit schon abgelesen haben“, meint er misstrauisch.

Kyla holt tief Luft. „Was hältst du denn da in deiner Hand“, fragt sie ihn neugierig. Sie versucht freundlich zu klingen. Es kostet sie eine immense Anstrengung. T.D. hat die rechte Hand hinter seinem Rücken verborgen.

„Was?“

„Was du da in deiner Hand hältst?“

„Das darfst du nicht wissen.“

„So?“

„Ich muss mich jetzt beeilen. Es ist schon spät.“

Kyla mustert ihn. „Weißt du denn, wie spät es ist?“

Langsam dreht er den Kopf nach links und dann nach rechts.

„Wie willst du dann wissen, dass es schon spät ist?“

„Ich…ich kann es von den Sternen ablesen.“ Sein Blick fällt aus dem Fenster.

„Von den Sternen, soso.“

T.D. nickt selbstbestätigend.

„Woher willst du denn wissen, dass die Sterne dir die Wahrheit sagen?“

T.D. zuckt unsicher die Schultern. „Bisher haben sie mich noch nie angelogen.“

„Merkst du es denn, wenn sie dich anlügen?“

„Weiß nicht. Glaub schon.“

Kylas Blick fällt nach rechts, wo sich das Fenster befindet. Sie blickt hinaus und betrachtet die Sterne. Fieberhaft versucht ihr verbliebenes Auge, aus der Konstellation ein Tier oder etwas anderes entstehen zu lassen.

„Ich muss mich jetzt beeilen“, zischt T.D. Im nächsten Moment ist ein Furz-Geräusch zu hören.

Kyla schließt für einen Moment die Augen. „Wie heißt du?“

„Das musst du nicht wissen.“

„Heute ist doch Weihnachten…“

„Ja, richtig.“

„Sieh dir die Sterne an. Wünsch dir etwas, und dann sag mir, was du gesehen hast.“

T.D. wirft einen gehetzten Blick auf die Sterne, dann auf Kyla. „Ich wünsche mir eine lebensgroße Krippe. So eine, wie die hier.“ Jetzt streckt er ihr seine rechte Hand entgegen. Es ist eine Krippenfigur.

„Was hast du denn mit dem Jesuskindlein gemacht?“

„Das Jesuskindlein bin ich“, sagt er rasch.

„Zeig mir noch einmal deine Uhr. Ich muss wissen, ob es bereits zwölf Uhr ist. Um Zwölf kann ich dir deinen Wunsch erfüllen.“

„Also gut.“ T.D. hält ihr noch einmal seine linke Hand mit der Uhr hin.

„Komm, sieh mit mir auf die Uhr.“

T.D. wirft ihr einen scheuen musternden Blick zu. Dann sieht er auf die Uhr.

„Hast du schon einmal versucht, in die Zeit einzutauchen?“

„In die Zeit eintauchen? Was?“

„In eine Zeit, bevor du und ich geboren worden sind.“

„Ich will meine Krippe“, quiekt T.D.

„Es ist Weihnachten. Erst die Geschichte. Dann die Krippe.“

T.D. atmet hektisch und abgehackt. Er furzt ein weiteres Mal.

„Du hast doch deine Windel. Wozu die Eile?“

T.D. nickt schnell. „Da hast du recht. Wir müssen uns nicht so beeilen. Erzähl mir nur die Geschichte.“

„Vor langer Zeit…“, beginnt Kyla, „gab es einen Orden, dessen Gottheit Opfer verlangte. Also opferte der Orden seinem Gott eines Nachts einen Wolf. Es war Heilig Abend. Heilig Abend ist eine besondere Nacht. An Heilig Abend verschont der Gott des christlichen Glaubens alle Lebewesen dieser Erde. An Heilig Abend stirbt weder Mensch noch Tier. Daraufhin begannen die beiden Götter, um die Seele des Wolfs zu kämpfen. Der Gott des christlichen Glaubens siegte über den grausamen Opfergott, doch anstatt den Opfergott zu töten, hauchte er ihm die Seele des Wolfs ein. Der Opfergott wandelte sich daraufhin zu einem gütigen Gott und beschloss zum Dank dafür, dass er am Leben bleiben durfte, in jeder Weihnachtsnacht einem Menschen seiner Wahl, ein Geschenk zu machen. Nun…“, meint Kyla. „Dieses Jahr hast du die Wahl getroffen. Dieses Jahr werde ich dir eine Krippe schenken. Und da du mich an deinem DVD-Abend hast teilnehmen lassen, muss ich auch die Menschen beschenken, die darauf zu sehen…“

„Das ist keine DVD“, ruft T.D. „Das ist eine Live-Show! Es ist Live! Es ist eben passiert! Das müsstest du doch wissen, wenn du ein Gott bist!“

