Lügen in Zeiten des Krieges erzählt die Geschichte einer Kindheit in Polen. Maciek, Sohn jüdischer Eltern, wächst behütet in einem wohlhabenden Arzthaushalt auf, bis der Herbst 1939 mit einem Schlag das Schicksal seiner Familie verändert. Gemeinsam mit seiner Tante Tanja, einer eigensinnigen und klugen Frau, muß Maciek untertauchen.

Ruth Klüger schrieb in der ZEIT: »Die Ausgrabung der verschütteten Kindheit und ihre Verwertung in einer ›Erfindung‹ haben offensichtlich einen erstklassigen Romancier zutage gebracht.« Und Marcel Reich-Ranicki lobte im »Literarischen Quartett«: »Ein einzigartiges Zeitdokument und ein ergreifender Roman.«

Louis Begley wurde 1933 in Polen geboren. 1947 emigrierte seine Familie in die USA. Er studierte in Harvard Literatur und Recht und arbeitete von 1959 bis 2004 als Anwalt in New York. Lügen in Zeiten des Krieges ist sein erster Roman, der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt die Romane Zeig dich, Mörder (2015) und Erinnerungen an eine Ehe (st 4549).

Louis Begley

Lügen in Zeiten
des Krieges

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Christa Krüger

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 11. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 2546.

© Louis Begley 1991

© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1994

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie

der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlagfoto: Joe J. Heydecker

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-74556-4

www.suhrkamp.de

Für meine Mutter

Ein Mann von fünfzig Jahren könnte er sein, oder auch etwas älter, schon leicht gebeugt, ein Mann mit freundlichem Gesicht und traurigen Augen; sagen wir, er lebt verhältnismäßig angenehm in einem friedlichen Land. Er umgibt sich gern mit Büchern, arbeitet womöglich in einem angesehenen Verlag oder lehrt an einer Provinzuniversität, wie man Literaturen miteinander vergleicht. Vielleicht vermittelt er auch Autoren, Manuskripte von Dissidenten liegen ihm besonders am Herzen, Texte, die Zeugnis ablegen gegen Unterdrückung und Unmenschlichkeit. Abends liest er manchmal lateinische Klassiker. Rückübersetzen kann er nicht mehr – die Zeiten sind vorbei. Latein hat er bloß lückenhaft gelernt, immer nur, wenn ihm wieder einmal ein Examen bevorstand, und auch dann erst in letzter Minute; gründlich sind seine Kenntnisse nie gewesen. Aber zum Glück kann er die Bedeutung eines Textes noch erfassen; auch sein Erinnerungsvermögen ist ihm erhalten geblieben. Er bewundert die Äneis. In ihr fand er zum ersten Mal literarisch ausgedrückt, was ihn quälte: die Scham, am Leben geblieben, mit heiler Haut, ohne Tätowierung davongekommen zu sein, während seine Verwandten und fast alle anderen im Feuer umgekommen waren, unter ihnen so viele, die das Überleben eher verdient hätten als gerade er.

Er achtet darauf, die Metapher nicht zu nahe an sich heranzulassen. Seine Heimatstadt in Ostpolen war kein Ilium. Ein SS-Mann, der ungerührt mit der Reitpeitsche auf einen alten Mann einschlägt, auch wenn der schon nicht mehr wie ein Mensch aussieht, könnte zwar gut für Pyrrhus’ blutigen Mord an Priamus stehen – aber wo bleiben in diesem sinnlosen Tableau die mitstreitenden goldhaarigen Götter und Göttinnen? Er hat gesehen, wie ein alter Mann gnadenlos totgeschlagen wurde; der kahlköpfige Alte hatte sich hinknien müssen, die Peitschenhiebe zielten nur auf seinen blanken Schädel, das Blut strömte ihm übers Gesicht, abwischen konnte er es nicht, die Hände waren ihm auf dem Rücken zusammengebunden. Welche Göttin hätte durch diese Greueltat gerächt werden sollen, und wodurch hätte man sie beleidigt? War es etwa der zürnende Juppiter gewesen, der den Sondertrupp von alten Juden zu der überaus nützlichen Arbeit der Gullyreinigung abkommandiert hatte, die sie, auf den Knien liegend, absolvierten, bewacht vom jüdischen Ordnungsdienst mit schlagbereiten Gummiknüppeln?

Jetzt aber werden unserem Mann die Metaphern vertrauter: Als Äneas, von seiner unsterblichen Mutter vorsorglich in dichten Nebel gehüllt, in Karthago den Touristen spielt, sehen seine erstaunten Augen an den Wänden von Didos Palast kunstvolle Bilder mit blutigen Schlachtszenen aus dem Trojanischen Krieg. Hat unser Mann nicht auch gleich nach dem Ende seines Krieges die ersten Bildbände mit Photos von Auschwitz, Bergen-Belsen und Buchenwald betrachtet, nackte, zu Skeletten abgemagerte Männer und Frauen gesehen, die noch lebten und in die Kamera starrten? Wüst auf einen Haufen geworfene Leichen? Warenlager von Brillen, Uhren und Schuhen? Welchen Sinn hat da sein Überleben? Wenn Vater Äneas mit dem kleinen Julus aus Troja flieht, erfüllt er damit ein bindendes Versprechen: Er wird das ewige Rom gründen; kraft Juppiters Willen und mit etwas Zungenakrobatik wird Ascanius-Julus zum Ahnherrn der Julischen Cäsaren. Unser Mann, Treibgut, untergetaucht und hochgespült, ausgelaugt und gestrandet, kann keine Bestimmung für sich erkennen. Seine Erinnerungsbilder sind Stoff für Alpträume, mit Mythen haben sie nichts gemein.

