Walther Kabel

Der Tempel der Liebe (Krimi-Klassiker)

e-artnow, 2016
Kontakt: info@e-artnow.org
ISBN  978-80-268-5415-9

Inhaltsverzeichnis

1. Der große Haß
2. Die treue Hand
3. Egon Larisch
4. Eifersucht
5. Der vierte Brief
6. Die Frau Rat in Not
7. Der Tempel der Liebe
8. Ein Gespenst – ein Einbrecher!
9. Das Geheimnis des Tempels der Liebe
10. Judas Ischariot
11. Il akla gerlam
12. Amtsrichter Weber
13. Der rote Streifen
14. Zwischenspiel
15. Am Tage des Verkaufes
Schluß

1. Kapitel
Der große Haß

Inhaltsverzeichnis

Irma Hölsch hatte nach der letzten Unterrichtsstunde und nach all dem Ärger sehr schnell bei Frau Mikla, die angeblich einen ›guten, billigen Mittagstisch‹ unterhielt, das mehr als mäßige Essen hinuntergeschlungen, hatte den schlanken Herrn Larisch, der wieder in seiner höflich bescheidenen Art eine Anknüpfung bei Tisch gesucht hatte, kühl mit ein paar fast unliebenswürdigen Worten abgeblitzt und war dann nach Hause geeilt in ihr bescheidenes möbliertes Zimmer, um endlich wieder allein zu sein mit ihren Gedanken, die ihr wie ein Bienenschwarm im Kopfe summten.

Sie warf jetzt das Paket Hefte, in die heute die fünfte Klasse den Aufsatz über ›Mein liebstes Buch‹ hineingeschrieben hatte, mit einer Gebärde des Ekels auf den Mitteltisch und ließ sich selbst, ohne erst den einfachen Filzhut abzulegen, aufatmend in den Korbsessel am Fenster fallen, schloß die Augen und dachte nur immer dasselbe: ›Ich begreife das alles nicht – ich begreife es nicht …!‹

Wie qualvoll war ihr nur heute das Unterrichten geworden! Noch schwerer als sonst! Sie eignete sich nicht zur Lehrerin. Das wußte sie längst, das hatte sie schon auf dem Seminar gemerkt. Sie konnte sich keinen Respekt bei diesem jungen, übermütigen Völkchen verschaffen, – vielleicht, weil sie Kinder zu gern mochte und daher nicht streng sein konnte. Heute hatte sie sich wie schon so oft über ihre eigene Milde und Nachgiebigkeit bis zu einer gelinden Wut gegen sich selbst aufgestachelt. –

Oder – war daran vielleicht doch nur das andere schuld gewesen, – das andere, das sie nicht ergründen konnte und daß ihr Denken seit Tagen völlig beherrschte …?! War es nicht lediglich die Enttäuschung darüber, daß ihr Verstand nicht hinreichte, diese Dinge aufzuklären, die da wie seltsame Rätselwesen aus dem Dunkel auf sie zu krochen und ihr höhnend zuflüsterten: ›Rate, wer wir sind, was wir wollen …!‹ –

Ja, das war wohl nur das Außergewöhnliche, das sie so nervös, so zerfahren gemacht hatte, und als dessen nächste Folge dann all die kleinen Widerwärtigkeiten in ihren Schülerinnen hingekommenen waren.

›Armes Völkchen!‹ dachte Irma. ›Ich bin heute sicher sehr ungerecht gewesen … Es tut mir jetzt leid. Aber – ich fürchte, morgen werde ich nicht anders sein … Es muß etwas geschehen – muß! So darf es nicht weitergehen! Ich fühle, wie meine Nerven förmlich vibrieren …‹

Sie erhob sich langsam, nahm den Hut ab, hängte ihn über den Eckknopf des Kleiderschrankes, trat vor den hohen Spiegel und zupfte sich das zerdrückte, aschblonde Haar zurecht, stellte dabei fest, daß sie heute recht blaß aussah, gar nicht vorteilhaft. Und sie war bisher mit ihrem Äußeren doch stets leidlich zufrieden gewesen, konnte es auch wohl sein … Das bewiesen ihr ja auch die vielen Frechdachse von Herren, die auf diese oder jene Weise ihre Bekanntschaft zu machen suchten und ihr auf der Straße geduldig folgten …

Irma lächelte. Und in diesem Lächeln war so ein ganz klein wenig Eitelkeit und Freude. – Sie war jung, war Weib … Und es waren doch schließlich alles Huldigungen, die man ihrer eigenartigen Schönheit darbrachte.