„Zu meiner Zeit gab es so etwas noch nicht. Ich komme aus einer längst vergangenen Zeit. Ich habe diese Menschen gesehen, in dieser heutigen Nacht. Darum muss ich sie beschenken“, sagt Kyla mit aufeinandergebissenen Zähnen. Ihr Herz ist zu Eis gefroren. „Du musst meinen rechten Arm frei machen. In meine offene Hand legst du deine Krippenfigur, und dann bringe ich die Figur zum Wachsen. Allmählich wird es Zeit. Ich muss auch noch die anderen Menschen beschenken.“

T.D. mustert sie mit skeptischem Blick. „Du kannst sie…“ …nicht mehr beschenken, wollte er eben noch sagen. Doch das spielt für ihn keine Rolle. Für ihn zählt lediglich seine lebensgroße Krippe. Schließlich macht er sich daran, Kylas rechten Arm loszubinden.

Kyla streckt ihm ihre flache Hand entgegen. „Und jetzt legst du die Krippenfigur in meine Hand.“

T.D. tut, wie ihm geheißen. Er legt die Krippenfigur in ihre Hand. Kyla schließt ihre Hand langsam und fest darum. Die Figur bricht. Nur einen Augenblick später fallen die Bruchstücke auf den Boden. Blitzschnell fasst sie T.D. an der Kehle. T.D. starrt sie mit weit aufgerissenen Augen an. Er röchelt.

„Und jetzt sagst du mir, wo sich dieser Mann aus dem TV aufhält!“

„Ich habe meine Krippe noch nicht“, keucht er.

„Ich werde dich umbringen, wenn du es mir nicht sagst!“

„Ich darf es nicht sagen, sonst bringt er mich um.“

„Wenn du es mir nicht sagst, erwürge ich dich auf der Stelle! Wenn du mir aber sagst, wo er ist, bringe ich ihn um, noch bevor er dich umbringen kann!“

„The weak must die“, röchelt T.D. „Mehr…kann ich dir nicht sagen. Mehr weiß ich nicht.“

Kylas Blick ist starr auf ihn gerichtet. Plötzlich hat sie das Ziffernblatt von seiner Uhr vor ihrem inneren Auge. Das kann kein Zufall sein. Das Ziffernblatt sieht aus wie die Sigil, die Sylvian von der Wand in der alten Fabrik abgezeichnet hat. Einen Versuch ist es wert… Kyla drückt seine Kehle noch einmal fest zusammen und stößt T.D. anschließend zu Boden.

Mit schreckensweiten Augen sieht T.D. vom Boden aus dabei zu, wie Kyla nun auch ihren linken Arm frei macht und dann ihre Beine. „Du bleibst, wo du bist“, brüllt sie ihn an, während sie sich aufrichtet. Und schon im nächsten Moment ist sie bei der Tür und aus T.D.s Haus hinaus…

 

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Tyren liegt mit dem Bauch auf einem Kreuz aus Metall. Seine Arme sind auf dem Querbalken mit Metallriemen festgeschnallt. Den senkrechten Balken des Kreuzes hat der Vollstrecker am Fußende geteilt, sodass Tyrens Beine gespreizt sind. Tyren ist nackt. Er hat den Kopf nach rechts geneigt. Seine Wange ruht auf dem kalten Metall. Er starrt ins Leere. Der Vollstrecker tritt an ihn heran, packt das silberne Pentagramm an seinem Hals, reißt die Kette herunter, legt ihm stattdessen den Gürtel um den Hals und zieht den Gürtel fest. Tyren schließt seine Augen, er presst die Lider regelrecht aufeinander. Tränen werden zwischen ihnen hindurch gedrückt, laufen an seiner Nase und Wange hinunter auf das Kreuz. In Tyrens Geist lacht der steinerne Dämon auf ihn herunter. Die Augen des Dämons glühen blutrot. Im nächsten Moment wird Tyren mit einem Ruck die Luft abgeschnürt, und er wird nach vorn gestoßen. Noch einmal und noch einmal. Mit jedem Stoß wird die Luft knapper, immer und immer wieder stößt sein Peiniger zu, zwanzig Minuten lang, bis endlich das befriedigte Grunzen einsetzt. Tyrens Mund steht offen. Schweiß läuft ihm vom Gesicht. Er röchelt. Er bekommt kaum noch Luft. Der Vollstrecker schnallt ihn los, dreht ihn auf den Rücken und fixiert Tyren von Neuem. Das Knacken, das seine Kehle von sich gab, als er gefickt wurde, hat Tyren ebenso wenig wahrgenommen, wie die matschenden Geräusche, die jetzt den Raum erfüllen. Blut spritzt unmittelbar darauf auf sein Gesicht und seinen Körper. Im nächsten Moment quillt dunkles, dickflüssiges Blut aus seinem Mund und läuft beiderseits an seinen Mundwinkeln herab.