Unser Mann meidet Holocaust-Bücher und läßt sich bei Essenseinladungen nicht auf Plaudereien über Polen im Zweiten Weltkrieg ein, auch wenn die schönen Augen seiner Tischdame ihm parfümierten Trost versprechen. Berichte über Folterungen von Dissidenten und politischen Gefangenen dagegen liest er wieder und wieder, jedes Verhör stellt er sich bis in alle Einzelheiten vor. Wie lange hätte es wohl gedauert, bis er schreiend zusammengebrochen und zu Kreuze gekrochen wäre? Ob er sofort weich geworden wäre oder erst, nachdem sie ihm die Finger gebrochen hätten? Wen hätte er verraten und wie schnell? Er ist ein Voyeur des Bösen geworden, starrt gebannt auf die grauenhaften Szenen, die vor seinem inneren Auge abrollen; manchmal weiß er nicht, welchen Part er darin spielt. Mußte das Kind, das er einmal war, sich so entwickeln, ist das der Preis für seine Weise des Überlebens?

Für Catull empfindet er eine Affinität anderer Art, die aufblitzt wie ein Leuchtfeuer über schwarzem Wasser. Er malt sich die Kindheit des Dichters aus, das Leben in der Umgebung von Verona, das anheimelnde Landhaus am Gardasee, die schnittige Jacht. Ein gütiger Vater begleitet Catull nach Rom und ebnet ihm die Wege. Der Dichter liebt Lesbia, die schöne Nymphomanin Lesbia, nicht begehrlich, wie jedermann Frauen liebt, sondern mit der Liebe, die ein Römer für seine Söhne und Schwiegersöhne empfindet. Leider ist die Liebe zu Lesbia eine Krankheit. Diese treulose Lesbia, die Catull mehr als sich und seine Sippe liebt, spielt üble Spiele – »an Kreuzwegen, in schmutzigen Seitengäßchen rupft sie die hochgeborne Römerjugend!« Nun will der Dichter nicht mehr, daß sie treu ist, selbst wenn das möglich wäre. Er möchte nur selbst gesunden, die quälende Krankheit abschütteln, die ihm alle Freude vergällt hat. Ipse valere opto et taetrum hunc deponere morbum … Diese Zeilen haben unseren Mann jahrelang verfolgt, er meint Catulls Krankheit bis auf den Grund zu kennen, auch er wollte nichts anderes mehr, bloß noch gesunden, um jeden Preis. Nur trifft auch diese Metapher nicht. Seine Krankheit geht tiefer als die des Dichters. Catull zweifelt keinen Augenblick daran, daß er geboren ist, um glücklich zu sein und Freude zu empfinden angesichts der guten Taten, die er früher begangen hat, benefacta priora voluptas. Das sind die Götter ihm schuldig, da er ihnen treu war. O di, reddite mi hoc pro pietate mea. Der Mann mit den traurigen Augen ist überzeugt, daß er für alle Zeiten verändert ist, wie ein geprügelter Hund, und daß kein Gott ihn heilen kann. Gute Taten, auf die er zurückblicken könnte, hat er nicht getan. Trotzdem, es hilft ihm, das Gedicht wieder und wieder zu sagen. Heulen vor Verzweiflung wird er nicht.

Er denkt an die Geschichte des Kindes, aus dem so ein Mann geworden ist. Maciek soll das Kind heißen, wie der kleine Maciek in dem alten Lied, der feine Kerl, der unermüdlich immer weitertanzt, solange die Musik spielt.

I

Geboren bin ich ein paar Monate nach dem Reichstagsbrand, in T., einer Stadt mit ungefähr vierzigtausend Einwohnern in einem Teil Polens, der vor dem Ersten Weltkrieg zur K.u.K.-Monarchie gehört hatte. Mein Vater war der angesehenste Arzt in T. Keiner konnte ihm das Wasser reichen, weder der Chef des Krankenhauses, ein katholischer Chirurg, noch die beiden praktischen Ärzte, meines Vaters Kollegen. Nur mein Vater hatte Diplome von der Universität Wien; nur er hatte vom ersten gimnazjum-Jahr an als zeller gegolten und die in ihn gesetzten Erwartungen glänzend erfüllt, indem er eine jener goldenen Uhren gewann, die Kaiser Franz Joseph jedes Jahr an die besten Abiturienten im Kaiserreich verteilen ließ; und keiner tat es ihm gleich an aufopfernder Freundlichkeit und Fürsorge für die Patienten. Meine Mutter, eine Schönheit aus Krakau, war viel jünger als er; sie starb im Kindbett. Die Heirat war durch einen Ehevermittler zustande gekommen, aber der Doktor und die Schönheit verliebten sich so schnell und heftig ineinander, daß man in der Familie die Geschichte wie ein Märchen erzählte, und mein Vater schwor, er werde den Rest seiner Tage nur der Erinnerung an meine Mutter und dem Leben mit mir widmen. Er hielt sein Wort sehr lange.