Dann trat sie ans Fenster. Der Mittagssonnenschein des warmen Apriltages lag grell auf der nüchternen Front der Mietskaserne gegenüber. Auf dem kleinen Balkon begoß der alte Herr gerade wieder seine Blumenkästen. Und ein Stockwerk höher lagen wieder die Betten zum Lüften über dem Balkongitter.

Irma riß das Fenster auf. Frische Luft brauchte sie, Licht, Sonne … – Da, – wie gräßlich! – von drüben aus der Kneipe wieder die kratzenden Töne des Grammophons, – ein Gassenhauer …: ›Paulinchen kann tanzen, habt ihr so was schon gesehn …‹ – Scheußlich … aber heute munterte es sie doch auf. Wie ein leiser Strom Berliner Leichtsinns drang’s mit den Tönen in das möblierte Zimmer – dreißig Mark mit Morgenkaffee! – hinein …

Irma ertappte sich darüber, daß sie die Melodien mitsummte. Sie merkte aber auch, wie sich die unerträgliche Spannung in ihrem Innern immer mehr löste. Sie wurde ruhiger. Und als sie jetzt leise vor sich hin sprach »Es muß etwas geschehen!«, da war schon wieder ein Überschuß von Kraft und Unternehmungslust in ihr. Sie würde doch dahinter kommen, was der Schreiber der Briefe eigentlich bezweckte! Eigentlich – war’s nicht lächerlich, sich über solchen Unsinn überhaupt aufzuregen …?! Hatte sie nicht schon genug Briefe ohne Unterschrift empfangen mit allen möglichen Ansinnen darin …?! – Freilich – all das hatte stets ihrer Schönheit gegolten. Diese drei Schreibmaschinenepistel dagegen, die waren so ganz anders abgefaßt, – ganz anders …

Irma mußte hier vorläufig ihren Gedanken halt gebieten.

Es hatte recht kräftig an die Zimmertür geklopft.

Ihre Wirtin, die verwitwete Frau Kanzleirat Mießtaler, trat ein, zwischen den dürren Fingern einen großen Brief haltend.

»Der Postbote wartet draußen, liebes Fräulein Hölsch,« flötete die Mießtaler. »Hier, – die Zustellungsurkunde sollen Sie unterschreiben. Der Brief scheint vom Gericht zu sein.«

Frau Leontine Mießtalers Neugierde entsprach durchaus ihrer Gestalt – war übergroß! – Ein Gerichtsbrief – was mochte wohl dahinterstecken …?! – Zu gern hätte sie es gewußt. –

Irma war wieder allein. Zögernd öffnete sie das Schreiben. – ›Amtsgericht Sziemanowo‹ stand oben in der linken Ecke des großen Bogens.

Irma las – las. Erst begriff sie nicht recht, faßte sich unwillkürlich mit der Linken an die Stirn …

Mein Gott – jetzt auch noch dies – dies …?! Was bedeutete das alles. Wie sollte sie sich nur zurechtfinden in den merkwürdigen Geschehnissen, die sich so plötzlich in ihr stilles Dasein gedrängt hatten …?!

Sie saß in dem Korbsessel. Der große, so streng amtlich ausschauende Bogen lag in ihrem Schoß. Und die Hände hatte sie darüber gefaltet, als wollte sie Gott anflehen, mit einem Lichtstrahl diese Dunkelheit zu erhellen, die um sie her war trotz des sonnigen Frühlingstages.

Nach einer Weile nahm sie das Schreiben wieder auf, las es nochmals ganz langsam durch.

Drüben in der Kneipe unten duldete das Grammophon als Begleitung den bekannten Marsch ›So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage …‹

Irma hörte nichts davon …

Im Auftrage Ihrer am 3. April des Jahres verstorbenen Großmutter väterlicherseits, der verwitweten Frau Grundbesitzer Elvira Hölsch, geborenen Lammert, teilt Ihnen das unterfertigte Nachlaßgericht in Ausführung des letzten Willens der Verblichenen mit, daß die Beerdigung hier in aller Stille am 8. des Monats stattgefunden hat und daß nunmehr dem Antritt der Erbschaft nach der Erblasserin durch Sie nichts mehr im Wege steht. Näheren Aufschluß gibt Ihnen die untenstehende beglaubigte Abschrift des Testaments der p. Elvira Hölsch.

