2Ein richtig verstandener Humanismus ist die Antwort auf die aktuelle Unordnung der Welt – so lautet die Zentralthese des neuen Buches von Julian Nida-Rümelin, der unter »Humanismus« weit mehr versteht als eine Geisteshaltung oder gar das angestaubte Relikt längst vergangener Zeiten. Humanismus ist vor allem eine Praxis der Menschlichkeit und damit die einzige Hoffnung auf eine friedliche, gerechte und prosperierende Weltgesellschaft der Zukunft. Damit der Humanismus seine Prägekraft zurückgewinnt, die er in einigen Phasen der Weltgeschichte hatte, muss er revitalisiert, muss er von Grund auf erneuert werden. Die Texte in diesem Band wollen dazu einen Beitrag leisten.

Julian Nida-Rümelin lehrt Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Im Suhrkamp Verlag erschienen: Demokratie als Kooperation (stw 1430), Ethische Essays (stw 1565) und Philosophie und Lebensform (stw 1932).

3Julian Nida-Rümelin

Humanistische Reflexionen

Suhrkamp

4Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der folgende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2180.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© Julian Nida-Rümelin

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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-74486-4

www.suhrkamp.de

5Inhalt

Vorwort

Erster Teil: Wahrheit und Begründung

Veritas filia temporis

Begründung in der philosophischen Ethik

Moralische Begründung

Moralische Tatsachen

Zweiter Teil: Kritik des Naturalismus

Kritik der Naturalisierung epistemischer Gründe

Warum moralische Objektivität und Naturalismus unvereinbar sind

Warum die Annahme menschlicher Freiheit begründet ist

Dritter Teil: Humanistische Anthropologie

Humane Bildung

Plädoyer für eine normative (humanistische) Anthropologie

Praktische Rationalität und der Sinn des Lebens

Vierter Teil: Humanistische Semantik

Humanistische Semantik

Die Grenzen der Sprache

Grice, Gründe und Bedeutung

Fünfter Teil: Plädoyer für einen erneuerten Humanismus

Grundlagen

Kritik des Anti-Humanismus

Demokratie und Kosmopolitismus

Anhang

Karl Marx: Ethischer Humanist – Politischer Anti-Humanist?

Respect. Ein Plädoyer für die gleiche Anerkennung unterschiedlicher Wissenschaftskulturen

Humanismus als Leitkultur

7Διὸ δεῖ ἕπεσϑαι τῷ ξυνῷ. τοῦ λόγου δ’ ἐόντος ξυνοῦ ζώουσιν οἱ πολλοὶ ὡς ἰδίαν ἔχοντες φρόνησιν.

Heraklit

9Vorwort

Beginnend mit meiner Habilitationsschrift zur Kritik des Konsequentialismus,[1] später dann in der Auseinandersetzung mit dem naturalistisch motivierten Angriff auf die Idee menschlicher Freiheit und menschlicher Verantwortung,[2] schließlich in meiner Kritik des Homo oeconomicus[3] und in den jüngsten bildungstheoretischen Auseinandersetzungen[4] ist mir ein grundlegender philosophischer Konflikt im Laufe der Jahre immer deutlicher geworden: der zwischen humanistischem und anti-humanistischem Denken. Was ich jeweils bei aller Unterschiedlichkeit der Themen kritisiere, stellt sich als eine Spielart anti-humanistischen Denkens heraus. Dieser rote Faden meiner eigenen Arbeit ist mir erst mit der Zeit bewusst geworden, oder besser: Mir war nicht von Anbeginn klar, dass ich mit meiner Kritik in einer größeren Tradition der humanistischen Revolten gegen anti-humanistische Theorie und Praxis seit der Antike stehe.

Den Terminus »humanistisch« zur Charakterisierung meiner eigenen Position verwendete ich meines Wissens zum ersten Mal im September 2003 in einem Vortrag Freedom without Foundations? vor der Gesellschaft für Analytische Philosophie. Die schriftliche Fassung dieses Vortrages bildete dann 2005 das erste Kapitel des zweiten Reclam-Bändchens Über menschliche Freiheit und ist aus diesem Grund hier noch einmal abgedruckt (Kap. 7). Ein Jahr später erschien unter dem Titel Humanismus als Leitkultur eine Sammlung einiger meiner politischen Reden aus fünf Jahren in kulturpo10litischen Ämtern.[5] Das Buch beanspruchte nicht eine systematische Theorie des Humanismus vorzustellen, sondern war eher als ein Nachlesebuch gedacht mit einer Vielzahl von politischen Stellungnahmen zu unterschiedlichen Themen, die jedoch von einer gemeinsamen humanistischen Grundüberzeugung geprägt waren.