Meine Mutter hatte eine ältere Schwester, die noch schöner als sie war und jetzt als einziges Kind auch viel reicher; alle waren sich einig, daß diese Schwester wohl nie heiraten würde, auch nicht ihren verwitweten Schwager. In der hermetischen Welt reicher galizischer Juden hing ihr ein Gerücht an: Man munkelte, sie habe sich mit einem katholischen Maler eingelassen, und bei dem Versuch auszureißen seien die beiden erwischt worden. Der Künstler habe sich in seinem Verhalten offenbar von der angenehmen Aussicht auf ihre Mitgift leiten lassen; als aber mein Großvater einschritt und seinen lodernden Zorn gleichmäßig auf die Religion und das Boheme-Leben des Freundes meiner Tante verteilte, sei dessen Hoffnung auf die Mitgift zerronnen, und er habe sein Verhalten dementsprechend geändert. Wäre es um eine andere Frau gegangen, dann hätten akzeptablere Liebhaber von Schönheit und Geld und erst recht ihre Mütter und alle weiblichen Verwandten, die sonst noch nach Bräuten Ausschau hielten, derlei Geschichten wohl geflissentlich vergessen. Aber Tanja, so hieß meine Tante, Tanja konnte auf soviel Nachsicht nicht hoffen. Ihre Respektlosigkeit und ihre unerbittlich scharfe Zunge waren genauso Stadtgespräch wie ihr Eigensinn und Jähzorn. Man bezeichnete sie als weibliche Variante ihres Vaters: Der war ein Mann, den sich zwar jeder zum Geschäftspartner wünschte, den aber kein denkender Mensch ernsthaft als Ehemann oder Schwiegersohn in Betracht gezogen hätte.

Dazu kam der Schatten, der auf der Familie lag – Unglück oder schlechtes Blut, was wußte man –, jedenfalls waren die glänzenden Aussichten meiner Mutter und Tanjas getrübt, seit ihr jüngerer Bruder sich einige Jahre zuvor das Leben genommen hatte. Er war nicht zur Universität zugelassen worden (damals führten die polnischen Universitäten gerade eine Quotenregelung für Juden ein), während das Mädchen, das er liebte, die Studienerlaubnis bekommen hatte. In den Sommerferien ritt er viel durch den Wald, der an den Besitz meines Großvaters grenzte. Bei einem dieser Ausflüge wurde er von einem heftigen Gewitter überrascht. Er stieg vom Pferd, suchte Schutz unter einem Baum, hielt das Pferd am Zügel und versuchte es zu beruhigen, indem er ihm die Nüstern streichelte und küßte. Da schlug dicht neben ihm ein Blitz ein. Das Pferd geriet in Panik und biß meinen Onkel mehrmals ins Gesicht. Die Wunden vernarbten schlecht und sahen sehr häßlich aus. Seine Freundin zog sich zurück; mein Onkel wußte nicht, ob die Ablenkungen des Lebens an der Universität der Grund dafür waren oder ob sie ihn abstoßend fand. Das eine war so schlimm wie das andere. Man bemühte sich, einen Platz an einer ausländischen Universität für ihn zu finden, aber noch vor dem Ende des Herbstsemesters ging er eines Nachmittags in den Stall und erschoß sein Pferd und sich selbst.

So kam es, daß Tanja zu uns zog, meinem Vater den Haushalt führte und sich um mich kümmerte.

Wir wohnten weiter in dem Haus, in dem ich geboren war; meine Eltern hatten es gleich nach der Hochzeit von der Mitgift meiner Mutter gekauft. Das Haus stand in einem Garten an der Hauptstraße von T. Unsere Wohnung und die Praxis meines Vaters waren in dem einstöckigen Flügel untergebracht, der parallel zur Straße lag. Der andere Flügel, im rechten Winkel zu unserem gelegen, mit Eingang zum Hof, war vermietet: Im Erdgeschoß wohnten ein Gymnasiallehrer und seine Frau, im ersten Stock Pan Kramer, der Besitzer einer Schreibwarenhandlung, mit Frau und Tochter Irina, die zwei oder drei Jahre älter als ich war. Bis die Deutschen kamen, spielten Irina und ich nie zusammen; mein Vater fand das unpassend.

Wie jeder Mann in Polen, sobald er sich rasieren muß, wurde auch Vater Kramer mit Pan angeredet; nur Diener, Bauern und Arbeiter hatten keinen Anspruch auf diese Ehrensilbe. Mutter Kramer hieß für jeden außer der Familie und engen Freunden Pani Kramerowa oder Pani Renata. Wäre Irina erwachsen geworden, hätte man sie Panna Kramerówna oder Panna Irina oder auch, weil die polnische Sprache für Essen und Trinken und für Namen Diminutive bevorzugt, Panna Irka genannt.