Dann stand da weiter:

Mein letzter Wille

Zu meiner alleinigen Erbin setzte ich hiermit meine einzige nähere Verwandte, meine Enkelin Irma, Agathe, Anna Hölsch, Lehrerin, wohnhaft in Berlin Moabit, Reutlingerstraße 16, 2 Treppen bei Mießtaler, ein. Mein Nachlaß besteht in der Hauptsache aus einem Sparguthaben von zwölftausend Mark und aus dem sogenannten Lammerthof, der einen Wert von etwa zweiundzwanzigtausend Mark haben mag.

An meine langjährigen treuen Gehilfen, das Ehepaar Parlitz, ist ein Legat von dreitausend Mark auszuzahlen. Außerdem sollen die Leute bis zu ihrem Tode kostenlos weiter auf dem Grundstück wohnen dürfen. Den Lammerthof, der sich seit zweihundert Jahren im Besitz meiner Familie befindet, soll mein Erbin, wenn irgend möglich, nicht veräußern. Ich lege ihr diese Bitte warm ans Herz.

Ich wünsche nicht, daß meine Enkelin von meinem Tode vor meinem Begräbnis benachrichtigt wird. Dieses soll in der einfachsten Form stattfinden.

Dieses Testament hinterlege ich bei dem Amtsgericht Sziemanowo, damit ich sicher bin, daß mein letzter Wille streng beachtet wird.

Frau verwitw. Elvira Hölsch

geb. Lammert

Irma ließ den Bogen wieder sinken.

Vor ihr tauchte das Bild einer alten Frau auf, – ein grobknochiger Körper, ein Kopf mit harten Zügen, strengen Augen … Sie hatte die Großmutter Hölsch nie geliebt, stets gefürchtet, obwohl sie sie kaum kannte.

Die geborenen Lammert, aus altem posener Bauerngeschlecht stammend, das sich mannhaft seine deutsche Art inmitten einer fanatischen polnischen Bevölkerung bewahrt hatte, vergaß es dem einzigen Sohne nie, daß er gegen ihren Willen das ›Theatergeschmeiß‹ – anders nannte sie ihre Schwiegertochter nie! – geheiratet hatte. Und der verbohrte Haß gegen die kleine, bescheidene Schauspielerin, die dann Irmas Mutter wurde, hatte sich auch auf die Enkelin übertragen, war nie verhehlt worden. Dazu war die alte Frau Hölsch eine viel zu aufrichtige Natur.

Der Großmutter Bild verschwand …

Andere Erinnerungen stiegen vor Irmas geistigem Auge wie aus der Versenkung in bunter Folge auf – –: eine kleine Großstadtwohnung, in der es erst so fröhlich hergegangen war, in der die Liebe und das Glück sich so fest eingenistet zu haben schienen, bis dann die raue Faust des Schicksals die junge Menschenblüte knickte, an der sich eines Mannes schwacher Charakter wie ein haltsuchendes Schlinggewächs hochgerankt hatte. –

Das hatte die Großmutter Lammert aber nie einsehen wollen, daß der leichtsinnige Leutnant Günter Hölsch ohne das ›Theatergeschmeiß‹ wahrscheinlich drüben in Amerika als Kellner oder dergleichen geendet hätte, daß er nur durch die kleine Schauspielerin Irma Werhofen ein strebsamer Versicherungsbeamter und glücklicher Ehemann geworden war …

Wie mußte der Vater doch seine Frau geliebt haben – wie sehr …! Ihretwegen der Bruch mit den Eltern, ihretwegen das Ausscheiden aus der Armee, ihretwegen die plötzlich erwachte Freude an geregelter Tätigkeit, an dem eigenen Heim, – und das trotz all der Sorgen! – und ihretwegen schließlich das gewaltsame Ende, – ein Revolverschuß an einem frischen Grabe …

Damals war die kleine Irma gerade zwölf Jahre alt gewesen. Und seitdem hatte sie unter Fremden gelebt. Die einzige Verwandte, die sie noch besaß, die harte, unerbittliche Frau auf dem Lammerthof bei Sziemanowo, hatte das Kind in Pension gegeben, es nur selten, sehr selten besucht. Auch zwischen ihr und dem zum Weibe heranreifenden jungen Mädchen gab es keine engeren Fäden, – nur lose Bande: die Pflicht, für die Enkelin zu sorgen …! – Und sie hatte auch bestimmt, daß Irma Lehrerin wurde, – ohne sie zu fragen. Sie verlangte Gehorsam, – denn sie gab ja das Geld …