In seinem Geist blickt Tyren wieder zu dem unbarmherzigen Dämon hoch, der jetzt sein Maul öffnet und Tyren in die Tiefe reißen will. Von einer seltsamen Gelassenheit erfasst, blickt Tyren auf seinen mit rasiermesserscharfen Zähnen besetzten Kiefer. Dennoch laufen Tränen seine Wangen hinunter. Trost könnte er jetzt gebrauchen. Er starrt in das Maul des Dämons, das immer näher kommt, und erblickt in seinem Rachen einen hellen Lichtpunkt. Der Lichtpunkt wird größer und nimmt allmählich Gestalt an, je näher der Dämon kommt. Schließlich steigt ein weißer Wolf aus seinem Maul. Freundlich hechelnd blickt er Tyren mit seinen schwarzen Augen an. Der Wolf kommt auf ihn zu, wird größer und größer, während der Dämon hinter ihm kleiner und kleiner zu werden scheint, bis er schließlich zurückbleibt und der Wolf in Lebensgröße vor Tyren steht. Der Wolf senkt sein Haupt, leckt dem am Kreuz Fixierten das Gesicht und den Hals. Tyrens Augen erhellen sich etwas, und seine Mundwinkel wandern ein klein wenig höher. Er hebt seinen linken Arm etwas an, höher kommt er nicht. Daraufhin lässt der Wolf sich auf seine Vorderläufe sinken, sodass Tyren seinen Kopf erreichen kann. Tyren streichelt den Wolf lächelnd, gräbt seine Finger in sein weiches, weißes Fell, während Kyla Tyrens Handgelenke frei macht und den Gürtel von seinem Hals löst. Sie kniet sich auf das Kreuz, zwischen ihren Beinen liegt der vom Schritt aufwärts geöffnete Körper. Sie ergreift Tyrens sich schüttelnde und zu Fäusten geballte Hände, doch sie lassen sich nicht beruhigen. Seine Augen sind weit aufgerissen und starr nach oben gerichtet. „Tyren“, ruft Kyla ihn, aber Tyren hört sie nicht. Schließlich setzt sie sich auf seine Oberschenkel, greift beherzt unter seine Arme, setzt ihn unter Aufwendung all ihrer Kräfte auf und drückt ihn fest an sich. Sein Kopf ruht auf ihrer linken Schulter, seine Arme hängen schlaff an ihrem Rücken herab. Kyla hält mit der rechten Hand seinen Kopf, während ihr linker Arm Tyren fest umklammert. Hemmungslos schluchzt sie in sein verschwitztes, blutiges Haar, als seine rechte Hand sich langsam, immer noch heftig zitternd, flach auf ihren Rücken legt. Kyla bemerkt es. Ein Hoffnungsschimmer steigt in ihr auf. Sie löst ihn etwas von sich, um ihm in die Augen blicken zu können. Für einen Moment hat es den Anschein, als hätten sie die leblos gläserne Starre abgelegt. Kyla stützt mit der Linken seinen Rücken. Blut läuft Tyren aus dem halb offenstehenden Mund. Er hebt seine rechte Hand ein kleines Stück an. Sogleich ergreift sie Kyla, drückt sie fest. In ihrem Geist kann sie jetzt sehen, wie Tyrens Hand mit einer Kamera zwischen ihre Beine wandert, sich durch ihre Vagina hoch in ihren Uterus arbeitet. Er will das Ungeborene fotografieren, möchte das Bild davon mit sich nehmen. Seine Hand gleitet aus dem Uterus heraus. Er betrachtet die Fotografien, die nun in seinen Händen liegen. Fotografien, die lediglich Bildausschnitte sind und die anders angeordnet immer wieder ein neues Bild ergeben. Kyla staunt, als jetzt in seinen Händen geometrische Körper daraus werden. Geometrische Körper, die mit dem menschlichen Verstand nur schwer zu begreifen sind. Tyren schiebt sie ineinander. Jetzt scheinen sich die Dimensionen zu vervielfachen, und das Licht, das ihre vielen transparenten Flächen brechen und reflektieren, wird in ein Spektrum aufgespalten, das man sich nur schwer vorstellen kann. Tyrens Augen strahlen. „Das ist der Ursprung, und das ist die Quelle, alles Entstehende und alles Werdende. Und jetzt setze ich mich Auf 0, auf dass alles Kommende von Neuem beginne.“

Der Wolf hat sich neben Tyren gelegt. Tyren starrt mit leerem Blick geradeaus. Seine Mundwinkel sinken nach unten. Sein Kopf fällt ihm auf die Brust. Die Brust hebt sich nicht mehr. Langsam gleitet seine Hand aus dem Fell des Wolfs.