Der vorliegende Band trägt den Titel Humanistische Reflexionen, er enthält verschiedene Stücke des Nachdenkens, der Erörterung unterschiedlicher Aspekte der theoretischen und der praktischen Philosophie in einem spezifischen, nämlich humanistischen Modus und schließt mit einem »Plädoyer für einen erneuerten Humanismus«, in dem die in meinen Augen zentralen Elemente eines erneuerten philosophischen Humanismus vorgestellt werden. Wer keine hinreichende Verwandtschaft mit früheren Definitionsversuchen humanistischen Denkens erkennen kann, der nehme diese Stücke als sich wechselseitig stützende Elemente einer spezifischen philosophischen Perspektive, wie immer man sie dann bezeichnen mag.

In der Tat wird unter Humanismus sehr Unterschiedliches verstanden, darunter die Betonung alter Sprachen, griechischer und römischer Geschichte und Kultur im Bildungswesen, der Deutsche Idealismus und seine geisteswissenschaftlichen Ausläufer im 19. Jahrhundert, die neue literarische Sensibilität der italienischen Frührenaissance, aber auch die These von der Sonderstellung der menschlichen Spezies, verbunden mit einer Abwertung allen nicht-menschlichen Lebens. Keine der genannten Charakterisierungen von Humanismus spielt in diesem Band eine Rolle. Diese beziehen sich in meinen Augen nicht auf den Kern humanistischen Denkens und humanistischer Praxis, sondern auf bestimmte historische und kulturelle Begleitphänomene. Meine eigene praktische Philosophie steht nicht in der Tradition des Deutschen Idealismus, eher in der der analytischen und pragmatistischen sowie der aristotelischen Philosophie, wenn es auch Berührungspunkte zum analytischen Hegelianismus der Gegenwart gibt (Brandom, McDowell u. a.) und ich vertrete nicht die These einer absoluten Sonderstellung der menschlichen Spezies, habe mich im Gegenteil für eine Ethik des gleichen Respekts bei Berücksichtigung der biologischen Differenzen im Umgang mit Tieren ausgesprochen.[6]

11Das »Plädoyer für einen erneuerten Humanismus« abstrahiert von einer Formenlehre des Humanismus und versucht, den Kern genuin humanistischen Denkens zu fassen: nicht im Sinne einer geisteswissenschaftlichen, historischen oder kulturtheoretischen Rekonstruktion, sondern im Sinne einer in sich stimmigen philosophischen Positionierung – im Zweifelsfall ist es lediglich meine Positionierung, auch wenn mir Gemeinsamkeiten mit anderen humanistischen Denkern auf der Hand zu liegen scheinen. Der philosophische Humanismus hat, wie kaum eine andere philosophische Strömung, eine politische Dimension. In der Tat bin ich davon überzeugt, dass die neuen Fanatismen und Fundamentalismen, die Kommerzialisierung und Infantilisierung der westlichen Kultur und der Kulturen weltweit nicht nur einer philosophischen, sondern auch einer politischen Antwort bedürfen und dass diese humanistisch sein sollte.

Die Texte dieses Bandes sind überwiegend in den letzten Jahren seit Erscheinen des stw-Bandes Philosophie und Lebensform (2009) entstanden; ältere Texte wurden dann aufgenommen, wenn sie zum Verständnis der Thematik unverzichtbar erschienen. Einige Textfassungen weichen in dem einen oder anderen Detail von schon erschienenen ab. Meist als Vorträge gehalten, wurde auch in der schriftlichen Form die Besonderheit der mündlichen Rede beibehalten und der Anmerkungsapparat sparsam eingesetzt. Dem Band wurde kein Personen- und Sachregister beigefügt, da das detaillierte Inhaltsverzeichnis am Ende des Buches wohl hinreichend Orientierung bietet.

Ich danke Elizabeth Bandulet und Niina Zuber für Verschriftlichungen und redaktionelle Glättungen, Rebecca Gutwald für die Übersetzung eines der Texte (Kap. 5) aus dem Englischen, Jan-Erik Strasser für die sorgfältige Lektorierung des Manuskriptes und Eva Gilmer für die wie immer reibungslose Zusammenarbeit mit dem Suhrkamp Verlag.

München, im Dezember 2015

Julian Nida-Rümelin

13Erster Teil:
Wahrheit und Begründung

151. Veritas filia temporis[1]

I. Vorbemerkung

In diesem Vortrag geht es mir um die Überwindung eines doppelten Schismas in der modernen Philosophie: des Schismas zwischen Realisten und Antirealisten und desjenigen zwischen theoretischer und praktischer Vernunft. Nun bin ich nicht so vermessen anzunehmen, dass sich mit einem Vortrag – selbst wenn er auf dem bedeutendsten Kongress der deutschsprachigen Philosophie gehalten wird – zwei in der modernen Philosophie tief verwurzelte Schismen zu Grabe tragen lassen. Die bescheidenere Formulierung meines Vortragsziels lautet daher: Ich möchte Sie davon überzeugen, dass sich diese Schismen überwinden lassen, und deutlich machen, wie sie sich überwinden lassen. Zugleich aber möchte ich erläutern, wie es zu diesen Schismen kommen konnte und warum sie einen so dominierenden Einfluss auf das moderne, auch auf das zeitgenössische, philosophische Denken erringen konnten.