Und diese Frau war jetzt tot … War von Fremden zu Grabe geleitet worden … –

Irma war stets ehrlich gegen sich selbst. – Wo sollte sie wohl ein Gefühl der Trauer über den Tod ihrer Großmutter hernehmen …?! – Nein, wenn sie überhaupt etwas empfand, war es lediglich ein wenig Freude, daß sie jetzt die nahe bevorstehenden Osterferien auf dem Lammerthof als dessen neue Herrin zubringen konnte …

Aber diese kleine Freude blieb stark gedämpft. Als Schatten fiel darauf … das Andere, Dunkle … die anonymen Briefe …

2. Kapitel
Die treue Hand

Inhaltsverzeichnis

Irma verschloß das Schreiben des Amtsgerichts in der Blechkassette, die sie sich eigentlich nur Frau Mießtalers wegen angeschafft hatte, bei der sie nun schon ein Jahr wohnte und von deren Neugier sie sehr bald sichere Beweise erhalten hatte. Die Kassette hatte ein Schloß, das nur mit dem schmalen, langen Schlüssel mit den vielen Zacken zu öffnen war, – zu der Kanzleirätin großem Ärger.

Dann legte sich Irma wie immer auf den Diwan, schlief bis vier, wachte von selbst auf und machte sich zum Ausgehen fertig. Sie wollte ihre Freundin und Kollegin Hedwig Melcher besuchen, die schon etwas altjüngferliche Zeichenlehrerin, die doch ein so gutes Herz und einen so scharfen, feingebildeten Verstand besaß. Ihr wollte Irma sich endlich anvertrauen. Das Geheimnis der anonymen Briefe konnte sie jetzt nicht länger in ihrer Seele verschließen, jetzt, wo es durch den Tod der Großmutter nur noch rätselhafter geworden war.

Fräulein Melcher wohnte in der Invalidenstraße gegenüber einem alten Museum. Drei Geschwister hausten hier zusammen, zwei Schwestern und ein Bruder, stille, zufriedene Menschen, die die Arbeit nicht als Frondienst auffaßten, die an allem Freude hatten.

Hedwig war nicht daheim, auch die älteste Melcher nicht, Thilde, die als Buchhalterin in einem Warenhause zu der gemeinsamen Wirtschaft fast eben so viel beisteuern konnte wie Fritz Melcher, der pedantische Herr Polizeisekretär, trotz seiner achtundzwanzig Jahre bereits ein eingefleischter Junggeselle mit dem Glaubenssatz ›Besser als bei meinen Schwestern kann ich’s nirgends haben!‹

Fritz Melcher hatte soeben eine harmlose Influenza überstanden und daher noch ein paar Tage Urlaub. Er führte Irma in das Wohnzimmer, setzte ihr eine Tasse Kaffee vor, strich ihr ein Brötchen, – alles mit der Selbstverständlichkeit erprobter Freundschaft.

»Hedwig wollte erst ein paar Besorgungen erledigen und dann zu Ihnen gehen, liebes Fräulein Hölsch,« hatte er Irma aufgeklärt. »Sie wollte mit Ihnen irgendwohin ins Freie hinaus. Sie meinte heute beim Mittagessen, Sie seien in letzter Zeit stets sehr nervös und reizbar.«

Irma trank die halbe Tasse auf einmal aus. Sie fühlte sich schon wieder recht abgespannt.

Fritz Melcher saß ihr gegenüber und beobachtete sie unauffällig. Mit seinem blonden, dünnen Bart und der goldenen Brille, dem dunkelblauen Jackettanzug und der soliden schwarzen Schleife unter dem niedrigen Kragen brauchte er niemandem zu sagen, daß er Beamter sei, zumal der Ausdruck seines blassen Gesicht zumeist streng und verschlossen war. Nur jetzt leuchtete fast väterliche Güte und Milde auf diesem feingeschliffenen Antlitz, das durch jedes Lächeln wunderbar verschönert wurde.

»Was quält Sie eigentlich, Fräulein Hölsch?« fragte er, als Irma nicht gleich etwas erwiderte, sondern nachdenklich vor sich hinschaute.