Unser Wohnzimmer lag hinter dem Sprechzimmer meines Vaters; die Patienten gingen, wenn sie an der Reihe waren, durch eine große, weiße Polstertür zur Untersuchung zu ihm hinein. Neben der Tür stand ein riesiger weißer Kachelofen. Der fahle Riese mit den breiten Schultern, der mich in meinen nächtlichen Alpträumen heimsuchte, kam manchmal durch diese Tür oder aus der Nische zwischen Kachelofen und Wand, wo Feuerholz und ein paar Spielzeuge verstaut waren. Dann schrie ich laut und erstarrte vor Angst, und es nützte gar nichts, daß mein Kindermädchen die Tür öffnete und mich in die vertraute Umgebung des Sprechzimmers trug, die Nische hinter dem Ofen leer räumte und alle Holzscheite und alle Spielzeuge, die Sandschaufeln und Holzautos einzeln auf dem Teppich vor mir ausbreitete, damit ich sehen konnte, daß nichts hinter ihnen versteckt war, ein Riese schon gar nicht. Mein Entsetzen wuchs nur, ich schrie immer lauter, aber es half alles nichts: Man mußte eine Pferdedroschke losschicken und Tanja oder meinen Vater aus dem Restaurant oder Café holen lassen, in dem sie gerade saßen.

An diese Zeit der Ungeheuer und anderer Ereignisse meiner Kindheit habe ich die ersten eigenen Erinnerungen – andere als die schöngefärbten Geschichten aus unserem idyllischen Leben, die Tanja mir später während der Kriegsjahre erzählte. Ich erinnere mich, daß Tanja und mein Vater abends meistens ausgingen. Mein Vater war früh mit seinen Hausbesuchen fertig. Dann spielte er mit mir, bis es Zeit für die Verabredung mit seinen beiden jüdischen Kollegen und deren Frauen war; sie gingen zusammen zum Essen oder zum Kaffeetrinken. Das Kaffeehaus galt als wienerisch und war in T. eine sehr beliebte Einrichtung. Man kam nie zu früh oder zu spät, um dort einen Freund vorzufinden. Man blieb eine Weile oder ging auch in ein anderes Café oder in ein Restaurant mit Tanz. Manchmal begleitete Tanja meinen Vater. Häufiger aber ging sie mit Bern aus, dem reichsten jüdischen Rechtsanwalt in T., einem eingefleischten Junggesellen. Anders als mein Vater war Bern ein Bonvivant, der sich viel auf seine beinahe unbegrenzte Fähigkeit, Tokajer und Wodka zu konsumieren, zugute hielt. Er war auch ein hervorragender Tänzer. Wenn er abends kam, um Tanja abzuholen, versuchte sie manchmal, mich von meiner Angst vor dem drohenden Alleinsein abzulenken, und bat ihn, das Grammophon aufzuziehen; dann legten sie eine Platte auf und führten mir seine Spezialtänze vor, langsamen Walzer und Tango.

Im Sommer traf sich mein Vater nach der Mittagsruhe mit Bern, dem katholischen Chirurgen und dem einen oder anderen seiner jüdischen Kollegen zum Tennis. Tanja und ich sahen oft bei den Spielen zu. An anderen Nachmittagen gingen wir zum Strand – ein Uferstreifen, der jeden Sommer sorgfältig mit einer dicken Schicht von weißem Sand bedeckt wurde. Man mußte Eintritt zahlen, um den Strand benutzen zu dürfen, und kam dann in den Genuß von Liegestühlen, Sonnenschirmen und Umkleidekabinen. Nur unerschrockene Schwimmer wagten sich in die Strömung im Fluß; alle hielten den Kopf über Wasser und schwammen geruhsam. Männer wie Frauen trugen weiße Gummihauben. Wer etwas zimperlich war, mein Vater zum Beispiel, zog auch weiße Badeschuhe an, die wie Ballettschuhe aussahen und dazu gedacht waren, die Füße vor spitzen Steinen und vor der Berührung mit dem glitschigen Grund zu schützen. Als ich vier Jahre alt war, gaben mir Tanja und mein Vater abwechselnd Schwimmunterricht. Zu ihrer Erleichterung war ich ein gelehriger Schüler.

Tanja gab sich zwar große Mühe, meinen Ruf nicht zu beschädigen, aber es sprach sich in T. doch herum, daß ich ein schwieriges, ja ein rechtes Sorgenkind war. Die Amme blieb nach dem Tod meiner Mutter ein ganzes Jahr bei mir – sie noch länger zu behalten wäre gegen Tanjas, wahrscheinlich auch gegen meines Vaters Prinzipien gewesen –, aber gleich nachdem sie fort war, stellte man fest, daß ich nicht essen wollte. Die Mahlzeiten wurden zu Willensproben zwischen Tanja und mir, und alle sahen dabei zu, die Köchin, das Dienstmädchen, das Kindermädchen, und wenn es besonders kritisch wurde, kam sogar die Waschfrau. Meistens blieb Tanja Siegerin. Ich rächte mich dann später, indem ich alle die Mischungen aus Delikatessen und lebenswichtigen eisen- und vitaminhaltigen Nahrungsmitteln, die man mir aufgeschwatzt hatte, wieder ausspuckte. Auch der Nachttopf stellte ihre und meine Entschlußkraft auf eine harte Probe. Ich war wie alle zur Sauberkeit erzogenen Kinder jener Zeit früh geübt, nicht in die Hose zu machen, und das Saubersein war mir Herzenssache. Als ich drei war, kostete es große Mühe, mich dazu zu bringen, meinen Kot auszuscheiden; man mußte den Topf mitten in die Küche stellen, mich draufsetzen und bitten und drohen; und wieder waren die Zuschauerinnen versammelt, die meine Niederlage im Kampf gegen die Essensaufnahme mitangesehen hatten – jetzt warteten sie auf das Gegenteil. Tanja hatte einen Vorrat hilfreicher Beschwörungsformeln. Los jetzt, eins, zwei, drei, wir helfen dir dabei. Mach, Maciek, mach. Wenn das alles nicht half, mußte ein Einlauf her. Ich ekelte mich vor meinem eigenen Geruch.