Tränen laufen Kyla über die Wange. Sie hält seine Hand fest, als er nun langsam die Augen schließt. Ihr Blick fällt auf die Tätowierung an seinem Oberarm - ein Triumvirat bestehend aus drei gehörnten Teufeln, die ihre Hände wie zum Bündnis aufeinanderlegen -, über die sich gerade ein neuer Blutstrom ergießt. Blut läuft aus Kylas linker Augenhöhle auf ihre ineinander verschlossenen Hände, fast so, als hätten sie einen Bund fürs Leben geschlossen, der nun besiegelt werden müsse. Langsam lässt Kyla ihn zurück auf das Metallkreuz sinken. Ihre blutige Hand streicht über seinen Kopf, gräbt sich in sein Haar. Blut und Tränen fallen auf sein Gesicht. Sie beugt sich zu ihm hinunter und küsst ihn auf die Stirn. Langsam setzt sie sich wieder auf, wendet sich ebenso langsam um, um sich mit dem Unvermeidlichen zu konfrontieren. Neue Tränen ergießen sich aus ihrem heilen Auge, als sie vor der Zelle Jared erblickt, der hinter Sylvian steht und seine Hände auf dessen Schultern gelegt hat. Beide schenken sie Kyla ein glückliches Lächeln, so als wüssten sie nicht, was geschehen ist, so als wüssten sie nicht, welch grausames Schicksal sie ereilt hat. Sie strecken Kyla ihre Hände entgegen, als wollten sie sagen: „Alles ist gut, komm zu uns, komm heim, wir trösten dich, du bist nicht allein.“

Sie wissen es nicht, denkt Kyla. Sie wissen nicht, dass sie tot sind. Sie wissen nicht, dass sie mich allein zurückgelassen haben. Sie wissen nicht, dass ich sie im Stich gelassen habe. Sie wissen nicht, dass ich zu spät gekommen bin. Sie wissen nicht, dass es meine Schuld ist, dass sie hier vor mir stehen, ihrer Körper beraubt und zurückgelassen mit einem trügerischen Geist…

Jemand hat Kyla seine Hand auf die Schulter gelegt. Langsam dreht sie sich um und blickt hoch an einem großen, kräftigen Mann. Er trägt eine schwarze Kutte. Sein Gesicht kann Kyla unter der Kapuze nicht erkennen. Ihr gesundes Auge weitet sich, ihre Stirn legt sich in Falten, sie neigt den Kopf zur Seite, wie um ihn aus einem anderen Blickwinkel zu erfassen, doch aus der Kapuze blickt ihr lediglich undurchdringliche Schwärze entgegen. Der Mann streckt ihr seine Hand entgegen. Kyla richtet ihren Blick auf die Hand, dann sieht sie ihm wieder, mit Tränen im Auge, ins Gesicht

 

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„Hey, Kleiner!“

Der Junge, der eingewickelt in einem braungrünen Schlafsack auf dem Boden einer U-Bahn-Station liegt, blickt zu ihm auf. Der Mann kennt den Jungen. Der Junge ist um die dreizehn Jahre alt. Er lebt auf der Straße und lutscht für Kleingeld Schwänze. Der Junge ist gutaussehend. Der Mann ist der Meinung, dass es mit seinem Aussehen hier zu gefährlich für den Jungen sei. Früher oder später wird er an einen Perversen geraten, und da er das Geld braucht… Früher oder später wird jemand seine Situation ausnutzen. Er ist ein bedauernswerter Junge. Er wird die Leiter nie nach oben klettern. Es wird ein böses Ende mit ihm nehmen… Der Mann könnte ihn in seiner Familie aufnehmen, aber irgendwie erregt ihn dieser Junge hier mit seinem traurigen Schicksal, und er will den Jungen nicht verweichlichen. Sollte er hier tatsächlich überleben, wird ihn das nur tougher machen. Vielleicht würde er in diesem Fall für mich von Nutzen sein. Außerdem hat der Mann ihm eine besondere Aufgabe zugedacht, und er würde ihn dafür entlohnen. Mein Beitrag zu seinem Schicksal. Dafür kann er sich ein paar Schwänze ersparen. Dass er ihn damit zum Sündenbock beider Städte macht und seinen Tod damit möglicherweise ein paar Schritte näher rücken lässt, ist dem Mann bewusst. Wenn er sich bewährt und überlebt, werde ich ihn im Auge behalten.

Der Mann geht vor ihm in die Hocke. Der Junge setzt sich ein wenig auf und blickt ihn mit gerunzelter Stirn an. Die innere Verzweiflung ist ihm nur allzu deutlich anzusehen, und das macht ihn für den Mann noch begehrenswerter. „Ich habe einen Auftrag für dich. Ich werde dich gut dafür bezahlen, wenn du es gut machst. Es ist nicht allzu schwer.“

Der Junge blickt ihn hoffnungsvoll an.

„Ich bin bereit, dir einen kleinen Vorschuss zu zahlen.“

„Was muss ich tun“, fragt der Junge eifrig.

Der Mann mustert ihn. Obwohl er auf der Straße lebt, scheint er mir nicht zugedröhnt mit irgendwelchem Zeugs zu sein. Das gefällt dem Mann. Vielleicht kann er es sich aber auch einfach nur nicht leisten.