»Deshalb kam ich ja gerade zu Hedwig,« meinte sie leise aufseufzend. »Ich wollte mich mit Ihrer Schwester einmal aussprechen.«

»Hm – wäre es unbescheiden, wenn ich Sie bäte, sich der Selbsttäuschung hinzugeben, daß nicht ich, sondern Hedwig Ihnen jetzt gegenübersäße …?! So halb und halb betrachte ich Sie ja doch als meine Adoptivschwester, Fräulein Irma. Natürlich will ich mich Ihnen wahrhaftig nicht aufdrängen. Aber …«

Sie hatte ihm die Hand über den Tisch hingestreckt.

»Für diese schlechte Welt sind Sie eigentlich viel zu gut, – wirklich! Sie finden für jeden das rechte Wort. Adoptivschwester …! Wie hübsch das klingt … Ich bin ja immer so allein gewesen. – Aber – was das Aufdrängen anbetrifft, das könnte doch nur mich angehen … Ich bin es doch, die Ihnen einen Teil meiner Seelenlast mitaufladen würde, meiner Geheimnisse …«

Er hatte ihre kühle, weiche Hand noch immer in der seinen.

Wie das Blut in bläulichen Adern pulste …! Und wie die feine Haut schnell wärmer und wärmer wurde …! –

Dem Herrn Sekretär ging’s mit einem Male wie ein Ruck durch den Körper. Hastig, verwirrt zog er seine Hand zurück, während ihm eine heiße Welle vom Herzen durch den ganzen Körper flutete.

Und verlegen stotterte er nun, nur um etwas zu sagen:

»Geheimnisse …? – Das klingt ja wirklich beinahe gefährlich.«

Irma war es entgangen, daß der ›Adoptivbruder‹ soeben gefühlt hatte, welche Klippen dieser vorgetäuschte stille See geschwisterlicher Zuneigung doch vielleicht haben könnte.

»Gefährlich ist wohl zu viel gesagt,« meinte sie ernst. »Immerhin handelt es sich um Dinge, die ich nicht begreife, das heißt, hinter deren Sinn ich nicht komme. Und das beunruhigt mich – sehr, sehr sogar.«

Sie nahm ihr ledernes Handtäschchen und brachte daraus drei Briefe zum Vorschein, die sie Fritz Melcher nun reichte, indem sie erklärte:

»Lesen Sie … Ich habe die Umschläge numeriert. Fangen Sie mit eins an.«

»Bedienen Sie sich aber zunächst noch, bitte. Darf ich Ihnen noch ein Brötchen streichen?«

Sie nickte. »Sehr lieb von Ihnen. – Danke. Die Marmelade ist vorzüglich.«

Während er las, beobachtete sie ihn. Mehrmals schüttelte er den Kopf, murmelte auch wohl etwas wie »Unglaublich – unbegreiflich!« vor sich hin. Dabei war er noch immer bei dem ersten Brief, der noch, allein genommen, gar nicht so sehr wirkte. –

Er lautete:

Irma Hölsch!

Es können Ereignisse eintreten, die geeignet sein dürften, Ihr Leben stark zu beeinflussen – vielleicht nicht nach der guten Seite hin. Vergessen Sie dann nicht, daß es eine irdische Macht gibt, die Sie schützen kann. Bereiten Sie sich jedenfalls jetzt schon vor, Überraschungen durchzumachen, die Ihr seelisches Gleichgewicht stören werden.

die treue Hand

Fritz Melcher legte dieses Schreiben beiseite, wobei er zu Irma hinüberschaute und wie ratlos die Achseln zuckte.

Nun das zweite …

Irma Hölsch!

Die Wandlung in Ihrem Dasein ist eingetreten. Lassen Sie sich jedoch warnen! Bleiben Sie, was Sie sind! Und doch – zögern Sie nicht, an verschlossenen Türen zu rütteln! Der gute Ruf jener, von der nie Liebe ausging, muß Ihnen über allem stehen! – Wenn Sie nicht mehr aus noch ein wissen, schreiben Sie vertrauensvoll an Postamt Leipziger Platz postlagernd unter 91836.

die treue Hand

Der junge Sekretär warf diesen Brief zu dem ersten. – Er warf ihn! – Und brummte: »Ein lächerlicher Scherz!«

Aber Irma sagte leise: »Sie werden anderer Meinung werden!«

Dann der dritte Brief …

Irma Hölsch!