Dieser Vortrag richtet sich sowohl an die Kolleginnen und Kollegen aus dem Fach als auch an ein breiteres Publikum, das ein Interesse an der Philosophie hierher geführt hat, wie es sich für einen Abendvortrag gehört. Dies stellt mich, wie die anderen, die auf diesem Kongress einen Abendvortrag übernommen haben, vor eine gewisse Herausforderung: Kann man ein komplexes und intrikates philosophisches Argument so entwickeln, dass es sowohl diejenigen, die die Philosophie zum Beruf gemacht haben, als auch diejenigen, die ein außerberufliches Interesse an philosophischen Fragen entwickelt haben, gleichermaßen anspricht? Ich denke, das sollte möglich sein – ob es mir gelingt, steht auf einem anderen Blatt. Die interessantesten Beiträge in der Geschichte des philosophischen Denkens haben sich jedenfalls nicht eines bestimmten Jargons bedient, sondern versucht, Genauigkeit mit Verständlichkeit zu verbinden. Dass auch große Köpfe an dieser Aufgabenstellung immer wieder gescheitert sind, ist nicht ermutigend, ich versuche es hier trotzdem.

16II. Anmerkungen zur Historie des Schismas

Wie so vieles in der Philosophie (genauer: in der Philosophie unseres Kulturkreises) kann man die Ursprünge dieses Schismas, das es zu überwinden gilt, bis auf Platon zurückverfolgen. In der berühmten Kaskade der drei Gleichnisse – des Sonnen-, des Linien- und des Höhlengleichnisses – geht es um das Verhältnis von doxa und epistèmè, von bloßer Meinung und sicherem Wissen. Platon ist der Überzeugung, dass Wissen nur auf dem Wege der Philosophie und der Wissenschaft (was damals noch nicht zu trennen war) zu erreichen ist. Da nicht alle diesen Weg gehen können, müssen sich die Vielen auf die Wenigen verlassen, die in der Lage sind, den philosophischen Weg zu gehen, und ihrem Rat folgen. Das Spannungsverhältnis zwischen philosophischem Wissen und Alltagserfahrung bleibt jedoch in praxi bestehen, wie die resignativen Schlusspassagen des Höhlengleichnisses deutlich machen und wie es das Menetekel des Todes von Sokrates, nicht nur für Platon, drastisch vor Augen führte. Wissen verlangt nach einer radikalen Distanz von den Praktiken und Urteilen der Alltagswelt. Diese radikale Lösung über die Wenigen, die ihr Leben der Philosophie widmen, hat eine stilbildende und zugleich hochproblematische Konsequenz: Es ist die Abwertung dessen, was im Anschluss an Husserl als »lebensweltliches Wissen«, im Anschluss an Wittgenstein und die Ordinary-language-Philosophie als »Alltagssprache«, im Anschluss an die schottische Aufklärungsphilosophie als »common sense« und im Anschluss an Dewey als »Erfahrung« bezeichnet werden könnte.

Der Widerstand gegen diese radikale Abwertung formiert sich schon früh, nämlich bei einem – allerdings rund vierzig Jahre jüngeren – Schüler Platons: bei Aristoteles. In der Nikomachischen Ethik wird nicht nur die Ideenlehre Platons geradezu brüsk verworfen, sondern auch die Lebenserfahrung und das Alltagswissen in Gestalt des phronimos aufgewertet. Dem Intellektualismus Platons wird – so könnte man in historisch verzerrender Terminologie sagen – der Pragmatismus erfahrungsgesättigter Lebensklugheit entgegengestellt.