Ein Kinder-Kardiologe diagnostizierte eine Unregelmäßigkeit in meinem Herzschlag. Ein zweiter Spezialist bestätigte den Befund. Ein dritter fand nichts. Mein Vater nahm das beunruhigende Geräusch selbst nicht wahr, hielt es aber für falsch, die Meinung zweier Kapazitäten zu mißachten. Daß ich dürr und nervös war, konnte niemand übersehen. Der Alptraum vom Riesen kam immer häufiger. Ich schrie das ganze Haus zusammen. Kein Kindermädchen war dem Kampf, den es tags mit mir und Tanja und nachts allein mit mir ausfechten mußte, länger als ein paar Monate gewachsen. Diese Kindermädchen hießen alle Panny: lauter brillentragende junge Damen aus verarmten, aber relativ assimilierten jüdischen Familien, die sich Geld zu ihrer Ausbildung verdienen wollten. Tanja schenkte ihnen Schals und Hüte und zeigte ihnen, wie sie Make-up benutzen und Dauerwellen legen sollten, die das Beste aus ihrem Typ machten und doch dezent und unauffällig blieben. Sie schalt die Mädchen, wenn sie Laufmaschen in den Strümpfen hatten, und korrigierte sie am Klavier. Unscheinbar und verkrampft, wie sie waren, konnten diese jungen Damen mir gut vorlesen und mich lesen lehren. Sie waren Tanja dankbar und bedauerten sie (daß eine so außergewöhnliche Persönlichkeit ihr Leben in T. vergeuden mußte, nur weil sie sich für die Familie aufopferte!) und gingen wieder, versehen mit Empfehlungsbriefen meines Vaters.

Dann kam Zosia, auf Rat des katholischen Chirurgen. Er hatte mir ein Geschwür am Oberschenkel aufgeschnitten und danach mehrere Hausbesuche bei uns gemacht, um die Wunde zu versorgen. Ich weiß, was Maciek fehlt, sagte er meinem Vater: Der Junge muß unsere heilige polnische Erde berühren. Ich weiß wohl, niemand liebt unser Land mehr als Sie und unsere anbetungswürdige Panna Tanja, Sie sind beide echte Polen. Aber daß Sie Ihren wunderbaren Sohn diesen Stadtjüdinnen anvertrauen, ist ganz falsch, das ist skandalös. Gebt ihn einer der Unseren. Die sind das Salz der Erde. Er wird Kraft aus ihr ziehen.

Mein Vater konnte sich diesen Argumenten nicht verschließen, zumal die hochrangige Stellung seines Kollegen ihnen zusätzliche Überzeugungskraft verlieh. Es war die Zeit, in der ein romantischer Nationalismus aufkam. Mein Vater hatte eine schöne Baritonstimme und sang gern: Marschlieder, die die Heldentaten von Piłsudskis Armee verherrlichten, schmetterte er ebenso begeistert wie Arien von Verdi. Wenn er einen Abendspaziergang mit mir machte, blieben die Leute stehen und rühmten mein polnisches Aussehen: Ein echter blonder Sarmate, sagten sie. Arisches Aussehen war damals in T. noch nicht in Mode. Gegenstand nostalgischer Rückbesinnung war eher das Schwarze Meer, denn von dort waren die sarmatischen Kriegerhorden mit dem Schwert in der Hand gekommen und hatten unser heiliges Polen besiedelt. Jedenfalls war die Stelle des Kindermädchens mal wieder unbesetzt, und der Chirurg hatte eine Kandidatin, die sofort einspringen konnte.

Zosia war die älteste Tochter des Hilfsstationsvorstehers von Drohobycz, einem fünfzig Kilometer von T. entfernten Städtchen. Dieser Bahnbeamte war früher Feldwebel in der Kompanie des Chirurgen und danach sein Patient gewesen. Zosia hatte die ersten Klassen des gimnazjum absolviert und half nun in einer Konditorei aus. Sie brauchte eine Stelle.