In kurzem werden Sie nun wissen, was geschehen ist. Ein Grab hat sich geschlossen. Und aus dieser Gruft reckt sich Ihnen flehend eine Hand entgegen: ›Rüttele an verschlossenen Türen! Der Tempel der Liebe ruft! Wahre die Geheimnisse des Lammerthofes!‹ –

Lassen Sie sich nochmals warnen! Geben Sie Ihren Beruf nicht auf! Dort zwischen den kahlen Heidehügel blüht für Sie kein Glück! –

Sorgen Sie dafür, daß die Kiste bei Nacht verschwindet, daß der Tempel der Liebe leer wird – in aller Stille! Denken Sie an den guten Ruf Ihrer Großmutter und … an 91836.

die treue Hand

Fritz Melcher blickte auf, wollte etwas sagen. Aber Irma kam ihm zuvor.

»Auch ich habe den ersten Brief für einen schlechten Scherz gehalten,« erklärte sie. »Den zweiten nicht mehr, denn er enthält eine Andeutung, die sich nur auf das Verhältnis zwischen meiner Großmutter Elvira Hölsch und mir beziehen kann. Sie hat mich ebenso wenig geliebt wie meinen Vater. Und weil auf die Kälte dieser unserer Beziehungen dort angespielt war, nahm ich dieses Schreiben recht ernst. Daher auch das dritte, das ich heute morgen erhielt. –

Und nun passen Sie auf, Herr Melcher. Heute morgen der dritte Brief, darin der Satz von dem Grabe, das sich geschlossen hat, und heute Nachmittag die amtliche Nachricht von dem am 3. April, also vor acht Tagen, erfolgten Tode meiner Großmutter, die am 8. ohne mein Wissen bereits beerdigt worden ist.«

Der junge Polizeisekretär saß wie versteinert da. Endlich brachte er ein »Hm – ja, – dann allerdings!« mühsam hervor, überflog nochmals den dritten Brief und sagte dann kopfschüttelnd:

»Seltsam – seltsam!«

»Sehen Sie! Nun hat es Sie auch gepackt!« meinte Irma befriedigt. »Nun müssen Sie zugeben, daß diese drei Schreiben der treuen Hand doch etwas auf sich haben! Und, um Sie gleich ganz einzuweihen, der erste Brief erreichte mich am Abend des 3. April, also am Todestage meiner Großmutter, und schon er enthält Anspielungen auf diesen Todesfall, spricht ja von Ereignisse, die mein Dasein stark beeinflussen …«

Fritz Melcher erwiderte nichts. Seine gutgepflegte Hand strich nur sehr nachdenklich den blonden Bart, und seine Augen waren sinnend auf die Sofaecke gerichtet, in der eng zusammengeringelt der Liebling der drei Geschwister Melcher lag, der Wolfspitz Kerlchen. Und Kerlchen hatte soeben die Lider aufgeschlagen, fühlte den Blick Herrchens und wedelte mit der buschigen Rute einen Gruß hinüber.

Dann kehrten des ernsten Beamten Augen zu Irmas reizvollem Gesicht zurück.

»Und in dieser Sache wollten sie Hedwigs Rat einholen?« fragte er mit einem kaum merklichen Lächeln. »Hedwig ist dir wohl ein kluger Mensch. Aber es gibt doch Dinge, die anderswo besser aufgehoben sind. Auch ich bin für diese Sache kaum zuständig. Vielleicht einer unserer Kriminalkommissare oder … Egon Larisch.«

Irma horchte auf.

»Egon Larisch?« meinte sie erstaunt. »Seit einer Woche sitzt mir bei Frau Mikla ein Schriftsteller mittags gegenüber, – Sie wissen, guter, billiger Mittagstisch, im Abonnement für 1,25 Mk. – Ist das etwa derselbe Herr Larisch?«

Fritz Melcher wurde etwas rot.

»Allerdings – ganz richtig, – mein Schulfreund Egon, der vor vierzehn Tagen seinen Wohnsitz von München nach hier verlegt hat,« beeilte er sich zu erklären.

Irma maß ihn mit ebenso prüfenden wie verwunderten Blicken.

»Ja – aber den Namen habe ich weder von Ihnen noch von Ihren Schwestern bisher gehört?!« sagte sie lauter und eindringlicher. »Wie kommt denn das?! Mögen Ihre Schwestern diesen Herrn Larisch etwa nicht gern? – Irgend eine Bewandtnis muß es doch haben, daß ich, die fast täglich hier im Hause ist, noch nie diesen Schriftsteller erwähnen hörte …?!«

Der blonde Sekretär fegte mit den Fingerspitzen die Krümel auf der Tischecke zusammen und schaute nicht auf.