Der Mann streckt ihm ein Stück weiße Kreide und ein Mobiltelefon entgegen. Als der Junge das Mobiltelefon erblickt, weiten sich seine Augen.

Wahrscheinlich hat er noch nie in seinem Leben ein Mobiltelefon besessen. „Weißt du, wie das Telefon funktioniert“, fragt er ihn.

„Ja…ja natürlich“, ruft der Junge aus. Er scheint dem Mann wegen dieser Unterschätzung nicht böse zu sein.

„Kennst du dich in Saveth und Sigouroth gut aus?“

„Na klar, ich kenne jeden Winkel in den beiden Städten!“ Jetzt erhellen sich seine Augen etwas. Er freut sich, dass er dem freundlichen Mann etwas bieten kann.

Der Mann lächelt den Jungen an. Der Junge erwidert es.

„Schön“, meint der Mann und zückt einen Notizblock und einen Kugelschreiber. Er zeichnet ein Symbol auf das Blatt, reißt das Blatt von dem Block und reicht es dem Jungen. Der Junge blickt aufmerksam auf das Gezeichnete.

„Wenn ich dich anrufe und dir eine Adresse durchgebe, malst du dieses Zeichen auf die entsprechende Wohnungstür.“

Der Junge nickt eifrig und will dem Mann das Blatt zurückgeben.

„Nein, nein“, lacht der Mann. „Behalte es. Du solltest keinen Fehler bei der Zeichnung machen.“

„Ich habe mir das Zeichen eingeprägt! Ich habe ein fotografisches Gedächtnis“, meint der Junge stolz.

Die Augenbrauen des Mannes heben sich. „Du scheinst mir ein kluges Kerlchen zu sein.“

Der Junge lacht. Er freut sich.

„Behalt‘ es trotzdem.“

Der Junge nickt und schiebt es sich in die Hosentasche. Der Mann hält ihm einen Schein hin. Der Junge staunt. „Was? So viel? Und das ist erst der Vorschuss?“

„Wenn du deine Arbeit gut machst, bekommst du noch mal so viel.“

Die Augen des Jungen glänzen voll Freude.

„Sieh nur zu, dass du gleich rangehst, wenn ich anrufe. Das kann tagsüber, aber auch nachts sein.“ Der Mann denkt dabei an den Job des Jungen. Der eine oder andere Freier wird darüber nicht sonderlich erfreut sein.

Der Junge nickt begeistert. „Mache ich. Verlassen Sie sich auf mich.“

„Gut. Das ist gut“, meint der Mann. „Vielleicht befördere ich dich einmal, wenn du den Job gut machst.“

Der Junge lächelt ihn hoffnungsvoll an.

„Wie heißt du“, will der Mann wissen.

„Tommy.“

Der Mann streicht ihm über den Kopf. Er tut es langsam, genießt die Berührung, überlegt einen Moment. In seiner Hose ist eine Erektion dabei, sich aufzubauen. „Pass gut auf dich auf, Tommy“, sagt er schließlich jedoch nur und erhebt sich. Der Junge blickt dankbar an ihm hoch. Der Mann sieht ihn noch einen Moment lang an, dann kehrt er ihm den Rücken und macht sich auf den Weg.

Tommy blickt ihm glückstrahlend hinterher. Der Mann hat ihm gerade eine Perspektive gegeben…

 

 

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Sidmawuk

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Der Dämon an sich ist ohne Gestalt, er ist substanzlos. Nur wir selbst sind es, die es vermögen, ihm eine Gestalt zu geben. Und der Dämon manifestiert sich in dem, was uns die meiste Angst bereitet.

 

 

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I

Kyla zündet ein Streichholz an. Verzückt blickt sie in die auflodernde Flamme. Ihre Lippen formen ein Lächeln, so als spende ihr das Licht der Flamme Trost. Sie wischt sich mit dem Unterarm über das Gesicht. Sie fühlt sich, als sei sie eben aus einem tiefen Schlaf erwacht. Schließlich streckt sie das brennende Streichholz von sich und dreht sich einmal um die eigene Achse. Sie hat keine Ahnung, wo sie sich befindet. Als es nach unten gebrannt ist, wirft sie das Streichholz fort und zündet ein neues an. Als sie es wieder von sich streckt, kann sie im Schein der Flamme jemanden erkennen. Er steht direkt vor ihr. Kyla fährt vor Schreck zusammen. Beinahe hätte sie das Streichholz fallen lassen. Der Mann ist groß, kräftig gebaut, hat langes, schwarzes Haar und einen kurzen Spitzbart, direkt unter der Unterlippe. Kyla lächelt unsicher an ihm hoch. „Ich dachte, hier wäre niemand. Ich bin froh, jemanden getroffen zu haben“, meint sie.

„Was ist mit deinem Auge“, will er wissen.

„Ich…ich wurde gekidnappt“, sagt sie mechanisch. Sie wischt sich mit dem Ärmel Tränen und Blutreste aus dem Gesicht. Schließlich beginnt sie zu schluchzen.