Platon ist, wie Aristoteles, zweifellos im philosophischen Sinne Realist. Aber während sich die Realität für Aristoteles in Gestalt eines topischen Vorgehens aus unseren lebensweltlichen Überzeu17gungen erschließt, müssen diese für Platon radikal in Frage gestellt werden, um hinter den Schattenbildern des alltäglichen Erfahrungswissens das eigentlich Seiende, nämlich die Formen und Strukturen, also das, was irreführend als »Ideen« übersetzt wird, zu enthüllen. Aber führt die topische Methode nicht geradewegs in einen Relativismus unterschiedlicher Perspektiven? Ist nicht etwa die normativ weitgehend abstinente Beschreibung, die Aristoteles unterschiedlichen Verfassungsformen angedeihen lässt, ein Beleg und ist nicht die Ziviltheologie, wonach jede griechische Stadt gut beraten ist, dem gemeinsamen Glauben an die Götter Ausdruck zu geben und die Beteiligung an den entsprechenden Riten und Festlichkeiten als Bürgerpflicht zu etablieren, ein Warnsignal, jedenfalls für gläubige Menschen? Die topische Methode als Weg in den Agnostizismus nicht nur in der Theologie? Und ist die Abwertung der Wissenschaft jedenfalls dort, wo sie eine Genauigkeit fordert, die dem Gegenstand unangemessen ist,[2] nicht eine Form des Quietismus, der sich mit den überkommenen Vorstellungen und Gebräuchen arrangiert, etwa in der bemerkenswert unkritischen Akzeptanz dreier vermeintlicher Herrschaftsformen von Natur: der der Eltern über die Kinder, der der Freien über die Sklaven und der der Männer über die Frauen? Ist da nicht die platonische Utopie einer gerechten Stadt vorzuziehen, die mit überkommenen Praktiken der Unaufgeklärtheit und Unterdrückung radikal bricht, Männer und Frauen gleich behandelt, die Familien auflöst (jedenfalls für die Angehörigen des Wächterstandes) und Gerechtigkeit als praktische Umsetzung philosophischer Erkenntnis realisiert?

Auch wenn der Gegensatz von Platonismus und Aristotelismus das weitere philosophische Denken in der Antike und im Mittelalter beeinflusst, so kommt es zur eigentlichen Ausprägung des Schismas, um das es uns in diesem Vortrag geht, erst mit der scientia nova und dem neuzeitlichen Rationalismus. Man mag vermuten, dass sich kulturell in der italienischen und dann gesamteuropäischen Renaissance ein Muster wiederholt, das auch Platon zu seiner Philosophie inspirierte, nämlich das einer tiefgehenden und umfassenden Entwertung vertrauter Praktiken und Überzeugungen. In der frühen Neuzeit nimmt das die Form des klerikalen Autori18tätsverfalls, der Abwertung des aristotelisch-thomasischen Weltbildes sowie der über Glaubens- und Moralgewissheiten gestifteten einheitlichen christlichen Lebensform an. Erst das Zwillingspaar aus globaler Skepsis und Zertismus, also die subjektive Erschütterung lebensweltlicher normativer wie empirischer Gewissheiten und die Identifikation von Wissen mit Unbezweifelbarkeit führt zum rationalistischen Irrweg der Philosophie, der diese über weite Strecken bis heute prägt. Unter »Rationalismus« verstehe ich dabei eine spezifische Methodik, eine Vorgehensweise in der Theoriebildung und schließlich eine philosophische Erkenntnistheorie, wonach aller Intuition, aller lebensweltlichen Erfahrung, allem Common Sense, aller etablierten Pragmatik zu misstrauen und diese durch ein methodisch-wissenschaftlich gesichertes, deduktives Verfahren des Wissenserwerbs zu ersetzen sei.

René Descartes, der prototypische Vertreter des neuzeitlichen Rationalismus, führt das in den Meditationes[3] in beispielloser Konsequenz vor: Weil unsere Sinne uns gelegentlich täuschen, sollten wir überhaupt kein Vertrauen mehr in diese setzen, sie fallen als Erkenntnisquelle aus. Was bleibt, ist das cogito, die Existenz eines wohlwollenden Gottes und die logische Deduktion. Der neuzeitliche Rationalismus ist ein umfassendes Ersetzungsprogramm: Lebensweltliches Erfahrungswissen normativer und empirischer Art soll durch logische Deduktion aus minimalen, selbstevidenten und damit unbezweifelbaren Axiomen ersetzt werden.

Wer glaubt, dies sei lediglich ein merkwürdiger Auswuchs einer kulturellen Krise im Gefolge des Verfalls theologischer Autorität in der damaligen Zeit gewesen, dem empfehle ich eine gründliche Lektüre von Moral Thinking, der letzten Monographie von Richard Hare, die in aller Deutlichkeit an einem Rationalismus kartesischer Radikalität festhält, alle moralische Intuition entsorgt und diese durch ein mit den Mitteln der Sprachlogik vermeintlich deduzierbares Prinzip zu ersetzen sucht.[4] Hare hat dabei zeitlebens in immer wieder neuen Anläufen deutlich gemacht, dass ein solcher Rationalismus keineswegs in den abstrakten Sphären der Prinzipien verharren muss, sondern sich auf ganz konkrete Alltagsprobleme, wie zum Beispiel die Ethik der Stadtplanung oder die Ethik der 19menschlichen Fortpflanzung, anwenden lässt, mit teilweise (wie zu erwarten) hochgradig kontraintuitiven Ergebnissen. Peter Singer, sein Meisterschüler, ist der bekannteste Vertreter dieser Form des ethischen Rationalismus, dem die Abwertung allen lebensweltlichen Orientierungswissens Bewunderung wie Kritik, einschließlich eines höchst problematischen Auftritts- und Redeverbots in deutschsprachigen Teilen Mitteleuropas, einbrachte.[5] Die Gegenseite vertraut dagegen auf lebensweltliche Erfahrung. Ihr prominentester Vertreter, Bernard Williams, hängt einem relativism from the distance an und ist skeptisch gegenüber der Möglichkeit ethischer Theorie im Allgemeinen und rationalistischer Theorie im Besonderen.[6]