»Ein Zufall,« sagt er unsicher.

»Ist Egon Larisch denn schon mal bei Ihnen gewesen?« forschte Irma hartnäckig weiter.

»Ja – öfters!« Das klang wieder so merkwürdig verlegen. Und dann stand Fritz Melcher hastig auf, ging zu der großen Kanarienvogelhecke hin, die schräg vor dem einen Fenster ihren Platz hatte, und rief zwei sich zankenden Hähnen zu: »Schämt euch – werdet Ihr wohl Frieden halten!«

Irma merkte, daß die Freundschaft mit diesem Egon Larisch besonderer Art sein müsse und daß der junge Sekretär nicht mit der vollen Wahrheit herausrücken wollte.

Sie ließ daher diesen Gegenstand fallen und sagte möglichst gleichgültig:

»Ich denke, Herr Larisch ist Schriftsteller. Und doch nannten Sie seinen Namen in einem Atem mit Kriminalkommissaren?!«

»Freilich. Er schreibt nämlich Kriminalromane, – wie er stets sagt ›als Akkordarbeiter‹. Dabei ist er aber noch so zu seinem Privatvergnügen auch Detektiv. Nein, ganz paßt diese Bezeichnung auf seine Neigungen doch wohl nicht. Er liebt alles Außergewöhnliche, mag es ein Angesicht haben wie es will! Nur alltäglich darf es nicht sein.«

»So, so. Und Sie meinen, Herr Larisch wäre also am besten ›für meine Sache zuständig‹, wie Sie sich vorhin ausdrückten?«

»Ohne Zweifel. Er würde sich mit allem Eifer auf dieses Geheimnis stürzen. Ich kenne ihn. Wenn Sie mir diese drei Briefe für einen Tag überlassen und mir noch näheren Aufschluß über den Inhalt der heutigen amtlichen Benachrichtigung geben wollten, so glaube ich Ihnen versprechen zu können, daß Sie sehr bald wissen, wer hinter dieser ›treuen Hand‹ steckt und was durch die anonymen Schreiben eigentlich beabsichtigt wird. –

Noch eine Frage. Haben Sie sich etwa schon unter 91836 an diesen rätselhaften Beschützer gewendet?«

»Nein. – Aber was Ihren Vorschlag anbetrifft, lieber Herr Melcher, – da sage ich ja! Gut, tragen Sie Herrn Larisch die Angelegenheit vor.« –

Sehr bald darauf erschien Hedwig Melzer.

Sie hatte große Ähnlichkeit mit dem blonden Sekretär, war überschlank, zart, aber leider schon ein wenig verblüht. Etwas Herbes, kühl – zurückweisendes hatte ihrem Wesen stets angehaftet. Richtig jung war sie wohl nie gewesen. ›Ein hartes Lineal ohne jedes Gefühl‹, sagten ihre Kolleginnen von der Moabiter Volksschule, an der sie ebenso wie auch Irma Hölsch angestellt war. Dieses grausame Urteil stimmte jedoch nicht, oder nur mit Einschränkungen. Hedwig Melcher ließ niemand einen Blick in ihr Inneres tun. Die einzige, die ihr näher stand, war Irma. Doch auch ihr gegenüber blieb Hedwig bis zu einem gewissen Grade scheu zurückhaltend.

Irma fiel es auf, daß sie von der Freundin heute kühler als sonst begrüßt wurde. Hedwig war zerstreut und leicht erregt. Als sie die anonymen Briefe auf dem Tisch bemerkte, fragte sie sofort:

»Habt Ihr hier etwa geschäftliche Dinge erörtert?« Es machte den Eindruck als ob sie nur irgend etwas reden wollte. Auch Fritz wunderte sich über die Zerfahrenheit der Schwester und streifte sie mit prüfenden Blicken.