Der Mann legt ihr eine Hand auf die Schulter. „Was ist passiert“, will er wissen. Er bemüht sich, einfühlsam zu wirken. Er muss es spielen, denn diese Eigenschaft ist ihm gänzlich fremd. Er hat sie nie kennengelernt.

„Meine drei Freunde… Sie wurden ermordet.“ Wieder blickt sie sich um. „Wo bin ich hier eigentlich? Ich kann nichts sehen. Warum ist es hier so dunkel?“

„Du musst dich verlaufen haben. Ich bringe dich hier raus.“ Er reicht ihr die Hand.

Kyla ergreift sie dankbar.

„Mein Vater ist Arzt“, meint der junge Mann. „Er wird sich dein Auge ansehen.“

Kyla nickt.

Hand in Hand gehen sie schweigend ein gutes Stück und steigen schließlich eine Wendeltreppe hoch. Als sie oben angelangt sind, öffnet der Mann eine Tür, die in den Wohnbereich führt. Couchen stehen hier herum, ein Fernseher, ein Computer. Kyla schluchzt auf. Mit dem Handrücken wischt sie sich abermals über das Gesicht. Nachdem sie ein paar Gänge durchschritten haben und sie eine weitere Treppe hochgestiegen sind, klopft der junge Mann an eine Tür.

„Ja“, ertönt es von der anderen Seite.

Der junge Mann öffnet ihr die Tür. „Du kannst hineingehen.“

Kyla nickt, dann tritt sie ein. Hinter seinem Schreibtisch sitzt ein schlanker, um die fünfunddreißig Jahre alter Mann. Als er Kyla erblickt, erhebt er sich schnell, nimmt ihre Hand und führt sie zu seinem Untersuchungsbett. „Setzen Sie sich“, bietet er an.

Kyla setzt sich.

Der Doktor sieht sich ihr Auge an. „Ihr Auge ist verloren, aber das wissen Sie sicher. Haben Sie Schmerzen?“

„Ist nicht so schlimm“, meint Kyla.

Der Doktor nickt, dann kehrt er ihr kurz den Rücken zu, nimmt Verbandmaterial zur Hand und drückt es Kyla vorsichtig auf die Augenhöhle. „Behalten Sie das auf Ihrem Auge, ja? Ich werde Sie jetzt in meine Privatklinik bringen. Dort wird man für Sie etwas Passendes anfertigen, wenn das in Ordnung für Sie ist.“

„Ja, ist es“, meint Kyla.

„Also gut, dann kommen Sie.“ Er nimmt sie bei der Hand, führt sie zur Tür, öffnet die Tür. Dahinter steht immer noch der junge Mann, der Kyla aufgegriffen hat. Im Vorbeigehen schenkt Kyla ihm ein kleines Lächeln. Der junge Mann erwidert es.

„Ich bringe sie in die Klinik“, sagt der Arzt zu ihm.

Der junge Mann nickt. „Alles Gute“, wünscht er Kyla.

„Danke“, flüstert sie.

 

Nachdem sie losgefahren sind, wirft der Doktor einen Blick zu Kyla. „Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Jefferson.“

„Sehr erfreut. Ich bin Kyla.“

„Freut mich“, meint er lächelnd. „Wie ist denn das passiert?“

Kyla atmet tief ein und stoßartig schluchzend wieder aus. „Ich bin entführt worden“, beginnt sie. „Ich und meine drei Freunde. Ich bin die einzige, die am Leben geblieben ist.“ Mit dem Erzählen ziehen die schrecklichen Bilder abermals vor ihrem inneren Auge vorüber. „Mein verlorenes Auge ist nichts dagegen, was sie durchgemacht haben. Ich wünschte, ich wäre bei ihnen…“, schnieft sie.

Jefferson nimmt den Blick kurz von der Straße und sieht zu ihr. „Sagen Sie so etwas nicht“, meint er ernst. „Sie haben großes Glück gehabt. Wo ist denn das passiert?“

„In der alten Fabrik in der...“ Kyla wirft einen Blick auf die Straße und die Umgebung. Sie versucht sich zu orientieren. „In der Sechzehnten“, vervollständigt sie ihren Satz. Sie runzelt die Stirn. „Es ist nicht so weit entfernt von Ihrem Wohnhaus, richtig?“

Jefferson nickt. Seine Stirn hat sich in Falten gelegt. Er greift zu seinem Mobiltelefon, wählt eine Nummer. „Hallo, Jefferson Sander hier. Ich möchte einen dreifachen Mord melden. Der Tatort ist die alte Fabrik in der Sechzehnten. Ich bin mit einer Überlebenden auf dem Weg in meine Klinik... Nein, ich war nicht dort. Mein Sohn hat sie aufgegriffen. Ihr Name ist…“ Jefferson blickt Kyla fragend an.