Die Tatsache, dass sich dieses Schisma so lange hält, dass es über Jahrhunderte das philosophische Denken, nicht nur in unserem Kulturkreis, prägt und sich in der Neuzeit radikal vertieft, in der Gegenwart auch in Gestalt der Auseinandersetzung zwischen einer rationalitäts- und objektivitätskritischen Postmoderne und ihren universalistischen und objektivistischen Opponenten, muss uns zu denken geben. Es ist schwer vorstellbar, dass ein solcher Gegensatz lediglich Folge eines Irrtums ist. Vielmehr ist anzunehmen, dass auf beiden Seiten gute Gründe zur Geltung gebracht werden, die dieses Schisma prolongieren und vertiefen. Bevor wir das systematisch zu klären suchen, möchte ich kurz auf zwei zeitgenössische Philosophen eingehen, die Wichtiges zu dieser Thematik beigetragen haben.

Der eine ist Hilary Putnam, der im Laufe seines Lebens mit einer zwar irritierenden Wandlungsfähigkeit, aber immer mit starken Argumenten unterschiedliche Positionen zur Realismus-Problematik eingenommen hat und dessen – in meinen Augen gescheiterte – Konzeption des internen Realismus Elemente enthält, die auch dann zu berücksichtigen sind, wenn sie zur Rechtfertigung einer irrigen These gebraucht werden. Der andere ist ein Vorgänger im Amt des Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, nämlich Herbert Schnädelbach, der einen objektivistischen Standpunkt gegen die Historisierung der Vernunft verteidigt.

Ich greife diese zwei Philosophen heraus, weil beide über die besondere Begabung verfügen, kritisch und undogmatisch, vor allem 20völlig unbeeindruckt von »Schul-Zugehörigkeiten« zu argumentieren. Beide überwinden souverän ideologische Mauern, die es auch in der Philosophie – jedenfalls für eine lange Zeit – gegeben hat: Der Analytiker Hilary Putnam geht mit großem Interesse und Respekt auf die kontinentale, speziell die klassisch deutsche philosophische Tradition ein, während der von Kant und Hegel, aber auch der Kritischen Theorie geprägte Herbert Schnädelbach auch Argumente aus der analytischen Philosophie berücksichtigt. Putnam wie Schnädelbach befassen sich mit dem Verhältnis von Vernunft und Geschichte.[7] Putnam stellt die objektiven und die subjektiven Auffassungen von Vernunft einander gegenüber, kritisiert den »metaphysischen Realismus« als einen überzogenen Objektivismus und die Postmoderne als einen überzogenen Subjektivismus und bietet seine Konzeption eines »internen Realismus« als Lösung an. Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation ist das berühmte Gedankenexperiment der Gehirne im Tank.

Metaphysische Realisten, wie sie von Putnam charakterisiert werden, sind davon überzeugt, dass es de facto sein kann (wie unwahrscheinlich auch immer), dass wir Gehirne im Tank sind, deren Sinneswahrnehmungen und Weltbilder von Reizungen des in einer Flüssigkeit schwimmenden neurophysiologischen Systems ausgelöst werden, während die Kritiker des metaphysischen Realismus dies als unmöglich erachten, da wir uns damit (als Gehirne im Tank) nicht auf die Welt, sondern in Wirklichkeit auf etwas anderes, nämlich auf diese Reizungen (mit unseren Wahrnehmungen und Begriffen), bezögen. Die These Putnams lautet: Selbst wenn wir Gehirne in einem Tank wären, könnten wir jedenfalls nicht sagen oder denken, dass wir es sind. Ähnlich wie die Äußerung »Ich existiere nicht« selbst-widerlegend ist, weil man seiner eigenen Existenz gewiss ist, wenn man über sie nachdenkt (das kartesische Argument zur Überwindung der Skepsis), so gilt, dass wenn Gehirne überlegen können, ob sie Gehirne im Tank sind, sie dann keine Gehirne im Tank sind, weil Gehirne im Tank gar nicht denken können, dass sie Gehirne im Tank sind. Der metaphysische Realist, wie ihn Putnam charakterisiert, wird jedoch ungerührt entgegnen: Logisch und physikalisch sei es möglich, dass wir Gehirne im Tank 21sind, das genüge. Putnam bestreitet, dass sich diese realistische Position überhaupt kohärent einnehmen lässt. Ausgehend von diesem Lackmustest entwickelt er im Weiteren eine Vielzahl von Argumenten, die die anti-realistische Ausgangsthese aufrechterhalten, aber die relativistischen Konsequenzen zu vermeiden suchen. Wahrheit wird schließlich mit idealer Rechtfertigbarkeit identifiziert und damit versucht Putnam in dieser Phase seines Nachdenkens über den Realismus den postmodernen Fallstricken des Antirealismus, wie er ihn vor allem in Richard Rorty exemplifiziert sieht, zu entgehen.[8]