Irma teilte der Zeichenlehrerin mit, weshalb sie zu ihr gekommen war. Als im Laufe dieser Erklärungen über die geheimnisvollen Briefe dann auch Egon Larisch erwähnt wurde, veränderte sich Hedwig Melchers Gesichtsausdruck auffallend. Und mit einem halb ironischen, halb ärgerlichen Auflachen sagte sie, Irma wenig rücksichtsvoll ins Wort fallend:

»Ich begreife meinen Bruder nicht …! Wozu soll denn Herr Larisch mit dieser Sache behelligt werden?! Der schlägt sich doch wahrhaftig mühsam genug durch. Wo soll er wohl die Zeit hernehmen, sich auch noch den Angelegenheiten Fremder zu widmen!«

Irma wurde erst verlegen, dann aber kam doch die durchaus gerechtfertigte Empörung bei ihr zum Durchbruch. Hedwigs ganzes Verhalten war ihr heute völlig unerklärlich. Und so sagte sie denn ziemlich scharfen Tones, bevor noch der Sekretär sich einmischen konnte:

»Dein Bruder war es, der mir den Vorschlag machte, Herrn Larisch um Rat zu fragen. Ich habe jedenfalls nie daran gedacht, den Schriftsteller, den ich ja kaum kenne, zu behelligen. Im übrigen scheinst du heute nicht gerade bester Laune zu sein, liebe Hedwig. Da ist es wohl besser, ich gehe. Natürlich werde ich unter diesen Umständen die Briefe mitnehmen. Herr Larisch soll durch mich nicht seiner kostbaren Zeit beraubt werden.«

Hedwig Melcher lenkte jetzt plötzlich ein. Und dies gleich in einer Weise, daß Irma immer weniger aus der Zeichenlehrerin und deren schnell wechselnden Stimmungen klug zu werden vermochte.

Mit tränenfeuchten Augen und bittend vorgestreckten Händen kam das alternde Mädchen auf die Freundin zu und rief mit leicht vibrierender Stimme:

»Mein Gott, habe ich dich etwa verletzt?! Das will ich nicht, wirklich nicht! Verzeih’ mir, Irma! Bitte – bitte – sei wieder gut, Liebste! Wir beide werden uns doch nicht zanken! Ach – ich hatte mir diesen Nachmittag so anders gedacht. Ich komme ja soeben von dir, war enttäuscht, dich nicht anzutreffen. Ich hätte sodann mit dir einen Spaziergang gemacht. Ich habe dir auch ein paar Zeilen hinterlassen. In deinem Zimmer arbeitete gerade ein Elektromonteur, der die Lichtleitung nachsah. Über den Menschen habe ich mich auch noch geärgert. Es war so ein richtiger aufdringlicher Berliner. Er hatte dein Bild auf dem Schreibtisch gesehen, tat, als hätte er sich sofort in die Photographie vergafft und fragte mich nun nach dir aus, – so eine Unverfrorenheit! Na – als ich erst merkte, was mit dem Menschen los war, habe ich ihm gründlich heimgeleuchtet.«

Irma war schon wieder versöhnt, zumal auch Fritz Melcher jetzt betonte, Hedwig wäre wohl etwas überarbeitet.

»Jedenfalls kann davon keine Rede sein, Fräulein Hölsch,« fügte er hinzu, »daß Egon Larisch durch eine Prüfung dieser Briefe irgendwie in seiner Arbeit beeinträchtigt wird. Ich bitte Sie also, lassen Sie die Briefe hier.«

»Gut denn,« meinte Irma und reichte sie ihm zurück.

Hedwig aber warf so nebenbei hin:

»Natürlich kann er sie prüfen. Ich glaubte ja, Irma, es sollten vielleicht lange Beratungen zwischen euch stattfinden. Und die hätten doch wohl Larisch in seinem Schaffen gestört.«

Dann wurde dieser Gegenstand nicht weiter berührt. Irma begann von der Erbschaft zu sprechen und lud hierbei die Geschwister Melcher nach dem Lammerthof für die nahen Osterfeiertage ein.

»Ihr müßt meine Gäste sein, auf jeden Fall! Einen Korb nehme ich nicht an. Ich bin ja jetzt Gutsbesitzerin, – wenn auch nur von einer alten Raubburg, die als Wohnhaus genutzt wird, und zweihundert Morgen armseligen Heidelandes, auf dem nur Schafe ihr Auskommen finden.«

Die Einladung wurde angenommen. Dann setzte jetzt Melcher für Irma noch ein Schreiben an das Amtsgericht in Sziemanowo auf, damit dieses sich bis zum Beginn der Ferien des Lammerthofes ein wenig annehme, den das alte Ehepaar Parlitz vorläufig verwalten sollte.

3. Kapitel
Egon Larisch

Inhaltsverzeichnis

Als Irma nach Hause kam, begegnete sie im Flur der Frau Kanzleirat Mießtaler.