Ihre goldene Schönheit erfüllte mich mit Staunen. Ich muß sagen, bei ihrem Anblick hüpfte mir buchstäblich das Herz. Tanja war natürlich größer und ihr Haar beinah genauso bernsteinfarben wie das von Zosia. Und ich liebte den Duft von Tanjas Parfüm und Puder, ihre Pelze, mit denen ich spielen durfte und deren Herkunft sie mir immer gern erklärte, ich mochte ihre gepflegten Hände, die in langen blassen Fingernägeln endeten. Zosia wiederum war weich und fest zugleich, und sie warf den Kopf zurück und lachte bei allem, was sie oder sonstjemand sagte. Kaum waren wir allein – das Einstellungsgespräch hatte offenbar schon ein paar Tage vor ihrer Ankunft stattgefunden, denn ihre Koffer und Bündel lagen bereits in ihrem Zimmer –, da hob sie mich mit Schwung hoch, ließ mich auf ihren Schultern reiten, sagte, ich solle mich an ihren Zöpfen festhalten, und rannte mit mir eine Runde durch den Garten. Die Himbeerbüsche hingen voller Früchte. Sie stopfte erst sich, dann mir den Mund voll mit Himbeeren und sagte, so süße habe sie den ganzen Sommer noch nicht gegessen. Sie meinte, die Vögel müßten ja großen Respekt vor meinem Vater haben, daß sie diese guten Beeren nicht anrührten, und als ich ihr erklärte, daß die Büsche immer mit Musselin zugedeckt würden, außer wenn die Köchin Himbeeren pflücken wollte, lachte sie hell auf.

Von da an war es abgemacht, daß ich auf ihren Schultern reiten und mich an den Zöpfen festhalten durfte, die sie um den Kopf gesteckt trug, aber eigens für mich herabließ, wenn ich etwas Gutes getan hatte. Als gute Tat galt: mehr als ein Drittel von dem zu essen, was auf meinem Teller lag, besonders, wenn Zosia nur ganz wenig dabei hatte helfen müssen; in vollem Galopp hinter ihr her um den Rasen zu rennen; im Kniehang an der Turnstange im Hof zu baumeln; nach dem Mittagsschlaf nicht zu weinen und abends sauber und fertig angezogen zu sein, wenn mein Vater mich zum Abendspaziergang abholte oder Zosia und mich zu seinen späten Hausbesuchen mitnahm.

Mein Vater nahm immer dieselbe Pferdedroschke. Er hatte Vertrauen zu dem Kutscher, der seine Droschke besonders sauberhielt und Pferde hatte, die nicht müde wurden, wenn wir zu einem Patienten außerhalb der Stadt fuhren. Ich saß immer bei meinem Vater und hielt seine Hand. Zosias Platz war gegenüber auf dem Notsitz neben der schwarzen Arzttasche meines Vaters; sie klemmte meine Beine zwischen ihre Knie. Wenn wir zu einem Bauernhaus kamen, bat sie um ein Glas frische Buttermilch für mich, während mein Vater mit dem Patienten beschäftigt war. Wenn ich es austrank, durfte ich zur Belohnung die Scheune ansehen und mich mit dem Vieh und den Hühnern unterhalten. Bei der Gelegenheit lernte ich, wie man eine Kuh freundlich stimmt – man muß sie ganz langsam am Kopf kraulen –, wie man Körner für die Hühner richtig streut, und daß man um angekettete Hunde besser einen großen Bogen macht.

Wenn es um wichtigere Dinge ging, gab es noch andere Abmachungen und Belohnungen. Der Riese kam jetzt fast jede Nacht und beugte sich über mich. Ich hatte Angst, zu Bett zu gehen. Tanja las mir vor, wenn sie nicht ausging; oft lehnte sie Einladungen für den frühen Abend ab, damit sie mir noch, wie versprochen, ein Kapitel zu Ende vorlesen konnte. Wenn Tanja fort war, rief ich Zosia. Sie ließ die Tür zwischen ihrem und meinem Zimmer immer offen und hörte mich sofort. Selig wartete ich auf das Tappen ihrer nackten Füße. Sie sang mir vor, und wenn ich versprach, nach zehn Liedern einzuschlafen, dann lachte sie und löste ihre Zöpfe, und ich durfte mit dem offenen Haar spielen. Sie saß auf einem Kinderstühlchen und neigte den Kopf übers Bett, so daß ihre Haarflut sich auf meiner Decke ausbreitete. Ich konnte meine Finger darin vergraben oder mir die ganze Haarpracht übers Gesicht ziehen. Sie hatte sehr dickes Haar, das leicht nach Seife duftete. Zosia selbst roch nach einer Mischung von Seife und frischem Schweiß; sie neckte mich, weil ich kaum schwitzte, und zeigte mir, wie feucht ihre Achselhöhlen nach unseren Wettrennen im Garten waren. Wenn ich mein Versprechen nicht halten konnte, sagte ich es ihr. Dann seufzte Zosia und küßte mich und seufzte wieder, oder sie lachte. Ich sei ihr Scheusal, ihr Ungeheuer, ihr Alptraum, sagte sie, und dann verhandelten wir weiter über Lieder oder Streicheln. Wenn ich mich für Streicheln entschied, durfte ich ihren Hals und ihre Ohren berühren. Dann steckte sie ihre Hände unter meinen Schlafanzug und strich mir über Brust und Bauch und Beine, bis ich endlich einschlief – dabei seufzte und lachte sie die ganze Zeit, weil ich so dünn und so kitzlig war und weil ich sie zu sehr liebte.