Herbert Schnädelbach befasst sich mit dem Grundproblem, dass wir uns »zugleich als vernünftige und als historische Wesen verstehen müssen«,[9] und versucht, den klassischen Gegensatz von Vernunft und Geschichte, zwischen Allgemeinem und Partikularem, zwischen Ewigem und Vergänglichem, zwischen Notwendigem und Zufälligem aufzulösen. Er verteidigt eine im Ganzen objektivistische Erkenntnistheorie gegen die historistische (Selbst-) Interpretation der Vernunft. Schnädelbachs Überlegungen münden in die These, dass eine zeitgemäße Philosophie nur als Theorie der Rationalität auftreten kann.[10] In der Tat spricht vieles dafür, die zeitgenössische Residualwissenschaft Philosophie, aus der all diejenigen Bereiche ausgewandert sind, die sich zu methoden- und paradigmengeleiteten natur-, geistes- oder sozialwissenschaftlichen Einzeldisziplinen verselbstständigt haben, als Theorie der praktischen wie theoretischen Rationalität zu verstehen.

Was bei Schnädelbach als Auseinandersetzung mit dem Historismus auftritt, ist bei Putnam die Auflehnung gegen die postmodernen Implikationen des Anti-Realismus. Schnädelbach formuliert die historistische Herausforderung folgendermaßen:

Was wir für unsere Vernunft halten, hat es nicht immer gegeben; unser individuelles und kollektives Vermögen vernünftig zu denken und zu handeln, ist offenbar entstanden, und es hat sich verändert – […] – als Entstandene und sich Wandelnde hat die Vernunft eine Geschichte.[11]

22Andererseits könne man die Geschichte »nicht bloß als das ›ganz Andere‹ der Vernunft ansehen. Wäre das Geschichtliche nur ein struktur- und sinnloses Chaos, bliebe es unserer Vernunft unzugänglich, denn es gäbe da nichts zu verstehen und zu erklären«.[12] Wer von Geschichte rede, setze Vernunft voraus, meint Schnädelbach. Ich kann mir diesen Geschichtsoptimismus nicht zu eigen machen und sehe auch den systematischen Zusammenhang anders, aber damit ist eine Herausforderung formuliert, die ich als Spannungsverhältnis zwischen der Objektivität der Wahrheit (und insofern des Wissens) und der Partikularität der Begründung (theoretischer wie praktischer Vernunft) nun näher analysieren werde.

III. Der systematische Kern des Schismas

Unser alltäglicher Wissensbegriff ist zweifellos objektivistisch. Die Menschen im Mittelalter hatten gute Gründe für die Überzeugung, dass sich die Sonne und die übrigen Gestirne um die Erde drehen. Diese Überzeugung war nicht Ausdruck einer Irrationalität, sondern angesichts der gegebenen Daten und des Augenscheins wohlbegründet. Die Tatsache, dass die astronomischen Beschreibungen der Bahnen von Planeten auf der Basis dieser Überzeugung mit zunehmender Genauigkeit ziemlich kompliziert wurden, spricht zunächst nicht dagegen, dass diese Überzeugung wohlbegründet war. In dem Moment, in dem eine alternative Theorie und eine auf diese gestützte, weit einfachere Beschreibung der Planetenbewegungen möglich waren, wurde die Wohlbegründetheit des geozentrischen Weltbildes jedoch fragwürdig. Galileo Galilei jedenfalls war überzeugt, die besseren Argumente zu haben, und selbst sein intellektuell ebenbürtiger Widerpart Kardinal Bellarmin war sich nicht sicher, ob die Argumente Galileis nicht möglicherweise die besseren seien. Er zog sich daher auf pragmatische Gegengründe zurück: Könne Galilei wirklich verantworten, dass die Autorität des Klerus, ja die der Heiligen Schrift, durch eine solche theoretische Revolution in Mitleidenschaft gezogen wird, mit all den Unruhen und Verwerfungen, die das vermutlich zur Folge hätte?[13] Die gali23leische Sicht setzte sich jedenfalls durch, die von einer grausigen Blutspur begleiteten Rückzugsgefechte der Kirche konnten der Wirkung des besseren Argumentes nicht mehr trotzen. Seitdem sind die allermeisten Menschen davon überzeugt, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt.[14]