„K.Y. Laval“, antwortet sie. „Doktor?“

„Einen Moment, bitte“, spricht er ins Telefon. Zu Kyla: „Ja?“

„Das Haus meines Kidnappers ist das letzte in der Zweiunddreißigsten. Es muss eine Verbindung bestehen.“

Jefferson mustert Kyla kurz, dann widmet er seine Aufmerksamkeit wieder dem Beamten am anderen Ende der Leitung. „Ihr Name ist K.Y. Laval, das Haus ihres Kidnappers soll das letzte in der Zweiunddreißigsten sein. Es muss eine Verbindung zu den drei Mordfällen bestehen, meint sie… Ja, ich komme anschließend zu Ihnen aufs Revier.“ Jefferson legt auf.

Kyla blickt ihn mit sorgengefaltetem Gesicht an. „Danke.“

„Nichts zu danken. Wir haben die Klinik bald erreicht“, meint Jefferson und erhöht sein Tempo.

 

Nach etwa zwanzig Minuten hält Jefferson den Wagen an. „Wir sind da“, meint er, öffnet die Wagentür und steigt aus. Kyla tut es ihm gleich. Jefferson reicht ihr wieder die Hand. Kyla ergreift sie und lässt sich von ihm ins Innere des Krankenhauses begleiten.

„Welche Klinik ist das denn? Ich kenne sie gar nicht.“

„Meine Privatklinik. Hier sind die fähigsten aller Ärzte angestellt. Ich stelle nur die besten ein“, meint er. „Hier sind Sie in den besten Händen.“ Er führt sie am Empfang vorbei, wo er den Zeigefinger kurz zum Gruße hebt, und hinauf in die Abteilung für Ophthalmologie. Jefferson klopft an das Fenster bei der Anmeldung. Sogleich öffnet es eine Schwester.

„Das hier ist Miss Laval“, stellt er Kyla vor, die den Verband immer noch auf ihre Augenhöhle gedrückt hält. „Sobald Dr. Lambert frei ist, soll er sich ihre Verletzung ansehen.“

Die Schwester nickt. „Dr. Lambert ist gleich frei.“ Sie wendet sich Kyla zu. „Miss Laval, wenn Sie inzwischen bitte dort drüben Platz nehmen.“ Dabei deutet sie auf den Wartebereich, der unmittelbar an die Aufnahme anschließt. Kyla folgt der Geste. „Haben Sie Schmerzen“, will die Schwester noch wissen.

„Nicht so schlimm“, meint Kyla lediglich und nimmt auf einem der Plastikstühle Platz.

Jefferson geht zu ihr. „Kann ich Sie hier alleine lassen oder brauchen Sie meine Hilfe?“

Kyla schüttelt den Kopf. „Danke, Dr. Jefferson“, lächelt sie. „Ich komme schon zurecht. Danke, dass Sie mich hergebracht haben.“

„Gern geschehen. Wenn Sie fertig sind, sagen Sie Dr. Lambert, dass ich Sie abholen werde. Er weiß dann schon Bescheid.“

„Danke, Doktor.“

Jefferson nickt, dann verlässt er die Abteilung.

 

 

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II

Jesiah sitzt im La Lune, seiner Lieblingskneipe, an der Bar. Mit seinen einundzwanzig Jahren dürfte er sich jetzt öffentlich ein Bier genehmigen. Jeder andere in seinem Alter hätte das vermutlich getan, aber nicht Jesiah. Er hat ein Club-Soda vor sich. Jesiah trinkt nicht und Jesiah raucht nicht. Er führt seinem Körper lediglich das zu, was er zu seiner Erhaltung benötigt, und er trainiert ihn. Jesiah blickt in sein Glas. Er hat während seiner Kindheit einen Entschluss gefasst. Er hat sich selbst ein Versprechen gegeben, und das hält er ein. Würde er es brechen, hätte die Basis mit all ihren Grundsätzen, die er für sich geschaffen hat, keinen Wert mehr. Und diese Basis braucht er, um weitermachen zu können. Darauf will er aufbauen. Damit kann er leben.

Jesiah beobachtet die unzähligen Kohlensäurebläschen, die vom Boden des Glases an die Oberfläche steigen. Seine Gedanken schweifen zu dem Mann, den er als seinen Vater bezeichnet, einem Mann mit Namen Dr. Jefferson Sander. Jefferson befreite Jesiah aus der Zelle, in der er ihn bewusstlos am Boden liegend vorfand und in der Jesiah jahrelang eingeschlossen gewesen war. Zu diesem Zeitpunkt war Jesiah dem Tod näher als dem Leben. Jefferson pflegte ihn gesund und gab ihm eine Familie. Eine Familie, die Jesiah bereitwillig aufgenommen hat und in der er immer noch lebt. Dennoch ist Jesiah nicht glücklich. Dennoch fühlt er sich einsam und unverstanden. Es würde ihn vielleicht jemand verstehen, wenn er mit jemandem darüber spräche, aber Jesiah spricht nicht darüber. Er spricht nicht darüber, was ihm in dieser Zelle widerfahren ist. Gedankenverloren stapelt er die Bierdeckel, die vor ihm auf der Bar liegen, aufeinander.