Mein Vater machte sich allmählich große Sorgen wegen der nächtlichen Erscheinungen. Hörte ich etwa Erlkönigs melodiöse Schmeichelreden? Wir beschlossen den Riesen zu suchen und zu stellen. Zusammen luden wir den Browning, den mein Vater in einer verschlossenen Schreibtischschublade aufbewahrte. Er zeigte mir, wie man eine Kugel in die Kammer legt. Gut bewaffnet durchsuchten wir das ganze Haus, Zimmer für Zimmer. Die Schränke wurden geöffnet, wir stöberten hinter Mänteln und Kleidern und drehten die Wäsche in den Schubladen um und um. Der Geruch von Mottenkugeln stieg uns in die Nase, so daß wir niesen mußten. Uns war nicht klar, welche Gestalt der Riese bei Tag annahm und wo er seinen Schlafplatz hatte. Den vermieteten Flügel des Hauses mochten wir nicht durchsuchen, das wäre zu peinlich gewesen; außerdem durften wir den Mietern nicht auch noch Angst einjagen – die Lage war für uns schon schwierig genug. Schließlich blieb nur noch der Keller mit den Fässern voll Sauerkraut und Eingelegtem, mit Kisten voll Kartoffeln und Rüben und mit riesigen leeren Lederkoffern. Die sahen wir Stück für Stück durch, ich leuchtete mit der Taschenlampe, mein Vater hielt den Revolver im Anschlag. Tanja, die von Anfang an erklärt hatte, daß wir nichts finden würden, blieb derweil im Garten und las. Sie hatte wieder mal recht: Am Tag war der Riese unsichtbar. Mein Vater fühlte mir die Stirn und schärfte Zosia ein, sie solle mich ganz ruhig halten. Ich war erhitzt und begann zu fiebern und bekam nach ein paar Tagen Keuchhusten.

Seit meiner Geburt besuchten meine Großeltern mütterlicherseits uns jedes Jahr zu den jüdischen Feiertagen in T. In diesem Herbst lagen die Feiertage sehr früh. Meine Großeltern waren noch nicht von ihrem Landgut bei S., einer Stadt nördlich von T., nach Krakau in ihre Winterwohnung zurückgekehrt. In S. hat Metternich einmal eine Nacht zugebracht; in seinen Memoiren schreibt er, er habe die natürliche Schönheit des Ortes und der Gegend sehr bewundert, die Freude sei ihm aber verdorben worden, weil so viele Juden dort lebten. Die Großeltern wollten Tanja etwas entlasten und mehr Zeit mit mir verbringen, deshalb entschlossen sie sich, nicht erst nach Krakau zu fahren, sondern gleich von ihrem Sommersitz zu uns zu kommen, obwohl mein Vater ihnen versichert hatte, ich sei nicht in Gefahr. Ich durfte aufstehen und sie an der Tür begrüßen. Sie kamen in ihrer alten, breiten, offenen Kutsche. Der Kutscher, mein Freund, saß auf dem Bock. Das Gepäck folgte in einem zweispännigen Planwagen nach. Weil wir keine Ställe hatten, wurden die Pferde nach S. zurückgeschickt; ich weinte vor Enttäuschung. Mein Großvater rieb mir seinen Schnurrbart gegen die Backe, klopfte mir auf den Rücken, mußte selbst ein bißchen weinen und sagte, ein Mann wie ich müsse wirklich eine eigene Kutsche haben; Jan werde die Pferde wiederbringen, sobald ich gesund genug sei, sie in Trab zu halten und jeden Tag auszufahren: Wenn ich wollte, könnte ich auch selbst kutschieren lernen.

Mein Großvater war sehr groß, hielt sich ganz aufrecht und trug stets schwarze Kleidung; sein Schnurrbart war noch schwarz und sein Haar weiß und ganz kurz zum »Igel« geschnitten, einer damals unter polnischen Herren beliebten Frisur. Wenn der Großvater kam, konnte er eine ganze Welt ungeahnter Möglichkeiten eröffnen. Seine Tochter Tanja war sein Liebling, und in ihren Augen war er der Mann aller Männer. Ein einziges Wort von ihm, und sie brach die unantastbaren Regeln, die sonst für meinen Tagesablauf und mein Verhalten galten. Mein vorsichtiger, methodischer, sanftmütiger Vater hielt insgeheim meinen Großvater für einen gütigen Kentauren. Und der alte Herr fühlte sich auch wirklich auf einem Pferderücken wohler als auf dem Erdboden. Weil mein Vater den Mythos vom edelsten der Kentauren mochte (Menschen, die ihm nahestanden, verglich er gern mit Figuren aus Büchern: Meine Großmutter, die ständig Konfitüren und Marmeladen einkochte, war für ihn die Gräfin Schtscherbatzkaja, und wenn Bern Tanja wieder einmal zu Indiskretionen verleitete, sah mein Vater ihn als Rodolphe) und weil er die Familienordnung achtete, setzte er Großvaters sehr eigenwilligen Vorstellungen von Hygiene in unserem modernen, nach wissenschaftlichen Erkenntnissen geführten Haushalt kaum Widerstand entgegen. Mein Vater vertraute also seinen kleinen Maciek dem edlen Kentauren Chiron an.