Der Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen »Weltbild«, wie es gerne genannt wird, ist in der Tat eine epistemische Revolution, aber eine, die unsere Alltagserfahrungen und unsere Alltagspraxis fast vollständig unberührt lässt. Es ändert nicht unser Weltbild als ganzes, sondern einen eher marginalen Teil, der die Interpretation der Himmelserscheinungen angeht, das heißt genauer die erklärende Theorie der Himmelserscheinungen. Man könnte auch ohne eine solche erklärende Theorie gut leben, sie ist lebensweltlich zunächst so gut wie irrelevant, sie erhält ihr pragmatisches Gewicht dadurch, dass eine machtvolle Institution, nämlich die damalige christliche Kirche, ihre Autorität unter anderem auch an die Aufrechterhaltung der geozentrischen Interpretation der Himmelserscheinungen knüpfte. Der Wandel vom geozentrischen zum heliozentrischen »Weltbild« war keine grundstürzende epistemische Revolution, sie wurde zu einer kulturellen und schließlich auch politischen dadurch, dass diese hochtheoretische Auseinandersetzung mit klerikalen versus wissenschaftlichen Autoritätsansprüchen aufgeladen wurde. Man geht vermutlich nicht zu weit, wenn man den Sieg der wissenschaftlichen Argumente über die klerikalen als wichtiges Vorspiel der Aufklärung und dann der Europäischen Moderne interpretiert.

Wir haben heute, nach rund einem halben Jahrtausend, sehr gute Gründe, die heliozentrische Interpretation der Himmelserscheinungen für die richtige und die geozentrische für die falsche zu halten. Wir glauben zu wissen, dass die heliozentrische Interpretation die zutreffende und die geozentrische die unzutreffende ist. Niemand wird sagen, dass der Kleriker des 13. Jahrhunderts wusste, dass sich die Sonne um die Erde dreht. Wir werden sagen, dass er davon überzeugt war oder dass er meinte oder glaubte, aber auf 24keinen Fall, dass er das wusste. Warum? Wir können das deswegen nicht sagen, weil wir überzeugt sind, dass sich die geozentrische Interpretation als falsch herausgestellt hat. Eine falsche Überzeugung ist aber kein Wissen. Unser alltäglicher Wissensbegriff ist zweifellos objektivistisch: Er schließt falsche Überzeugungen, wie gut auch immer sie begründet sein mögen, als Wissen aus.

Im Theaitetos-Dialog hatte der platonische Sokrates Wissen als wohlbegründete wahre Meinung charakterisiert und alle subjektivistischen Konkurrenten, deren wichtigste Vertreter im Dialog auftauchen und die uns durchaus aus marxistischen und poststrukturalistischen Kontexten vertraut sind, widerlegt. Der ausführliche Dialog endet mit der kryptischen Feststellung, dass man mit dem Ergebnis noch nicht wirklich zufrieden sein könne. Platonverehrer werden vermuten, dass er das, was Edmund Gettier rund 2500 Jahre später in dem kurzen Aufsatz »Is Justified True Belief Knowledge?« ausführte,[15] schon wusste oder ahnte, nämlich dass diese beiden Bedingungen – erstens die Wahrheit der Überzeugung und zweitens ihre Wohlbegründetheit – noch nicht ausreichen, dass vielmehr ein geeigneter Zusammenhang zwischen der betreffenden Tatsache und der Begründung bestehen muss, um von »Wissen« sprechen zu können. Diese Gettier-Herausforderung ist, obwohl unterdessen ein halbes Jahrhundert alt, bis heute nicht wirklich bewältigt. Eine kausale Theorie der Erkenntnis kann nicht die adäquate Antwort auf diese Herausforderung sein, weil es Gründe sind, die unser Wissen konstituieren und Gründe keine Ursachen im naturwissenschaftlichen Sinne sein können.[16]

An der Verbindung von Wahrheit und Begründung nimmt mein Argument zur Überwindung des Schismas seinen Ausgangspunkt: Wahrheit lässt sich nicht anders als objektivistisch verstehen, während die Wohlbegründetheit auf die jeweiligen epistemischen Bedingungen der Begründung bezogen bleibt. Die geozentrische Interpretation war im 12. Jahrhundert wohlbegründet, aber falsch, daher glaubten die Menschen zu wissen, dass sie in einer geozentrischen Welt lebten. Da sie sich aber geirrt haben, war dies eine irrtümliche Überzeugung, sie wussten es nicht, sondern sie mein25ten es, allerdings mit guten Gründen. Alternativ können wir auch sagen: Die geozentrische Überzeugung war rational, aber falsch. Nicht jede irrtümliche Überzeugung ist irrational. Rationale Überzeugungen sind nicht notwendigerweise Wissen.