„Dir fehlt eine Freundin“, sagte einer seiner Kumpels einmal zu ihm. Ein anderer lachte: „Wenn du mal eine geknallt hast, sieht alles anders aus.“

Insgeheim wünscht Jesiah sich eine Freundin, aber ihm fehlt der Mut, eine Frau anzusprechen, geschweige denn, einer gegenüberzutreten. Er hat eine ihm unerklärliche Furcht vor Frauen. Er weiß, dass Frauen sehr boshaft sein können, einen bloßstellen können. Aber das können Männer doch auch…

„Hast du Angst davor, dass du keinen hochkriegst? Haha! Glaub mir, der steht schneller, als du glaubst“, lacht sein Kumpel in Jesiahs Gedanken.

Allein der Gedanke daran treibt Jesiah die Schweißperlen auf die Stirn. Er befürchtet tatsächlich, dass er keinen hochbekommt. Er weiß nicht, ob es tatsächlich so wäre, aber er vermutet es aus einem ihm unerfindlichen Grund, und das reicht schon aus, ihm gehörig Angst davor einzujagen und ihn davon abzuhalten, eine Frau überhaupt erst anzusprechen. Seine Angst ist so groß, dass er es bereits damit abgetan hat, dass er es einfach nicht verdient habe, er es nicht wert sei, geliebt zu werden. Wenn doch nicht einmal der Antrieb dazu stark genug ist, es lediglich zu versuchen…

Einer aus Jesiahs Familie mit dem Namen Peavy nannte Jesiah deshalb einmal einen Nachzügler. Daraufhin brachte Jesiah ihn beinahe um, und Jesiah wurde, um ihn davon abzuhalten, selbst verprügelt. Drei Männer, die ebenfalls zu Jesiahs Familie gehören, waren dazu notwendig. Jesiah trug einen Nasenbeinbruch, eine Schädelfraktur und ein paar gebrochene Rippen davon. „Leg doch einfach eine flach, dann geht’s dir besser“, hörte Jesiah Peavy ihm hinterherbrüllen. Auf diese Worte rappelte Jesiah sich trotz seiner Verletzungen noch einmal hoch, um Peavy noch eine zu verpassen, doch dann brachte Khea ihn mit einem Tritt in den Rücken endgültig zu Fall. „Scheint die einzige Sprache zu sein, die er versteht. Wenn er sich nicht in den Griff bekommt, wird er zum Problem“, hatte er Khea noch sagen hören, bevor er das Bewusstsein verlor.

Jesiah senkt traurig den Kopf. Ich bin zu dem geworden, der ich niemals sein wollte. Die ganze Selbstdisziplin hat mir nicht dabei geholfen. Zum Teufel mit der Selbstdisziplin, wenn sie doch nur Gewaltausbrüche provoziert! Für einen Moment überlegt er, sich doch ein Bier zu bestellen. Doch dann wirft er ein paar Münzen auf die Bar, erhebt sich und macht sich davon.

 

 

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III

„Alles in Ordnung“, will Jefferson von Kyla wissen, die stillschweigend neben ihm im Wagen sitzt.

Kyla nickt. Sie hat ein dickes Pflaster auf ihrem linken Auge. „Das Glasauge muss erst angefertigt werden. Der Arzt meinte, ich habe eine seltene Augenfarbe.“ Jetzt lächelt Kyla ein wenig.

Jefferson gibt das Lächeln zurück. „Wo soll ich Sie denn jetzt absetzen?“

Kylas Stirn legt sich in Falten. „Ich weiß nicht… Ich habe zwar ein Zuhause, aber ich weiß nicht, ob ich da jetzt hin will.“

„Und wo ist dieses Zuhause?“

„Es ist das Haus meiner drei Freunde, die ich verloren habe“, meint sie traurig. „Ich weiß nicht, ob ich es dort allein jetzt aushalten würde. Ich…“ Kyla kämpft bereits wieder mit den Tränen. „Wir wurden alle vier daraus entführt. Außerdem ist es von der Polizei wahrscheinlich noch abgesperrt.“ Sie blickt zu Jefferson. „Ich wurde daraus erst ein paar Tage später entführt“, erklärt sie. „Meine Freunde waren vor mir an der Reihe.“

Jefferson runzelt die Stirn. „Sie sind dorthin wieder zurück?“

„Ja. Ich legte es darauf an, ebenso entführt zu werden, in der Hoffnung, auf diese Weise zu meinen Freunden zu gelangen, damit ich ihnen helfen kann. Doch der kleine Teufel brachte mich woanders hin…“

Jefferson wendet seinen Blick kurz von der Straße ab und Kyla zu.