So kam es, daß mein erster Ausflug nach der Genesung unter Großvaters Regie stattfand. Er machte mich mit den Wonnen des miód bekannt, eines polnischen Honiglikörs, den mein Großvater für ein ganz unübertreffliches Heil- und Kräftigungsmittel hielt. Die Kutsche wartete vor dem Tor. Wir stiegen ein, er ließ sich in die üppigen schwarzen Lederpolster sinken, barhäuptig (ganz gegen die Konvention), eine gelbe Zigarette im Mundwinkel, und ich saß auf dem Bock. Jan knallte mit der Peitsche, und die Reise zum ersten der Weinkeller, die mein Großvater schätzte, begann; er fand, man könne miód nur in Kellerlokalen richtig genießen, nirgendwo sonst, in einem Café am allerwenigsten. Die dunstgeschwängerte Luft in einem guten Keller, schwer vom Duft nach Essen, Eingelegtem und Bier, wirke schon für sich genommen wohltätig auf die Lunge, meinte er und sah sofort erste Heilerfolge bei mir. Dann bestellte er eine Karaffe miód und zwei Gläser und schenkte mir einen Fingerhut voll ein. Seine Idee dabei war, daß wir uns die Arbeit teilten: Ich nippte, und er besorgte den Rest. Zu unserem Pakt gehörte noch etwas: das Essen von zwei Paar Kochwürsten. Mit einer Wurst mußte ich fertig werden, während mein Großvater drei verdrückte. Er zeigte mir, daß miód und Würste besser rutschten, wenn man Meerrettich dazu nahm – für mich bestimmte er den roten, mit roter Bete gemischten, er aß den scharfen weißen, der einem das Wasser in die Augen trieb. Im zweiten und dritten Keller wurde dieselbe Arbeitsteilung praktiziert, allerdings mit der Variante, daß er manchmal Hering und Wodka für sich bestellte. In dem Fall konnte ich einen harten Honigkuchen bekommen, den ich dann in mein Glas miód stippte.

Und tatsächlich wurde ich kräftiger und hustete kaum noch, so daß mein Großvater sein Versprechen einlösen konnte, mich das Kutschieren zu lehren. Tanja durfte auch mitkommen; sie sei seine zweitbeste Schülerin, sagte er, ich sollte der beste sein. Sobald wir die Stadt hinter uns gelassen hatten und auf einer schnurgeraden, weißen Landstraße angekommen waren, die von abgeernteten Roggen- und Weizenfeldern gesäumt war und sich endlos hinzog, bis man fern am Horizont Baumreihen erkennen konnte, zügelte Jan die Pferde, zog die Bremse an, und dann kletterte Tanja neben mich auf den Kutschbock. Großvater kam auch, Jan mußte das Zaumzeug noch einmal nachsehen und sich nach hinten setzen; dann gab Großvater Tanja die Zügel in die Hand und löste die Bremse. Tanja berührte die Pferde leicht mit der Peitsche, und wir schaukelten im Zuckeltrab los. Großvater begleitete die Fahrt mit Kommentaren zu Tanjas gelungenem Start und der ausgreifenden Gangart der Pferde. Und endlich kam ich an die Reihe. Großvater nahm mich zwischen seine Beine. Tanja war ganz rot und glücklich über ihre Übungsstunde und blieb neben uns sitzen; die Pferde fielen in Schritt. Großvater gab mir die Zügel in die Hand und erinnerte mich an die Hauptsache: aufpassen, daß die Pferde nicht einschlafen! Aber kaum hielt ich die Zügel, blieben die Pferde nach wenigen Schritten einfach stehen. Allgemeine Heiterkeit; auch Jan lachte mit und rief dann den Pferden ein Kommando zu, worauf sie sich wieder in Gang setzten. Jetzt zeigte mir mein Großvater, wie man die Zügel so faßt, daß sie den Pferderücken nicht berühren, erklärte mir, daß man die Hände ganz ruhig halten und die Augen immer auf die Straße voraus richten muß und sie nie, um gar keinen Preis, abschweifen lassen darf. Wenn wir uns einer Straßenkreuzung oder einem Dorf näherten, war es Zeit für eine Lektion im Wenden oder Anhalten der Pferde. Manchmal kauften wir einer Bauersfrau im Dorf frische Eier oder weißen Kuhkäse ab. Sie bekreuzigte sich, wenn sie mich als Kutscher sah, und wünschte uns Gottes Segen.

Die Ferien waren zu Ende. Die Regensaison begann. Großmutter wollte die letzten Tage vor ihrer Abreise noch nutzen, um unser Haus in Ordnung zu bringen. Sie kaufte neue Kleider für Zosia, die sie nun ihr großes Enkelkind nannte, inspizierte Tanjas Pelze, hatte eine lange Unterredung mit Tanja über Bern, aber auch über die Köchin und deren verschwenderischen Umgang mit Kalbfleisch, und schließlich kochte sie Obst und Gemüse für den Winter ein. Die Marmeladen und Kompotte waren gleich nach Jom Kippur fertig gewesen; jetzt mußte man Gurken einlegen und das Sauerkraut ansetzen.

Im Haushalt führte Großmutter ein strenges Regiment. Sie achtete genau darauf, daß man Gewürze weder sparte noch verschwendete. Gelassen überwachte sie von ihrem Sessel am Küchentisch die Arbeit;