Friedrich Nietzsche irrt, wenn er Wissen definiert als das, was jeweils für wahr gehalten wird. Hier fehlen beide Bedingungen, erstens die der Wahrheit und zweitens die der Wohlbegründetheit. Vieles wird für wahr gehalten, was nicht wahr und zudem noch nicht einmal wohlbegründet ist. Es gibt nicht nur Schwarmintelligenz, für deren Beleg gerne und oft zutreffend die Internet-Enzyklopädie Wikipedia angeführt wird, sondern auch Schwarm-Idiotie, wie die Kriegsbegeisterung zu Beginn des Ersten Weltkrieges, die antikommunistische Paranoia in den USA während der McCarthy-Ära und die aktuelle polemische Aufrüstung auf beiden Seiten angesichts des Ukraine-Konfliktes belegen, um dramatischere Beispiele aus der jüngeren deutschen Geschichte auszuklammern. Auch wenn alle etwas für wahr halten und gute Gründe für diese Überzeugung sprechen, handelt es sich noch nicht um Wissen, weil Wahrheit objektiv ist.

Man beachte den Unterschied zwischen Begründung und Wahrheit: Die Begründung für eine geozentrische Interpretation der Himmelserscheinungen im 12. Jahrhundert kann damals eine gute Begründung gewesen sein, trotz der Irrtümlichkeit der geozentrischen Interpretation, und diese Eigenschaft verliert die Begründung nicht dadurch, dass sich die begründete Überzeugung als falsch herausgestellt hat. Die Irrtümlichkeit einer Überzeugung mag ein Indiz dafür sein, dass die vorgebrachte Begründung für diese Überzeugung keine gute Begründung war, aber es gibt keinen zwingenden Zusammenhang dieser Art: Auch irrtümliche Überzeugungen können wohlbegründet sein. Das, was für Wissen gehalten wurde (die geozentrische Interpretation), hat sich als falsch herausgestellt, war also auch damals kein Wissen, während die – wie wir annehmen wollen – gute Begründung für die geozentrische Interpretation davon nicht tangiert ist. Diese Begründung wird nicht dadurch irrational, dass sich die geozentrische Interpretation als falsch herausgestellt hat. Die Kosmologien des 13. Jahrhunderts könnten sogar perfekt rational gewesen sein, doch selbst perfekte epistemische Rationalität garantiert keine Wahrheit und daher kein Wissen – nicht nur Nietzsche irrt, sondern auch Putnam.

26Diese Asymmetrie zwischen Wahrheit und Begründung sollten wir als Stoppschild für alle epistemischen Wahrheitsdefinitionen verstehen. Diese sind allesamt inadäquat, auch dann, wenn der objektivistische Charakter des Wahrheitsbegriffes (und in dieser Hinsicht des Wissensbegriffes) durch die Idealität einer Rechtfertigung, durch ideale Rechtfertigbarkeit zu berücksichtigen versucht wird. Jürgen Habermas wie Hilary Putnam verstehen sich als Kognitivisten und grenzen sich insofern scharf von postmodernen und neo-pragmatistischen Erkenntnistheorien ab. Zugleich aber sind sie Antirealisten (bei Habermas gilt dies nur noch für die Interpretation praktischer Diskurse, während die theoretischen und speziell die naturwissenschaftlichen von Habermas seit den 1990er Jahren realistisch interpretiert werden und er damit von seiner ursprünglichen Konsensus-Theorie der Wahrheit für diesen Bereich abrückt[17]): Sie versuchen die Objektivität des Wissens über die Idealität der Begründung zu erfassen. Für beide geht Wahrheit in Begründetheit auf, beide hängen einem epistemischen Wahrheitsbegriff an.

Mir scheint es offenkundig zu sein, dass es sich hier implizit um eine Petitio Principii handelt: Wenn man einer realistischen Interpretation begründender Diskurse anhängt, liegt es nahe, anzunehmen (besser sollte man sagen: »zu hoffen«), dass wir uns durch den Austausch von Gründen in der Regel der Wahrheit annähern. Aber man darf diesen epistemischen Optimismus nicht zu einer Wahrheitsdefinition überhöhen, wonach ideale Begründung Wahrheit konstituiert, wonach Wahrheit nichts anderes sei als ideale Begründetheit, wonach es analytisch wäre, dass nur solche Überzeugungen (Hypothesen, Theorien etc.) in idealer Weise gerechtfertigt werden können, die tatsächlich wahr sind. Es mag ja sein, dass es sich so verhält, aber dann würde es sich um eine überaus erfreuliche, wenn auch höchst unwahrscheinliche kontingente Tatsache handeln und nicht um eine begriffliche Wahrheit. Ein Realist könnte sogar – unvernünftigerweise – postulieren, dass ideale Begründungen eben solche sind, die ausschließlich wahre Überzeugungen rechtfertigen, aber damit würde der (ideale) Begründungsbegriff über einen 27nicht-epistemischen, eben realistischen Wahrheitsbegriff expliziert und nicht umgekehrt!

Das Schisma lässt sich nicht in Gestalt einer Fusion von Wahrheit und Begründung überwinden